§ 35 StVO - Sonderrechte
Inhaltsverzeichnis:
01
Einleitung 02 Begriff der Einsatzfahrt
03 Wegerechtsfahrt 04 Kein
Gefährdungs- oder Schädigungsrecht 05 Grobe
Fahrlässigkeit und Sonderrechte 06
Sonderrechtsfahrt außerhalb des Dienstes 07
Sonderrechtsfahrt nicht gehört oder wahrgenommen 08
Kradbegleitung einer Demonstration 09
Verfolgungsfahrten 10
Verfolgungsfahrt 1 11 Verfolgungsfahrt 2
12 Verfolgungsfahrt 3 13
Verfolgungsfahrt ist kein Widerstand 14 Risikoeinschätzung bei Verfolgungsfahrten 15
Dienstunfall und Sonderrechte 16
Schlüsselwörter
01
Einleitung
TOP
In diesem Kapitel werden
die beiden folgenden unbestimmten Rechtsbegriffe wie folgt
verwendet:
Sonderrechtsfahrt: Das ist
eine Einsatzfahrt unter Inanspruchnahme von Sonderrechten iSv §
35 StVO.
§ 35
StVO (Sonderrechte)
Wegerechtsfahrt:
Das ist eine Einsatzfahrt mit eingeschaltetem Blaulicht und
eingeschaltetem Martinshorn iSv § 38 StVO unter Inanspruchnahme
von Sonderrechten auf der Grundlage von § 35 StVO.
§ 38
StVO (Blaues Blinklicht und gelbes Blinklicht)
Die
Verwendung von blauem Blinklicht in Verbindung mit
eingeschaltetem Martinshorn werden in einem eigenen Kapitel
erörtert. Im hier verwendeten Sinne dient das Einschalten von
Blaulicht und Martinshorn zuerst einmal nur der Verdeutlichung der Inanspruchnahme
von Sonderrechten, verbunden mit der Erwartungshaltung, dass
sich andere Verkehrsteilnehmer entsprechend verhalten, nämlich
einem Sonderrechtsfahrzeug sozusagen freie Fahrt gewähren.
Inanspruchnahme von Sonderrechten:
Gemäß § 35
Abs. 1 StVO ist die Polizei von den Vorschriften dieser
Verordnung befreit, soweit das zur Erfüllung hoheitlicher
Aufgaben dringend geboten ist.
Diese
beiden unbestimmten
Rechtsbegriffe bedürfen einer Klärung:
Erfüllung einer hoheitlichen Aufgabe:
Damit sind
alle polizeilichen Aufgaben gemeint, zu deren Erfüllung es
notwendig ist, die im öffentlichen Straßenverkehr einzuhaltenden
Pflichten in einem dafür erforderlichen Umfang sozusagen
vorübergehend außer Kraft zu setzen.
Sonderrechte können somit in Anspruch genommen werden, wenn es
darum geht, am öffentlichen Straßenverkehr teilnehmen zu müssen,
um:
-
Gefahren abzuwehren
-
Straftaten zu verfolgen
-
Ordnungswidrigkeiten zu verfolgen oder
-
Versammlungsrechtliche Aufgaben wahrzunehmen, die die
Inanspruchnahme von Sonderrechten zu rechtfertigen vermögen.
Dass es
dabei auf die Schwere/Bedeutung der jeweils wahrzunehmenden Aufgabe
ankommt, liegt in der Natur der Sache. Auch bei der
Inanspruchnahme von Sonderrechten gilt, dass diese nicht
grundlos in Anspruch genommen werden dürfen.
Anders ausgedrückt:
Reine Dienstfahrten reichen sicherlich nicht aus, um
Geschwindigkeitsüberschreitungen rechtfertigen zu können. Der
Umfang der „Befreiung“ von den Regelungen der StVO wird somit
immer davon abhängig sein, wie gewichtig das durch die
Inanspruchnahme von Sonderrechten zu
schützende Rechtsgut zu bewerten ist.
Dringend geboten:
Diese Sprachfigur bringt zum Ausdruck, dass Sonderrechte nur
dann in Anspruch genommen werden dürfen, wenn Belange der
öffentlichen Sicherheit oder Ordnung das "jetzt und sofort" zu
rechtfertigen vermögen. Unbestritten ist, dass Fahrer von
Sonderrechtsfahrzeugen sicherstellen müssen, dass andere
Verkehrsteilnehmer durch deren Inanspruchnahme
nicht geschädigt werden dürfen. Ausnahmen von diesem Grundsatz
kommen wohl nur anlässlich von Katastrophenfällen in Betracht.
Die Sprachfigur der Dringlichkeit bezieht sich somit nicht auf die
Dringlichkeit, zum Beispiel schneller als erlaubt zu fahren,
verbotswidrig abzubiegen oder einen Seitenstreifen zu benutzen,
um schneller an eine Unfallstelle kommen zu können, sondern auf
die Eilbedürftigkeit der zu erfüllenden polizeilichen Aufgabe.
Die Richter des OLG Frankfurt/Main hatten 2016 über folgenden
Fall zu entscheiden.
Anlass:
Weil keine ausreichende Rettungsgasse gebildet worden war,
benutzte der Fahrer eines Polizeifahrzeuges den Seitenstreifen
einer BAB, um schnell zum Unfallort gelangen zu können. Damit
hatte der Fahrer eines Pkw nicht gerechnet. Als er auf den
rechten Seitenstreifen fuhr, kam es zum Zusammenstoß. Der Fahrer
des Streifenwagens hatte Sonderrechte in Anspruch genommen ohne
blaues Blinklicht und Martinshorn eingeschaltet zu haben, weil
die dafür erforderlichen Voraussetzungen nicht gegeben waren.
Rechtslage?
Im
Urteil des OLG Frankfurt/Main heißt es dazu wie folgt:
OLG Frankfurt/Main 2016:
Nach § 35 Abs. 1 StVO ist u.a. die Polizei von den Vorschriften
der Verordnung befreit, soweit das zur Erfüllung hoheitlicher
Aufgaben dringend geboten ist. Entgegen der von der Klägerin
vertretenen Auffassung bezieht sich die Voraussetzung „soweit
das zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben dringend geboten ist“
nicht auf die Frage, ob die Nutzung des Seitenstreifens geboten
war, sondern darauf, ob die Erfüllung der öffentlichen Aufgabe
dringend geboten war. Dies war hier der Fall. Bei der Fahrt des
Einsatzfahrzeuges handelte es sich um eine hoheitliche
Einsatzfahrt. Diese war zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben im
Sinne des § 35 Abs. 1 StVO dringend geboten, weil das
Einsatzfahrzeug zu einem Unfall auf der Autobahn gerufen worden
war. Ein Einsatzbefehl an eine Polizeistreife rechtfertigt
grundsätzlich die Inanspruchnahme der Sonderrechte aus § 35 Abs.
1 StVO.
Dabei
tritt die Befreiung von den Vorschriften der StVO auch dann ein,
wenn das Sonderrechtsfahrzeug weder Einsatzhorn noch Blaulicht
führt oder diese zwar vorhanden sind, aber nicht betätigt
werden. Nach § 38 Abs. 2 StVO darf bei Einsatzfahrten - wie hier
- auch blaues Blinklicht allein verwendet werden.
OLG
Frankfurt am Main vom 14. März 2016 - 1 U 248/13
Verhältnismäßigkeit:
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hat Verfassungsrang.
Das sich daraus ergebende Übermaßverbot zwingt auch die Fahrer
von Dienstfahrzeugen der
Polizei bei der Inanspruchnahme von Sonderrechten dazu,
Sonderrechte im
geringstmöglichen Umfang in Anspruch zu nehmen.
Anders ausgedrückt:
Bei der Inanspruchnahme von Sonderrechten dürfen andere
Verkehrsteilnehmer weder gefährdet und erst recht nicht
geschädigt werden. Sonderrechte dürfen deshalb nur unter
Einhaltung größtmöglicher Sorgfalt wahrgenommen werden.
OLG Celle 2011:
Da jedes Abweichen von den Straßenverkehrsregeln erhöhte
Sorgfalt erfordert, wäre der [Fahrer eines Polizeifahrzeuges],
wenn ihm ein Sonderrecht zur Verfügung gestanden hätte,
verpflichtet gewesen, dieses erst in Abweichen von den
Verkehrsvorschriften auszuüben, wenn er sicher hätte sein
können, dass ihm von den anderen Verkehrsteilnehmern Vorrang
eingeräumt wird und diese insbesondere seinen Wagen wahrgenommen
haben und auch die Absicht, dass er trotz des Rotlichts in den
Kreuzungsbereich einfahren wollte.
OLG
Celle, Urteil vom 3. August 2011 – 14 U 158/10
Anders ausgedrückt:
Nehmen Polizeibeamte Sonderrechte in Anspruch und kommt es bei
der Inanspruchnahme dieser Rechte zu einem Verkehrsunfall, dann
haftet für den dadurch angerichteten Schaden grundsätzlich die
Polizei.
OLG Celle 2011:
Die Rechtsprechung geht bei einem Wegerechtsfahrzeug, das auf
einer ampelgeregelten Kreuzung einen Zusammenstoß verursacht,
noch von einer Schadensteilung aus, wenn das Einsatzfahrzeug die
Warnsignale eingeschaltet und eine Geschwindigkeit von bis zu 30
km/h aufgewiesen hat. Bei einer höheren Geschwindigkeit wird
jedoch in der Regel die überwiegende Mitverursachung oder
Alleinhaftung auf Seiten des Sonderrechtsfahrzeugs angenommen.
