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Schusswaffengebrauch – Notwehr oder PolG?

Inhaltsverzeichnis

01 Hinführung zum Thema
02 Berufsgefahren
03 Garantenpflicht von Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten
04 Hinzunehmende Berufsgefahren
05 Vor Schießerei davongelaufen
06 Grenzen der Gefahrenhinnahmepflicht
07 Einsatztraining der Polizei
08 Training mit Polizeiwaffen
09 Polizei und Notwehr
10 Notwehr aus Sicht des BGH
11 Polizeirechtlicher Schusswaffengebrauch
12 Beispiele zum Nachdenken
13 Schüsse in Dortmund
14 PolG oder Notwehr
15 Zwangsbefugnisse der Polizeigesetze
16 Notwehr ist ein Jedermannsrecht
17 Amtshaftung: Polizeilicher Schusswaffengebrauch
18 Zusammenfassung

19 Quellen


01 Hinführung zum Thema

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Das Wort „Notwehr“ setzt voraus, dass es sich dabei um Situationen handeln muss, in denen Polizeibeamte gegenwärtig und rechtswidrig angegriffen werden und sich in solchen Fällen auch auf Notwehr berufen können, weil es ihnen ohne längeres Überlegen erlaubt sein muss, sich sozusagen spontan und intuitiv zu verteidigen.

§ 32 StGB (Notwehr)

(1) Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig.

(2) Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.

Außerdem wird geltend gemacht, dass Polizeibeamten landesrechtliche Regelungen (gemeint sind die polizeilichen Zwangsbefugnisse) keine Rechte vorenthalten können, die bundesrechtlich einem jedermann zustehen. Anders ausgedrückt: Bundesrecht bricht Landesrecht.

Wie dem auch immer sei: Festzustellen ist, dass in allen Gesetzen, die es der Polizei erlauben, Zwang anzuwenden, der Schusswaffengebrauch auch dann zulässig ist, wenn es darum geht, gegenwärtige Gefahren für Leib oder Leben von Personen, und zu denen gehören auch die Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten selbst, abzuwehren, siehe zum Beispiel § 64 Abs. 1 Nr. 1 PolG NRW.

§ 64 Abs. 1 Nr. 1 PolG NRW (Schusswaffengebrauch gegen Personen)

(1) Schusswaffen dürfen gegen Personen nur gebraucht werden, 1. um eine gegenwärtige Gefahr für Leib oder Leben abzuwehren.

Die Frage der Inanspruchnahme von Notwehrrechten durch Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten wirft trotzdem Fragen auf, die kaum gestellt und erst recht nicht mit gebotener Sorgfalt beantwortet werden. Ziel dieses Aufsatzes ist es deshalb, aufzuzeigen, dass es schlichtweg zu einfach ist, den polizeilichen Schusswaffengebrauch gebetsmühlenhaft mit Notwehr zu begründen, wenn eine Polizeibeamtin oder ein Polizeibeamter von einer Person zum Beispiel mit einem Messer angegriffen wurde und zur Abwehr dieser Gefahr von der Schusswaffe Gebrauch gemacht und dabei den Angreifer tödlich verletzt hat. Das hört sich zwar gut und einleuchtend an, aber im Prinzip hat die „Berufung auf Notwehr“ zur Folge, dass sich ein Staat und die für diesen Staat handelnden Amtswalter sich auf Recht berufen, die einem „jedermann“ zustehen. Dazu später mehr. Zuerst einmal möchte ich feststellen, dass, wer sich entschließt Polizeibeamtin oder Polizeibeamter zu werden, sich darüber im Klaren sein muss, dass zum Polizeiberuf auch eine „Gefahrenhinnahmepflicht“ gehört, die es auch im hier zu erörternden Spannungsfeld extremer polizeilicher Einsatzlagen zu berücksichtigen gilt, die aber dann außer Kraft gesetzt zu sein scheint, wenn es sich dabei um Notwehrlagen handelt. Das aber ist nach der hier vertretenen Rechtsauffassung, besser gesagt nach dem hier aufgezeigten Berufsverständnis, nicht der Fall. Wie dem auch immer sei. Gehen Sie zuerst einmal davon aus, dass dieses hier zu erörternde Thema den Kernbereich des polizeilichen Berufsverständnisses berühren wird.

02 Berufsgefahren

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Ein eindeutiger Indikator für die Gefährlichkeit eines Berufs ist das Risiko, während der Berufsausübung getötet zu werden. Der Tod kann durch Angriffe oder durch Unfälle eintreten. In Deutschland verloren seit 1945 hunderte Beamte ihr Leben. Laut Deutscher Polizeigewerkschaft, ist die Hemmschwelle gesunken, eine Waffe gegen Polizisten einzusetzen. Das zeigt auch eine Übersicht aller getöteten Polizisten der vergangenen 20 Jahre. Das sind, wenn ich richtig gezählt habe, 75 Polizeibeamte, die in Ausübung ihres Dienstes zu Tode gekommen sind. Hinzu kommen noch Fälle der Bundespolizei. Nach deren Angaben kamen seit dem Jahr 1963 insgesamt 50 Grenzschützer und Bundespolizisten in Erfüllung ihrer Dienstpflichten ums Leben [En01].

Eine andere Auflistung geht von 114 Polizisten aus, die von 1961 bis einschließlich Januar 2022 in Ausübung ihres Dienstes getötet wurden. Das ist eine Zeitspanne, die 60 Jahre umfasst und hinsichtlich der statistischen Wahrscheinlichkeit 2 Todesopfer pro Jahr bei einem Personalbestand von mehr als 250 000 Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten umfasst. Diese Überlegungen sagen dennoch recht wenig über das Berufsrisiko von Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten aus. Glaubt man den Zahlen von Unfallversicherern, dann nimmt der Polizeiberuf in der Liste der 13 gefährlichsten Berufe der Welt einen der unteren Plätze ein.

Die 13 gefährlichsten Berufe werden dort wie folgt auflistet:

  • Bombenentschärfer

  • Fensterputzer

  • Ice-Truck Fahrer

  • Feuerwehrmann

  • Pilot

  • Dachdecker

  • Soldat

  • Hochseefischer

  • Polizist

  • Zirkusartist

  • Leibwächter

  • Holzfäller

  • Stuntman.

Die Gefährlichkeit von Berufen lässt sich aber auch aus einer ganz anderen Sicht der Dinge beurteilen, nämlich aus der Sicht von Unfallversicherern, die aus Erfahrung wissen, welche Berufe mit besonderen Berufsgefahren verbunden sind, weil diese Personen Versicherungsleistungen einfordern, wenn ein Versicherungsfall eingetreten ist. Das ist etwas ganz anderes, als Menschen dazu zu bewegen, eine Unfallversicherung abzuschließen, wenn sie sich zum Beispiel für den Polizeiberuf entschieden haben. Aus Sicht der Unfallversicherer setzen sich die fünf gefährlichsten Berufe Deutschlands wie folgt zusammen:

Platz 1:
Baukonstruktionsberufe (z.B. Maurer, Zimmerleute oder Steinmetze)
Platz 2:
Abfallentsorgungsarbeiter
Platz 3:
Lokomotivführer und verwandte Berufe
Platz 4:
Hilfsarbeiter
Platz 5:
Ausbaufachkräfte (z.B. Dachdecker, Boden-, Fliesenleger, Stuckateure, Glaser).

Weitere gefährdete Berufsgruppen sind laut DGUV Beschäftigte im Bäcker-, Konditor- und Fleischereigewerbe, aber auch Berufssportler sowie Beschäftigte, die mobile Anlage bedienen, z.B. Gabelstapler, Erdbewegungsmaschinen und Kräne. [En02].

Aber auch diese Sicht der Dinge ist unbefriedigend, denn im Polizeivollzugsdienst werden Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte nicht nur erschossen oder anderweitig getötet, sondern auch verletzt.

In Anlehnung an die am 15. April 2021 vorgestellten polizeiliche Kriminalitätsstatistik (PKS) wurden 2020 bundesweit 15.800 Angriffen auf Polizisten und Polizistinnen statistisch erfasst.

Hinsichtlich der Gefahren, die Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten hinzunehmen haben, gibt es trotz dieser Zahlen keine expliziten gesetzlichen Vorgaben, die Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten dazu verpflichten würden, die mit ihrem Beruf typischerweise verbundenen Berufsgefahren hinzunehmen und auch keine dienstrechtlich einzuhaltenden (verpflichtenden) Weisungen, sich zur Abwehr von Gefahren strikt an die Vorgaben der „Eigensicherung“ zu halten. Zwar gibt es einen „Leitfaden Eigensicherung“, bei diesem Leitfaden handelt es sich aber nicht um eine Erlassregelung, an die sich Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte zu halten haben, wenn sie keine Dienstpflichtverletzung begehen wollen.

Zwar erwartet das Beamtenstatusgesetz von jedem Polizeibeamten und auch von jeder Polizeibeamtin, sich mit voller Hingabe und Dienstleistungsbereitschaft einzusetzen, was das aber im Zusammenhang mit der Bereitschaft, sich bedrohlichen Gefahrensituationen aussetzen zu müssen tatsächlich bedeutet, dazu schweigen sich die Gesetze weitgehend aus.

Kurt Grützner: In einer Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Kassel vom 15.08.1984 heißt es diesbezüglich: „Von Polizeibeamten kann im Hinblick auf die Eigenart ihres Dienstes grundsätzlich erwartet werden, dass sie sich entsprechend den konkreten Erfordernissen auch Gefahren für Leib, Leben und Gesundheit aussetzen.“ Eine inhaltliche Begründung [dieser Rechtsauffassung] ist, dass Polizeibeamte im Unterschied zu den „Normalbürgern“ für solche Situationen ausgebildet und ausgerüstet sind. Erwähnenswert ist dabei, dass diese Gefahrenhinnahmeverpflichtung natürlich nur bei Gefahr für Leib und Leben anderer Menschen Anwendung findet und nicht z.B. zum Schutz von Sachwerten erwartet werden kann, und auch nicht wird. In der Zusammenschau dieser Gesetzes-, Erlass- und Gerichtsurteilstexte kann man vielleicht sagen: Sie beschreiben auf unterschiedliche Weise so etwas wie einen „Commen Sense“ in unserer Gesellschaft, der besagt, dass es berufene Menschen in unserer Gesellschaft geben muss, die in bestimmten Situationen auch dazu bereit sind, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um andere Leben zu retten [En03].

03 Garantenpflicht von Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten

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Es liegt nun fast schon 30 Jahre zurück, als die Innenministerkonferenz missverständlich formulierte, dass die Polizei „Garant der inneren Sicherheit“ sei. Diese Formulierung trifft nicht den Kern des polizeilichen Berufsverständnisses, denn die Polizei ist lediglich ein Vollzugsorgan, auch wenn es für Teilbereiche für einen einstweiligen Rechtsgüterschutz zuständig ist. Richtig ist aber, dass, wenn die Polizei in Teilbereichen zugewiesene Aufgaben zu erledigen hat, sich daraus Garantenstellungen ergeben können, die Polizeibeamte zum Einschreiten verpflichtet.

Beispiel 1:
Polizeibeamte werden zu einer Wirtshausschlägerei entsandt. Die Beamten fahren zum Einsatzort, um diese Schlägerei zu beenden. Bei der Auseinandersetzung mit den Streitenden werden beide Polizeibeamten verletzt.

Was würden Sie von den Einsatzkräften halten, wenn sie so langsam zum Einsatzort fahren, bis sich die Sache dort von selbst erledigt hat?

Beispiel 2:
Zwei Polizeibeamte befinden sich auf Fußstreife. Als sie laute Hilferufe hören und zur Hilfe eilen, sehen die beiden Beamten, wie Skinheads mit Baseballschlägern auf einen am Boden liegenden Farbigen einschlagen. Einer der Polizeibeamten gibt einen Warnschuss ab, der zur Folge hat, dass die Skinheads sofort fliehen.

Auch hier werden Sie sagen: gut gemacht. Und wenn Sie nach der Rechtsgrundlage für diesen Warnschuss suchen, dann werden Sie in allen Gesetzen fündig werden, die es der Polizei erlauben, von der Schusswaffe Gebrauch zu machen. Im Gegensatz dazu werden Sie nach dem Wort „Warnschuss“ im Strafgesetzbuch vergeblich suchen und ihn nur dann finden, wenn Sie sich intensiv mit dem Notwehrrecht auseinandersetzen.

Beispiel 3:
Anlässlich eines schweren Verkehrsunfalls müssen einschreitende Polizeibeamte mit ansehen, wie in der Fahrgastzelle der dort eingeklemmte Fahrzeugführer verbrennt. Ein Einschreiten ist den Beamten nicht mehr möglich, ohne ihr Leben selbst zu gefährden.

Diese Sichtweise werden Sie ebenfalls teilen können, denn von keiner Polizeibeamtin und auch von keinem Polizeibeamten kann erwartet werden, erfolglos Hilfe leisten zu müssen, wenn das mit dem sicheren Tod des Hilfeleistenden verbunden ist.

