§ 8 StVO (Vorfahrt)
Inhaltsverzeichnis:
01.0 Allgemeines 02.0
Vorfahrt oder Vorrang? 03.0
Hauptunfallursache
Vorfahrtssverletzung
04.0 Vorfahrtsregelungen in der StVO 05.0
Bußgeldtatbestände im Bußgeldkatalog 06.0
Abs. 1 – gebotenes
Verhalten im Vorfahrtsbereich 07.0 Anscheinsbeweis 08.0
Halbe Vorfahrt 09.0 Vorfahrt auf Parkplätzen und in
Parkhäusern 10.0 Abs. 1 a – Vorfahrt im Kreisverkehr 11.0
Abs. 2 Sorgfalt des Wartepflichtigen 11.1
Reduzierung der
Geschwindigkeit 11.2 Hineintasten 11.3
Linksabbieger
11.4 Rechtsabbieger 11.5
Weder gefährden
noch behindern 12.0
Radfahrer
und Inlineskater 13.0 Irrige
Vorfahrtsannahme – irreführendes
Fahrverhalten 14.0 Fahrstreifenwechsel 15.0
Vertrauensgrundsatz des Vorfahrtsberechtigten 16.0
Pflichten
des Wartepflichtigen 17.0 Vertrauen des Wartepflichtigen
01.0 Allgemeines
TOP
Die Vorfahrtsregelung
gilt nur im Verhältnis von Fahrzeugen untereinander. Für
Fußgänger mit Fahrzeugen gilt die Vorfahrtsregelung nicht. Auch
Fußgänger, die ein Fahrzeug schieben, fallen nicht unter die
Regelungen des § 8 StVO (Vorfahrt).
§ 8 StVO
(Vorfahrt)
02.0
Vorfahrt oder Vorrang?
TOP
Die
Frage nach der Vorfahrt stellt sich nur, wenn sich zwei
Fahrbahnen kreuzen. Neben dem oben bereits genannten § 8 StVO
(Vorfahrt) sind Vorfahrtsregeln auch in den nachfolgenden Normen
der StVO geregelt.
§ 11
StVO (Besondere Verkehrslagen)
§ 18
StVO (Autobahnen und Kraftfahrstraßen)
Vorrang
hingegen bezieht sich auf die Reihenfolge im Zusammenhang mit
bestimmten Situationen im Straßenverkehr.
Zur
Sprachfigur des Vorrangs gehört auch das Vorbeifahren. Und auch
wenn beide Sprachfiguren nicht verwendet werden, haben
Fahrzeugführer bestehende „Vorrechte“ anderer Verkehrsteilnehmer zu beachten. So müssen zum
Beispiel Kraftfahrer an Zebrastreifen anhalten, um Fußgängern
das Überqueren der Fahrbahn zu ermöglichen, siehe § 26 StVO
(Fußgängerüberwege).
§ 26
StVO (Fußgängerüberwege)
In den
nachfolgenden Verhaltensnormen der Straßenverkehrsordnung wird
das Wort „Vorrang“ explizit verwendet:
§ 6
StVO (Vorbeifahren) Wer an
einer Fahrbahnverengung, einem Hindernis auf der Fahrbahn oder
einem haltenden Fahrzeug links vorbeifahren will, muss
entgegenkommende Fahrzeuge durchfahren lassen. Satz 1 gilt
nicht, wenn der
Vorrang
durch Verkehrszeichen (Zeichen 208, 308) anders geregelt ist.
§ 11
StVO (Besondere Verkehrslagen) (3) Auch
wer sonst nach den Verkehrsregeln weiterfahren darf oder
anderweitig
Vorrang
hat, muss darauf verzichten, wenn die Verkehrslage es erfordert;
auf einen Verzicht darf man nur vertrauen, wenn man sich mit dem
oder der Verzichtenden verständigt hat.
§ 12
Halten und Parken (5) An
einer Parklücke hat
Vorrang,
wer sie zuerst unmittelbar erreicht; der Vorrang bleibt
erhalten, wenn der Berechtigte an der Parklücke vorbeifährt, um
rückwärts einzuparken oder wenn sonst zusätzliche Fahrbewegungen
ausgeführt werden, um in die Parklücke einzufahren. Satz 1 gilt
entsprechend, wenn an einer frei werdenden Parklücke gewartet
wird.
§ 19
StVO (Bahnübergänge) (1)
Schienenfahrzeuge haben
Vorrang 1. auf
Bahnübergängen mit Andreaskreuz (Zeichen 201), 2. auf
Bahnübergängen über Fuß-, Feld-, Wald- oder Radwege und 3. in
Hafen- und Industriegebieten, wenn an den Einfahrten das
Andreaskreuz mit dem Zusatzzeichen „Hafengebiet,
Schienenfahrzeuge haben Vorrang“ oder „Industriegebiet,
Schienenfahrzeuge haben Vorrang“ steht.
§ 37
StVO (Wechsellichtzeichen, Dauerlichtzeichen und Grünpfeil) (1)
Lichtzeichen gehen
Vorrangregeln
und
Vorrang
regelnden Verkehrszeichen vor. Wer ein Fahrzeug führt, darf bis
zu 10 m vor einem Lichtzeichen nicht halten, wenn es dadurch
verdeckt wird.
03.0
Hauptunfallursache Vorfahrtsverletzung
TOP
In
Anlehnung an die Analysen des Versicherungsunternehmens R+V
steht die Unfallursache "Missachtung der Vorfahrt" an 4.
Stelle.
R+V:
Wir zeigen
Ihnen 5 Situationen, in denen die meisten Vergehen passieren. 1.
Falsche Straßenbenutzung 2. Zu
hohe Geschwindigkeit 3.
Abstand zu gering 4.
Missachtung der Vorfahrt Die
vierthäufigste Unfallursache im Straßenverkehr liegt an der
versehentlichen oder mutmaßlichen Missachtung der Vorfahrt.
Autofahrer, die bestimmte Straßen nicht kennen, fahren nichts
ahnend in eine Kreuzung hinein, ohne die Vorfahrt anderer
Autofahrer zu beachten. Die übrigen Verkehrsteilnehmer gehen
wiederum automatisch davon aus, dass jeder die Vorfahrtsregeln
kennt bzw. sich daran hält. Daher sollten Autofahrer vor allem
an fremden Kreuzungen immer konzentriert fahren, um
Vorfahrtssituationen abschätzen zu können. 5. Fehler
beim Abbiegen oder Rückwärtsfahren.