Der [Fahrer des Polizeifahrzeuges] war - wie erwähnt - unbedingt
gehalten, nur mit äußerster Vorsicht in den Kreuzungsbereich
einzufahren (Schrittgeschwindigkeit).
OLG
Celle, Urteil vom 3. August 2011 – 14 U 158/10
02 Begriff der Einsatzfahrt
TOP
Bei
einer Einsatzfahrt muss es sich nicht unbedingt um eine
Wegerechtsfahrt handeln, die dadurch gekennzeichnet ist, dass
die Inanspruchnahme von Vorrechten sich aus dem sichtbaren
blauen Blinklicht und dem hörbaren Martinshorn ableiten lassen.
Dazu gleich mehr.
Eine Einsatzfahrt im Sinne von § 35 StVO liegt
vor, wenn sich der Fahrer nach der ihm bekannten Lage davon
ausgehen kann, Sonderrechte in Anspruch zu nehmen. Auf
eine spätere objektive Betrachtung nach Beendigung der
Einsatzfahrt kommt es nicht an. Ergänzend dazu heißt es in einem
Urteil des OLG Hamm aus dem Jahr 2018, dem eine Einsatzfahrt
eines Rettungswagens zugrunde lag, wie folgt:
OLG Hamm 2018:
Wer sich auf das Vorliegen einer Einsatzfahrt beruft, ist für
die Voraussetzungen darlegungs- und beweisbelastet. Hierfür
reicht die bloße Vorlage des Einsatzprotokolls in der Regel
nicht.
OLG
Hamm, Urteil vom 04.05.2018 - 7 U 37/17
Dazu ein
Beispiel:
Beispiel:
Lars und
Mia erhalten über Funk den Auftrag, unter Inanspruchnahme von
Sonderrechten einen folgenschweren Verkehrsunfall mit mehreren
schwer verletzten Personen aufzunehmen. Die Leitstelle
informiert die Beamten auch darüber, dass sich Rettungsfahrzeuge
bereits auf dem Weg zur Unfallstelle befinden. Während Mia
sofort das Blaulicht und das Martinshorn einschaltet, fährt
Lars, unter Inanspruchnahme von Sonderrechten, mit der gerade
noch vertretbaren Höchstgeschwindigkeit zum Unfallort. Gerade
nähert sich Lars einer Ampelkreuzung, die von Grün auf Rot
wechselt. Lars reduziert die Geschwindigkeit und tastet sich
sozusagen in den Kreuzungsbereich ein, um im Anschluss daran das
Einsatzfahrzeug wieder zu beschleunigen. Rechtslage?
In
Anlehnung an einen Beschluss des OLG Düsseldorf auf dem Jahr
2010 heißt es im Hinblick auf die Voraussetzungen der
Einsatzfahrt von Rettungsfahrzeugen, wie folgt:
OLG Düsseldorf 2010:
Für die Beurteilung, ob es sich um eine Einsatzfahrt iSd § 35
Abs. 5a StVO [Rettungsdienst] handelt, kommt es nicht auf die
spätere objektive Betrachtung nach Beendigung der Einsatzfahrt,
die der Einsatzfahrer nicht anstellen konnte, an. Vielmehr ist
allein entscheidend, ob der Fahrer sich nach der ihm bekannten
Lage aufgrund des Inhalts des Einsatzbefehls [...] Für
berechtigt halten durfte, die Sonderrechte aus § 35 Abs. 5a StVO
in Anspruch zu nehmen.
OLG
Düsseldorf, Beschluss vom 06. Januar 2010 - IV-3 RBs 95/09
Diese
Ausführungen können analog auch auf Einsatzfahrten der Polizei
übertragen werden, die auf der Grundlage von § 35 Abs. 1 iVm
Abs. 8 StVO angewendet werden.
§ 35
StVO (Sonderrechte)
Lars und
Mia erhielten von ihrer Einsatzleitstelle die Weisung, unter
Inanspruchnahme von Sonderrechten zu einer Unfallstelle zu
fahren, an der es zu einem folgenschweren Verkehrsunfall
gekommen ist. Insoweit ist davon auszugehen, dass die
Voraussetzungen des § 35 StVO greifen.
03 Wegerechtsfahrt
TOP
Erteilt
die Einsatzleitstelle polizeilichen Einsatzkräften den Auftrag,
durch Inanspruchnahme von Sonderrechten eine Einsatzfahrt
durchzuführen, dann wird damit in der Regel nicht nur die
Eilbedürftigkeit, sondern auch die Notwendigkeit zum Ausdruck
gebracht, unter Inanspruchnahme von Sonderrechten möglichst
schnell zum Einsatzort zu fahren, so dass dieser Auftrag auch
die Weisung enthält, das blaue Blinklicht iVm mit dem
Martinshorn einzuschalten ist, soweit höchste Eile
geboten ist, um Menschenleben zu retten oder schwere
gesundheitliche Schäden, oder eine Gefahr für die öffentliche
Sicherheit oder Ordnung abzuwende, wozu auch die Sicherung des
Unfallortes gehören kann, um gegenwärtige Gefahren für andere
Verkehrsteilnehmer zu minimieren.
§ 38
StVO (Blaues Blinklicht und gelbes Blinklicht)
Diesbezüglich heißt es in einem Beschluss des OLG Hamm aus dem
Jahr 2020 wie folgt:
OLG Hamm 2020:
Nach § 38 Abs. 1 StVO besteht ein Wegevorrecht für
Sonderfahrzeuge, wenn sie sich unter Einsatz der Sondersignale
blaues Blinklicht und Einsatzhorn nähern. Es ordnet gemäß § 38
Abs. 1 S. 2 StVO an, dass alle übrigen Verkehrsteilnehmer sofort
freie Bahn zu schaffen haben. Die gleichzeitige Nutzung von
Blaulicht und Einsatzhorn ist Voraussetzung für die Anwendung
von § 38 StVO.
[...].
Bei § 38 StVO geht die überwiegende Rechtsprechung und Literatur
zwar davon aus, dass das Gebot, freie Bahn zu schaffen, allein
durch die Signale blaues Blinklicht und Einsatzhorn des
Einsatzfahrzeugs ausgelöst wird und von den anderen
Verkehrsteilnehmern sofort und unbedingt ohne Prüfung des
Wegerechts zu befolgen ist. Da die übrigen Verkehrsteilnehmer in
jedem Fall dem Wegerechtsfahrzeug freie Bahn zu schaffen haben,
ist eine fehlende Berechtigung, Blaulicht und Einsatzhorn
einzusetzen, nicht unfallursächlich; denn die
straßenverkehrsrechtlichen Sorgfaltspflichten hängen nicht von
der Berechtigung des Einsatzes von Blaulicht und Horn ab. Es ist
den übrigen Verkehrsteilnehmern in der konkreten
Verkehrssituation gar nicht möglich, die objektive Berechtigung
für die Verwendung von Blaulicht und Einsatzhorn zu beurteilen.
Es ist ihnen daher verwehrt, die Rechtmäßigkeit der Verwendung
der Einsatzmittel in Zweifel zu ziehen, so dass sie ohne Prüfung
der Sachlage sofort und unbedingt freie Bahn zu schaffen haben.
OLG
Hamm, Urteil vom 04.05.2018 - 7 U 37/17
Im hier
zu erörternden Fall kann davon ausgegangen werden, dass Lars und
Mia auf zulässige Art und Weise Sonderrechte in Anspruch nehmen,
ohne dadurch andere Verkehrsteilnehmer zu gefährden bzw. zu
schädigen.
In einem
Urteil des BGH zum „Wegerecht“ aus dem Jahr 1974 heißt es u.a.:
BGH 1974:
Die nach § 38 StVO bevorrechtigten Kraftfahrzeuge dürfen, wenn
sie Blaulicht und Einsatzhorn eingeschaltet haben, an Kreuzungen
die ihnen von anderen Verkehrsteilnehmern geschaffene freie Bahn
auch dann ausnutzen, wenn sie an sich wartepflichtig wären. Dies
gilt auch, wenn die Vorfahrtsregelung durch Lichtzeichenanlagen
getroffen wird.
Normadressat sind [...]
alle
übrigen Verkehrsteilnehmer. Die sog. Wegerechtsfahrzeuge werden
dadurch zwar nicht von der Beachtung aller Verkehrsvorschriften
befreit. Sie dürfen deshalb grundsätzlich z. B. nicht gegen eine
Einbahnstraße fahren, keine Straßenbahn links überholen und
nicht auf der Autobahn wenden, soweit dies nicht, was allerdings
oft der Fall sein kann, durch einen übergesetzlichen Notstand
(vgl. § 16
OWiG)
geboten ist.
§
16
OWiG
(Rechtfertigender Notstand)
Die
Vorschrift des § 38 Abs. 1 Satz 2 StVO führt auch nicht zur
Umkehrung des Vorfahrtsrechtes. Sie lässt vielmehr die Regelung
der Vorfahrt an Kreuzungen grundsätzlich unberührt, gestattet
also auch nicht ohne weiteres, bei rotem Ampellicht
weiterzufahren.
Jedoch
werden [...]
die
allgemeinen Maßstäbe dahingehend abgewandelt, dass die anderen
Verkehrsteilnehmer auf ihr Vorfahrtsrecht vorübergehend
verzichten müssen, wenn sie die besonderen Zeichen bemerkt
haben. Das nach § 38 StVO bevorrechtigte Fahrzeug darf, falls
die übrigen Verkehrsteilnehmer freie Bahn geschaffen haben,
diese dann aber auch in Anspruch nehmen, wenn sich sein Fahrer
davon überzeugt hat, dass alle anderen Verkehrsteilnehmer ihn
wahrgenommen und sich auf seine Absicht, die Kreuzung vor ihnen
zu überqueren, eingestellt haben. Der Fahrer eines
Wegerechtsfahrzeugs darf, wenn diese Voraussetzungen erfüllt
sind, darauf vertrauen, dass ihm nunmehr freie Fahrt gewährt
wird.