Beispiel 4:
Polizeibeamte werden anlässlich einer gewaltsam verlaufenden Demonstration nicht nur mit Steinen beworfen, sondern auch unter Verwendung von Zwillen mit Schrauben beschossen. Ein Beamter erleidet eine Gehirnerschütterung, ein anderer wird von einer Schraube so schwer verletzt, dass er sofort ins Krankenhaus eingeliefert werden muss. In dieser Situation schießt ein Beamter auf die Angreifer. Dabei wird ein Demonstrant getötet und drei weitere werden verletzt.

Wenn das Notwehr sein soll, dann bedarf es wirklich keiner gesetzlichen Regelungen mehr, die den Einsatz der Schusswaffe durch Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte regeln.

§ 65 PolG NRW (Schusswaffengebrauch gegen Personen in einer Menschenmenge)

(1) Schusswaffen dürfen gegen Personen in einer Menschenmenge nur gebraucht werden, wenn von ihr oder aus ihr heraus schwerwiegende Gewalttaten begangen werden oder unmittelbar bevorstehen und andere Maßnahmen keinen Erfolg versprechen.

(2) Wer sich aus einer solchen Menschenmenge nach wiederholter Androhung des Schusswaffengebrauchs nicht entfernt, obwohl ihm das möglich ist, ist nicht Unbeteiligter im Sinne des § 63 Abs. 4.

Übrigens: Bei jedem rechtswidrigen Angriff auf Vollstreckungsbeamte ließe sich eine Abwehrhaltung dann ja auch auf Notwehr stützen.

§ 114 StGB (Tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte)

(1) Wer einen Amtsträger oder Soldaten der Bundeswehr, der zur Vollstreckung von Gesetzen, Rechtsverordnungen, Urteilen, Gerichtsbeschlüssen oder Verfügungen berufen ist, bei einer Diensthandlung tätlich angreift, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.

(2) § 113 Absatz 2 gilt entsprechend.

(3) § 113 Absatz 3 und 4 gilt entsprechend, wenn die Diensthandlung eine Vollstreckungshandlung im Sinne des § 113 Absatz 1 ist.

Wenn solche Situationen von Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten sozusagen nach eigener Gefährdungseinschätzung als gegenwärtige rechtswidrige Angriffe auf ihren Leib und auf ihr Leben bewerten würden und das Ergebnis dieser intuitiven Gefährdungseinschätzung ausreichend würde, um Notwehrrechte in Anspruch zu nehmen, spätestens dann wird deutlich, dass die Polizei wirklich keine den Zwang regelnden Eingriffsbefugnisse mehr benötigt.

Aber ich möchte nicht vorgreifen.

04 Hinzunehmende Berufsgefahren

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Ich kann mich noch gut an ein Gespräch mit jungen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten erinnern, die 1983 anlässlich der Chaostage in Hannover am eigenen Leib erfahren konnten, was für Berufsgefahren allein deshalb hinzunehmen sind, weil ein Wegrennen schlichtweg nicht mehr möglich ist.

Wenn Sie wissen möchte, in was für einer Gefahrensituation sich die jungen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten befanden, dann öffnen Sie bitte folgenden Link:

Schutz unter der Schildkröte

Ich möchte dieses Bild nicht theoretisieren, indem ich die Sprachfigur der „Garantenpflicht“ auch hier, sozusagen als Erklärung für alle Berufsgefahren heranziehe, denen Polizeibeamte und Polizeibeamtinnen ausgesetzt sein können. Ich halte es für viel zielführender, mich an das zu erinnern, was die Gruppe junger Polizisten selbst wahrgenommen hat, als sie, schutzsuchend unter hochgehaltenen Schutzschilden, sozusagen einem „Feuerwerk von Steinen“ ausgesetzt waren, die auf die Schutzschilde prasselten.

Ihre Wahrnehmungen und Gefühle schilderte die Gruppe wie folgt:

  • Ich habe die Welt nicht mehr verstanden. Wie konnte ich nur auf den Gedanken kommen, Polizeibeamter zu werden. Hoffentlich überlebe ich das hier.

  • Ich habe in das Gesicht einer jungen Kollegin geschaut. Sie weinte.
    Mir haben die Knie und die Hände gezittert.

  • Mein Hoffnung bestand darin, dass die Idioten nicht auf den Gedanken kommen, mit Molotowcocktails zu kegeln, denn unterhalb unserer Kniehöhe gab es keine ausreichende Sicherheit.

  • Unser Gruppenführer schrie: „Haltet durch! Wir schaffen das! Gleich kommt Hilfe!“
    Ich habe sogar einen Kollegen grinsen sehen. Sah fast schon so aus, als ob ihn das anmachte.

  • Ich musste nach dem Einsatz meine Unterwäsche wechseln. Irgendwie habe ich die Kontrolle über meine Körperfunktionen verloren.

  • Ich habe in ein Gesicht geschaut, das angstverzerrt war.

  • Ein Kollege hat nach diesem Einsatz der Polizei den Rücken zukehrte. Er hat gekündigt.

  • Das kann ich gut verstehen, auch ich frage mich noch heute, ein paar Wochen nach den Chaostagen, ob ich mein berufliches Glück nicht doch besser in einem anderen Beruf suche.

Ich denke, dass deutlich geworden ist, dass erlebte Berufsgefahren Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte nachdenklich stimmen, zumindest dann, wenn es sich um erlebte existenzielle Berufsgefahren handelt, in denen nicht geschossen wurde, die aber dennoch weitaus gefährlicher waren als die, die später in diesem Aufsatz erörtert werden.

05 Vor Schießerei davongelaufen

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Weil sie ihre Kollegen nach Überzeugung des Gerichts bei einer lebensgefährlichen Schießerei im Stich ließen, hat das Amtsgericht Schwelm (NRW) zwei Polizistinnen 2020 zu einer einjährigen Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Sollte dieses Urteil rechtskräftig werden, hätte das zur Folge, dass die beiden Frauen ihren Beamtenstatus verlieren und nicht weiter im Polizeidienst verwendet werden können.

Das Gericht folgte der Staatsanwaltschaft, die den beiden versuchte gefährliche Körperverletzung im Amt durch Unterlassen vorgeworfen hatte.

Was war geschehen?

Die Beamtinnen (37 und 32 Jahre alt) waren in einer Nacht Anfang Mai 2020 in Gevelsberg (Nordrhein-Westfalen) zufällig zu einer aus dem Ruder laufenden Verkehrskontrolle gekommen. Dabei hatte ein Autofahrer das Feuer auf die beiden Kontrollbeamten eröffnet. Als einer der beiden getroffen zu Boden ging, liefen die hinzugestoßenen Polizistinnen davon. Statt einzugreifen, hielten sie ein Auto an und wiesen die Fahrerin an, weiterzufahren ... aus Todesangst.

Die urteilende Richterin, so war in den Medien zu lesen, habe durchaus Verständnis für die beiden Frauen gehabt, die sich aus Furcht, Angst und Schrecken vom Einsatzort entfernt hatten. Dennoch sei es ihnen als Polizistinnen rechtlich geboten gewesen, anders zu handeln – also nicht die Flucht zu ergreifen – sondern aus der Deckung mindestens Warnschüsse abzugeben.

Die Polizistinnen hatten ihr Fehlverhalten eingeräumt, aber um Verständnis für ihr Verhalten geworben. Sie hätten um ihr Leben gefürchtet und Unterstützung holen wollen.

AG Schwelm, Urteil vom 16.11.2021 - 59 Ls 25/20

Urteil im Volltext

06 Grenzen der Gefahrenhinnahmepflicht

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Wo diese Grenze zu ziehen ist, das lässt sich allgemeingültig nicht beschreiben, sondern nur in Anlehnung an polizeiliche Einsatzlagen nachvollziehbar aufzeigen. Während von einem Feuerwehrmann in Schutzausrüstung und mit einem Atemgerät ausgestattet, erwartet werden kann, ein brennendes Haus zu betreten, wird solch eine Handlung wohl kaum von einem Polizeibeamten oder einer Polizeibeamtin in Uniform verlangt werden können, und zwar auch dann nicht, wenn im brennenden Haus Menschen verzweifelt um Hilfe rufen. Anders dürfte jedoch die Erwartung an professionell ausgebildete Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten sein, wenn es zum Beispiel in einer Schule zu einer so genannten Amoklage gekommen ist.

Unter Einsatz meines Lebens. Erfahrungen eines Beobachters bei einem Amoktraining der Polizei.

Wenn das in echt gewesen wäre“ sagte der Kollege sichtbar nachdenklich: – „ich  wäre tot!“

Was war passiert? In einer ersten Übung sollten zwei Streifenwagenbesatzungen anlässlich einer gespielten Amoklage einschreiten. Das Anziehen der schwereren Westen war sichtlich ungewohnt. Ebenso der Umgang mit der Maschinenpistole. So traten die vier dann vorsichtig, einer nach dem anderen, auf den Übungsflur – die Dienstwaffe in der Hand. Ihre Gesichter verrieten verunsicherte Anspannung. Die vom Band eingespielte Geräuschkulisse mit Schreien und Schüssen ließ auch meinen Puls als Beobachter hochschnellen und auch meine Hände wurden feucht.

Die vom Flur abgehenden Türen und die dahinterliegenden Räume wurden inspiziert.

Nichts. Sie wechseln die Seite, wollen die dort abgehende Tür aufmachen. Als alle

Vier gespannt darauf warten, was sich wohl hinter dieser Tür verbirgt, springt mit lautem Geschrei aus der offenen Tür am Ende des Ganges der Täter heraus und beginnt schon beim ersten Sprung zu schießen. Die vier Kollegen schießen zurück und bringen den Täter zu Boden – wie gesagt: im Training. Wäre es in echt gewesen, wäre zuerst der Kollege blutüberströmt zusammengebrochen. Die Übungsmunition des Amoktäters hatte ihn genau in die Stirn getroffen [En04].

Weglaufen oder Verstecken, bzw. in Deckung gehen, bis die richtige Polizei kommt, das wäre, nach allgemeinem Polizeiverständnis wohl auch keine Option gewesen. Diesen Vorwurf musste sich die Polizei in Texas gefallen lassen, als im Mai 2022 ein Amokschütze in einer Grundschule ein Blutbad anrichtete (19 getötete Kinder und 2 getötete Lehrer).

Focus.de: Die Polizei gerät nach dem Blutbad in einer Grundschule im US-Bundesstaat Texas wegen ihres Vorgehens während des Massakers unter Druck. Eltern werfen den Einsatzkräften vor, zu lange untätig gewesen zu sein und nicht rechtzeitig eingegriffen zu haben. Die Behörden bestätigten am Donnerstag, dass der Schütze rund eine Stunde in dem Klassenzimmer verbracht habe, indem er auf die Schulkinder und Lehrerinnen schoss. Erst dann habe die Polizei den Raum betreten und den 18-Jährigen erschossen. [En05].

Was aber wäre richtiges polizeiliches Einsatzverhalten gewesen? Die Beantwortung dieser Frage würde mich wirklich zu weit vom Thema abbringen, zumal es zur Beantwortung dieser Frage notwendig wäre, sich intensiv mit der Polizeidienstvorschrift 100 (PDV 100) zu beschäftigen, bei der es sich aber um eine nur für den Dienstgebrauch bestimmte polizeiliche Vorschrift handelt, was es mir unmöglich macht, ohne Regelverletzung darüber zu schreiben. Ein anderer Erklärungsansatz dürfte aber genauso zielführend sein.

07 Einsatztraining der Polizei

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Stellvertretend für Ausführungen, die in der PDV 100 vermutet werden können, lässt aber auch - in Anlehnung an einen Artikel des Landesamtes für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten der Polizei NRW (LAFP NRW) aus dem Jahr 2017 - erkennen, wie sich die Polizei auf Extremsituationen vorbereitet, um im Einsatzfall entsprechend vorbereitet zu sein. Vielleicht erinnern Sie sich an die Berichterstattung in den Medien im Anschluss an die Terroranschläge in Paris. Auch in der deutschen Presse hießt es damals, dass anlässlich von Terroranschlägen jede Sekunde zählt, um Menschenleben zu retten und weiteren Schaden abzuwenden.

LAFP 2017: Das Warten auf Spezialeinheiten ist keine Option: Bei terroristischen Anschlägen müssen die Einsatzkräfte der Polizei, die sich unmittelbar vor Ort oder in der Nähe befinden, sofort konsequent eingreifen und zielgerichtet handeln. „Die Polizei in NRW bereitet sich sehr zielgerichtet und intensiv auf terroristische Anschläge vor“, bekräftigt der [ehemalige] Inspekteur der Polizei NRW Bernd Heinen. Das Landesamt für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten der Polizei Nordrhein-Westfalen (LAFP NRW) hat dafür gemeinsam mit Verantwortlichen aus diversen Polizeibehörden die Fortbildungskonzeption Amok-TE erarbeitet und fortgeschrieben, um Interventionsmaßnahmen und Handlungsabläufe zu optimieren und dadurch Handlungssicherheit zu fördern.