04.0
Vorfahrtsregelungen in der StVO
TOP
Die
nachfolgenden Ausführungen zu den Vorfahrtsregelungen der StVO
sind abschließend. Sie umfassen nicht nur den Wortlaut der
Bestimmungen in der StVO, in denen das Wort Vorfahrt verwendet
wird, sondern auch die in der Anlage II der StVO enthaltenen
Zeichen, die die Vorfahrt betreffen.
§ 8 StVO
(Vorfahrt)
Die
nachfolgenden Regelungen werden nur punktuell zitiert.
§ 11
Abs. 1 StVO (Besondere Verkehrslagen) (1) Stockt
der Verkehr, darf
trotz
Vorfahrt
oder grünem Lichtzeichen
nicht in
die Kreuzung oder Einmündung eingefahren werden, wenn auf ihr
gewartet werden müsste.
§ 18
StVO (Autobahnen und Kraftfahrstraßen) (3) Der
Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn hat die
Vorfahrt.
§ 39
Abs. 1 StVO (Verkehrszeichen) (1)
Angesichts der allen Verkehrsteilnehmern obliegenden
Verpflichtung, die allgemeinen und besonderen
Verhaltensvorschriften dieser Verordnung eigenverantwortlich zu
beachten, werden örtliche Anordnungen durch Verkehrszeichen nur
dort getroffen, wo dies auf Grund der besonderen Umstände
zwingend geboten ist. (1a)
Innerhalb geschlossener Ortschaften ist abseits der
Vorfahrtstraßen
(Zeichen 306) mit der Anordnung von Tempo 30-Zonen (Zeichen
274.1) zu rechnen. (1b)
Innerhalb geschlossener Ortschaften ist abseits der
Vorfahrtstraßen
(Zeichen 306) mit der Anordnung von Fahrradzonen (Zeichen 244.3)
zu rechnen.
Zeichen 205 Vorfahrt
gewähren. Ge-
oder Verbot 1. Wer
ein Fahrzeug führt, muss Vorfahrt gewähren. 2. Wer
ein Fahrzeug führt, darf bis zu 10 m vor diesem Zeichen nicht
halten, wenn es dadurch verdeckt wird. Erläuterung Das
Zeichen steht unmittelbar vor der Kreuzung oder Einmündung. Es
kann durch dasselbe Zeichen mit Zusatzzeichen, das die
Entfernung angibt, angekündigt sein.
Zusatzzeichen zu Zeichen 205
Ge-
oder Verbot Ist das
Zusatzzeichen zusammen mit dem Zeichen 205 angeordnet, bedeutet
es: Wer ein
Fahrzeug führt, muss Vorfahrt gewähren und dabei auf Radverkehr
und Elektrokleinstfahrzeuge im Sinne der eKFV von links und
rechts achten. Erläuterung Das
Zusatzzeichen steht über dem Zeichen 205.
Zusatzzeichen zu Zeichen 205
Ge- oder
Verbot Ist das
Zusatzzeichen zusammen mit dem Zeichen 205 angeordnet, bedeutet
es: Wer ein
Fahrzeug führt, muss der Straßenbahn Vorfahrt gewähren.
Erläuterung Das
Zusatzzeichen steht über dem Zeichen 205.
Zeichen 206 Halt.
Vorfahrt gewähren. Ge-
oder Verbot 1. Wer
ein Fahrzeug führt, muss anhalten und Vorfahrt gewähren. 2. Wer
ein Fahrzeug führt, darf bis zu 10 m vor diesem Zeichen nicht
halten, wenn es dadurch verdeckt wird. 3. Ist
keine Haltlinie (Zeichen 294) vorhanden, ist dort anzuhalten, wo
die andere Straße zu übersehen ist.
Zusatzzeichen zu Zeichen 206 Stop 100
m Erläuterung Das
Zusatzzeichen kündigt zusammen mit dem Zeichen 205 das Haltgebot
in der angegebenen Entfernung an.
Zusatzzeichen zu Zeichen 206
Ge- oder
Verbot Ist das
Zusatzzeichen zusammen mit dem Zeichen 206 angeordnet, bedeutet
es: Wer ein
Fahrzeug führt, muss anhalten und Vorfahrt gewähren und dabei
auf Radverkehr und Elektrokleinstfahrzeuge im Sinne der eKFV von
links und rechts achten. Erläuterung Das
Zusatzzeichen steht über dem Zeichen 206.
Zusatzzeichen zu Zeichen 206 Abknickende Vorfahrt Erläuterung Das
Zusatzzeichen gibt zusammen mit den Zeichen 205 oder 206 den
Verlauf der Vorfahrtstraße (abknickende Vorfahrt) bekannt.
Zeichen 244.1 Beginn
einer Fahrradstraße Ge-
oder Verbot 1.
Anderer Fahrzeugverkehr als Radverkehr sowie
Elektrokleinstfahrzeuge im Sinne der eKFV darf Fahrradstraßen
nicht benutzen, es sei denn, dies ist durch Zusatzzeichen
erlaubt. Die freigegebenen Verkehrsarten können auch gemeinsam
auf einem Zusatzzeichen abgebildet sein. Das Überqueren einer
Fahrradstraße durch anderen Fahrzeugverkehr an einer Kreuzung
zum Erreichen der weiterführenden Straße ist gestattet. 2. Für
den Fahrverkehr gilt eine Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h. Der
Radverkehr darf weder gefährdet noch behindert werden. Wenn
nötig, muss der Kraftfahrzeugverkehr die Geschwindigkeit weiter
verringern. 3. Das
Nebeneinanderfahren mit Fahrrädern ist erlaubt. 4. Im
Übrigen gelten die Vorschriften über die Fahrbahnbenutzung und
über die Vorfahrt.
Zeichen 244.3 Beginn
einer Fahrradzone Ge- oder
Verbot 1.
Anderer Fahrzeugverkehr als Radverkehr sowie
Elektrokleinstfahrzeuge im Sinne der eKFV darf Fahrradzonen
nicht benutzen, es sei denn, dies ist durch Zusatzzeichen
erlaubt. Die freigegebenen Verkehrsarten können auch gemeinsam
auf einem Zusatzzeichen abgebildet sein. 2. Für
den Fahrverkehr gilt eine Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h. Der
Radverkehr darf weder gefährdet noch behindert werden. Wenn
nötig, muss der Kraftfahrzeugverkehr die Geschwindigkeit weiter
verringern. 3. Das
Nebeneinanderfahren mit Fahrrädern und Elektrokleinstfahrzeugen
im Sinne der eKFV ist erlaubt. 4. Im
Übrigen gelten die Vorschriften über die Fahrbahnbenutzung und
über die Vorfahrt.