BGH,
Urteil vom 17. Dezember 1974 - VI ZR 207/73
04 Kein Gefährdungs- oder Schädigungsrecht
TOP
Im § 35
Abs. 8 StVO heißt es, dass die Sonderrechte nur unter
gebührender Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und
Ordnung ausgeübt werden dürfen. Das bedeutet, dass im Rahmen des
Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Gefährdungen und erst Recht
Schädigungen anderer Verkehrsteilnehmer zu vermeiden sind. Grund
dafür ist auch, dass Sonderrechte nur von den spezialgesetzlich
geregelten StVO-Pflichten, nicht aber von der Grundregel des § 1
StVO entbinden.
§ 1 StVO
(Grundregeln)
Das
bedeutet, dass Sonderrechte nur unter größtmöglicher Sorgfalt
wahrgenommen werden dürfen und es insoweit notwendig ist, stets
abzuwägen, welches Maß an Wagnis zur Wahrnehmung eines
polizeilichen Auftrages gerade noch verantwortet werden kann.
Daher können sich die Fahrer von Sonderrechtsfahrzeugen nicht
darauf berufen, sozusagen nach Gutdünken einfach draufloszufahren. Insbesondere beim Einfahren in Kreuzungsbereiche bei
Ampelrot kann und darf dies nur in der Gewissheit geschehen,
dass sich der Querverkehr darauf eingerichtet hat.
05 Grobe Fahrlässigkeit und Sonderrechte
TOP
Die
Fahrer polizeilicher Einsatzfahrzeuge, die bei Rot in einen
Kreuzungsbereich einfahren, ohne sich davon zu überzeugen, dass
dadurch andere nicht gefährdet bzw. geschädigt werden, handeln
grob fahrlässig, und somit vorwerfbar. Das ist oftmals auch dann
der Fall, wenn trotz eingeschalteten Blaulicht und Martinshorn
es in einem Kreuzungsbereich zu einem Zusammenstoß mit einem
anderen Verkehrsteilnehmer kommt, der die Wegerechtszeichen nicht wahrgenommen hat, weil
zum Beispiel die Wegerechtszeichen erst kurz vor
dem Einfahren in den Kreuzungsbereich vom Fahrer des
Polizeifahrzeuges eingeschaltet wurden. Diesbezüglich heißt es
in einer Entscheidung des VG Münsters aus dem Jahr 2016 wie
folgt:
VG Münster 2016:
Ein Polizeibeamter handelt grob fahrlässig im Sinne von § 48
BeamtStG, wenn er in eine für ihn mit Rotlicht gesperrte
Kreuzung ohne Einschalten des Signalhorns und verspätetem, weil
erst kurz vor der Kreuzung erfolgtem Aktivieren des Blaulichts
einfährt.
Nimmt
der Beamte als Fahrer eines Polizeifahrzeugs am allgemeinen
Straßenverkehr teil, muss er dafür Sorge tragen, dass das
Fahrzeug keinen Schaden nimmt. Verursacht der Beamte unter
Missachtung der Vorschriften der StVO einen Unfall, liegt darin
regelmäßig zugleich ein Verstoß gegen seine Amtspflicht, das
Eigentum des Dienstherrn zu schützen. Den Beamten trifft im
Rahmen seiner Dienstpflichten stets auch die Pflicht, die für
alle geltenden Gesetze zu achten.
Die
Sonderrechte der Polizei im Straßenverkehr sind in §§ 35, 38
StVO geregelt. Nach § 35 Abs. 1 StVO ist die Polizei von den
Vorschriften der StVO befreit, soweit das zur Erfüllung
hoheitlicher Aufgaben dringend geboten ist. Die Sonderrechte
dürfen nach § 35 Abs. 8 StVO nur unter gebührender
Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung
ausgeübt werden. Soll das Wegerecht in Anspruch genommen werden,
sind die Signalzeichen des § 38 Abs. 1 StVO zu verwenden (blaues
Blinklicht, Signalhorn). Das Wegerecht darf nur in Anspruch
genommen werden, wenn höchste Eile geboten ist, um Menschenleben
zu retten oder schwere gesundheitliche Schäden abzuwenden, eine
Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwenden,
flüchtige Personen zu verfolgen oder bedeutende Sachwerte zu
erhalten. Die Signalzeichen des § 38 StVO begründen für alle
übrigen Verkehrsteilnehmer das Gebot, sofort freie Bahn zu
schaffen.
Soll
eine Kreuzung unter Inanspruchnahme des Sonderwegerechts trotz
Rotlichts befahren werden, muss der Fahrer in Rechnung stellen,
dass andere Verkehrsteilnehmer die Sondersignale nicht oder
nicht rechtzeitig wahrnehmen und mit der für sie zulässigen
Geschwindigkeit herannahen. Die damit verbundene
Kollisionsgefahr ist unter allen Umständen zu vermeiden. Weder
die Inanspruchnahme des Sonderrechts nach § 35 StVO noch das
Wegerecht nach § 38 StVO berechtigen zu einer Gefährdung oder
gar Schädigung anderer Verkehrsteilnehmer. Der Fahrer des
Polizeifahrzeugs muss die größtmögliche Sorgfalt aufwenden, um
eine Gefährdung Anderer zu vermeiden. Er muss die Sondersignale
rechtzeitig einschalten und sich, soweit die
Verkehrsverhältnisse dies erfordern, notfalls mit
Schrittgeschwindigkeit in die Kreuzung „hinein tasten“. Die
Fahrt darf er nur fortsetzen, wenn er sich zuvor vergewissert
hat, dass alle anderen Verkehrsteilnehmer die Sondersignale
wahrgenommen haben und ihm ersichtlich freie Bahn einräumen.
VG
Münster, Urteil vom 5. September 2016 - 4 K 1534/15
So auch
die Rechtsauffassung der Richter des BGH.
BGH 2020:
Grobe Fahrlässigkeit setzt einen objektiv schweren und subjektiv
nicht entschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen der im
Verkehr erforderlichen Sorgfalt voraus. Grob fahrlässige
Unkenntnis liegt dann vor, wenn dem Gläubiger die Kenntnis
fehlt, weil er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in
ungewöhnlich grobem Maße verletzt und auch ganz naheliegende
Überlegungen nicht angestellt oder das nicht beachtet hat, was
jedem hätte einleuchten müssen. Ihm muss persönlich ein schwerer
Obliegenheitsverstoß in seiner eigenen Angelegenheit der
Anspruchsverfolgung vorgeworfen werden können.
BGH,
Urteil vom 26.05.2020 - VI ZR 186/17
Für
Schäden, die durch rechtswidriges Handeln von
Amtswaltern
eingetreten sind, haftet dennoch zuerst einmal die Behörde, die
ihrerseits die für sie handelnden
Amtswalter
nur dann in Regress nehmen kann, wenn diese vorsätzlich oder
grob fahrlässig gehandelt haben, siehe § 48 des
Beamtenstatusgesetzes.
§ 48
BeamtStG (Pflicht zum Schadensersatz)
Grob fahrlässig handelt, wer „die im Verkehr
erforderliche Sorgfalt gröblich außer Acht lässt.“ Das einem
grob fahrlässigen Verhalten zugrundeliegende Handeln lässt sich
auch wie folgt beschreiben: Wie kann man nur so blöd sein.
OVG
Sachsen 2023:
Dieser Fahrlässigkeitsbegriff bezieht sich auf ein individuelles
Verhalten; er enthält einen subjektiven Vorwurf. Daher muss
stets unter Berücksichtigung der persönlichen Umstände, der
individuellen Kenntnisse und Erfahrungen des Handelnden
beurteilt werden, ob und in welchem Maß sein Verhalten
fahrlässig war. Welchen Grad der Fahrlässigkeitsvorwurf
erreicht, hängt von einer Abwägung aller objektiven und
subjektiven Tatumstände im Einzelfall ab und entzieht sich
deshalb weitgehend einer Anwendung fester Regeln.
OVG
Sachsen, Beschluss vom 28. Juli 2023 - 2 A 411/22
06 Sonderrechte außerhalb des Dienstes
TOP
Die
Inanspruchnahme von Sonderrechten durch Polizeibeamte, die unter
Verwendung von Privatfahrzeugen Sonderrechte in Anspruch nehmen,
um ihrer Strafverfolgungspflicht zu entsprechen, kommt nur dann
in Betracht, wenn „Sonderrechte in Anspruch nehmende
Polizeibeamte“ selbst Zeugen oder Opfer schwerwiegender
Straftaten geworden sind und als Folge davon einen Privat-Pkw
dazu benutzen, um den fliehenden Täter stellen zu können.
Polizeibeamte, die sich sozusagen in den Dienst versetzen, um
mit ihrem Privat-Pkw den Täter eines Bagatelldeliktes
oder gar lediglich den Betroffenen einer
Verkehrsordnungswidrigkeit zu verfolgen, können solche
„Verfolgungsfahrten“ durch die Inanspruchnahme von Sonderrechten
wohl kaum rechtfertigen.
Beispiel:
Max, der sich gerade mit seinem Pkw auf dem Weg nach Hause
befindet, wird in einer 70er Zone von einem Pkw mit Anhänger
überholt, dessen Ladung vom Anhänger herunterzufallen droht.