Wir sind auch in Deutschland im Fadenkreuz des internationalen Terrorismus!“, sagt [der ehemalige] NRW-Innenminister Ralf Jäger. „Die Gefahr ist nicht mehr abstrakt, sondern durchaus real. Deshalb sind die Sicherheitsbehörden auch in erhöhter Bereitschaft.“ Dennoch kann es keine absolute Sicherheit geben: Die Gefahr eines Terroranschlages in Deutschland ist konstant hoch. Es muss damit gerechnet werden, damit erneut konfrontiert zu werden. „Die Polizei in NRW stellt sich angesichts der erhöhten Gefahr dieser Herausforderung und bereitet sich auf ein solches schwerwiegendes Ereignis gezielt in einsatztaktischer, rechtlicher, ethischer und kommunikativer Hinsicht vor“, verdeutlicht der [ehemalige] Inspekteur der Polizei (IdP) NRW, Bernd Heinen und gibt ein klares Ziel vor. „Wir lassen die Polizistinnen und Polizisten mit dieser schwierigen Aufgabe nicht allein, sie werden durch alle Verantwortlichen unterstützt und gestärkt.“

  • Sofortiges Handeln ist dringend geboten!

  • Auswirkung auf die Aus- und Fortbildung

  • Jeder Handgriff muss sitzen.

Neues Trainingszentrum in Betrieb

Um diese komplexen Einsatzsituationen so realistisch wie möglich trainieren zu können, hat [der ehemalige] IdP Bernd Heinen am 22. März 2017 das multifunktionale Trainingszentrum für Amok-TE-Lagen in Selm [...] offiziell eröffnet. Das circa 55 Fußballfelder große neue Trainingszentrum wird durch das LAFP NRW für die Aus- und Fortbildung genutzt [En06].

Was lässt sich aus diesem Trainingskonzept im Hinblick auf die Bereitschaft, Berufsgefahren hinzunehmen, ableiten?

Zuerst einmal die Feststellung, dass Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte bereits während ihrer Ausbildung entsprechend trainiert werden. Anders ausgedrückt: Alle an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in NRW studierenden zukünftigen Polizeikommissarinnen und Polizeikommissare nehmen während ihrer Modulausbildung im Zuständigkeitsbereich des LAFP an solchen Trainings teil.

Anders ausgedrückt: Sowohl theoretisch als auch praktisch wissen die Nachwuchskräfte der Polizei in NRW, wie sie sich zu verhalten haben, wenn es lebensgefährlich werden könnte.

08 Training mit Polizeiwaffen

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Zur Ausrüstung einer jeden Polizeibeamtin und eines jeden Polizeibeamten in NRW gehören folgende Waffen, die im § 58 Abs. 4 PolG NRW (Begriffsbestimmungen, zugelassene Waffen) enumerativ aufgeführt sind.

§ 58 Abs. 4 PolG NRW (Begriffsbestimmungen, zugelassene Waffen)

(4) Als Waffen sind Schlagstock und Distanzelektroimpulsgeräte sowie als Schusswaffen Pistole, Revolver, Gewehr und Maschinenpistole zugelassen.

Außerdem führt jede Polizeibeamtin und jeder Polizeibeamte ein Reizstoffsprühgerät mit sich, bei dem es sich aber nicht um eine Waffe, sondern um ein Hilfsmittel der körperlichen Gewalt im Sinne von § 58 Abs. 3 PolG NRW handelt.

Würde eine Privatperson solche Geräte benutzen, dann würde es sich dabei um Waffen im Sinne des Waffengesetzes handeln, weil es sich bei den Reizstoffsprühgeräten, die von der Polizei benutzt werden, um Waffen im Sinne des § 3 Abs. 2 WaffG handelt, denn bei diesen Geräten handelt es sich um tragbare Gegenstände, aus denen Reizstoffe versprüht oder ausgestoßen werden, deren Reichweite deutlich über die 2-Meter-Marke hinausgeht, was solch ein Gerät im Sinne des WaffG zu einer Waffe werden lässt.

Anders ausgedrückt: Zur einzuhaltenden Kleiderordnung für Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte gehören die oben genannten Waffen bis auf die MP, die wird im Streifenwagen mitgeführt, um sie bei Bedarf zum Ort des Geschehens mitnehmen zu können.

Hinsichtlich der Handhabungssicherheit von Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten sind die nachfolgenden Zitate aus Erlassen der Polizei NRW nicht nur einschlägig, sondern auch aussagekräftig:

Schießausbildung in der Polizei

RdErl. d. Innenministers v. 27.4.1961 -IVC2/A4-4660¹)

1. Schon kleine Fehler bei der Handhabung der Waffe oder beim Schießen können schwerwiegende Folgen verursachen. Polizeivollzugsbeamte müssen deshalb sowohl umfangreiche Kenntnisse über die rechtlichen Voraussetzungen und Grenzen des Schusswaffengebrauches besitzen, als auch:

Im Umgang mit der Waffe ständig geschult werden

Auf die psychische Belastung durch einen Schusswaffengebrauch vorbereitet sein

Eine Schießfertigkeit erreichen, die eine sichere Anwendung der Waffe gewährleistet

2. Die Schießausbildung ist unter Beachtung der PDV 211 „Vorschrift für die Schießausbildung“ durchzuführen. Dabei ist insbesondere der Grundsatz der individuellen Ausbildung zu beachten. Danach sind Beamte mit unterdurchschnittlichen Schießleistungen durch intensivere Ausbildung und häufigeres Schießen an das allgemeine Leistungsniveau heranzuführen.

Der Schießerlass ist aber nicht die einzige Regelung, deren Anforderungen jede Polizeibeamtin und jeder Polizeibeamte zu entsprechen hat:

Einsatztraining der Polizei NRW RdErl. d. Ministeriums für Inneres und Kommunales - 404 - 27.28.06 - v. 24.2.2012

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Berechtigungen zum Führen von Waffen

Die Polizeibehörden stellen sicher, dass dienstlich zugelassene Waffen nur von Polizeivollzugsbeamten (PVB) geführt werden, die zuvor die erforderliche Berechtigung erlangt haben. Ferner gewährleisten sie die Teilnahme an den entsprechenden Einsatztrainings und Überprüfungen sowie die Dokumentation dieser Teilnahme.

PVB, die länger als ein Jahr keinen Dienst mit einer Waffe versehen haben (z.B. Elternzeit, Krankheit u. ä.), müssen zunächst die erforderlichen Berechtigungen erlangen, bevor sie wieder die jeweilige Waffe führen dürfen.

Wird der jährliche Nachweis zur Erlangung der jeweiligen Berechtigung nicht erbracht, weil die Anforderungen nicht erfüllt wurden oder eine fristgerechte Teilnahme nicht erfolgte, erlischt die Berechtigung zum Führen der jeweiligen Waffe. Sie kann durch Erfüllung der Anforderungen wiedererlangt werden.

Einsatzmehrzweckstock:

Zum Führen des EMS-A [das ist eine Waffe] ist berechtigt, wer nach einer Einführungsfortbildung den Überprüfungsbogen EMS-A erfüllt hat. Die Berechtigung zum Führen des EMS-A ist einmal pro Kalenderjahr durch Erfüllung der Anforderungen des Überprüfungsbogen EMS-A nachzuweisen.

Die Berechtigung zum Führen einer Dienstwaffe ist im Laufe des Kalenderjahres durch Erfüllung der Landeseinheitlichen Übung zur Handhabungs- und Treffsicherheit 2 (LÜHT 2) nachzuweisen.

MP 5:

Die Berechtigung zum Führen der MP 5 ist im Laufe des Kalenderjahres durch Erfüllung der Landeseinheitlichen Übung zur Handhabungs- und Treffsicherheit MP5 (LÜHT MP5) nachzuweisen.

Diese Zitate aus einschlägigen Erlassregelungen lassen sich nur so verstehen, dass Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte durch regelmäßiges Training nicht nur daran erinnert werden, dass es zum Polizeialltag gehören kann, mit gefährlichen Situationen konfrontiert zu werden, sondern es auch zum Berufsverständnis gehören muss, Waffen professionell einsetzen zu können, mit denen der Dienstherr der Polizei „seine“ Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten ausrüstet.

Schutzwesten:

Natürlich sind Schutzwesten keine Waffen. Vielmehr handelt es sich um Ausrüstungsgegenstände, die Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten – wenn sie diese Westen tatsächlich tragen – vor Verletzungen schützt, die von rechtswidrigen Angriffen ausgehen können.

Ich will mich kurzfassen:

Schutzwesten bei der Polizei: Auf der Website der Polizei NRW heißt es:

Polizei NRW: In NRW ist bereits jeder Polizist mit einer Unterziehschutzweste ausgestattet, die gegen den Beschuss aus Pistolen und Angriffe mit Stichwaffen schützt.

Schutzwesten bei der Polizei NRW: NRW-Polizei bekommt 10.000 Hightech-Schutzwesten:

Artikel im Volltext

Ich denke, dass in Kenntnis dieser Ausrüstungs- und Ausbildungssituation der Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten in NRW die Frage neu gestellt werden muss, die da lautet: Welche Berufsgefahren haben Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte hinzunehmen?, ergänzt durch eine weitere Frage, die da lautet: Was bedeutet das für die Inanspruchnahme von Notwehr?

09 Polizei und Notwehr

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Notwehr und Nothilfe sind Rechtfertigungsgründe, die es einem jedermann ermöglichen, im Angriffsfall zu seiner Verteidigung einem Angreifer sogar schwere Verletzungen zuzufügen und ihn sogar zu töten zu dürfen, wenn das erforderlich sein sollte.

§ 32 StGB (Notwehr)

(1) Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig.

(2) Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.

Notwehr und Nothilfe durchbrechen das Gewaltmonopol des Staates.

Das bedeutet:

Ein in Notwehr handelnder Polizist handelt sozusagen wie eine Privatperson.

Das aber kann nicht richtig sein. Ist es aber.

Bereits bei der Verabschiedung des Musterentwurfs zu einem einheitlichen Polizeigesetz im Jahr 1978 hieß es, dass die zivil- und strafrechtlichen Wirkungen nach den Vorschriften über Notwehr und Notstand unberührt bleiben und somit weiterhin gelten, auch wenn landesrechtliche Zwangsbefugnisse eine andere Auslegung nahe legen. Als Begründung wurde aufgeführt, dass die bundesrechtlichen Regelungen, die die Notwehr betreffen, durch landesrechtliche Regelungen nicht gegenstandslos gemacht werden können weil, hier die Kurzfassung, „Bundesrecht Landesrecht nicht brechen kann“.6

Das heißt, dass Polizeibeamtinnen oder Polizeibeamte beim Überschreiten der Grenzen der polizeirechtlichen Befugnisse, die den Schusswaffengebrauch regeln, den rechtfertigenden Schutz des § 32 StGB etc. nicht verlieren. Jürgen Roos ist insoweit zuzustimmen, wenn er schreibt, dass „eine bestimmte Verteidigungshandlung im Verhältnis Staat (Polizeibeamter) zum Bürger (Angreifer) nicht unterschiedlich als rechtmäßig oder rechtswidrig [...] angesehen werden kann. Hat der Beamte im Wege der Notwehr oder Nothilfe rechtmäßig den Angreifer verletzt, kann nicht die gleiche Handlung wegen Verstoßes gegen die den polizeilichen Schusswaffenge­brauch regelnden Befugnisse eingestuft werden. [En07].

§ 57 PolG NRW (Rechtliche Grundlagen)

(1) Ist die Polizei nach diesem Gesetz oder anderen Rechtsvorschriften zur Anwendung unmittelbaren Zwanges befugt, gelten für die Art und Weise der Anwendung die §§ 58 bis 66 und, soweit sich aus diesen nichts Abweichendes ergibt, die übrigen Vorschriften dieses Gesetzes.

(2) Die Vorschriften über Notwehr und Notstand bleiben unberührt.

Wenn das so ist, dann wäre der Rückgriff auf Notwehr nicht erforderlich, weil Polizeirecht ja schließlich auch zum gleichen Ergebnis führen würde. Das ist aber nicht der Fall. Dazu gleich mehr.

Zuerst einmal ist festzustellen, dass der oben zitierte § 57 Abs. 1 PolG NRW keine Ausführungen darüber enthält, in was für einem Umfang und mit welchen Mitteln Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte Notwehr in Anspruch nehmen können.

Vielleicht lässt sich die fehlende Antwort im § 57 PolG NRW ja beantworten, wenn es darum geht, den Handlungsrahmen aufzuzeigen, der einem „jedermann“ bei der Ausübung von Notwehrrechten eingeräumt wird.