Zeichen 301 Vorfahrt Ge-
oder Verbot Das
Zeichen zeigt an, dass an der nächsten Kreuzung oder Einmündung
Vorfahrt besteht.
Zeichen 306 Vorfahrtsstraße Ge-
oder Verbot Wer ein
Fahrzeug führt, darf außerhalb geschlossener Ortschaften auf
Fahrbahnen von
Vorfahrtstraßen
nicht parken. Das
Zeichen zeigt an, dass Vorfahrt besteht bis zum nächsten Zeichen
205 „Vorfahrt gewähren.“, 206 „Halt. Vorfahrt gewähren.“ oder
307 „Ende der Vorfahrtstraße“.
Zusatzzeichen 306 Abknickende
Vorfahrt Ge-
oder Verbot 1. Wer ein
Fahrzeug führt und dem Verlauf der abknickenden
Vorfahrtstraße
folgen will, muss dies rechtzeitig und deutlich ankündigen;
dabei sind die Fahrtrichtungsanzeiger zu benutzen. 2. Auf
den Fußgängerverkehr ist besondere Rücksicht zu nehmen. Wenn
nötig, muss gewartet werden. Erläuterung Das
Zusatzzeichen zum Zeichen 306 zeigt den Verlauf der
Vorfahrtstraße
an.
Zeichen 307 Ende der
Vorfahrtstraße
Zeichen 342 Haifischzähne Erläuterung Die
Markierung hebt eine Wartepflicht infolge einer bestehenden
Rechts-vor-links-Regelung abseits der Bundes-, Landes- und
Kreisstraßen sowie weiterer Hauptverkehrsstraßen und eine durch
Zeichen 205 oder 206 angeordnete
Vorfahrtberechtigung
des Radverkehrs im Zuge von Kreuzungen oder Einmündungen von
Radschnellwegen hervor. Im Fall dieser
Vorfahrtberechtigung
des Radverkehrs sind die Markierungen auf beiden Seiten entlang
der Fahrbahnkanten des Radschnellwegs mit den Spitzen in
Richtung des wartepflichtigen Verkehrs anzuordnen.
05.0
Bußgeldtatbestände im Bußgeldkatalog 2023
TOP
Zum Teil
handelt es sich bei Vorfahrtsverletzungen um geringfügige
Verkehrsordnungswidrigkeiten, die vor Ort mit einem
Verwarnungsgeld abschließend geahndet werden können.
Kommt es
anlässlich von Vorfahrtsverletzungen zu Gefährdungen, dann ist
solch ein Fehlverhalten anzeigepflichtig.
108100 Sie
fuhren nicht mit mäßiger Geschwindigkeit an die bevorrechtigte
Straße heran. Hierdurch wurde der Vorfahrtberechtigte irritiert.
10,00 Euro
108106 Sie
missachteten die Vorfahrt des von rechts kommenden Fahrzeugs, so
dass ein Vorfahrtberechtigter wesentlich behindert wurde. 25,00
Euro
108112 Sie
missachteten die Vorfahrt des bevorrechtigten Fahrzeugs, so dass
ein Anderer wesentlich behindert) wurde. Vorfahrtregelung durch
Zeichen 205/206. 25,00 Euro
108118 Sie
fuhren aus einem Feld-/Waldweg auf die Straße, ohne die Vorfahrt
des bevorrechtigten Fahrzeugs zu beachten. Dadurch wurde ein
Vorfahrtberechtigter wesentlich behindert. 25,00 Euro
108600 Sie
missachteten die Vorfahrt des von rechts kommenden Fahrzeugs, so
dass ein Vorfahrtberechtigter gefährdet wurde. 1 Punkt 100 Euro
108601 Sie
missachteten die Vorfahrt des von rechts kommenden Fahrzeugs. Es
kam zum Unfall. 1 Punkt 120 Euro
108606 Sie
missachteten die Vorfahrt des bevorrechtigten Fahrzeugs, so dass
ein Vorfahrtberechtigter gefährdet wurde. Vorfahrtregelung durch
Zeichen 205/206. 1 Punkt 100 Euro
108607 Sie
missachteten die Vorfahrt des bevorrechtigten Fahrzeugs. Es kam
zum Unfall. Vorfahrtregelung durch Zeichen 205/206. 1 Punkt 120 Euro
108612 Sie
fuhren aus einem Feld-/Waldweg auf die Straße, ohne die Vorfahrt
des bevorrechtigten Fahrzeugs zu beachten. Dadurch wurde ein
Vorfahrtberechtigter gefährdet. 1 Punkt 100 Euro
108613 Sie
fuhren aus einem Feld-/Waldweg auf die Straße, ohne die Vorfahrt
des bevorrechtigten Fahrzeugs zu beachten. Es kam zum Unfall. 1 Punkt 120 Euro
06.0 Abs. 1 –
Gebotenes
Verhalten im Vorfahrtsbereich
TOP
§ 8
Abs. 1 StVO (Vorfahrt) (1) An
Kreuzungen und Einmündungen hat die Vorfahrt, wer von rechts
kommt. Das gilt nicht, 1. wenn
die Vorfahrt durch Verkehrszeichen besonders geregelt ist
(Zeichen 205, 206, 301, 306) oder 2. für
Fahrzeuge, die aus einem Feld- oder Waldweg auf eine andere
Straße kommen.
Dort, wo
die Vorfahrt nicht durch Verkehrszeichen geregelt ist, hat
derjenige Vorfahrt, der von rechts kommt. Das gilt auch für
mehrere Fahrzeuge, die hintereinanderfahren.
Kreuzungen und Einmündungen:
In diesem Zusammenhang wird von einem „Einmündungsviereck“
gesprochen. Damit ist sowohl der gesamte Kreuzungsbereich als
auch der gesamte Einmündungsbereich gemeint, einschließlich
vorhandener Radwege. Einem Radfahrer, der einen Gehweg benutzt,
weil kein Radweg vorhanden ist, steht kein Vorfahrtsrecht zu.
Die
Vorfahrtsregel des § 8 Abs. 1 StVO gilt nur für Kreuzungen und
Einmündungen. Diese Regelung gilt sowohl für Vorfahrtsfälle im
Sinne von § 8 Abs. 1 StVO als auch für Fälle, die vom § 8 Abs. 2
StVO erfasst sind.