Zumindest ragt ein Sofa so gefahrenträchtig heraus, dass Max es
für geboten hält, sich sozusagen wieder in den Dienst zu
versetzen, um seinen Berufspflichten nachzugehen. Als Max die
stolze Geschwindigkeit von 110 km/h erreicht hat, wird dieses
Fehlverhalten von einer Blitzanlage sozusagen beweissicher
festgehalten. In seiner Einlassung trägt Max vor, den Pkw mit
Anhänger etwa 2 km nach der Radarmessung angehalten und den
Fahrer, bei dem es sich um einen Ausländer handelte auf
Englisch dazu aufgefordert habe, die Ladung zu sichern. Das amtliche
Kennzeichen des Pkw habe er sich nicht gemerkt. Er habe sich
jedoch die Personalien des Fahrers aufgeschrieben, der in London
gemeldet sei. Rechtslage?
Über
einen vergleichbaren Fall hatten 2009 die Richter des AG
Lüdinghausen zu entscheiden. Bei ihrer Urteilsfindung gingen die
Richter davon aus, dass es sich bei der von Max vorgetragenen
Einlassung um eine Schutzbehauptung gehandelt habe, um
verkehrsrechtliches Fehlverhalten so rechtfertigen zu können.
AG Lüdinghausen 2009:
Unter
Berücksichtigung aller Umstände, die sich aus der Einlassung
ergeben ergibt sich, dass es sich hier einmal mehr um eine
konstruierte Geschichte eines Polizeibeamten handelt, der einer
Ahndung eines eigenen bußgeldbewährten Verstoßes entgehen will.
Maßgebliche Indizien hierfür sind, hier sprachlich verändert
wiedergegeben:
Der
Einsatz erfolgte außerhalb des eigenen örtlichen
Zuständigkeitsbereichs des einschreitenden Polizeibeamten
Einsatz
erfolgte außerhalb seiner eigenen dienstlichen Zuständigkeit,
denn mit der Wahrnehmung verkehrsrechtlicher Aufgaben war der
Beamte nicht betraut
Ahndung
eines Verstoßes ohne dienstliche Dokumentation
Die
völlig untypische Ahndung eines Ladungssicherungsverstoßes durch
bloße mündliche Verwarnung
Das
Fehlen eines amtlichen Kennzeichens trotz angeblich genauer
Notiz der Personalien des Betroffenen.
Folgerichtig konnte sich der Betroffene nach Ansicht des
Gerichtes nicht auf § 35 StVO berufen.
Der
Betroffene war dementsprechend wegen fahrlässiger Überschreitung
der zulässigen Höchstgeschwindigkeit und folgerichtig wegen
einer Ordnungswidrigkeit nach §§ 41 Abs. 2, 49 StVO, 24
StVG
zu verurteilen, da er die aufgestellten Schilder hätte beachten
und seine Geschwindigkeit hierauf hätte einstellen müssen.
AG
Lüdinghausen, Urteil vom 28.09.2009 - 19 OWi 89 Js 960/09 -
72/09
Anders
wäre die Rechtslage zu beurteilen gewesen, wenn Max Zeuge eines
Raubüberfalls geworden wäre und sofort die Verfolgung des mit einem Krad fliehenden Täters aufgenommen hätte,
weil der Beraubte keine Erste Hilfe benötigte, sondern gerufen
hatte: „Haltet den Räuber!“
Wie dem
auch immer sei.
In
Anlehnung an die so genannte Schweretheorie spricht viel dafür
dass sich sowohl die Rechtsprechung als auch die herrschende
Meinung ausschließlich an der Tat orientieren, die einen Beamten
außer Dienst dazu bewogen haben, sich sozusagen in den Dienst zu
versetzen, um dann die Rechte in Anspruch nehmen zu können, die
ihm als Amtswalter zustehen.
Eine
solche Sichtweise ermöglicht es, in Anlehnung an den
Regelungsinhalt von § 138 StGB, sowie bei Übernahme der
Katalogstraftaten, die in den §§ 100a und 100b StPO aufgeführt
sind, auch Sonderrechtsfahrten mit Privat-Pkw zu rechtfertigen.
Anders ausgedrückt: Bei Verbrechen und schweren Straftaten
können Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte auch in ihrer
Freizeit sozusagen Sonderrechte in Anspruch nehmen, wenn sie
sich in den Dienst versetzen.
Hinweis: Auch die Fahrer von Zivilfahrzeugen
der Polizei können Sonderrechte in Anspruchnehmen, müssen dabei
aber im besonderen Maße die Risiken beachten, die sich aus der
Inanspruchnahme von Sonderrechten ergeben. Dies gilt auch für
die Fahrer von Dienstfahrzeugen die von den Mobilen
Einsatzkommandos verwendet werden.
07 Sonderfahrt nicht gehört oder wahrgenommen
TOP
Es kann
nicht davon ausgegangen werden, dass andere Verkehrsteilnehmer
Einsatzfahrzeuge der Polizei, die mit eingeschaltetem blauen
Blinklicht und eingeschaltetem Martinshorn Sonderrechte in
Anspruch nehmen, so rechtzeitig wahrnehmen, um ihren Pflichten
nachkommen zu können, denn blaues Blinklicht und das
eingeschaltete Martinshorn ordnen ja bekanntermaßen an, dass alle übrigen
Verkehrsteilnehmer sofort freie Bahn zu schaffen haben.
Darauf
zu vertrauen ist für die Fahrer von Sonderrechtsfahrzeugen
jedoch keine
Option. Das gilt insbesondere für den Querverkehr in Kreuzungen
und Einmündungsbereichen.
Beispiel:
Lars und
Mia befinden sich mit eingeschaltetem Blaulicht und
eingeschaltetem Martinshorn auf dem Weg zu einem schweren
Verkehrsunfall mit Personenschaden. Beim Einfahren in einen
Kreuzungsbereich bei Ampelrot reduziert Lars die Geschwindigkeit
des Streifenwagens kurz, um dann sofort wieder zu beschleunigen,
weil er meint, dass dadurch die Fahrerin eines Pkw, die bei Grün
in den Kreuzungsbereich einfährt, dadurch nicht gefährdet wird. Lars
irrt sich. Im Kreuzungsbereich kommt es zu einem Zusammenprall.
Rechtslage?
Ein
vergleichbarer Fall wurde 2022 beim LG Stuttgart verhandelt.
LG Stuttgart 2022:
Gemäß § 35
Abs. 5a StVO war der [der Fahrer des Sonderrechtsfahrzeugs] zum
Unfallzeitpunkt von den Vorschriften der StVO befreit.
Allerdings dürfen diese Sonderrechte gemäß § 35 Abs. 7 StVO nur
unter gebührender Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit
und Ordnung ausgeübt werden. Zwar bedeutet nicht jede leichte
Fahrlässigkeit einen Verstoß gegen § 35 Abs. 7 StVO. Allerdings
verpflichtet die gebotene Rücksichtnahme den privilegierten
Fahrer, sich zunächst langsam in die Kreuzung „hineinzutasten“.
Der Fahrer muss also zunächst mit so geringer Geschwindigkeit
fahren, dass er sofort anhalten kann, wenn er ein
vorfahrtsberechtigtes Fahrzeug erkennt. Erst wenn er sich
hinreichend vergewissert hat, dass der Querverkehr das
privilegierte Fahrzeug erkannt hat und ihm den Vorrang einräumt,
darf er wieder beschleunigen.
LG
Stuttgart, Urteil vom 14.06.2022 - 12 O 423/20
Die
Richter entschieden, dass der Fahrer des Sonderrechtsfahrzeugs
den Unfall verursacht habe, während der Fahrerin des anderen Pkw
keine Schuld an dem Zustandekommen des Verkehrsunfalls trifft.
Die
Fahrer von Sonderrechtsfahrzeugen, die sozusagen grob
pflichtwidrig von Sonderrechten Gebrauch machen, gehen damit ein
hohes Risiko ein.
Beispiel:
Max und Moritz befinden sich mit eingeschaltetem Blaulicht und
eingeschaltetem Martinshorn auf dem Weg in die Innenstadt an der
es zu einem folgenschweren Verkehrsunfall gekommen ist, denn ein
Pkw-Fahrer ist wohl ungebremst in eine Gruppe Fußgänger
gefahren. Max steht zurzeit so unter Adrenalin, dass es ihm gar
nicht in den Kopf kommen will, die Geschwindigkeit des
Streifenwagens zu reduzieren, als er sich einer Kreuzung mit
Ampelrot nähert. Im Kreuzungsbereich kommt es zu einem
folgenschweren Verkehrsunfall. Rechtslage?
Auch in dem
Urteil des VG
Gelsenkrichen,
in dem es ebenfalls darum ging, zu klären, welche Folgen es für
die Fahrer von Sonderrechtsfahrzeugen mit sich bringt, sozusagen
ungebremst in Kreuzungsbereiche einzufahren, heißt es:
VG Gelsenkirchen 2015:
Dass der Kläger [gemeint ist die Polizei, die der Auffassung
war, dass der Fahrer des Sonderrechtsfahrzeugs alles richtig
gemacht hatte] mit nahezu unverändert hoher Geschwindigkeit in
den Kreuzungsbereich einfuhr und dabei nicht auf annähernde
Schrittgeschwindigkeit abgebremst hat, ergibt sich über die
Zeugenvernehmung hinaus auch aus den weiteren Umständen, die der
Beklagte in seiner Argumentation ebenfalls schon zugrunde gelegt
hat: Zunächst war die Wucht des Aufpralls nach dem
Verwaltungsvorgang
[...]
so
groß, dass der Pkw des Unfallgegners um etwa 90 Grad gedreht
wurde und schließlich in Richtung L.-T.-Straße zeigte, aus
welcher der Kläger im Polizeifahrzeug herangefahren war. [...].