10 Notwehr aus Sicht des BGH

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BGH 2020: Nach § 32 StGB ist eine Tat durch Notwehr gerechtfertigt, wenn sie erforderlich ist, um einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff von sich abzuwehren. Ob ein gegenwärtiger und rechtswidriger Angriff vorliegt, bestimmt sich nach der objektiven Sachlage (...). Eine von Rechts wegen hinzunehmende oder ihrerseits durch Notwehr gerechtfertigte Tat ist kein ein Notwehrrecht begründender rechtswidriger Angriff (...). Eine in einer objektiven Notwehrlage verübte Tat ist gerechtfertigt, wenn sie zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs führt und es sich bei ihr um das mildeste Abwehrmittel handelt, das dem Angegriffenen in der konkreten Situation zur Verfügung stand (...). Einschränkungen der Notwehrbefugnis können sich ergeben, wenn der Täter den Angriff durch ein rechtswidriges Verhalten im Vorfeld mindestens leichtfertig provoziert hat. In einem solchen Fall ist es dem Täter zuzumuten, dem Angriff nach Möglichkeit auszuweichen (...).

BGH, Beschluss vom 8. September 2020 – 4 StR 288/20

In dem oben genannten Beschluss beziehen sich die Richter auf ein Urteil des BGH aus dem Jahr 2016.

Dort heißt es u.a.:

BGH 2016: Die Erforderlichkeit einer Verteidigungshandlung i.S.d. § 32 StGB ist gegeben, wenn sie zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs führt und es sich um das mildeste Abwehrmittel handelt, das dem Angegriffenen in der konkreten Situation zur Verfügung stand. Ob dies der Fall ist, muss auf der Grundlage einer objektiven ex ante-Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Verteidigungshandlung beurteilt werden. Auf weniger gefährliche Verteidigungsmittel ist nur zurückgreifen, wenn deren Abwehrwirkung unzweifelhaft ist und genügend Zeit zur Abschätzung der Lage zur Verfügung steht. Gegenüber einem unbewaffneten Angreifer ist der Gebrauch eines bis dahin noch nicht in Erscheinung getretenen Messers allerdings in der Regel anzudrohen.

Angesichts der Unkalkulierbarkeit des Risikos einer ungeeigneten Verteidigungshandlung dürfen an die in einer zugespitzten Situation zu treffende Entscheidung über die vorherige Androhung eines Messereinsatzes oder eine weniger gefährliche Stichführung jedoch keine überhöhten Anforderungen gestellt werden. Ist in einer bedrängten Lage eine weitere Eskalation des Geschehens nicht ausgeschlossen und die Aussicht auf eine endgültige Abwehr des Angriffs durch ein weniger gefährliches Vorgehen nicht frei von Zweifeln, kann vielmehr auch der tödliche Einsatz eines Messers ohne vorherige Warnung gem. § 32 StGB gerechtfertigt sein.

BGH, Urteil vom 8. Juni 2016 - 5 StR 564/15

Hinweis: Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte sind nicht mit Messern ausgerüstet, wohl aber mit Waffen, die es ihnen erlauben, auch in gefährlichen Situationen dem staatlichen Willen Geltung zu verschaffen. Mit solchen gefährlichen Situationen werde ich mich im Folgenden näher auseinandersetzen, insbesondere mit solchen Fällen, in denen Polizeibeamtinnen oder Polizeibeamte geschossen haben und dabei ein Mensch zu Tode gekommen ist.

11 Polizeirechtlicher Schusswaffengebrauch

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Auf Fälle, in denen Polizeibeamte anlässlich von Messerangriffen etc. von ihrer Schusswaffe Gebrauch gemacht haben, reagierten und reagieren – zumindest nach meiner Wahrnehmung - sowohl Gewerkschaftsvertreter, insbesondere die Vertreter der Deutsche Polizeigewerkschaft im DBB (DPolG), aber auch die Innenminister der Länder, in denen „ihre“ Polizeibeamten Menschen erschossen hatten, sozusagen reflexartig mit der Behauptung, dass ihre Beamten in Notwehr gehandelt hätten, dass die Angelegenheit aber dennoch einer sorgfältigen Klärung der Umstände unterzogen werden müsse.

Der letztgenannte Hinweis trifft zu, denn wenn ein Polizeibeamter oder eine Polizeibeamtin einen Menschen erschießt, wird zwangsläufig gegen diese Beamtin bzw. gegen diesen Beamten ein Ermittlungsverfahren wegen fahrlässiger Tötung oder, wenn eine Person lediglich verletzt wurde, ein Ermittlungsverfahren wegen fahrlässiger Körperverletzung eingeleitet. Das ist aber immer der Fall, egal ob auf der Grundlage von Polizeirecht oder aber in Notwehr geschossen wurde.

Wie dem auch immer sei. Die folgenden Beispiele, an die ich mich erinnere, lassen zumindest die Fragwürdigkeit von Behauptungen erkennen, dass die Polizei nichts falsch gemacht habe, denn ihr Einschreiten rechtfertigt sich ja durch Notwehr.

12 Beispiele zum Nachdenken

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Im Zusammenhang mit Messerattacken und anderen Anlässen, die einen polizeilichen Schusswaffengebrauch nach sich gezogen und darüber hinausgehend viele Fragen aufgeworfen haben, seien an dieser Stelle folgende Beispiele genannt:

Berlin 2011: Polizist erschießt Frau in Berlin. Im Märkischen Viertel hat ein Polizist eine psychisch kranke Frau erschossen, nachdem sie einen Kollegen mit einem Messer attackierte. Die Beamten wollten die 53-Jährige per Gerichtsbeschluss in eine Klinik bringen [En08].

Berlin 2014: Todesschuss am Neptunbrunnen. Gewerkschaft verteidigt Polizei-Einsatz. Die Deutsche Polizeigewerkschaft verteidigt das Vorgehen des Berliner Polizisten, der vor dem Roten Rathaus einen nackten Mann erschossen hat: Nicht jeder Beamte könne zu einem Kampfkünstler oder Scharfschützen ausgebildet werden. Die tödlichen Schüsse seien deshalb „angemessen“. Ein Polizist hatte am Freitag einen mit einem Messer bewaffneten Mann erschossen, der auf ihn zuging. Kein Polizist mache es sich leicht, auf einen anderen Menschen zu schießen, sagte dazu der Berliner Landesvorsitzende der Gewerkschaft, [...], am Samstag im RBB. Es sei nicht möglich, alle Beamten zu Kampfkünstlern oder Scharfschützen auszubilden, damit in einer solchen Situation auf Arme oder Beine geschossen werden kann, [...]. Der Polizist hatte den mutmaßlich verwirrten Mann in den Oberkörper getroffen, er starb noch im Rettungswagen. Der Mann – vermutlich ein 31 Jahre alter Berliner – hatte nackt in einem Brunnen vor dem Rathaus gestanden. Er hatte sich mit dem Messer zunächst selbst verletzt und dann einen Polizisten bedroht. Als er nicht auf Aufforderungen reagierte, das Messer fallenzulassen, gab ein Polizist einen Schuss ab [En09]..

Erfurt 2015: Mit Beil verbarrikadiert. 48-Jähriger stirbt nach SEK-Einsatz in Erfurt. Weil er seine Wohnung räumen soll, droht ein Mann mit Suizid und verbarrikadiert sich. Das angerückte Sondereinsatzkommando bedroht er mit einem Beil, es fallen Schüsse. Einer davon ist tödlich. Als die SEK-Männer die Wohnung stürmten, sei der Mann auch auf sie mit dem Beil losgegangen. Ein Polizist sei dabei an der Hand verletzt worden. Der 48-Jährige wurde von mindestens einem der zu hörenden Schüsse getroffen [En10].

Köln 2015: Großmarkt-Schießerei in Köln. Der erste Schuss kam vom SEK. Der erste Schuss ist noch nicht verhallt, da geht ein ganzer Kugelhagel auf den geparkten weißen Audi R8 nieder, abgefeuert von drei Düsseldorfer SEK-Polizisten. Hinter dem Steuer des Sportwagens sitzt Karim Panahi, ein kokainsüchtiger Geschäftsmann, dessen Frau ausgesagt hat, er habe sie mit dem Tod bedroht. Deshalb hat sich das SEK an jenem Juniabend 2011 vor seiner Firma am Kölner Großmarkt positioniert. In einer chaotischen Aktion wollen sie den 53-Jährigen festnehmen, als er um 20.55 Uhr aus der Tür tritt [En11].

Als Sekunden nach den ersten Schüssen auch noch einer der Elitepolizisten stolpert und seine Kollegen irrigerweise glauben, er sei von einer Kugel getroffen worden, kennt die Truppe kein Halten mehr – fünf Beamte entleeren ihre Magazine auf das 100 000-Euro-Auto. Mehr als 100 Kugeln fliegen, 30 Sekunden Dauerfeuer. Dennoch gelingt Panahi zunächst die Flucht im Wagen, ehe ein SEK-Mann ihn mit einem letzten Schuss auf der Bonner Straße niederstreckt. Der heute 53-Jährige überlebt schwer verletzt.

Insbesondere der Einsatz des SEK auf einem Großmarkt in Köln vermag auch ich nicht anders zu beschreiben als: chaotisch.

Bedauerlicherweise ist das Video der Überwachungskamera am Großmarkt im Internet nicht mehr auffindbar. Ich habe es mir aber nach dem Ereignis mehrfach angesehen und erinnere mich ganz genau daran, dass auf einem sozusagen menschleeren Parkplatz, an den die Halle des Großmarktes sich anschloss, ein weißer Audi stand, auf den, nachdem der Fahrer hinter dem Steuer des Audi Platz genommen und von einem SEK-Beamten angesprochen hatte, geschossen wurde. Im Anschluss daran rannten mehrere SEK-Beamte um sich schießend auf den Audi zu. Dass es Karim Panahi dennoch gelang, lebend fliehen zu können, um dann während der Flucht erneut einer Vielzahl von Schüssen ausgesetzt zu sein, lässt nur den Schluss zu, dass ein Mensch mehr Glück gar nicht haben kann, wenn ein polizeiliches Elitekommando von Dilettanten versuchen, ihn festzunehmen. Davon war in den Medien aber nur wenig zu lesen. Vielmehr wurden die Flucht und die sich daran anschließende Festnahme von Karim Panahi als Erfolg der Polizei bewertet, auch wenn der Betroffene dabei fast sein Leben verloren hätte.

Würzburg 2016: Zug-Attacke bei Würzburg. SEK erschoss ihn: Jugendlicher lebte seit zwei Wochen bei Pflegefamilie. Der junge Mann war am Montagabend in dem Regionalzug mit Axt und Messer auf mehrere Fahrgäste losgegangen. Drei Menschen wurden schwer verletzt, ein weiterer erlitt leichte Verletzungen, wie ein Polizeisprecher vor Ort mitteilte. 14 Menschen erlitten einen Schock

Nach der Attacke sei der Angreifer aus dem Zug geflüchtet, berichtete Joachim Herrmann (CSU), Innenminister des Landes Bayern. Ein Sondereinsatzkommando, das zufällig in der Nähe gewesen sei, habe sofort die Verfolgung aufgenommen. Als der 17-Jährige mit seinen Waffen auf einen SEK-Beamten losgegangen sei, hätten dieser das Feuer eröffnet. Der junge Mann wurde getötet. [En12].

Diesen Schusswaffengebrauch kritisierte Renate Künast (B´90/Grüne). Diesbezüglich heißt es auf TAZ.de wie folgt:

Wenn schnell zum Problem wird. Grünen-Politikerin Renate Künast hat mit einem Tweet zu der Axt-Attacke in einem Zug bei Würzburg viel Kritik kassiert. Recht so?

Ihr Tweed lautete: [En13]

Tragisch und wir hoffen für die Verletzten. Wieso konnte der Angreifer nicht angriffsunfähig geschossen werden???? Fragen! #Würzburg“

Heute, sozusagen aus der Distanz, dürfte es, ohne „geächtet zu werden“ wohl möglich sein, den Sinn der Frage von Renate Künast zumindest ernst zu nehmen. Warum? Der Junge floh in eine unbewohnte Gegend in der Nähe der Bahngleise, fernab von Wohngebieten, so dass ein sich dort zufällig aufhaltendes Sondereinsatzkommando der Polizei sofort eingreifen konnte. Nur damit Sie nachvollziehen können, was das bedeutet: In den Sondereinsatzkommandos der Polizei werden nur solche Beamte verwendet, die den hohen körperlichen und stressbedingten Einsatzsituationen gewachsen sind. Zum Berufsalltag von SEK-Beamten gehört es außerdem, sich diesbezüglich kontinuierlich zu trainieren.

Übrigens: Frauen ist es bis heute noch nicht gelungen, den hohen körperlichen Leistungserwartungen zu entsprechen, die eine Verwendung in einem SEK rechtfertigen würden. Anders ausgedrückt: Auch wenn mir das Wort Eliteeinheit überhaupt nicht gefällt, Polizeibeamte, die in SEK verwendet werden, verfügen über Fähigkeiten, über die „Normalpolizisten“ nicht verfügen.