07.0
Anscheinsbeweis
TOP
Bei
Verkehrsunfällen, deren Ursache Vorfahrtsverletzungen sind, kann
vom so genannten Anscheinsbeweis dessen ausgegangen werden, dem
eine Vorfahrtsverletzung vorgeworfen werden kann. Bereits in den
Leitsätzen in einem Beschluss des OLG Dresden aus dem Jahr 2021
heißt es:
OLG Dresden 2021:
1. Die Missachtung des Vorfahrtsrechts begründet einen
Anscheinsbeweis für die Unfallursächlichkeit zulasten des
Vorfahrtspflichtigen.
2. Wird dieser nicht durch einen atypischen Geschehensablauf
erschüttert, kommt regelmäßig nur die Alleinhaftung des
Vorfahrtsverletzers in Betracht.
An
anderer Stelle heißt es:
Ein
Beweis des ersten Anscheins ist immer dann anzunehmen, wenn sich
in einem Unfallgeschehen ein hinreichend typisierter
Geschehensablauf realisiert hat, der einen Rückschluss auf ein
unfallursächliches Fehlverhalten einer Partei regelmäßig
zulässt. Beim Abbiegevorgang des nicht Vorfahrtsberechtigten
gilt die Vorfahrtsberechtigung des anderen Teiles solange, bis
der Einfahrende sich vollständig auf der vorfahrtsberechtigten
Straße eingeordnet und eine den dort fahrenden Fahrzeugen
entsprechende Geschwindigkeit erreicht hat.
OLG
Dresden, Beschluss vom 09.06.2021 - 4 U 396/21
Gegen
die vorwerfbare Verletzung der Vorfahrt durch einen
Wartepflichtigen spricht jedoch, wenn es sich um Fälle so
genannter „Halber Vorfahrt“ handelt.
08.0
Halbe Vorfahrt
TOP
Diesem
„Rechtsbegriff“ liegt die Vorstellung zugrunde, dass auch ein
Vorfahrtsberechtigter
Verkehrssicherungspflichten zu beachten hat und dann, wenn sie
oder er diese gröblich verletzt, sich niemand auf sein Vorfahrtsrecht
mehr berufen kann.
Diesbezüglich heißt es in einem Urteil des OLG Hamm aus dem Jahr
2020 bereits in den Leitsätzen wie folgt:
OLG Hamm 2020:
1. Die sog. „halbe Vorfahrt“ verpflichtet den
Vorfahrtberechtigten
zu angepasster Fahrweise, die ihm die Beachtung der eigenen
Wartepflicht in Bezug auf vorfahrtsberechtigten Verkehr
ermöglicht. Hierbei muss er nach dem Vertrauensgrundsatz nur mit
einer angepassten Geschwindigkeit des ihm gegenüber
Vorfahrtsberechtigten rechnen.
2. Ein
Vorfahrtsberechtigter kann sich nach dem Vertrauensgrundsatz
darauf verlassen, dass ein für ihn nicht sichtbarer
Verkehrsteilnehmer sein Vorfahrtsrecht beachten werde, wenn er
selbst bei nur „halber Vorfahrt“ mit angepasster Geschwindigkeit
fährt.
An
anderer Stelle heißt es:
Ist die
Vorfahrt an einer Kreuzung nicht besonders geregelt, so stellt
sich für jeden Verkehrsteilnehmer, der sich dieser Kreuzung
nähert, die Verkehrslage so dar, dass er zwar gegenüber dem von
links Kommenden vorfahrtsberechtigt, gegenüber
Verkehrsteilnehmern von rechts aber wartepflichtig ist. Diese
sog. „halbe Vorfahrt“ verpflichtet den Vorfahrtsberechtigten zu
angepasster Fahrweise, die ihm die Beachtung der eigenen
Wartepflicht in Bezug auf vorfahrtsberechtigten Verkehr von
rechts ermöglicht. Um dessen Vorfahrt beachten zu können, muss
er, wie § 8 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. Satz 3 StVO vorschreibt, mit
mäßiger Geschwindigkeit an die Kreuzung heranfahren und sich
darauf einstellen, dass er notfalls rechtzeitig anhalten kann,
um die ihm gegenüber Vorfahrtsberechtigten durchfahren zu
lassen. Dies gilt besonders im Fall einer unübersichtlichen
Kreuzung .
OLG
Hamm, Urteil vom 09.06.2020 - 7 U 19/19
Ergänzend dazu heißt es in einem Urteil des OLG Köln aus dem
Jahr 2022, die
Sorgfaltsanforderungen betreffend, wie folgt:
OLG Köln 2022:
Die im Rahmen einer „halben Vorfahrt“ geltenden
Sorgfaltsanforderungen sollen - dem Gebot des § 3 Abs. 1 S. 2
StVO folgend - im Interesse aller Verkehrsteilnehmer Unfälle an
unübersichtlichen Kreuzungen, wo der Verkehr nicht durch Ampeln
oder Schilder geregelt ist, verhindern. Sofern danach der
Vorfahrtberechtigte
wegen der Unübersichtlichkeit der Örtlichkeit die kreuzende
Straße nach rechts nicht rechtzeitig und weit genug einsehen
kann, darf er sich nach den aufgezeigten Haftungsgrundsätzen nur
langsam in den Kreuzungsbereich hineintasten. Der von links
kommende Wartepflichtige darf in einem unübersichtlichen
Kreuzungsbereich nach dem Schutzzweck der genannten
Verkehrsvorschriften allerdings nur darauf vertrauen, dass der
Vorfahrtberechtigte
sich seinerseits mit angepasster Geschwindigkeit nähert, um den
- aus dessen Sicht - von
rechts
kommenden Verkehr
die Vorfahrt zu gewähren, sodass dessen Mithaftung nur dann in
Betracht kommt, wenn der Zusammenstoß durch eine diesen
Verhältnissen unangepasste Verhaltensweise des
Vorfahrtberechtigten
mitverursacht worden ist.
OLG
Köln, Urteil vom 12.10.2022 - 16 U 194/21
09.0
Vorfahrt auf Parkplätzen und in Parkhäusern
TOP
Hinsichtlich der Vorfahrtsregelung auf Parkplätzen reicht es im
Prinzip aus, das Urteil des BGH aus dem Jahr 2022 zu kennen.
BGH 2022:
Die Vorfahrtsregel des § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO („rechts vor
links“) findet auf öffentlichen Parkplätzen ohne ausdrückliche
Vorfahrtsregelung weder unmittelbar noch im Rahmen der
Pflichtenkonkretisierung nach § 1 Abs. 2 StVO Anwendung, soweit
den dort vorhandenen Fahrspuren kein eindeutiger
Straßencharakter zukommt.