Zudem stellte der von dem Beklagten [der Unfallgegner]
herangezogene Gutachter bei der Begutachtung des Dienstfahrzeugs
einen „rammartigen Frontanstoß“ in Anbetracht der komplett
beschädigten Front des Einsatzfahrzeugs fest. Schließlich hätte
die Entfernung von der Einmündung aus [...]
bis
hin zur Unfallstelle im südlichen Kreuzungsbereich, die sich
nach den Angaben in der Unfallskizze der aufnehmenden
Polizeibeamten auf etwa 24-26 Meter bemisst, bei annähernder
Schrittgeschwindigkeit (d.h. jedenfalls weniger als 10 km/h)
genügt, um den Unfall erheblich abzumildern bzw. gegebenenfalls
sogar gänzlich zu vermeiden. Sowohl Reaktions- als auch Bremsweg
wären bei einer derartigen Geschwindigkeit auf der (laut
Unfallbericht)
trockenen Fahrbahn um ein Vielfaches niedriger ausgefallen. Legt
man die vorstehenden Feststellungen aus der Beweisaufnahme
zugrunde, hat der Kläger seine Dienstpflichten in grob
fahrlässiger Weise verletzt.
VG
Gelsenkirchen, Urteil vom 19.10.2015 - 1 K 1492/14
08 Kradbegleitung einer Demonstration
TOP
Bloße
„Einsatzfahrten“, die überwiegend dem Zweck dienen, polizeiliche
Anwesenheit zu dokumentieren, dürfen für andere nicht gefährlich
werden und erst recht andere nicht schädigen.
Beispiel:
Max hat den Auftrag erhalten, einen Demonstrationszug auf einem
Polizeikrad zu begleiten. Dabei verursachte Max einen
Verkehrsunfall, als er auf der Einbahnstraße, auf der sich der
Demonstrationszug befindet, Max sein Krad wendete, um zu schauen, ob
hinter ihm noch alles in Ordnung ist. Dabei kommt es zu einem
Zusammenstoß mit einem Demonstrationsteilnehmer. Rechtslage?
Ein
vergleichbarer Fall wurde 2005 von den Richtern des
Kammergerichts Berlin wie folgt entschieden.
KG Berlin 2005:
Nach § 35 Abs. 1 StVO sind Sonderrechtsfahrzeuge, also auch
Polizeimotorräder, von den Vorschriften der StVO befreit,
„soweit das zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben dringend geboten
ist“; diese Rechtsfolge tritt auch dann ein, wenn das
Sonderrechtsfahrzeug weder Horn noch Blaulicht führt, oder diese
zwar vorhanden sind, aber nicht betätigt werden.
Es kann
vorliegend dahinstehen, ob das Verhalten des Polizeibeamten zur
Erfüllung hoheitlicher Aufgaben dringend geboten war. Jedenfalls
hat der Polizeibeamte gegen das sich aus § 35 Abs. 8 StVO
ergebende Gebot der Rücksichtnahme auf die öffentliche
Sicherheit und Ordnung verstoßen. § 35 StVO befreit nicht von
der allgemeinen Sorgfaltspflicht, denn die Wahrnehmung der
Sonderrechte darf jeweils nur unter größtmöglicher Sorgfalt
erfolgen. Je mehr sich der Einsatzfahrer über allgemeine
Verkehrsregeln hinwegsetzt und dadurch die Unfallgefahren
erhöht, desto größer ist die ihm obliegende Sorgfaltspflicht.
Die Erfordernisse der Verkehrssicherheit haben Vorrang vor dem
raschen Vorwärtskommen. Darüber hinaus darf die zu erfüllende
hoheitliche Aufgabe zu dem Verkehrsverstoß nicht außer
Verhältnis stehen.
KG,
Urteil vom 25.04.2005 - 12 U 123/04
09 Verfolgungsfahrten
TOP
Es gibt
eine Vielzahl von Anlässen, die Polizeibeamtinnen und
Polizeibeamte dazu bewegen, unter Inanspruchnahme sowohl von
Sonder- als auch von Wegerechten, motorisierte Fahrzeugführer zu
verfolgen, weil die, insbesondere im Zusammenhang mit
allgemeinen Verkehrskontrollen:
-
Erteilten Anhaltezeichen nicht nachgekommen sind und sich
sozusagen durch Flucht einer polizeilichen Kontrolle zu
entziehen versuchen
-
Durch Reduzierung der Fahrtgeschwindigkeit den Eindruck
erweckten, anhalten zu wollen, es sich aber dann doch anders
überlegen
-
Anhalten, um dann doch ihr Glück in der Flucht suchten
-
Die
Gelegenheit für ein Autorennen mit der Polizei nicht
ungenutzt verstreichen lassen wollen.
Natürlich kann es auch aus anderen Gründen zu Verfolgungsfahrten
kommen, auf die aufzuzählen hier verzichtet wird.
Eine
Verfolgungsfahrt setzt in der Regel voraus, dass eine Person den
Versuch unternimmt, sich mit einem Kraftfahrzeug dem Zugriff
durch die Polizei zu entziehen. Für die Beamten, die ebenfalls
unter Verwendung eines Kraftfahrzeuges den Flüchtenden stellen
wollen, handelt es sich bei der Verfolgungsfahrt um eine
„Sonderform der Dringlichkeitsfahrt“, bei der das Wegerecht
sowie Sonderrechte gemäß
Straßenverkehrs-Ordnung
(StVO) Anwendung finden können.
Diesbezüglich heißt es im § 38 Abs. 1 StVO wie folgt:
§ 38 Abs. 1 StVO Blaues Blinklicht zusammen mit dem
Einsatzhorn darf nur verwendet werden, wenn höchste Eile geboten
ist, um Menschenleben zu retten oder schwere gesundheitliche
Schäden abzuwenden, eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit
oder Ordnung abzuwenden, flüchtige Personen zu verfolgen oder
bedeutende Sachwerte zu erhalten.
Es
ordnet an:
„Alle
übrigen Verkehrsteilnehmer haben sofort freie Bahn zu schaffen“.
Diese
kurzen Ausführungen zu Verfolgungsfahrten lassen dennoch im
Hinblick auf die Art und Intensität der Verfolgungsfahrt durch
die Polizei keinerlei Aussagen im Hinblick auf die
Rechtmäßigkeit und erst recht nicht auf deren
Verhältnismäßigkeit zu, denn es sind durchaus Fälle denkbar, in
denen eine Verfolgungsfahrt einzustellen ist, um andere
Verkehrsteilnehmer nicht zu gefährden. Was damit gemeint ist,
das lässt sich nur am konkreten Einzelfall aufzeigen. Dazu
gleich mehr.
Zuerst
einmal gilt es festzustellen, dass Einsatzfahrten unter
Inanspruchnahme von Sonderrechten, mit besonderen Gefahren
verbunden sind. In einer Broschüre des Kreisfeuerwehrverbands
Saarpfalz e.V. aus dem Jahr 2010 heißt es im Hinblick auf die
erhöhte Gefährlichkeit solcher Fahrten wie folgt:
-
Es
besteht ein 17-mal höheres Risiko, einen Unfall mit hohem
Sachschaden bei einer Einsatzfahrt mit Sonderrechten im
Vergleich zu einer Fahrt ohne Sonderrechten zu verursachen
-
Es
besteht eine 8-mal höhere Gefahr eines Unfalls mit schwer
Verletzten
-
Von
einer 4-mal höheren Gefahr eines tödlichen Unfallausgangs kann
ausgegangen werden.
Kurzum:
Alle 19
Sekunden kommt es bei Einsatzfahrten, insbesondere in
Innenstädten, zu kritischen Situationen. Das gilt auch für
Einsatzfahrten bei der Inanspruchnahme von Wegerechten iSv § 38
StVO (Blaues Blinklicht und gelbes Blinklicht).
Von einem
gesteigerten Gefährdungspotential anlässlich von Einsatzfahrten
unter Anwendung von Sonderrechten – mit aber auch ohne
Wegerechte – kann auch bei der Polizei ausgegangen werden. Es
mag insoweit nicht zu verwundern, dass es im Landesteil der
PDV
100 (Führung und Einsatz der Polizei) im Teil K Regelungen gibt,
die „polizeiliche Einsatzfahrten unter Inanspruchnahme von
Sonder- und Wegerechten, Verfolgungsfahrten betreffen“.
RdErl.
d. Innenministeriums IV C 2 – 1592/643/644 v. 9.9.1997, geändert
durch
RdErl. v.
29.6.2007
- 41 – 60.26-LT
NRW
PDV
100 - Teil K-. Dieser Erlass steht im Internet nicht zur
Verfügung. Er ist nur für den Dienstgebrauch bestimmt.
Aber
auch ohne Kenntnisse der Inhalte, die im oben zitierten Erlass
zu vermuten sind, lässt sich abschließend im Hinblick auf
Einsatzfahrten, Verfolgungsfahrten oder Sonderrechtsfahrten
unter Inanspruchnahme von Wegerechten Folgendes feststellen:
Unter
Nutzung von Sonderrechten darf der Fahrer eines
Sonderrechtsfahrzeuges ALLES, aber es darf NICHTS passieren.
10 Verfolgungsfahrt und Kraftfahrzeugrennen
TOP
Diesbezüglich heißt es in einem Urteil des AG
Waldbröl
aus dem Jahr 2019 wie folgt:
AG
Waldbröhl:
Wer anlässlich einer Verfolgungsfahrt durch die Polizei seinen
PKW über eine nicht nur kurze Strecke weit über die zulässige
Höchstgeschwindigkeit beschleunigt, erfüllt regelmäßig den
Tatbestand des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB.