Und wenn ich mich recht erinnere, wurde der Junge, der in einem Zug mehrere Menschen angegriffen und verletzt hat, von einem SEK-Beamten an einem Ort erschossen, wo er niemandem auch nur den geringsten Schaden hätte zufügen können, wenn der Beamte umsichtiger (professioneller) eingeschritten wäre.

Von jeder Privatperson wird erwartet, sich aus einer Gefahrenzone zu begeben, wenn das die Angriffssituation erlaubt. Zumindest nach der hier vertretenen Auffassung kann, nein muss solch ein Verhalten auch von einem SEK-Beamten eingefordert werden können, den wirklich niemand dazu zwingt, auf einen Menschen zu schießen, wenn andere Möglichkeiten bestehen, diesen Menschen überwältigen und festnehmen zu können.

Und wenn ein SEK-Beamter dazu allein nicht in der Lage ist, dürfte die Anforderung von Verstärkung, die sich ja sozusagen in Sicht- und Rufweite befand, die beste aller anderen Lösungsmöglichkeiten sein. Solch eine Kritik aber war im Anschluss an das oben skizzierte Ereignis gar nicht möglich, weil die Polizei und insbesondere deren Spezialeinsatzkommandos einfach nichts falsch machen können. Anders ausgedrückt: Wer Polizisten mit einem Messer oder gar mit einer Axt in der Hand angreift, muss damit rechnen, das nicht zu überleben.

13 Schüsse in Dortmund

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Dortmund 2022: Tödliche Schüsse auf 16-Jährigen – jetzt kommt das über die Beamten ans Licht. Dortmund: 16-Jähriger bei Polizeieinsatz getötet. Am 8. August 2022 war der 16-jährige Mouhamed D. während eines Polizeieinsatzes erschossen worden. Am Montag sollte die Beerdigung des Senegalesen stattfinden, doch sie wurde kurzfristig abgesagt. Nun sind neue Details zu dem Einsatz ans Licht gelangt. Wie der „Kölner Stadt-Anzeiger“ berichtet, sollen während des Vorfalls auf dem Innenhof einer Jugendhilfeeinrichtung in der Dortmunder Nordstadt die Bodycams der zwölf Beamten ausgeblieben sein. Dementsprechend wurde das Geschehen nicht von den Kameras aufgezeichnet. In einem internen Bericht an das Innenministerium soll die Polizei Dortmund das Versäumnis damit begründet haben, dass es sich bei dem Einsatz am vorvergangenen Montag um eine dynamische Lage gehandelt habe. Im Zuge der Situation vor Ort habe man es versäumt, die Bodycams einzuschalten [En14].

Anders ausgedrückt: Was nicht in Wort und Bild durch Body-Cams aufgezeichnet wurde, das lässt sich auch nicht verwenden, um der Frage auf den Grund gehen zu können, die da lautet: War es erforderlich, auf den Jungen zu schießen?

Ruhr24.de vom 12.08. 2022: Schüsse auf 16-Jährigen in Dortmund: Wann darf ein Polizist schießen? Wann darf eine Polizistin oder ein Polizist einen Schuss auf einen Menschen abgeben? Diese Frage ist ganz klar zu beantworten. Die Polizei darf nur dann zur Waffe greifen, wenn alle anderen Maßnahmen nicht greifen und Lebensgefahr für Mitmenschen und die Polizisten selbst besteht.

Laut Angaben der Tagesschau seien alle bisher registrierten Fälle in NRW notwendig gewesen – der Dortmunder Fall bleibe abzuwarten. Weiter heißt es in dem Bericht: 23 Menschen sind seit 2017 in NRW durch Schüsse der Polizei gestorben, meldet das Landesinnenministerium. Darin enthalten sind auch schon drei Fälle von 2022.

Ein paar Tage später heißt es auf Ruhr24.de wie folgt:

16-Jähriger hatte Messer. Tödliche Schüsse auf 16-Jährigen: Elf Dortmunder Polizisten ließen Bodycam aus. Die Polizei Dortmund begründe das Versäumnis damit, dass es sich um eine dynamische Lage gehandelt habe: „Im Zuge der Stresssituation habe man vergessen, die Bodycam einzuschalten“, schreibt der Kölner Stadt-Anzeiger. Damit wird die Staatsanwaltschaft Dortmund bei ihren Ermittlungen nicht auf Videomaterial der Bodycams zurückgreifen können. In Dortmund sind die Kameras seit Ende 2019 im Einsatz. Beworben wurden sie damals seitens der Polizei unter anderem so: „Die Kameras sollen deeskalierend wirken, Polizeibeamte vor Übergriffen schützen, aber auch Straftaten dokumentieren und Strafverfahren sichern.“

Der Jugendliche soll mit einem Messer bewaffnet auf die Polizisten losgegangen sein. Daraufhin trafen ihn fünf Kugeln aus einer Maschinenpistole. Er starb später im Krankenhaus an seinen schweren Verletzungen. Unklar ist weiterhin: Musste dieser Einsatz der Polizei Dortmund so eskalieren?

Und in einem Kommentar auf Ruhr24.de hieß es zum gleichen Anlass:

Dortmund: Es fielen sechs Schüsse, fünf davon trafen den Körper des 16-Jährigen. Zwei in die Schulter, die übrigen in den Unterarm, in den Kiefer und in den Bauch. Viele in Dortmund fragen sich nun: Musste die Polizei den Einsatz am Montagabend (8. August) dermaßen eskalieren lassen, dass am Ende ein 16-Jähriger förmlich durchlöchert wurde und daran starb?

Klar: Die Polizei muss sich wehren, wenn sie angegriffen wird. Und so wie es die Beamten der Polizei Dortmund schildern, seien sie an jenem verhängnisvollen Nachmittag von einem 16-Jährigen mit einem Messer attackiert worden. Erst dann sollen die Schüsse des 29-jährigen Polizisten gefallen sein – aus einer Maschinenpistole vom Typ MP 5.

Unweigerlich fragt man sich: Was muss vorher schiefgelaufen sein in jenem Polizeieinsatz, dass weder Pfefferspray noch ein Taser, noch laut Staatsanwaltschaft Dortmund elf eingesetzte Polizisten einen psychisch kranken 16-Jährigen – wenn auch mit Messer bewaffnet – nicht unter Kontrolle bringen konnten?

Natürlich ist es eine Extremsituation, wenn ein junger Polizist mit einem Messer attackiert wird. Natürlich muss er sich wehren, im schlimmsten Fall mit einer Schusswaffe, wenn es gar nicht anders geht. Andernfalls würde der Polizist sein eigenes Leben riskieren. Doch die Polizei muss sich die Frage gefallen lassen, wie es überhaupt so weit kommen kann? [En15].

Es steht mir nicht zu, über die Schuld von Polizeibeamtinnen oder Polizeibeamten zu urteilen, die ich nicht einmal kenne. Auch deshalb nicht, weil Schuld im Sinne von „wissentlich, wollentlich und vorwerfbar“ eine Straftat begangen zu haben, wohl kaum auf eines der oben geschilderten Beispiele anzuwenden ist. Das, was aus Pressemeldungen ersichtlich ist, dürfte jedoch ausreichen, über Überforderung nachzudenken, die nicht nur in der Person des bzw. der Schützen liegen, sondern auch in deren Eignung für den Polizeiberuf, denn zum polizeilichen Berufsverständnis gehört es, sich in Gefahrensituationen professionell verhalten zu können, woran es bei den oben geschilderten Beispielen wohl gefehlt hat. Wie dem auch immer sei. Erinnern Sie sich bitte an das Urteil des Amtsgerichts Schwelm, das zwei Polizeibeamtinnen diesbezüglich vorgeworfen hat, durch Untätigkeit den Beweis erbracht zu haben, für die Polizeidienst nicht geeignet zu sein. Was durch Unfähigkeit möglich ist, das muss auch durch ein aktives Tun möglich sein.

Während ich diese Zeilen schreibe, erinnere ich mich an einen jungen Kollegen in meiner Dienstgruppe. Der wollte die Kontrolle eines Pkw-Fahrers sichern, die sein Kollege gerade durchführen wollte. Die Dienstwaffe hielt er in seiner Hand. Als sein Kollege sich dem Pkw-Fahrer näherte, gab dieser plötzlich Gas, so dass sich beide Beamten nur noch durch einen Sprung zur Seite in Sicherheit bringen konnten. Der Kollege, der die Kontrolle mit gezogener Dienstwaffe sichern wollte, feuerte noch im Fallen einen Schuss auf den fliehenden Pkw-Fahrer ab. Später wurde der Pkw aufgefunden. Eine Kugel hatte den Kofferraum und die Rückbank durchschlagen und war dann in der Kopfstütze des Fahrers stecken geblieben. Als ich zu dem Kollegen sagte, dass er wohl „verdammtes Glück gehabt habe“, sagte der: „Der hat mich doch gegenwärtig angegriffen, und zur Abwehr dieser Gefahr habe ich geschossen. Habe ich etwas falsch gemacht?“ „Ja!“, war meine Antwort, „zu dem Zeitpunkt, als du auf den Pkw geschossen hast, wurdest du nicht mehr gegenwärtig angegriffen. Zum Zeitpunkt deines Schusswaffengebrauchs warst du überhaupt keiner Gefahr mehr ausgesetzt, denn die fuhr gerade von dannen. Darüber denke bitte nach, denn das, was du getan hast, lässt sich nicht rechtfertigen. Nicht einmal durch Notwehr.“ Da jeder Schusswaffengebrauch dem Innenministerium zu melden ist und in diesem Fall eine innerdienstliche Untersuchung nach sich zog, das sei an dieser Stelle der Vollständigkeit halber lediglich festgestellt.

Warum wird in Stresssituationen geschossen?

Diese Frage ließe sich nur dann relativ verlässlich beantworten, wenn die Sekunden rekonstruiert werden könnten, die in den Gehirnen der schießenden Akteure zur Schussabgabe führten. Eine solche Rekonstruktion ist aber nicht möglich. Das, was als Rekonstruktionsversuch bleibt, ist nichts anderes als ein Versuch, die Handlung von Polizeibeamten so im Nachhinein zu beschreiben und zu bewerten, dass so genannte objektive Beobachter nachvollziehen können, warum geschossen wurde. Diese Frage nach der Ursache werde ich in diesem Aufsatz deshalb auch nicht beantworten können und auch nicht beantworten wollen, denn die Frage nach dem Warum ist nach meiner Überzeugung nach eher eine existenziell philosophische Frage, die zu beantworten Juristen aber nicht müde werden, objektiv beantworten zu wollen, wissend, das kein Mensch dazu in der Lage ist, die Wahrheit zu erkennen, geschweige denn zu Papier zu bringen. Trotzdem: Wir glauben daran, dass unsere ex-ante-Sicht objektiv und unser Urteil somit richtig ist. Das diese Sicht der Dinge nicht zu überzeugen vermag, werde ich an anderer Stelle in diesem Aufsatz zum Ausdruck bringen, wenn es darum geht, eine Entscheidung des OLG Celle aus dem Jahr 2000 durch Gedanken zu ergänzen, die bei der Entscheidungsfindung nicht berücksichtigt wurden.

14 PolG oder Notwehr

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Im hier zu erörternden Sachzusammenhang ist zu klären, warum in den oben skizzierten Fällen der polizeiliche Schusswaffengebrauch auf Notwehr und nicht auf die Befugnis in den Gesetzen gestützt wird, die der Polizei entsprechende Zwangsbefugnisse einräumen.

15 Zwangsbefugnisse der Polizeigesetze

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In allen Polizeigesetzen bzw. in den anderen, den polizeilichen Zwang regelnden Gesetzen, ist die Ausübung des polizeilichen Zwangs, einschließlich des Gebrauchs der Schusswaffe, abschließend geregelt. Im Polizeigesetz des Landes NRW ist, im Hinblick auf die hier zu erörternden Fälle, der § 64 Abs. 1 Nr. 1 PolG NRW (Schusswaffengebrauch gegen Personen) einschlägig, denn dort wird die Fallgruppe beschrieben, die Gegenstand dieses Aufsatzes sind.

§ 64 PolG NRW (Schusswaffengebrauch gegen Personen)

(1) Schusswaffen dürfen gegen Personen nur gebraucht werden,

1. um eine gegenwärtige Gefahr für Leib oder Leben abzuwehren.

Bei der Person, deren Leib oder Leben gegenwärtig gefährdet ist, kann es sich sowohl um einen „jedermann“ aber auch um eine Polizeibeamtin oder um einen Polizeibeamten handeln.

Eine gegenwärtige Gefahr ist gegeben, wenn die Einwirkung des schädigenden Ereignisses bereits begonnen hat, andauert oder unmittelbar oder in allernächster Zeit mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit bevorsteht.