BGH,
Urteil vom 22.11.2022 - VI ZR 344/21
Bereits
zwei Jahre zuvor hatten sich die Richter des OLG München mit der
Vorfahrtsregelung in Parkhäusern auseinandergesetzt.
OLG München 2020:
Inwieweit die
Vorfahrtregel
des § 8 I StVO auf einem Parkplatz Anwendung findet, hängt davon
ab, ob die Fahrspuren dem ruhenden Verkehr, d. h. dem
Suchverkehr dienen, oder ob sie darüber hinaus Straßencharakter
besitzen. Die Funktion des § 8 I StVO, nämlich die Schaffung und
Aufrechterhaltung eines (quasi) fließenden Verkehrs, muss
deutlich im Vordergrund stehen. Auf allein dem Ein- oder
Ausfahren aus einem Parkhaus dienenden, äußerlich vergleichbaren
Fahrbahnen gilt grundsätzlich „rechts vor links“. Vorliegend
besteht die Besonderheit, dass die Fahrgasse, die vom Fahrer des
Fahrzeugs der Beklagten zu 2) benutzt wurde, die Einfahrspur
kreuzt.
a) Eine
Fahrgasse zwischen markierten Parkreihen bildet keine Fahrbahn
mit Straßencharakter, wenn die Abwicklung des ein- und
ausparkenden Rangierverkehrs zumindest auch zweckbestimmend ist.
OLG
München, Endurteil vom 27.05.2020 - 10 U 6767/19
Anders ausgedrückt:
Je nach vorgefundener Örtlichkeit findet die Vorfahrtsregelung
in Parkhäusern oder auf Parkplätzen entweder
Anwendung oder auch nicht.
10.0
Abs. 1a - Vorfahrt im Kreisverkehr
TOP
§ 8
Abs. 1a StVO (Vorfahrt) (1a) Ist
an der Einmündung in einen Kreisverkehr Zeichen 215
(Kreisverkehr) unter dem Zeichen 205 (Vorfahrt gewähren)
angeordnet, hat der Verkehr auf der Kreisfahrbahn Vorfahrt. Bei
der Einfahrt in einen solchen Kreisverkehr ist die Benutzung des
Fahrtrichtungsanzeigers unzulässig.
Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass derjenige, der
in den Kreisverkehr einfährt, die Vorfahrt der bereits im
Kreisverkehr befindlichen Fahrzeuge zu beachten, hat sofern die
Vorfahrt nicht durch Verkehrszeichen anders geregelt ist. Bei
Missachtung dieser Vorfahrtsregel und dadurch verursachten
Unfällen ist der einfahrende Fahrer in der Regel
schadensersatzpflichtig.
LG Detmold 2004:
[Die
höchstrichterliche Rechtsprechung] nimmt einen Anscheinsbeweis
für eine Vorfahrtsverletzung des Wartepflichtigen regelmäßig
dann an, wenn auf einer Kreuzung oder Straßeneinmündung zwei
Kraftfahrzeuge zusammenstoßen. Kommt es nämlich zu einem
Zusammenstoß zweier Fahrzeuge in dem Einmündungsbereich einer
untergeordneten Straße in eine übergeordnete Straße, so spricht
die Lebenserfahrung wegen des engen und zeitlichen Zusammenhangs
der Einfahrt in den Einmündungsbereich mit der Kollision dafür,
dass diese auf eine Unaufmerksamkeit des einfahrenden,
wartepflichtigen Fahrzeugführers zurückzuführen ist.
LG
Detmold, Urteil vom 22.12.2004 - 2 S 110/04
Bereits
1999 hatten die Richter des OLG Hamm entschieden, dass, wenn
zwei Kraftfahrzeuge nahezu gleichzeitig in einen engen
Kreisverkehr einfahren, sich jeder Fahrzeugführer auf das
Einbiegen des anderen einstellen und einer Unfallgefahr durch
entsprechendes Fahrverhalten entgegenwirken muss, siehe OLG Hamm, Urteil vom 10.11.1999 - 13 U 58/99.
11.0 Abs. 2 Sorgfalt des
Wartepflichtigen
TOP
Diesbezüglich heißt es im § 8 Abs. 2 StVO (Vorfahrt) wie folgt:
§ 8
Abs. 2 StVO (2) wer
die Vorfahrt zu beachten hat, muss rechtzeitig durch sein
Fahrverhalten, insbesondere durch mäßige Geschwindigkeit,
erkennen lassen, dass gewartet wird. Es darf nur weitergefahren
werden, wenn übersehen werden kann, dass wer die Vorfahrt hat,
weder gefährdet noch wesentlich behindert wird. Kann das nicht
übersehen werden, weil die Straßenstelle unübersichtlich ist, so
darf sich vorsichtig in die Kreuzung oder Einmündung
hineingetastet werden, bis die Übersicht gegeben ist. Wer die
Vorfahrt hat, darf auch beim Abbiegen in die andere Straße nicht
wesentlich durch den Wartepflichtigen behindert werden.
11.1
Reduzieren der Geschwindigkeit
TOP
Der
Wartepflichtige muss gegenüber dem Vorfahrtsberechtigten durch
seine Fahrweise deutlich zu erkennen geben, dass er seiner
Wartepflicht nachkommen wird.
Anders ausgedrückt:
Der Wartepflichtige darf nicht
forsch an die Stelle fahren, wo er seiner Wartepflicht
nachzukommen hat. Mäßige Geschwindigkeit bedeutet, dass ein
Anhalten ohne stark abbremsen zu müsse möglich ist. Mäßige
Geschwindigkeit lässt sich somit als ein unfallverhütendes
Fahren beschreiben, dass weder Behinderungen noch Gefährdungen
des
Vorfahrtberechtigten
erwarten lässt.
11.2
Hineintasten
TOP
Kann ein
Kreuzungs- oder Einmündungsbereich nicht komplett eingesehen
werden, so dass nicht auszuschließen ist, dass
Vorfahrtberechtigte rechtzeitig erkannt werden
können,
hat sich der Wartepflichtige entsprechend vorsichtig zu
verhalten.