Amtsgericht
Waldbröl,
Urteil vom 14.01.2019 – 40 Ds 536/18
Dass der
Fahrer bei seinem Versuch, sich der Polizeikontrolle zu
entziehen, verunfallte und dabei auch der Beifahrer unverletzt blieb,
ist eine Besonderheit, die für die rechtliche Bewertung der
Verfolgungsfahrt durch den Fahrer eines Polizeifahrzeuges nicht
von Bedeutung sind, weil es zu solch einem Schadensereignis
nicht gekommen ist. Insoweit kann davon ausgegangen werden, dass
es sich bei einer Verfolgungsfahrt um einen unaufschiebbaren Verwaltungsakt,
oder um eine durchzusetzende Zwangsmaßnahme der StPO handelt,
die sofort mit
verhältnismäßigen Mitteln erzwungen werden kann.
Ob es sich bei
dem Hinterherfahren des Polizeifahrzeuges unter Inanspruchnahme
von Sonder- und Wegerechten bereits um die Anwendung
unmittelbaren Zwangs handelt, ist eine nicht leicht zu
beantwortende Frage, zumal in Anlehnung an die neuere
Rechtsprechung es dabei nicht unbedingt zu physischer
Gewaltanwendung kommen muss, sondern auch psychische Gewalt
durchaus als unmittelbarer Zwang anzusehen ist.
Wie dem auch immer sei:
An der Rechtmäßigkeit der polizeilichen Verfolgungsfahrt zu
zweifeln, würde es erforderlich machen, der Polizei überhaupt
ihr Daseinsrecht abzusprechen. Im Übrigen lohnt es sich, das
Urteil des AG Waldbröhl im Volltext zu lesen, denn die Tatvorwürfe lassen
erkennen, welche Gründe motorisierte Verkehrsteilnehmer
dazu bewegen, sich allgemeinen Verkehrskontrollen zu
entziehen:
-
Fahren ohne Fahrerlaubnis
-
Trunkenheitsfahrt
iSv
§ 316 StGB
-
0,5
Promille-Grenze, § 24a StVG
Urteil im Volltext
Das
Urteil ist auch im Hinblick auf die weiteren Tatvorwürfe
lesenswert.
11 Verfolgungsfahrt 2
TOP
Dienstfahrzeuge können nicht nur passiv, zum Beispiel anlässlich
von Straßensperren, sondern auch aktiv als Hilfsmittel der
körperlichen Gewalt eingesetzt werden. Das folgende Beispiel
zeigt auf, dass bei der Beurteilung der Rechtslage sowohl
Aspekte der Inanspruchnahme von Sonderrechten auf der Grundlage
von § 35 StVO als auch Fragen, die den unmittelbaren Zwang durch
den Einsatz von Hilfsmitteln der körperlichen Gewalt betreffen, zu bedenken
sind, denn ein Streifenwagen ist, wenn er, wie das folgende
Beispiel zeigt, als ein „Bremsklotz“ eingesetzt wird, als
Verwaltungszwang zu klassifizieren.
Beispiel:
Lars und Mia verfolgen, Blaulicht und Martinshorn eingeschaltet,
mit hoher Geschwindigkeit einen Pkw-Fahrer, der sich in einem
gestohlenen Pkw einer Polizeikontrolle zu entziehen versucht,
denn das Fluchtfahrzeug liegt als gestohlen im polizeilichen
Datenverbund ein. Das dürfte wohl auch der Grund dafür sein,
dass der Fahrer kein Risiko scheut. Die Folge davon ist, dass es
bei der Flucht zu mehreren Verkehrsgefährdungen kommt und in
einem Fall ein Unfall nur durch viel Glück vermieden werden
konnte. In einem günstigen Moment gelingt es Lars, an dem Pkw
vorbeizufahren. Lars hält es für zielführend, diese Gelegenheit
zu nutzen, das Fluchtfahrzeug nach rechts abzudrängen, zumal die
Örtlichkeiten das gerade zulassen. Dabei kommt es zu einem
seitlichen Zusammenstoß zwischen dem Dienstfahrzeug und dem
Fluchtfahrzeug. Durfte Lars den flüchtenden Pkw-Fahrer unter
Einsatz des Streifenwagens in der oben geschilderten Art und
Weise stoppen?
Offenkundig ist, dass es sich bei dem Fahrer des Pkw um einen
Tatverdächtigen handelt, dem nicht nur mehrere Verkehrsdelikte,
sondern wahrscheinlich auch Diebstahl vorgeworfen werden kann.
Die Folge davon ist, dass der Fahrer im dringenden Tatverdacht
steht, Straftaten begangen zu haben und somit auf der Grundlage
von § 127 StPO (Vorläufige Festnahme) festgenommen werden kann.
Unabhängig davon gefährdet der Fahrer im Fluchtfahrzeug durch
seine Fahrweise auch gegenwärtig Leib und Leben anderer
Verkehrsteilnehmer, so dass auch zur Abwehr dieser Gefahr der
Fahrer zu stoppen ist.
Hinsichtlich der Inanspruchnahme von Sonderrechten durch Lars,
der den Streifenwagen fährt, ist anzumerken, dass er von den
Vorschriften der StVO befreit ist, soweit das zur Erfüllung
hoheitlicher Aufgaben dringend geboten ist. Bei der Festnahme
eines flüchtigen Tatverdächtigen handelt es sich um eine
hoheitliche Aufgabe. Außerdem handelt es sich bei der
durchzusetzenden Maßnahme (Festnahme) um eine so genannte
Zwangsbefugnis der StPO, so dass diese
Maßnahme erzwungen werden kann.
Dennoch darf Lars
Sonderrechte nur unter gebührender Berücksichtigung der
öffentlichen Sicherheit und Ordnung zur Anwendung kommen lassen.
Diese Frage lässt sich jedoch nur am konkreten Sachverhalt
prüfen, denn die Inanspruchnahme von Sonderrechten setzt voraus,
dass Lars natürlich auch die Sicherheitsinteressen anderer
Verkehrsteilnehmer zu berücksichtigen hat, was letztendlich nur
dann gegeben ist, wenn andere Verkehrsteilnehmer (nicht gemeint
ist der Fahrer im Fluchtfahrzeug) dadurch weder gefährdet und
erst recht nicht geschädigt werden dürfen. Diese Voraussetzungen
sind gegeben, denn das Beispiel enthält keine Hinweise darauf,
dass Lars - im Gegensatz zu dem flüchtenden Fahrer – andere
Verkehrsteilnehmer gefährdet hat. Da die Anwendung von Zwang
gesetzlich zugelassen ist, das ergibt sich unmittelbar aus § 127
StPO (Vorläufige Festnahme), denn bei dieser Befugnis handelt es
sich um eine so genannte Zwangsbefugnis der StPO, kann
festgestellt werden, dass der Fahrer im Fluchtfahrzeug auch
unter Anwendung unmittelbaren Zwangs angehalten werden durfte.
Letztendlich ist es nur eine Frage der Verhältnismäßigkeit, mit
welchen Mitteln das Lars und Mia gelingt.
Da
mehrfache Anhalteversuche gescheitert sind, nutzt Lars eine sich
ihm bietende günstige Gelegenheit dazu, das von ihm gefahrene
Dienstfahrzeug als „Hilfsmittel der körperlichen Gewalt“
sozusagen als einen sich in Bewegung befindlichen „Bremsklotz“
einzusetzen. Das der Einsatz dieses Mittels geeignet war, das
Fluchtfahrzeug anzuhalten, beweist der Erfolg. Gleiches gilt
uneingeschränkt auch für die Erforderlichkeit und die
Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit) des Einsatzes des
Dienstfahrzeuges als Hilfsmittel der körperlichen Gewalt.
Anders
wäre zu entscheiden gewesen, wenn Lars und Mia auf diese Art und
Weise einen Mofafahrer hätten anhalten wollen, der sich mit
seinem frisierten Mofa einer Polizeikontrolle entzieht. Das wäre
im Hinblick auf die zu erwartenden Folgen sicherlich
unverhältnismäßig gewesen. Im Übrigen ist festzustellen, dass
derjenige die Folgen rechtmäßigen Zwangs zu tragen hat, gegen
den sich rechtmäßiger Zwang richtet. Der Fahrer des gestoppten
Pkws wird auch für den Schaden einzutreten haben, der am
Polizeifahrzeug entstanden ist.
12 Verfolgungsfahrt 3
TOP
Es gibt
eine Vielzahl von Anlässen, die Fahrzeugführer dazu bewegen,
sich polizeilichen Kontrollmaßnahmen zu entziehen. Oftmals
handelt es sich bei den Fahrzeugführern um Personen, die sich
einer Polizeikontrolle entziehen wollen, weil sie:
-
Alkohol getrunken haben
-
Unter Drogeneinfluss stehen
-
Nicht im Besitz einer Fahrerlaubnis sind
-
Ein
gestohlenes Fahrzeug führen
-
Zur
Festnahme im Fahndungssystem ausgeschrieben sind
-
Einfach Null-Bock auf eine Polizeikontrolle haben
-
Den
besonderen Kick einer Verfolgungsfahrt genießen wollen.
Es
dürfte polizeilichen Erfahrungen entsprechen, dass insbesondere
Personen im Heranwachsendenalter die mit solch einer „Flucht“
verbundenen Risiken oftmals in Kauf nehmen.
Das gilt
aber gleichermaßen auch für Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte,
die im Rahmen von Verfolgungsfahrten ebenfalls Risiken
hinzunehmen bereit sind, obwohl deren Grenzen durch einzuhaltende
gesetzliche Regelungen eingeengt sind.