Die gegenwärtige Gefahr verlangt insoweit eine besondere zeitliche Nähe zum drohenden Schadensereignis. Gegenwärtig wird eine Gefahr somit im Zusammenhang mit dem Schusswaffengebrauch durch Polizeibeamte aber nicht nur durch ihre zeitliche Nähe zum erwarteten oder bereits begonnenen Schadenseintritt, sondern auch im Hinblick auf das bedrohte Schutzgut, insbesondere auch hinsichtlich seiner Intensität: Gefahr für Leib oder Leben ist gefordert.

In Bezug auf den Einsatz der Schusswaffe muss darüber hinausgehend weiterhin einzufordern sein, dass die gegenwärtige Gefahr, die abgewehrt werden soll, durch das eingesetzte Mittel auch tatsächlich erforderlich und insbesondere auch angemessen abgewehrt werden kann.

Festzustellen ist in diesem Sachzusammenhang, dass die tatsächliche Gefahrensituation durch die Besonderheiten vor Ort maßgeblich bestimmt wird und es insoweit auf die Umstände vor Ort zum so genannten „entscheidungserheblichen Zeitpunkt“ ankommt, die auch bei einer nachträglichen Betrachtung der Ereignisse durch einen so genannten objektiven Beobachter die Feststellung trägt, die polizeiliche Maßnahme als angemessen betrachten zu können.

Genug der Theorie.

Festzustellen ist, dass Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte, die ihre Maßnahmen auf hoheitliche Befugnisse stützen, als Amtswalter für ihre Behörde handeln. Das bedeutet, dass die Folgen polizeilichen Einschreitens auf der Grundlage von gesetzlichen Befugnissen/Ermächtigungen somit der Behörde zugeordnet werden, für die der jeweilige Amtswalter gehandelt hat.

Das bedeutet: Wenn ein Polizeibeamter auf der Grundlage von § 64 Abs. 1 Nr. 1 PolG NRW (Schusswaffengebrauch gegen Personen) schießt, um eine gegenwärtige Gefahr für Leib oder Leben (von sich) abzuwehren, dann ist dies eine polizeiliche Maßnahme, die vollumfänglich der verwaltungsgerichtlichen Prüfung unterliegt, was mit der Folge verbunden ist, dass für den Fall, dass es sich um einen rechtswidrigen, weil unverhältnismäßigen Schusswaffengebrauch handeln würde, die Behörde für die Folgen dieses Schusswaffengebrauchs haften müsste.

Im Übrigen trüge die Behörde auch die Beweislast dafür, dass der Schusswaffengebrauch nicht nur gesetzlich zugelassen, sondern insbesondere auch geeignet, erforderlich und insbesondere auch angemessen (verhältnismäßig) gewesen ist.

In diesem Sachzusammenhang ist festzustellen, dass einer Behörde bei der Anwendung polizeirechtlicher Befugnisse nicht die Rechte zu ihrer Verteidigung zur Verfügung stehen, die Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte im Rahmen eines gegen sie selbst eingeleiteten Strafverfahrens in Anspruch nehmen können. Gemeint ist das Recht zu schweigen, bzw. nicht dazu verpflichtet zu sein, sich selbst zu belasten.

Diese Rechte stehen einer Behörde nicht zu. Grund dafür ist, dass gegen eine Behörde kein Strafverfahren eingeleitet werden kann. Anders ausgedrückt: Eine Behörde kann kein Beschuldigter sein.

Wohl aber ist unbestritten, dass eine Behörde zur Wahrheit verpflichtet ist, wenn sie Handlungen zu rechtfertigen hat, die ihr zugeordnet werden. Wäre das nicht so, dann wäre dieser Rechtsstaat kein Rechtsstaat, sondern Absurdistan.

Anders ausgedrückt:

Eine Polizeibeamtin oder ein Polizeibeamter wird zwangsläufig zu einem Beschuldigten auf der Grundlage von § 229 StGB (Fahrlässige Körperverletzung) oder § 222 StGB (Fahrlässige Tötung), wenn das die Folge „seines“ Schusswaffengebrauchs ist. Gegen eine Behörde kann solch ein Verfahren nicht eingeleitet werden. Das ist die eine Seite, die es bei der Suche nach Antworten zu berücksichtigen gilt. Unabhängig davon kann eine Behörde aber durchaus haftbar dafür gemacht werden, was ihre Amtswalter im Rahmen der Erfüllung polizeilicher Aufgaben tun. Exakt an dieser Stelle scheiden sich die Geister, denn für Schäden, die durch Notwehr ausgelöst werden, haftet die Behörde nicht, in der ein Amtswalter dieses Recht in Anspruch genommen hat. Dazu gleich mehr.

16 Notwehr ist ein Jedermannsrecht

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Notwehr ist diejenige Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden (§§ 32 StGB, 15 OWiG, 227 BGB).

In den Polizeigesetzen aller Bundesländer sind Hinweise enthalten, dass die zivilrechtlichen und strafrechtlichen Wirkungen der Vorschriften über Notwehr und Notstand unberührt bleiben. Das bedeutet, dass Polizeibeamte strafrechtlich gerechtfertigt sind, wenn die Voraussetzungen von Notwehr oder Notstand greifen.

Als Befugnisgrundlagen für hoheitliches Handeln können nach wohl überwiegender Auffassung die Notwehr- und Notstandsvorschriften allerdings nicht in Anspruch genommen werden. Das würde nämlich bedeuten, dass, wenn ein Beamter im Dienst aus Notwehr schießt, er sozusagen als Privatperson handelt. Das hat für den Dienstherrn den Vorteil, dass er haftungsrechtlich für die Folgen von Notwehrhandlungen nicht einzutreten hat, denn solch ein Handeln ist kein hoheitliches Handeln.

Warum?

Notwehr ist die Abwehr von Angriffen auf eigene Rechtsgüter. Notwehr bzw. Nothilfe sind zulässig, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind (§ 32 StGB):

  • Gegenwärtiger rechtswidriger Angriff (Notwehrlage)

  • Erforderliche Verteidigungshandlung

  • Verteidigungswille.

Sind diese drei Voraussetzungen erfüllt, macht sich der Verteidiger nicht strafbar. Er kann dann strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden. Er haftet dann auch nicht für Schäden, die er dem Angreifer verursacht (§ 227 BGB).

Angriff

Ein Angriff ist jedes menschliche Verhalten, durch das notwehrfähige Rechtsgüter eines anderen beeinträchtigt werden.

Anerkannte notwehrfähige Rechtsgüter sind:

  • Leben

  • Körperliche Unversehrtheit

  • Freiheit

  • Eigentum

  • Hausrecht

  • Ehre

  • Intimsphäre

  • Recht am eigenen Bild.

Ein Angriff i.S.v. § 32 StGB kann durch aktives Tun aber auch durch Unterlassen geführt werden. Ein Angriff durch aktives Tun ist z.B. gegeben, wenn jemand auf einen anderen einschlägt, ihn festhält oder stößt, einen anderen akut bedroht, einen anderen beleidigt oder ihn mit einem Messer oder einer Axt angreift.

Notwehr kann nur gegen angreifende Personen geübt werden. Das Notwehrrecht steht auch einem Angegriffenen nicht nur gegen Angriffe erwachsener Personen zu. Auch Angriffe von Jugendlichen und Kindern sind notwehrfähig. Das Notwehrrecht darf jedoch nicht missbraucht werden.

Gegenwärtiger Angriff

Notwehr ist nur zulässig, wenn ein gegenwärtiger Angriff gegeben ist. Ein Angriff ist gegenwärtig, wenn er:

  • Unmittelbar bevorsteht oder

  • Bereits begonnen hat oder

  • Noch andauert.

Nur Angriffe, die zumindest jeden Augenblick bevorstehen, kann man logischerweise abwehren. Das Gesetz verlangt nicht, dass der Angreifer Rechtsgüter beeinträchtigt haben muss, bevor Notwehr ausgeübt werden darf.

Ein Angriff dauert so lange an, bis er endgültig beendet ist.

Ein Angriff ist noch nicht gegenwärtig, wenn er nicht zumindest unmittelbar bevorsteht.

Rein vorsorglich darf Notwehr nicht in Anspruch genommen werden. Der Angriff muss zumindest so nahe sein, dass vernünftigerweise jeden Augenblick damit zu rechnen ist, dass der Angreifer fremde Rechtsgüter beeinträchtigen wird.

Erforderliche Verteidigungshandlungen

Bei gegebener Notwehrlage (gegenwärtiger rechtswidriger Angriff) sind nur erforderliche Verteidigungshandlungen erlaubt. Handlungen, die zur Verteidigung nicht oder nicht mehr erforderlich sind, dürfen nicht eingesetzt werden.

Verzicht auf Notwehr

Grundsätzlich braucht das Recht dem Unrecht nicht zu weichen, jedoch steht trotz eines gegenwärtigen und rechtswidrigen Angriffs dem Angegriffenen das Notwehrrecht nicht zu, wenn ihm zuzumuten ist, auf das Notwehrrecht zu verzichten. Nach der Rechtsprechung muss der Angegriffene in folgenden Fällen auf das Notwehrrecht verzichten:

  • Wenn durch die Inanspruchnahme des Notwehrrechtes beim Angreifer ein Schaden zu erwarten ist, der in keinem vernünftigen Verhältnis zum Angriff steht.

  • Wenn erkennbar Kinder oder schuldunfähige Personen angreifen und der Angegriffene dem Angriff ausweichen kann.

  • Wenn der Angegriffene den Angriff provoziert hat.

Wer sich in einer Notwehrlage intensiver verteidigt, als zur Abwehr des Angriffs erforderlich, ist durch Notwehr nicht mehr gerechtfertigt. In einem solchen Fall handelt der Verteidiger rechtswidrig, auch wenn er gegenwärtig und rechtswidrig angegriffen worden ist.

Aber:

§ 33 StGB (Überschreitung der Notwehr)

Überschreitet der Täter die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken, so wird er nicht bestraft.

Hinsichtlich der Haftung durch einen Notwehrleistenden, der mehr zu seiner Verteidigung tut, als das eigentlich erforderlich wäre, ist festzustellen, dass dieses „Zuviel an Verteidigung“ also die Überschreitung beim Gebrauch erforderlicher Verteidigungshandlungen ihn nur dann nicht entschuldigt, wenn es sich um Fälle exzessiver Notwehrüberschreitung handelt. Hier wird davon ausgegangen, dass ein aus Furcht und Schrecken handelnder Verteidiger nur dann haftungsrechtlich in Anspruch genommen werden kann, wenn es sich bei seiner Verteidigungshandlung tatsächlich um eine exzessive Notwehrüberschreitung gehandelt hat.

17 Amtshaftung: Polizeilicher Schusswaffengebrauch

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Lassen Sie mich dem Thema jetzt eine etwas andere Richtung geben, indem Aspekte der Amtshaftung mit in die Thematik einbezogen werden.

Warum?

Gewöhnungsbedürftig ist zuerst einmal, dass eine Polizeibeamtin oder ein Polizeibeamter sozusagen als Privatperson handelt, wenn sie oder er in einer Situation schießt, bei der es darum geht, eine gegenwärtige Gefahr für Leib oder Leben von sich selbst durch Notwehr abzuwehren.

Wenn Notwehr in Anspruch genommen wird, dürfte allein aus dieser Feststellung erkennbar geworden sein, dass Behörden für die Folgen solcher „Privathandlungen“ nicht haften werden.

Nach meinem Kenntnisstand ist das lediglich im Land Berlin anders geregelt. In dem dort geltenden „Gesetz über die Anwendung unmittelbaren Zwanges bei der Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Landes Berlin (UZwG Bln)“ heißt es im § 9 Abs. 4 UZwG Bln (Allgemeine Vorschriften für den Schusswaffengebrauch) wie folgt:

§ 9 Abs. 4 UZwG Bln (Allgemeine Vorschriften für den Schußwaffengebrauch)

(4) Das Recht zum Gebrauch von Schusswaffen durch einzelne Polizeivollzugsbeamte in den Fällen der Notwehr und des Notstands bleibt unberührt. Verletzt ein Polizeivollzugsbeamter in diesen Fällen die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht, so trifft die Verantwortlichkeit nach den Vorschriften der Amtshaftung das Land Berlin.

Und wie sieht das in anderen Bundesländern aus? Eine vergleichbare Regelung kennt zumindest das Ordnungsbehördengesetz des Landes NRW nicht, in dem auch für die Polizei des Landes die Haftungsansprüche geregelt sind, siehe § 39 Abs. 1 OBG NRW (Zur Entschädigung verpflichtende Maßnahmen).

§ 39 Abs. 1 OBG NRW (Zur Entschädigung verpflichtende Maßnahmen)

(1) Ein Schaden, den jemand durch Maßnahmen der Ordnungsbehörden erleidet, ist zu ersetzen, wenn er

a) infolge einer Inanspruchnahme nach § 19 oder

b) durch rechtswidrige Maßnahmen, gleichgültig, ob die Ordnungsbehörden ein Verschulden trifft oder nicht, entstanden ist.