OLG Hamm 2022:
Die gesamte Kreuzungsfläche, in die der Beklagte zu 3) gerade
erst einfuhr, bildet den
Vorfahrtbereich,
und zwar in ganzer Fahrbahnbreite ohne Rücksicht darauf, ob der
Vorfahrtberechtigte
zu Recht oder zu Unrecht die Straßenmitte oder die linke
Straßenseite befährt. Der Beklagte [...]
verlor
sein
Vorfahrtrecht
also nicht dadurch, dass er gegebenenfalls zum Abbiegen nach
links verkehrswidrig die linke Fahrbahnseite benutzte. Die StVO
verlangt vom Wartepflichtigen insoweit eine gesteigerte
Sorgfaltspflicht gegenüber dem Vorfahrtsberechtigten, weil nur
so die Vorfahrtsregelung als eine der wesentlichen Grundlagen
des Straßenverkehrsrechts ihren Zweck erfüllen kann, besonders
an unübersichtlichen Kreuzungen und Straßeneinmündungen
bestehende Kollisionsgefahren zu verhindern. Ein
Wartepflichtiger, der nach rechts in eine Vorfahrtsstraße
einbiegen will, darf dem folgend grundsätzlich nur dann davon
ausgehen, er werde keinen der vorfahrtsberechtigten Fahrer in
der Weiterfahrt behindern, wenn beim Beginn des Einbiegens sich
nicht nur von links keine Fahrzeuge nähern, sondern auch die für
ihn rechte Straßenseite ersichtlich frei ist.
Dementsprechend darf gemäß § 8 Abs. 2 S. 2, S. 3 StVO nur
weitergefahren werden, wenn übersehen werden kann, dass wer die
Vorfahrt hat, weder gefährdet noch wesentlich behindert wird.
Kann das nicht übersehen werden, weil die Straßenstelle
unübersichtlich ist, so darf sich vorsichtig in die Kreuzung
oder Einmündung hineingetastet werden, bis die Übersicht gegeben
ist. Ein „Hineintasten“ liegt nur vor, wenn der Wartepflichtige
bis zum Übersichtspunkt durch zentimeterweises Vorrollen
heranfährt und dabei jederzeit anhalten kann.
Schrittgeschwindigkeit ist bereits zu hoch.
OLG
Hamm, Urteil vom 23.09.2022 - 7 U 93/21
Mit anderen Worten:
Der
Wartepflichtige, der keinen Überblick über die Verkehrslage auf
der bevorrechtigten Straße gewinnen kann, darf sich so weit in
diese hineintasten, bis er Einblick erhält.
Der
Wartepflichtige darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass der
Vorfahrtberechtigte
die durch Fahrtrichtungsanzeige angekündigte Fahrtrichtung nehmen
wird. Diese Rechtsauffassung wird jedoch nicht von allen
Gerichten geteilt.
Grund dafür ist, dass § 8 StVO eine gesteigerte
Sorgfaltspflicht des Wartepflichtigen verlangt, der mit
verkehrswidrigem Verhalten des
Vorfahrtberechtigten
rechnen muss.
Betätigt
der
Vorfahrtberechtigte
die Lichthupe, ist dies als
Vorfahrtverzicht
nur dann zu werten, wenn der Verzicht durch Anhalten
verdeutlicht wird.
11.3
Linksabbieger
TOP
Der
Linksabbieger hat dem sich auf der Vorfahrtsstraße befindlichen
Vorfahrtsberechtigten die Vorfahrt zu gewähren. Bei
schwerfälligen landwirtschaftlichen Fahrzeugen aber auch bei
großen Lkw kann es dabei zu Problemen kommen. Diesbezüglich ist
ein Urteil des BGH aus dem Jahr 1994 von Bedeutung:
BGH 1994:
Der Fahrer eines schwerfälligen landwirtschaftlichen Gefährts,
der außerorts nach links in eine bevorrechtigte Straße einfahren
will, die bis zu einer 80 m entfernten Kurve einsehbar ist,
braucht bei normalen Lichtverhältnissen am Tage keinen Einweiser
zu Hilfe zu nehmen.
Fährt der
Einbiegende, der einen auf der Vorfahrtsstraße herannahenden
Kraftfahrer wegen einer Kurve noch nicht sehen kann, berechtigt
in die
Vorfahrtstraße
ein, so erlischt das
Vorfahrtrecht
des Herannahenden mit der Folge, dass sich die beiderseitigen
Verhaltenspflichten nunmehr nach StVO § 1 richten.
Der Fahrer
eines schwerfälligen Fahrzeugs, der berechtigt in eine
Vorfahrtstraße
nach links einbiegen will, muss in der Regel sofort anhalten,
sobald ein auf der
Vorfahrtstraße
herannahender Verkehrsteilnehmer für ihn sichtbar wird. Er darf
den Einbiegevorgang nur dann fortsetzen, wenn er nach der
Verkehrslage darauf vertrauen kann, dass er die Fahrbahn für den
herannahenden Verkehrsteilnehmer rechtzeitig frei machen kann.
An
anderer Stelle heißt es:
Wie sich
der nach links Einbiegende gegenüber dem herannahenden
Kraftfahrer zu verhalten hat, hängt von der jeweiligen
Verkehrssituation ab. Jedoch muss er dabei dem Umstand Rechnung
tragen, dass das Einfahren in die Fahrbahn des herannahenden
Kraftfahrers besondere Gefahren mit sich bringt, die ihn zu
besonderer Sorgfalt verpflichten und ihn dazu nötigen, zur
Vermeidung eines Unfalls das ihm Mögliche zu tun.
Unter
diesem Blickwinkel ist es in der Regel geboten, ein
schwerfälliges Gefährt wie hier, dem wegen seiner Länge und
geringen Beschleunigungskraft ein zügiges Linkseinbiegen nicht
möglich ist, sofort anzuhalten, denn dadurch wird für den
herannahenden Verkehrsteilnehmer Klarheit geschaffen. [...]. Sie
verschafft dem herannahenden Kraftfahrer die Möglichkeit, sein
weiteres Fahrverhalten sofort darauf einzurichten.
BGH,
Urteil vom 25.01.1994 - VI ZR 285/92
11.4
Rechtsabbieger
TOP
Analog zum
Linksabbieger hat auch der Rechtsabbieger die Vorfahrt des
Vorfahrtberechtigten
zu beachten. Auch dabei darf es weder zu Behinderungen noch zu
Gefährdungen kommen. Fährt der Wartepflichtige, nachdem er sich
davon überzeugt hat, dass ein gefahrloses Einfahren möglich ist,
in den Kreuzungs- oder Einmündungsbereich ein, hat er zügig zu
fahren.
11.5
Weder gefährden noch behindern
TOP
Auch eine
Gefahr im Sinne des § 8 StVO setzt einen
„Beinahe-Unfall“ voraus, also ein Geschehen, bei dem ein
unbeteiligter Beobachter zu der Einschätzung gelangt, dass „es
in dieser Situation gerade noch einmal gut gegangen ist“. Diese
Umschreibung einer konkreten Gefahr entspricht der
Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG).