Beispiel:
Lars und Mia führen eine allgemeine Verkehrskontrolle durch. Als
Mia mit einer Winkerkelle dem Fahrer eines Pkw Anhaltezeichen
gibt, reduziert der Fahrer - für Mia gut erkennbar – die
Geschwindigkeit. Im Pkw befinden sich vier junge Erwachsene,
zwei Männer und zwei Frauen. Als der Fahrer sich mit seinem Pkw
in Höhe von Mia befindet, gibt er Gas. Lars und Mia nehmen
sofort die Verfolgung mit eingeschaltetem Blaulicht und
eingeschaltetem Martinshorn auf und binden zeitgleich auch
andere Streifenwagenbesatzungen mit in die Fahndung nach dem
flüchtenden Pkw-Fahrer ein, der gerade mit ca. 110 km/h in eine
Ortschaft einfährt. Lars reduziert die Geschwindigkeit seines
Dienstfahrzeuges so weit, dass er jederzeit angemessen reagieren
kann, sollte es in der Ortschaft zu unvorhergesehenen Risiken
kommen. Bedauerlicherweise verliert Lars dadurch den Kontakt zu
dem flüchtenden Pkw-Fahrer. Sein Ärger darüber verliert sich
aber, als er ein paar Minuten später über Funk hört, dass der
Fahrer von Kollegen in unmittelbarer Nähe der
„Halteranschrift des Pkw“ kontrolliert werden konnte. Hat Lars
richtig gehandelt, als er das Risiko der Verfolgungsfahrt
reduzierte?
Wer
daran zweifelt, dem kann nur empfohlen werden, sich bewusst zu
machen, dass Verfolgungsfahrten, wie sie in Kriminalfilmen zu
sehen sind, nur sehr selten im polizeilichen Berufsalltag
vorkommen. Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte sind im
Übrigen auch keine Stuntmen oder ausgebildete Rallyefahrer,
sondern Amtswalter, die an Gesetz und Recht gebunden sind.
Im hier
zu erörternden Sachzusammenhang reicht es aus, festzustellen,
dass Lars das Risiko, das mit zu schnellem Fahren – insbesondere
in geschlossenen Ortschaften – verbunden ist, so weit reduziert
hat, dass dadurch andere weder gefährdet und erst recht nicht
geschädigt werden konnten. Das wird von ihm bei der
Inanspruchnahme von Sonderrechten – auch in Verbindung mit
Wegerechten – so erwartet. Im Übrigen weiß Lars auch, dass
sich in dem Pkw vier Personen befinden, die durch eine wilde
Flucht erheblichen Gefahren
ausgesetzt sind, denn bei diesen „Beifahrern“
handelt es sich nicht um Tatverdächtige, sondern um Personen,
die dem rechtswidrigen Verhalten des Fahrers sozusagen auf
Gedeih und Verderb ausgeliefert sind, und bei denen es sich,
sollte es zur Zwangsanwendung – zum Beispiel durch Rammen des
Fluchtfahrzeuges durch den Streifenwagen kommen – um
unbeteiligte Personen handeln würde, gegen die sich der Zwang
dann richtet.
Auch wenn
die nachfolgend zitierte Stelle aus dem § 63
PolG
NRW (Allgemeine Vorschriften für den Schusswaffengebrauch) nicht
genau passen, weil ein Streifenwagen, der als ein Hilfsmittel
der körperlichen Gewaltanwendung eingesetzt wird, keine
Schusswaffe ist, bestehen dennoch keine Bedenken, im hier zu
erörternden Sachzusammenhang auf § 63 Abs. 4
PolG
NRW zumindest hinzuweisen.
Dort heißt es:
(4) Der
Schusswaffengebrauch ist unzulässig, wenn für den
Polizeivollzugsbeamten erkennbar Unbeteiligte mit hoher
Wahrscheinlichkeit gefährdet werden.
Unabhängig davon lässt sich die Zurückhaltung von Lars auch
dadurch rechtfertigen, dass sich gegen Personen, die weder
tatbestandlich, noch rechtswidrig und somit auch nicht
schuldhaft handeln und auch keine Adressaten sind, weil von
ihnen keine Gefahren ausgehen, sich gefahrenträchtige Maßnahmen der Polizei
aus Rechtsgründen grundsätzlich nicht rechtfertigen lassen. Im
Übrigen gebietet es auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei
der Durchsetzung polizeilicher Maßnahmen, zu verhindern, dass es
bei der Durchsetzung dieser Maßnahmen zu einem Schaden kommt,
der zum Erfolg außer Verhältnis steht.
13 Verfolgungsfahrt ist kein Widerstand
TOP
Anders
ausgedrückt: Flucht vor der Polizei ist kein
Widerstand. Diesbezüglich heißt es in einem Beschluss des BGH
aus dem Jahr 2012 wie folgt:
BGH 2012: Mit Gewalt“ wird Widerstand
geleistet, wenn unter Einsatz materieller Zwangsmittel, vor
allem körperlicher Kraft, ein tätiges Handeln gegen die Person
des Vollstreckenden erfolgt, das geeignet ist, die Vollendung
der Diensthandlung zumindest zu erschweren. Die bloße Flucht vor
der Polizei erfüllt diese Voraussetzungen nicht, auch wenn dabei
andere Verkehrsteilnehmer behindert oder gefährdet werden.
Da
der Angeklagte die ihn verfolgenden Polizeibeamten mit seinem
Kraftfahrzeug weder abgedrängt noch am Überholen gehindert hat
und auch nicht auf die Polizeibeamten zugefahren ist, um diese
zum Wegfahren und damit zur Freigabe der Fahrbahn zu nötigen,
fehlt bereits die für den äußeren Tatbestand erforderliche
gewaltsame, gegen die Person des Vollstreckenden gerichtete
Handlung.
Ebenso wenig wird der für die
Verwirklichung des § 113 Abs. 1 StGB erforderliche Vorsatz
deutlich, zumal das Landgericht das Unfallgeschehen, das zur
Verletzung eines Polizeibeamten geführt hat, lediglich als
fahrlässige Körperverletzung gewertet hat. Der Senat hat den
Schuldspruch entsprechend geändert. Es ist auszuschließen, dass
in neuer Verhandlung weitere Feststellungen getroffen werden
können, die die Annahme des Tatbestandes des § 113 Abs. 1 StGB
tragen.
BGH Beschluss v. 19.12.2012 - 4 StR
497/12
14 Risikoeinschätzung einer Verfolgungsfahrt
TOP
Es
dürfte deutlich geworden sein, dass Polizeibeamtinnen und
Polizeibeamte , die anlässlich von Verfolgungsfahrten Sonder- und
Wegerechte in Anspruch nehmen, gut beraten sind, ihre
Fahrweise einer ständigen Risikoeinschätzung zu unterziehen. Auf
jeden Fall gilt es zu verhindern, dass durch die Freisetzung von
Adrenalin das Gehirn aufhört, Gefahren richtig einzuschätzen.
Dass in diesem Sachzusammenhang der Geschwindigkeit eine
besondere Bedeutung zukommt, liegt in der Natur einer
Verfolgungsfahrt. Diesbezüglich heißt es in einem Urteil des OLG
Brandenburg aus dem Jahr 2009 wie folgt:
OLG Brandenburg 2009:
Kommt es zu einem Zusammenstoß zwischen einem Einsatzfahrzeug,
welches unter Inanspruchnahme der Sonderrechte nach den §§ 35,
38 StVO in eine durch Rotlicht gesperrte Kreuzung einfährt, [das
lässt sich auch auf das Einfahren in geschlossene Ortschaften
übertragen] ohne dass dessen Fahrer die gebotene Sorgfalt walten
lässt, und einem Kraftfahrer, der trotz rechtzeitig
wahrnehmbaren Blaulichts und Martinshorn das Wegerecht des
Einsatzfahrzeuges nicht beachtet, hängt die Abwägung der
Verursachungs- und Verschuldensanteile vom jeweiligen Einzelfall
ab, wobei der Geschwindigkeit des Einsatzfahrzeuges
entscheidende Bedeutung beikommt. Der Vorrang des § 38 Abs. 1 S.
2 StVO bedeutet nicht, dass der Fahrer des Einsatzfahrzeuges
blindlings oder „auf gut Glück“ in eine Kreuzung bei rotem
Ampellicht [oder in eine geschlossene Ortschaft z.B. mit 110
km/h] einfahren darf. Er darf vielmehr - auch unter
Inanspruchnahme von Sonderrechten - bei rotem Ampellicht erst in
die Kreuzung einfahren, wenn er den sonst bevorrechtigten
Verkehrsteilnehmern rechtzeitig zu erkennen gegeben hat, solche
Rechte in Anspruch nehmen zu wollen, und sich überzeugt hat,
dass die anderen Verkehrsteilnehmer ihn wahrgenommen und sich
auf seine Absicht eingestellt haben. Er muss sich vorsichtig in
die Kreuzung vortasten und bei einer unübersichtlichen Kreuzung
unter Umständen nur mit Schrittgeschwindigkeit einfahren.
OLG
Brandenburg, Urteil vom 5. November 2009 – 12 U 151/08
Ich
denke, dass deutlich geworden ist, dass anlässlich von
Verfolgungsfahrten auch innerhalb geschlossener Ortschaften
dafür Sorge zu tragen ist, dass andere Verkehrsteilnehmer –
ausgenommen der Verfolgte – weder gefährdet und erst recht nicht
geschädigt werden dürfen.
Und dass es im Zusammenhang mit Verfolgungsfahrten zu
Verkehrsunfällen kommen kann, bei denen sogar unbeteiligte
Personen zu Tode kommen, das belegt eine eine Verfolgungsfahrt,
die sich am 15. Dezember 2023 in Sachsen-Anhalt ereignete. Zu
der Verfolgungsfahrt war es gekommen, weil Polizeibeamte den
Mann kontrollieren, dieser aber nicht dulden wollte.