Anders ausgedrückt:

Eine durch Notwehr gerechtfertigte Handlung einer Polizeibeamtin oder eines Polizeibeamten kann nicht rechtswidrig sein, weil diese Handlung durch Notwehr geradezu gerechtfertigt ist. Insoweit stellen sich Haftungsfragen gar nicht.

Wie aber sieht das in Fällen so genannter Notwehrüberschreitung aus? Diese Frage möchte ich gern unbeantwortet lassen, denn möglicherweise würde das Ergebnis .....

Mir ist es lieber, die Frage der Haftung im Anschluss an einen tödlich verlaufenden polizeilichen Schusswaffengebrauch aufzuzeigen, dem ein Fall von rechtfertigender Notwehr zugrunde liegt, der 2001 Gegenstand einer Entscheidung des OLG Celle gewesen ist.

Anlass: Auf dem Weg zur Polizeistation mit einem alkoholisierten Fahrer zur Durchführung einer Atemalkoholmessung, kam es zu einem Vorfall, den der Fahrer des Streifenwagens wie folgt schildert: „Plötzlich spürte ich links an meinem Hals ein Messer. Mit der linken Hand griff ich dort hin und versuchte, die Hand mit dem Messer von meinem Hals wegzudrehen. Dabei verletzte ich mich leicht an der linken Hand. Laut sagte ich: „Horst-Harald, ich habe ein Messer am Hals!“. Der drehte sich sofort nach hinten. Ich selbst versuchte, mit der linken Hand den linken Arm und das Messer des Angreifers von meinem Hals wegzudrehen, und trat gleichzeitig auf die Bremse. Als der Wagen nur noch sehr langsam rollte und fast zum Stillstand gekommen war, nahm ich meine rechte Hand vom Lenkrad und versuchte nun, mit beiden Händen die Hand mit dem Messer von meinem Hals abzuwehren. Mein Kollege hatte zu diesem Zeitpunkt bereits seine Pistole in der Hand und sagte zweimal laut: „Messer weg oder ich schieße!“ Als der Streifenwagen stand und ich immer noch versuchte, die Hand mit dem Messer abzuwehren, fiel der Schuss.“

Durch den Schuss wurde der Mann tödlich verletzt. Er starb im Krankenhaus. Seine Krankenkasse verlangt im Wege der Amtshaftungsklage von der Polizeibehörde - ohne Erfolg - Ersatz der ihr entstandenen Aufwendungen.

Den Schusswaffengebrauch bewertet das OLG Celle wie folgt:

OLG Celle 2001: Der Einsatz der Schusswaffe durch den Beamten H diente der Verteidigung seines Kollegen; die Verteidigung war auch „erforderlich“.

Der Rahmen der erforderlichen Verteidigung wird durch die gesamten Umstände bestimmt, unter welchen Angriff und Abwehr sich abspielen, insbesondere durch Stärke und Gefährlichkeit des Angriffs und die Verteidigungsmöglichkeiten des Angegriffenen. Hierbei ist zwar das am wenigsten schädigende und gefährliche Abwehrmittel grundsätzlich das allein zulässige; doch darf nach der ständigen Rechtsprechung des BGH dasjenige Abwehrmittel eingesetzt werden, das eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr erwarten lässt; wer Notwehr oder Nothilfe leistet, ist nicht genötigt, auf die Anwendung weniger gefährlicher Verteidigungsmittel zurückzugreifen, wenn deren Wirkung zweifelhaft ist. Er ist insbesondere nicht genötigt, das Risiko körperlicher Verletzungen oder Misshandlungen einzugehen.

Diese allgemeinen Grundsätze gelten - wenn auch unter Berücksichtigung der besonderen Gefährlichkeit des Abwehrmittels - auch für den Einsatz von Schusswaffen. Zwar sind dem lebensgefährlichen Einsatz einer Schusswaffe - auch wenn von einem gezielten so genannten „finalen Rettungsschuss“ nicht gesprochen werden kann - Grenzen gesetzt. In der Regel ist der angegriffene Schusswaffenträger gehalten, den Gebrauch der Waffe zunächst nur anzudrohen. Reicht dies nicht aus, so muss er - wenn möglich - vor dem tödlichen Schuss einen weniger gefährlichen Waffeneinsatz versuchen. In Frage kommen ungezielte Warnschüsse oder - wenn diese nicht ausreichen - Schüsse in die Beine, um den Angreifer kampfunfähig zu machen, also solche Abwehrmittel, die einerseits für die Wirkung der Abwehr nicht zweifelhaft sind und andererseits die Intensität und Gefährlichkeit des Angriffs nicht unnötig überbieten. Letztlich kommt es immer auf die Umstände des Einzelfalles an, wobei unter Berücksichtigung der Art und Weise des Angriffes auch der lebensgefährliche Einsatz einer Schusswaffe zulässig sein kann.

Der Polizeibeamte durfte im vorliegenden Fall das Mittel anwenden, das geeignet war, umgehend und sicher den rechtswidrigen Angriff zu beenden. Insoweit war der Schuss auf den Körper des Angreifers gerechtfertigt, nachdem dieser auf zweimalige Warnung nicht reagiert hatte.

Zur Beweislast der Erforderlichkeit der Verteidigungshandlung heißt es in der Entscheidung, dass die beim Kläger liegt.

Ob andere Maßnahmen zur Unterbindung des Angriffes ausgereicht hätten oder nicht vielmehr zu einer weiteren Eskalation der Situation hätten beitragen können, ist zweifelhaft, lässt sich jedenfalls aus heutiger Sicht nicht feststellen.

Insoweit liegt die Beweislast bei der Klägerin. Zwar muss grundsätzlich derjenige, der ein fremdes Rechtsgut verletzt, die Voraussetzungen der Notwehr bzw. Nothilfe darlegen und beweisen. Geht es aber darum, ob im Rahmen der Erforderlichkeit ein milderes Mittel hätte angewandt werden müssen, weil es genauso gut wie das eingesetzte Mittel den Angriff beendet hätte, trägt hierfür der Angreifer die Beweislast. Nicht derjenige, der rechtswidrig angegriffen wird, sondern derjenige, der rechtswidrig angreift, muss dann darlegen und im Streitfall beweisen, dass ein gleich taugliches, ihn aber weniger beeinträchtigendes Abwehrmittel dem Angegriffenen zur Verfügung stand.

Verhältnis der Notwehrvorschriften zum Polizeirecht:

Da das Verhalten des Beamten H nach § 227 BGB, § 32 StGB gerechtfertigt war, kommt es nicht darauf an, ob als Rechtfertigungsgrund für den letztlich tödlichen Einsatz der Schusswaffe auch die Vorschriften des Niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetzes (NdsGefAG) eingreifen.

Genauso wenig bedarf es in diesem Zusammenhang der Entscheidung, ob die dortigen Regelungen über den unmittelbaren Zwang bzw. den Schusswaffengebrauch engere Voraussetzungen für den Einsatz der Schusswaffe aufstellen.

Denn § 71 NdsGefAG bestimmt, dass die zivil- und strafrechtlichen Wirkungen nach den Vorschriften über Notwehr und Notstand unberührt bleiben.

Dies entspricht dem Vorrang des Bundesrechtes vor dem Landesrecht, wonach im Anwendungsbereich der § 227 BGB, § 32 StGB landesrechtliche Bestimmungen über den Schusswaffengebrauch die Regelungen des bundesrechtlichen Notwehr- bzw. Nothilferechts nicht einschränken können.

Dementsprechend steht nach überwiegender Auffassung einem Polizeibeamten bei der Ausübung seines Dienstes - jedenfalls im Falle eines rechtswidrigen Angriffes auf ihn oder einen Dritten das Notwehr- bzw. Nothilferecht uneingeschränkt zur Verfügung.

Soweit im öffentlich-rechtlichen Schrifttum teilweise die Auffassung vertreten wird, eine Überschreitung der landesrechtlichen Bestimmungen über den Schusswaffengebrauch begründe ein rechts- und amtspflichtwidriges Verwaltungshandeln gegenüber dem betroffenen Bürger, folgt dem der Senat für den Bereich der Staatshaftung nicht, jedenfalls nicht soweit es wie hier um die Abwehr eines rechtswidrigen Angriffs auf Leib und Leben eines Beamten geht.

Eine bestimmte Verteidigungshandlung kann im Verhältnis Staat (Polizeibeamter) - Bürger (Angreifer) nicht unterschiedlich als rechtmäßig oder rechtswidrig im Zivil-, Straf- und öffentlichen Recht angesehen werden. Hat der Beamte im Wege der Notwehr oder Nothilfe rechtmäßig den Angreifer verletzt, kann nicht die gleiche Handlung wegen Verstoßes gegen die vom allgemeinen Notwehrrecht abweichenden Regelungen über den Schusswaffengebrauch als rechtswidrige Amtspflichtverletzung oder als rechtswidrige Maßnahmen der Polizei eingestuft werden.“ Es wäre geradezu „schizoid“, wenn ein einheitlicher Hoheitsakt in der rechtlichen Wertung zerrissen und eine im Rahmen der § 32 StGB, § 227 BGB rechtmäßige Verletzung des Angreifers andererseits im Rahmen des Staatshaftungsrechtes als rechtswidriges Staatshandeln eingestuft würde.

OLG Celle, Entscheidung vom 8. Februar 2000 – 16 U 106/99

Entscheidung im Volltext

Anders ausgedrückt: Rechtmäßiges Handeln, egal ob es sich dabei um rechtmäßiges Staatshandeln auf der Grundlage polizeirechtlicher Zwangsbefugnisse oder um rechtmäßiges Handeln auf der Grundlage von Rechten handelt, die für jedermann gelten, können keine Ersatzansprüche auslösen. Die Folgen rechtmäßigen Handelns trägt allein die Person, gegen die sich rechtmäßiges Handeln richtete. Das ist nach der hier vertretenen Rechtsauffassung auch dann der Fall, wenn der in Notwehr handelnde aus Furcht, Angst oder Schrecken die Grenzen zugelassener Notwehr überschreitet. Warum?

§ 33 StGB (Überschreitung der Notwehr)

Überschreitet der Täter die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken, so wird er nicht bestraft.

Soweit dem in Notwehr Handelnden keinen extensiven Notwehrexzess vorgeworfen werden kann, wird er nicht bestraft, was zur Folge haben dürfte, dass er für den angerichteten Schaden auch nicht zu haften braucht.

Soweit die rechtliche Seite eines polizeilichen Fehlversagens, über das die Richter des OLG Celle zu entscheiden hatten.

  • Fehlversagen? Warum?

  • Es ist doch alles gesagt bzw. geschrieben?

  • Oder etwa doch nicht?

Die ex-ante-Sicht kann doch nur dort beginnen, wo der Fahrer des Streifenwagens sozusagen ein Messer am Hals spürt.

  • Ist das so?

  • Zweifel sind angebracht?

  • Warum?

Zu diesem Schusswaffengebrauch in einem Streifenwagen hätte es gar nicht kommen können, wenn die einschreitenden Beamten sich so verhalten hätten, wie das von Polizeibeamten zu erwarten ist, die eine fremde Person aus einem polizeilichen Anlass zur Polizeistation fahren.

Eine solche Person hätte durchsucht werden müssen (das Gesetz spricht von können), bevor sie sich in den Streifenwagen setzt und wenn sie das tut, dann hätte diese Person auf der Rückbank hinter dem Beifahrersitz Platz nehmen müssen.

Diese geschilderte Vorgehensweise nennt sich Eigensicherung, auf die Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte niemals verzichten sollten, obwohl in den Fällen, in denen sie das nicht tun, egal aus welchen Gründen, solch ein Versäumnis für sie rechtlich folgenlos ist, in der Praxis aber durchaus, wie oben geschehen, Folgen nach sich ziehen kann, die zumindest für den Tod eines Menschen mitursächlich sein können, denn wenn die Beamten den Mann körperlich durchsucht hätten, dann hätten sie das Messer gefunden und wenn die Sitzordnung im Sinne der Eigensicherung eingehalten worden wäre, dann hätte es nicht dazu kommen können, dass ein fremder Mann dem Fahrer eines Streifenwagens ein Messer an den Hals hätte halten können.

Und was die Durchsuchung des Mannes betrifft. Alle Polizeigesetze in Deutschland enthalten eine Regelung, die mit der im PolG NRW vergleichbar ist.

Dort heißt es:

§ 39 Abs. 2 PolG NRW (Durchsuchung von Personen)

(2) Die Polizei kann eine Person, deren Identität nach diesem Gesetz oder anderen Rechtsvorschriften festgestellt werden soll, nach Waffen, anderen gefährlichen Werkzeugen und Explosivmitteln durchsuchen, wenn das nach den Umständen zum Schutz des Polizeivollzugsbeamten oder eines Dritten gegen eine Gefahr für Leib oder Leben erforderlich ist. Dasselbe gilt, wenn eine Person nach anderen Rechtsvorschriften vorgeführt oder zur Durchführung einer Maßnahme an einen anderen Ort gebracht werden soll.