BVerwG
1970:
Eine konkrete Gefahr liegt vor, wenn in dem zu beurteilenden
konkreten Einzelfall in überschaubarer Zukunft mit dem
Schadenseintritt hinreichend wahrscheinlich gerechnet werden
kann.
BVerwG,
Urteil vom 26.06.1970 - 4 C 99.67
Behinderung im Sinne von § 8 StVO müssen vermeidbar sein.
Behinderung:
Darunter ist eine im Einzelnen festzustellende Beeinträchtigung
des zulässigen, beabsichtigten Verhaltens eines anderen zu
verstehen, ohne diesen zu gefährden oder zu schädigen. Das setzt
voraus, dass der andere Verkehrsteilnehmer zu einem nicht von
ihm beabsichtigten Verkehrsverhalten gezwungen wird. Es reicht
aus, dass der Andere dadurch unsicher wird (BayObLG
VRS 25, 224).
12.0
Radfahrer und Inlineskater
TOP
Auch
zwischen Radfahrern und Inlineskatern kann es zu
Vorfahrtsverletzungen mit oftmals üblen Folgen kommen.
AG Frankfurt 2016:
Gemäß dem Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme im
Straßenverkehr nach § 1 II StVO haben sich Verkehrsteilnehmer so
zu verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr,
als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt
wird. Verkehrsteilnehmer ist auch der den öffentlichen
Verkehrsraum benutzende Radfahrer und Fußgänger. Es gilt der
Grundsatz der doppelten Sicherung, das heißt, jeder
Verkehrsteilnehmer muss zur Verhütung von Schaden beitragen, so
dass der infolge des Fehlers des einen drohende Unfall noch
verhütet wird, wenn der andere die ihm gebotene Vorsicht
beachtet. Obwohl es zur Vermeidung eines Unfalles ausreichen
würde, wenn nur einer der beiden Beteiligten die ihm möglichen
Sicherungsvorkehrungen trifft, sind beide unabhängig voneinander
zu solchen Vorkehrungen verpflichtet.
Es kann
auch nicht zugunsten des Beklagten von einer
„rechts-vor-links“-Situation ausgegangen werden. Zwar kann bei
gleichberechtigten, sich kreuzenden kombinierten Fuß- und
Radwegen und allgemeinen Wegen für Fußgänger und Radfahrer die
Kreuzungsregelung des § 8 I S. 1 StVO zur Anwendung kommen.
Allerdings greift dies im vorliegenden Fall nicht. Nach den
örtlichen Gegebenheiten, die sich aus den vorgelegten
Luftbildaufnahmen und Fotografien ergeben, kam der Beklagte aus
einem Nebenweg, der als kurzes Verbindungsstück zur
Fußgängerampel diente. Demgegenüber war der Kläger auf dem
erkennbar für Fahrradfahrer und Fußgänger ausgebauten
durchführenden Weg unterwegs. In dieser Konstellation war nach
Einschätzung des Gerichts die Regelung für Nebenwege
entsprechend § 8 I S. 2 Nr. 2 StVO heranzuziehen. Danach hat der
aus dem Nebenweg auf den Hauptverkehrsweg einbiegende
Verkehrsteilnehmer keine Vorfahrt. Würde auch bei einem so
schlecht einsehbaren, in seiner Funktion und baulichen
Ausführung deutlich untergeordneten Weg, der auf den
ausgewiesenen Fahrradweg mündet, zu Lasten des durchgehenden
Verkehrs die Regel des § 8 I 1 StVO greifen, wäre die Funktion
des ausgebauten Weges nicht mehr gegeben und seine
sinnentsprechende Nutzung durch Fahrradfahrer nicht möglich.
AG
Frankfurt, Az.: 32 C 3057/15 (48), Urteil vom 05.12.2016
13.0
Irrige Vorfahrtsannahme – irreführendes Fahrverhalten
TOP
Irreführendes Fahrverhalten des Vorfahrtsberechtigten gewährt
grundsätzlich aus der Sicht des Wartepflichtigen keinen
„Vorrang“. Diesbezügliche Feststellungen können nur vor Ort
getroffen werden. Es kann ist auszugehen, dass
irreführendes Fahrverhalten so ausgeprägt sein muss, dass jeder
vernünftig denkende Fahrzeugführer davon überzeugt ist, dass der
Vorfahrtsberechtigte wirklich auf sein Vorrecht verzichtet.
OLG München 2017:
Das
Vorfahrtsrecht (§ 8 I StVO) des Klägers und die Wartepflicht (§
8 II StVO) der Beklagten entfallen – grundsätzlich und im
Streitfall – auch dann nicht, wenn der Kläger durch
missverständliches oder irreführendes Fahrverhalten einen
Vertrauenstatbestand geschaffen hätte.
Umstritten ist allerdings, aufgrund welcher Umstände in dem
Streitfall vergleichbaren Fällen ein Vertrauenstatbestand
geschaffen wird.
OLG
München, Endurteil vom 15.09.2017 - 10 U 4380/16
14.0
Fahrstreifenwechsel
TOP
Auf
einer mehrspurigen Fahrbahn hat der durchgehende Verkehr
Vorfahrt.
§ 18
Abs. 3 StVO (Autobahnen und Kraftfahrstraßen) (3) Der
Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn hat die Vorfahrt.
Gemeint
ist hier der auf einem Einfädelungsstreifen sich in den
fließenden Verkehr einfädelnde Fahrzeugführer. Der sich auf einer Beschleunigungsspur befindliche
Fahrzeugführer hat die Vorfahrt zu beachten.
Hinsichtlich der Sorgfaltspflicht eines Fahrzeugführers, der die
Vorfahrt zu gewähren hat, heißt es in einem Urteil des LG
Wuppertal aus dem Jahr 2018 wie folgt:
LG Wuppertal 2018:
Ein gegenüber dem Verkehr auf einer mehrspurigen Straße
vorfahrtpflichtiger
Fahrer muss jedenfalls dann mit einem Fahrstreifenwechsel eines
vorfahrtberechtigten
Fahrers rechnen, wenn die konkrete Ausgestaltung der
Örtlichkeiten dazu Veranlassung gibt (hier: bevorstehende
Baustelle mit Teilung der Fahrbahnen und Verschwenkung der
linken Fahrbahn).“
LG
Wuppertal, Urteil vom 12.07.2018 - 9 S 42/18
Hinsichtlich des Fahrstreifenwechsels durch das so genannte
Reissverschlussverfahren hat sich durch das Urteil des BGH aus
dem Jahre 2022 die Rechtslage geändert.