Der Mann sei, so hieß es in einer Meldung auf Spiegel.de mit
seinem Wagen durch mehrere Landkreise davongerast und habe als
Falschfahrer schließlich zwei Frauen mit in den Tod gerissen,
als er auf eine Autobahn auffuhr. Sowohl der "Falschfahrer" als
auch die zwei Frauen, die in dem Pkw saßen, starben am
Unfallort. Ein Mann, der im Pkw der beiden Frauen saß, wurde mit
schweren Verletzungen in ein Krankenhaus eingeliefert.
Die Gründe, warum es zu der Verfolgungsfahrt kam, konnten der
Meldung nicht entnommen werden. In der Meldung heißt es
sinngemäß aber, dass während der Fahrt durch mehrere Landkreise
verschiedene Polizeikräfte beteiligt waren.
Wörtlich heißt es in der Meldung: Wie viele
tatsächlich an der Verfolgung beteiligt waren, müsse ebenfalls
noch ermittelt werden. Was den 57-Jährigen bewogen hat, in
falscher Richtung auf die A38 aufzufahren, werde schwer
herauszubekommen sein, sagte die Polizeisprecherin.
15 Dienstunfall bei Sonderrechtsfahrt
TOP
Anlässlich von Sonderrechtsfahrten kommt es vor, dass dabei auch
Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte selbst zu Schaden kommen,
denn auch die Fahrer von Polizeifahrzeugen können im Rahmen von
Verfolgungsfahrten nicht nur die Kontrolle über ihr Fahrzeug
verlieren, sondern verunfallen und sich dabei erheblich
verletzen. Solche Verletzungen können so schwerwiegend sein,
dass Polizeibeamte dadurch dauerhaft dienstunfähig werden und
somit in den Ruhestand versetzt werden müssen. Hinsichtlich der
Versorgungsregelung stellt sich dann ganz zwangsläufig die
Frage, ob es sich bei einer „missglückten“ Verfolgungsfahrt um
einen so genannten qualifizierten Dienstunfall handelt, der
versorgungsrechtlich für davon betroffene Beamte weitaus mehr
Versorgung bietet, als das bei einem ganz „normalen“ Dienstunfall
möglich ist.
Die
folgende Einsatzfahrt, über die 2021 die Richter des
Verwaltungsgerichts Stuttgart zu entscheiden hatten, macht
deutlich, welche objektiven und welche subjektiven Erwartungen
an die „Gefährlichkeit einer Diensthandlung für das Leben eines
Polizisten“ zu stellen sind.
Anlass:
Dem Urteil lag eine Einsatzfahrt eines Sondereinsatzkommandos
(SEK) der Polizei zugrunde, bei der es zu einem Verkehrsunfall
kam, bei dem sich ein Beamter des SEK bleibende Verletzungen
zuzog. Am Zielort erwartete die Beamten des SEK eine
gefahrenträchtige Einsatzlage, deren Gefährlichkeit auch von den
Beamten des SEK auf ihrem Weg zum Einsatzort bewusst war.
Im Tenor
der Entscheidung der Richter des VG Stuttgart, die 2021 über
diesen Fall zu entscheiden hatten, heißt es:
VG Stuttgart 2021:
In Anbetracht der hohen Erwartungen, die an Beamte der
Eliteeinheit eines SEK angesichts ihrer hochspezialisierten
Ausbildung bei der Ausübung ihrer Diensttätigkeit, der
Bekämpfung schwerer und schwerster Gewaltkriminalität gestellt
werden, muss ihnen ein angemessener Entscheidungsspielraum dafür
zugestanden werden, welches Risiko sie in welcher Einsatzlage
einzugehen für notwendig erachten. Dabei müssen sie auf ihre
Einschätzung der eigenen Fähigkeiten zur Bewältigung des
jeweiligen Risikos vertrauen können und dürfen. Diese
Entscheidung müssen die Beamten ausschließlich anhand der
Anforderungen des jeweiligen konkreten Einsatzes treffen können,
ohne dabei Gefahr zu laufen, die besondere Fürsorge des
Dienstherrn, die in der Regelung des erhöhten Unfallruhegehalts
[...]
zu
verlieren. Ein sogenannter qualifizierter Dienstunfall [...]
setzt
in objektiver Hinsicht eine Diensthandlung voraus, mit der für
den Beamten typischerweise eine besondere, über das übliche Maß
der Lebens- oder Gesundheitsgefährdung hinausgehende
Lebensgefahr verbunden ist. [...]. Eine besondere Lebensgefahr
setzt deutlich mehr voraus als eine allgemeine Gefährlichkeit
des jeweiligen Dienstes. Es müssen solche gravierenden,
gefahrerhöhenden Umstände bestehen, welche die Gefährdung weit
über das „normale“ Maß hinausreichen lassen, so dass deren
Eintritt als Realisierung der gesteigerten Gefährdungslage und
nicht als Verwirklichung eines allgemeinen Berufsrisikos
erscheint. Die Gewährung eines erhöhten Unfallruhegehalts
erfordert somit eine Dienstverrichtung, die bei typischem
Verlauf das Risiko entsprechender Verletzungen in sich birgt, so
dass deren Eintritt sich als Verwirklichung der gesteigerten
Gefährdungslage darstellt. Eine besondere Lebensgefahr ist mit
der Diensthandlung verbunden, wenn bei ihrer Vornahme der
Verlust des Lebens wahrscheinlich oder doch sehr naheliegend
ist. [...]. In subjektiver Hinsicht setzt die Annahme eines
qualifizierten Dienstunfalls voraus, dass sich der betroffene
Beamte bei der Diensthandlung der für sein Leben bestehenden
Gefahr bewusst ist. Dieses Bewusstsein folgt in aller Regel
bereits aus der Kenntnis der die Gefahr begründenden objektiven
Umstände. [...].
Hiernach
muss der Beamte zwar nicht mehr in dem Bewusstsein handeln, bei
der Dienstverrichtung sein Leben einzusetzen. Der Beamte muss
sich aber der Gefahr für sein Leben im Allgemeinen bewusst sein.
Er muss die Gefahr indes nicht in allen Einzelheiten erkannt und
richtig bewertet haben. Dabei folgt das Bewusstsein, bei der
Dienstverrichtung das eigene Leben zu gefährden, in aller Regel
bereits aus dem Wissen um die die Gefahr begründenden objektiven
Umstände. Die polizeiliche Einsatzfahrt [über die die Richter zu
entscheiden hatten], stellt eine Diensthandlung dar, die
objektiv mit einer besonderen Lebensgefahr für den Kläger
verbunden war. Zwar begründet nicht jede polizeiliche
Einsatzfahrt typischerweise eine besondere Lebensgefahr. In der
Rechtsprechung wird eine enge Auslegung des Merkmals „besondere
Lebensgefahr“ [...]
auch
im Hinblick auf polizeiliche Einsatzfahrten zugrunde gelegt.
Denn anderenfalls müsste fast jede polizeiliche Einsatzfahrt als
besonders lebensgefährlich angesehen werden, obwohl der
Gesetzgeber mit dieser Vorschrift nur außergewöhnliche,
insbesondere im Polizeivollzugsdienst auftretende Situationen
erfassen wollte, die einen Beamten den Einsatz seines Lebens
scheuen lassen könnten.
VG
Stuttgart, Urteil vom 16. Dezember 2021 - 14 K 1911/20
Hinweis:
Daraus lässt sich schließen, dass auch andere polizeiliche
Einsatzfahrten, in denen aufgrund des jeweils gegebenen Anlasses
davon auszugehen ist, dass am Einsatzort eintreffende Polizisten
dort besonderen Gefahren ausgesetzt sind, bereits dann einen
qualifizierten Dienstunfall erleiden können, wenn es schon auf
dem Weg zum Einsatzort zu einem Dienstunfall gekommen ist.
Kommt
es jedoch anlässlich von Verfolgungsfahrten zu Unfällen, die auf eine
nicht mehr hinnehmbare Risikobereitschaft beruhen, dürfte ein
erhöhter Dienstunfallschutz dann entfallen, wenn diese
Risikobereitschaft als grobe Fahrlässigkeit zu bewerten sein
wird. Aus meiner dienstlichen Erfahrung weiß ich, dass
vorgesetzte Stellen diesbezüglich alles andere als großzügig
sind, denn die sind, von Gesetzes wegen zur sparsamen
Haushaltsführung verpflichtet. Wie dem auch immer sei. Heldentum
bei der Polizei mag es zwar geben, im Zusammenhang mit
Verfolgungsfahrten ist das damit verbundene Risiko aber sehr hoch.
BGH 2020:
Grobe Fahrlässigkeit setzt einen objektiv schweren und subjektiv
nicht entschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen der im
Verkehr erforderlichen Sorgfalt voraus. Grob fahrlässige
Unkenntnis liegt dann vor, wenn [dem Fahrer eines
Sonderrechtsfahrzeuges die Einsicht fehlt, an Regeln gebunden zu
sein und er deshalb] die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in
ungewöhnlich grobem Maße verletzt und auch ganz naheliegende
Überlegungen nicht angestellt oder das nicht beachtet hat, was
jedem hätte einleuchten müssen.
BGH, Urteil
vom 26.05.2020 - VI ZR 186/17
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Einsatzfahrt und Sonderrechte
Einsatzfahrt mit Sonderrechten
Einsatzfahrt mit Sonder-
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Gebührende Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und
Ordnung
Grobe Fahrlässigkeit
Verfolgungsfahrt
Verfolgungsfahrt ist kein Widerstand
Verfolgungsfahrt und
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