Diese Voraussetzungen sind immer gegeben, wenn Polizeibeamte einschreiten und erst recht dann, wenn sie eine Person festhalten und in einem Streifenwagen zur Polizeistation verbringen. Wird darauf verzichtet, dann ist das immer mit einem Risiko verbunden.

Über solch ein vermeidbares Risiko haben die Richter des OLG Celle im Jahr 2001 nicht entschieden, ihnen reichte die so genannte ex-ante-Sicht aus. Das ist die Sicht der Dinge zum so genannten entscheidungserheblichen Zeitpunkt und der „entscheidungserhebliche Zeitpunkt“ beginnt erst dort, wo der Fahrer des Streifenwagens angegriffen wird. Die Minuten davor, in denen die nunmehr bekannte Situation hätte verhindert werden können, war nicht Gegenstand richterlicher Überlegungen, obwohl das oben skizzierte Unterlassen von Eigensicherungsmaßnahmen nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg (der Angriff) und somit der Tod des Angreifers nicht hätte eintreten können.

Über dieses Unterlassen nachzudenken, sollte nachdenklich stimmen.

18 Zusammenfassung

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Ich weiß nicht, wie es Ihnen ergeht, jetzt, sozusagen zum Schluss meiner Ausführungen zum polizeilichen Schusswaffengebrauch im Zusammenhang mit Notwehr möchte ich zum Ausdruck bringen, dass Fragen des Schusswaffengebrauchs untrennbar mit professionellen Kompetenzen schießender Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten verbunden sind, die nur unter Einbeziehung ihrer persönlichen Stärken und persönlichen Fertigkeiten beim Umgang mit polizeilichen Berufsgefahren zufriedenstellend gelöst werden können. Hinsichtlich der Abwehr von gegenwärtigen Angriffen auf den eigenen Körper und auf das eigene Leben, darf, um das ganz klar zum Ausdruck zu bringen, nur dann auf Menschen geschossen werden, wenn es um die existenzielle Frage geht, die da lautet: Kann ich nur so mein Leben schützen?

Dass diese existenzielle Frage bei ausgebildeten Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten nicht nur anders zu stellen, sondern im Hinblick auf erforderliche Verteidigungshandlung auch anders zu beantworten ist, als das bei einem „jedermann“ der Fall ist, das dürfte deutlich geworden sein.

Von einem mit mehreren Waffen ausgerüsteten Polizeibeamten – und natürlich gilt das auch für Polizeibeamtinnen – muss eine größere Gefahrenhinnahmebereitschaft erwartet werden können, als das bei einem „jedermann“ der Fall ist. Das kann nur bedeuten, dass nicht jedes Herumfuchteln mit einem Messer und auch nicht jedes bedrohliche Zugehen auf einen Polizeibeamten durch einen Menschen, der ein Messer, einen Knüppel, eine Axt oder einen Schraubenzieher in seinen Händen hält, tatsächlich ein das Leben bedrohender Angriff ist.

Ich will mich kurzfassen: In keinem der oben geschilderten Fälle hätte ich geschossen. Nicht weil ich von Natur aus ein Held wäre .... das ist sicherlich nicht der Fall, wohl aber im Vertrauen auf meine Fähigkeit, solche Konflikte anders zu lösen.

Aber damit sind noch längst nicht alle Fragen gestellt und erst recht nicht zufriedenstellend beantwortet. Immer noch frage ich mich, warum in Situationen, in denen Polizeibeamte von ihrer Schusswaffe zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben Gebrauch machen, dieses polizeiliche Handeln nicht auf Polizeirecht, sondern auf Notwehr gestützt wird.

Die Antwort darauf hat nichts mit meinem polizeilichen Berufsverständnis zu tun. Für mich wirkt dieser Rückzug auf Notwehrrechte eher wie der Versuch eines Staates, sich der Verantwortung für das Tun seiner Amtswalter zu entziehen, denn die Beweislast für unverhältnismäßige Notwehr hat der davon Betroffene zu erbringen.

Anders ausgedrückt: Die Behörde hat nur dann nachzuweisen, dass der Gebrauch der Schusswaffe tatsächlich erforderlich gewesen ist, wenn auf der Grundlage polizeirechtlicher Befugnisse Polizeibeamte geschossen haben.

Da hoheitliche Maßnahmen von Amtswalter immer der Behörde zugeordnet werden, für die diese Amtswalter gehandelt haben, ist es Aufgabe der Behörde, nachzuweisen, warum ihren Amtswalter mildere Mittel nicht zur Verfügung standen, was zwangsläufig Überlegungen mit einbezieht, die da laugen: Welche Dienstwaffe war zur Abwehr des Angriffs sowohl geeignet als auch erforderlich und angemessen, um eine Gefahr für Leib oder Leben einschreitender Beamter abwehren zu können.

Nur damit wir nicht aneinander vorbeireden.

Jede Polizeibeamtin und jeder Polizeibeamte führt mehrere Waffen mit sich: Eine Dienstpistole, den Mehrzweckeinsatzstock und einen Taser und natürlich auch ein Reizstoffsprühgerät. Darüber hinausgehend befindet sich in jedem Streifenwagen auch eine Maschinenpistole und natürlich auch Schutzwesten.

Kurzum: Ausrüstungsmäßig sind Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte, um die Wortwahl des ehemaligen NRW- Innenministers Ralf Jäger (SPD) zu verwenden, nicht nur bestens für den Terroreinsatz ausgerüstet, sondern auch dazu in der Lage, anlässlich von Terrorlagen vor Ort sofort tätig werden zu können.

Ich möchte diesen Gedanken nicht weiter fortführen, denn diese Sicht der Dinge suggeriert zumindest, dass Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte nicht nur in Terrorlagen, sondern erst recht auch in anderen Gefahrensituationen professionell handeln können müssen.

Wie dem auch immer sei. Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte die ihren Schusswaffengebrauch durch Notwehr rechtfertigen, verwehrt der Dienstherr sogar die Kostenübernahme für eine angemessene Verteidigung, denn gegen Polizeibeamte, die durch den Gebrauch der dienstlichen Schusswaffe einen Menschen verletzen oder gar töten, wird zwangsläufig ein Strafverfahren eingeleitet, das im Übrigen auch zur Folge hat, dass für die Dauer dieses Verfahrens davon betroffene Beschuldigte nicht befördert werden können.

Aus nachvollziehbaren Gründen bietet deshalb, sozusagen als Ausgleich mangelnder dienstlicher Fürsorge, die Gewerkschaft der Polizei ihren Mitgliedern eine Rechtsschutzversicherung an. Gleiches gilt auch für die Diensthaftpflicht-Regressversicherung der GdP. Auf der Website der GdP heißt es dazu:

GdP: Auch für das berechtigte dienstliche und außerdienstliche Führen und Benutzen sämtlicher vom Dienstherrn zu Dienstzwecken zur Verfügung gestellten Dienstwaffen (Schusswaffen und Reizstoffsprühgeräte sowie sonstige Waffen – Hieb-, Stoß-, Stich- und Schlagwaffen, Elektroschockgeräte/Taser u.a.) gewährt unser Versicherer Versicherungsschutz.

Dass es auch anders geht, kann in dem „Gesetz über die Anwendung unmittelbaren Zwanges bei der Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Landes Berlin (UZwG Bln)“ nachgelesen werden, in dem auch die Fürsorgepflicht des Dienstherrn in Bezug auf Polizeibeamte, die von der Schusswaffe Gebrauch gemacht haben, geregelt ist. Aber entscheiden Sie selbst:

§ 9 Abs. 4 UZwG Bln (Allgemeine Vorschriften für den Schusswaffengebrauch)

(4) Das Recht zum Gebrauch von Schusswaffen durch einzelne Polizeivollzugsbeamte in den Fällen der Notwehr und des Notstands bleibt unberührt. Verletzt ein Polizeivollzugsbeamter in diesen Fällen die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht, so trifft die Verantwortlichkeit nach den Vorschriften der Amtshaftung das Land Berlin. Das Land Berlin gewährleistet in Fällen des Satzes 1 als Teil der staatlichen Fürsorgepflicht angemessenen Rechtsschutz in Ermittlungs- und Strafverfahren, die gegen Polizeivollzugsbeamtinnen und Polizeivollzugsbeamte geführt werden; Näheres hierzu wird in Ausführungsvorschriften der für das Dienstrecht zuständigen Senatsverwaltung geregelt. Die Gewährung von Rechtsschutz in anderen Fällen bleibt unberührt.

Nach meinem Kenntnisstand ist diese Vorschrift im Berliner Polizeigesetz eine Regelung, die in anderen Polizeigesetzen nicht zu finden ist. Wie dem auch immer sei. Auch von Ausnahmen kann eine Wirkung ausgehen, die Hoffnung für die Zukunft zumindest aufrecht zu erhalten vermag. Was meine Person anbelangt, hinterlassen Staaten – und alle Bundesländer sind Staaten im staatsrechtlichen Sinne – die in diesem Aufsatz beschriebene Staatsgewalt durch Notwehr zu rechtfertigen versuchen, ein „Geschmäckle auf der Zunge“, das zumindest bei meinen Geschmacksnerven ein gewisses Unbehagen zurücklässt, denn Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte, die im Rahmen dienstlich übertragener Aufgaben Maßnahmen treffen, wozu auch der Gebrauch der Schusswaffe gehört, handeln immer für die Behörde, in der sie örtlich und sachlich zuständig sind.

19 Quellen

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Endnote 01
https://www.welt.de/politik/deutschland/article236666105/Mehr-als-400-Polizisten-im-Dienst-getoetet.html
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Endnote 02
Das sind die gefährlichsten Berufe Deutschlands: https://www.merkur.de/leben/karriere/gefaehrlichste-berufe-deutschlands-unfallrisiko-arbeitsunfall-dachdecker-zr-90059407.html
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Endnote 03
Landespolizeipfarrer Kurt Grützner: „...unter Einsatz meines Lebens“ - Landespolizeipfarrer Kurt Grützner, Seite 4: https://www.ekkw.de/img_ekkw/aktuell/...unter_Einsatz_meines_Lebens.pdf
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Endnote 04
Landespolizeipfarrer Kurt Grützner: „...unter Einsatz meines Lebens“ - Landespolizeipfarrer Kurt Grützner, Seite 4: https://www.ekkw.de/img_ekkw/aktuell/...unter_Einsatz_meines_Lebens.pdf
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Endnote 05
Focus.de vom 27,5,2022 „Ich werde selbst reingehen“: Eltern erheben schwere Vorwürfe gegen US-Polizei
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Endnote 06
Trainingszentrum Artikel im Volltext
https://lafp.polizei.nrw/artikel/trainingszentrum-im-lafp-nrw-in-selm-eroeffnet
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Endnote 07
Jürgen Roos:Notwehr und Nothilfe ─ Eingriffsermächtigung oder Rechtfertigung? https://www.veko-online.de/archiv-ausgabe-04-2015/polizei-notwehr-und-nothilfe-eingriffsermaechtigung-oder-rechtfertigung.html
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Endnote 08
Berlin 2011
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Endnote 09
Berlin 2014
https://www.focus.de/politik/deutschland/gewerkschaft-verteidigt-toedlichen-einsatz-in-berlin-polizist-erschiesst-messermann-bei-notwehr-ist-der-ganze-koerper-trefferflaeche_id_2862308.html
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Endnote 10
Erfurt 2015
Stern.de vom 2.12.2015: https://www.stern.de/panorama/stern-crime/sek-einsatz-in-erfurt--mann-geht-mit-axt-auf-polizisten-los-und-wird-erschossen-6585630.html
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Endnote 11
Köln 2015
Kölner Stadtanzeiger 03.07.2015:
https://www.ksta.de/koeln/-sote-grossmarkt-schiesserei-in-koeln-der-erste-schuss-22831770?cb=1661246845964&
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Endnote 12
Würzburg 2016
https://www.focus.de/panorama/videos/zug-attacke-bei-wuerzburg-auf-der-flucht-erschossen-jugendlicher-lebte-seit-zwei-wochen-bei-pflegefamilie_id_5741527.html
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Endnote 13
Tweed Renate Künast
https://taz.de/Tweet-von-Renate-Kuenast-zu-Wuerzburg/!5319845/
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Endnote 14
Dortmund 2022
Ruhr.de vom 12.08.2022:
https://www.ruhr24.de/dortmund/dortmund-schuesse-antifa-16-jahre-jugendlicher-waffe-wann-einsetzen-proteste-polizei-gewalt-91716616.html
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Endnote 15
Dortmund 2022
Ruhr24.de: https://www.ruhr24.de/dortmund/schuesse-dortmund-16-jaehriger-erschossen-holsteiner-strasse-kommentar-polizei-nrw-ermittlungen-taser-91717874.html
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