BGH 2022:
Bei einer
beidseitigen Fahrbahnverengung (Gefahrenzeichen 120 nach Anlage
1 zu § 40 Abs. 6 und 7 StVO) gilt das Gebot der wechselseitigen
Rücksichtnahme (§ 1 StVO). Ein regelhafter Vorrang eines der
beiden bisherigen Fahrstreifen besteht nicht.
BGH,
Urteil vom 08.03.2022 - VI ZR 47/21
15.0
Vertrauensgrundsatz des Vorfahrtsberechtigten
TOP
Ein
Vorfahrtsberechtigter kann sich auf der Grundlage des
Vertrauensgrundsatzes darauf verlassen, dass ein für ihn nicht
sichtbarer Verkehrsteilnehmer sein Vorfahrtsrecht beachten wird.
Fremdes
Verhalten, zum Beispiel im Zusammenhang mit einer
unübersichtlichen Verkehrslage, kann das Vertrauen in die eigene
Vorfahrt ausschließen.
Der
Vertrauensgrundsatz entfällt, wenn der oder die
Vorfahrtsberechtigte mit unangemessener Geschwindigkeit - also
erheblich zu schnell - auf einer vorfahrtsberechtigten Straße
fährt. Jedoch verpflichtet ihn der Grundsatz der so genannten
„halben Vorfahrt“ dazu, mit angemessener Geschwindigkeit zu
fahren. Die Rechtssprechung geht von einer
Geschwindigkeitsüberschreitung von gut 60 Prozent aus. Der
Nachweis einer solchen Geschwindigkeitsüberschreitung setzt ein
Gutachten eines Sachverständigen voraus.
16.0
Pflichten des Wartepflichtigen
TOP
Der
Wartepflichtige hat durch sein Fahrverhalten kenntlich zu
machen, dass er seiner Wartepflicht nachkommen wird. Im Hinblick
auf Kreuzungen oder Einmündungen, in denen die Vorfahrt durch
Verkehrszeichen nicht geregelt ist, heißt es in einem Urteil des
OLG Hamm aus dem Jahr 2020 wie folgt:
OLG Hamm 2020:
Ist die Vorfahrt an einer Kreuzung nicht besonders geregelt, so
stellt sich für jeden Verkehrsteilnehmer, der sich dieser
Kreuzung nähert, die Verkehrslage so dar, dass er zwar gegenüber
dem von links Kommenden vorfahrtsberechtigt, gegenüber
Verkehrsteilnehmern von rechts aber wartepflichtig ist.
OLG
Hamm, Urteil vom 09.06.2020 - 7 U 19/19
Hinsichtlich des zu erwartenden Verhaltens eines
Wartepflichtigen an beschilderten Kreuzungen/Einmündungen heißt
es in einer Entscheidung des BGH aus dem Jahr 1976 bereits in den
Leitsätzen wie folgt:
BGH 1976:
1. Das Zeichen 306 gewährt die Vorfahrt ohne Rücksicht darauf,
ob es an jeder Kreuzung oder Einmündung wiederholt und ob in der
anderen Straße negative Vorfahrtzeichen angebracht sind.
2. Ist eine Straße durch die
Zeichen 301 oder 306 als
vorfahrtberechtigt
gekennzeichnet, so begründet dies für die auf kreuzenden oder
einmündenden Straßen herannahenden Verkehrsteilnehmer auch dann
eine Wartepflicht, wenn auf ihrer Straße keine negativen
Vorfahrtzeichen aufgestellt sind.
BGH,
Urteil vom 21.12.1976 - VI ZR 257/75
17.0
Vertrauen des Wartepflichtigen
TOP
Der
Wartepflichtige kann sich auf den Vertrauensgrundsatz nur
beschränkt berufen, denn er muss damit rechnen, dass
vorfahrtsberechtigte Fahrzeugführer oftmals schneller als
erlaubt fahren. Vertrauen darf der Wartepflichtige dennoch
darauf, dass der vorfahrtsberechtigte Fahrzeugführer nicht
wesentlich schneller als erlaubt fährt. Bei der Beurteilung
dieser Frage kommt es im Wesentlichen auf die Verhältnisse im
Vorfahrtsbereich (Kreuzung/Einmündung) an. Bei einsehbaren
Bereichen dürfte der Vertrauensgrundsatz anders zu beurteilen
sein, als bei schlecht einsehbaren Stellen.
OLG Hamm 2000:
Der Wartepflichtige hat das Vorfahrtsrecht des herannahenden
Verkehrsteilnehmers nur dann zu beachten, wenn das
bevorrechtigte Fahrzeug in dem Augenblick, in dem er sich zum
Einfahren in die
Vorfahrtstraße
entschließt, bereits sichtbar ist. Die bloße Möglichkeit, dass
auf der
Vorfahrtstraße
ein anderes Fahrzeug herannahen könnte, löst noch keine
Wartepflicht aus.
An
anderer Stelle heißt es:
Dementsprechend kommt es vorliegend darauf an, ob der
Beklagte
[...]
den
Kläger zum Zeitpunkt des Einbiegeentschlusses wahrnehmen konnte.
Dies hängt entscheidend von der vom Kläger gefahrenen
Annäherungsgeschwindigkeit ab.
OLG
Hamm, Urteil vom 02.02.2000 - 13 U 155/99
Hinweis:
Ob der Unfall für den Wartepflichtigen unvermeidbar war, weil
der Vorfahrtsberechtigte mit unangemessener Geschwindigkeit sich
dem Unfallort näherte, können Polizeibeamtinnen oder
Polizeibeamte nicht beweiserheblich feststellen. Diese Frage
kann nur durch die Beauftragung eines Sachverständigen
entschieden werden, der zur Klärung dieser Frage ein
Geschwindigkeitsgutachten erstellen kann.
OLG Hamm 2000:
Wird die gemäß § 3 Abs. 1 StVO am Unfallort zugelassene
Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um mindestens 60 %
überschritten, dann dadurch der Wartepflichtige entlastet
werden.
Vgl. OLG
Hamm, Urteil vom 02.02.2000 - 13 U 155/99
Fehler, Verbesserungsvorschläge und Fragen richten Sie bitte an:
info@rodorf.de
--------------------------------------------------------------
Die Pflege
und der Unterhalt dieser Webseite sind mit Kosten verbunden. Aus
diesem Grunde können die anderen Kurse, die das polizeiliche
Grundlagenwissen betreffen, nicht unentgeltlich zur Verfügung
gestellt werden.
Polizeiliches Grundlagenwissen Printausgaben und E-Books
www.polizeikurse.de
|