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Einführungstext zum Versammlungsrecht

Inhaltsverzeichnis

01 Einführung
02 Versammlungsfreundlichkeit der Polizei
03 Versammlungsbegriff
04 Polizeiliche Belastungsgrenze ist erreicht
05 Polizeigewalt im Rahmen von Corona-Demonstrationen
06 Besinnung oder Neuorientierung?
07 Deeskalation setzt Kommunikation voraus

08 Schlüsselwörter

01 Einführung

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Die Wahrnehmung versammlungsrechtlicher Aufgaben gehört neben der Gefahrenabwehr, der Erforschung und Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten und der Überwachung des Straßenverkehrs, ebenfalls zu den so genannten polizeilichen Kernaufgaben. Die Zuständigkeit, versammlungsrechtliche Aufgaben wahrzunehmen, ergibt sich für die Polizei des Landes NRW aus dem Versammlungsgesetz (VersG) dieses Landes, das im Dezember 2021 in Kraft getreten ist.

Dort heißt es:

§ 32 VersG NRW (Zuständigkeit)
Zuständige Behörde nach diesem Gesetz ist die Kreispolizeibehörde. Örtlich zuständig ist die Kreispolizeibehörde, in deren Bezirk die Versammlung stattfindet.

Regelungen, die im Zusammenhang mit der Anmeldung, der Planung und der Vorbereitung von Versammlungen zu treffen sind, fallen nicht in den Zuständigkeitsbereich der Beamten, die im so genannten operativen Dienst der Polizei eingesetzt sind sondern werden von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der „Direktion Zentrale Aufgaben“ (Dezernat ZA1) wahrgenommen.

Dort können nicht nur Versammlungen angemeldet (angezeigt) werden, dort finden auch erforderlich werdende Kooperationsgespräche mit dem Veranstalter statt. Erforderlich werdende Auflagen, die die Art und Weise der Durchführung angemeldeter Versammlungen betreffen, werden im Dezernat ZA1 mit dem Veranstalter ebenfalls erörtert.

Versammlungen, die gegen geltendes Recht verstoßen oder von denen erfahrungsgemäß mit einem unfriedlichen Verlauf zu rechnen ist, können bereits in diesem Stadium von der Polizei verboten werden. Erforderlichenfalls können dem Veranstalter auch Auflagen vorgegeben werden, die bei der Durchführung der Versammlung zu beachten sind, siehe zum Beispiel § 13 Abs. 1 VersG NRW (Beschränkungen, Verbot, Auflösung).

§ 13 VersG NRW (Beschränkungen, Verbot, Auflösung)
(1) Die zuständige Behörde kann eine Versammlung unter freiem Himmel beschränken, um eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit abzuwehren. Als Beschränkungen kommen insbesondere Verfügungen zum Ort und zum Verlauf der Veranstaltung in Betracht.

Veranstalter, die Versammlungsverbote oder Auflagen nicht akzeptieren wollen, ist es freigestellt, im so genannten Eilverfahren die Verwaltungsgerichte darüber entscheiden zu lassen, ob ein von der Polizei verfügtes Versammlungsverbot oder eine oder mehrere von der Polizei verfügte Auflagen hinzunehmen sind.

In einer Vielzahl von Fällen haben die Verwaltungsgerichte die von der Polizei verfügten Verbote/Auflagen aufgehoben.

Anders ausgedrückt: Durch so genannte Eilbeschlüsse können Verwaltungsrichter sowohl polizeilich verfügte Versammlungsverbote, als auch polizeilich verfügte Auflagen aufheben. Solche Entscheidungen hat es zur Zeit der Pandemie in mehreren Fällen gegeben.

Von der Polizei verfügte Versammlungsverbote, die vor Gericht Bestand haben, sind von der Polizei aufzulösen, so der Wortlaut des § 13 Abs. 2 VersG NRW (Beschränkungen, Verbot, Auflösung).

§ 13 Abs. 2 VersG NRW (Beschränkungen, Verbot, Auflösung)
(2) Die zuständige Behörde kann eine Versammlung verbieten oder auflösen, wenn ihre Durchführung die öffentliche Sicherheit unmittelbar gefährdet und die Gefahr nicht anders abgewehrt werden kann. Eine verbotene Versammlung ist aufzulösen. Nach der Auflösung haben sich die teilnehmenden Personen unverzüglich zu entfernen. Es ist verboten, anstelle der aufgelösten Versammlung eine Ersatzveranstaltung durchzuführen.

Wird gegen Auflagen verstoßen, kann die Polizei eine Versammlung auflösen, wenn dadurch die öffentliche Sicherheit unmittelbar gefährdet wird. Eine gesetzliche Pflicht, solch eine Versammlung aufzulösen, sieht das VersG NRW für solche Fälle aber nicht vor, denn das Wort „kann“ im § 13 Abs. 2 VersG NRW räumt der Polizei Ermessen ein.

Vergleichbare Regelungen enthalten alle Versammlungsgesetze in Deutschland.

Dennoch hat sich, im Zusammenhang mit dem Umgang der Polizei mit Demonstrationen zu „Coronazeiten“ gezeigt, dass die Versammlungsfreundlichkeit der Polizei, zu der sie der Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1985 verpflichtet, einen Wandel erlebt hat, wie das die folgenden Zitate belegen:

ZDF.de vom 29.08.2020:
Corona-Demonstration in Berlin aufgelöst. Die Polizei in Berlin hat die Demonstration gegen die Corona-Auflagen aufgelöst. Alle Maßnahmen hätten nicht zu einem Einhalten der Auflagen von den Teilnehmern geführt. Die meisten Demonstranten waren ohne Masken gekommen, viele ignorierten den Mindestabstand. Die Polizei reagierte und beendete die Großdemonstration. [...]. Unverständnis bei den Gegnern der Coronamaßnahmen.

Tagesschau.de vom 09.01.2022:
Justizminister zu Corona-Demos „Versammlungen notfalls auflösen“
Justizminister Buschmann will Regelverstöße und Gewalt bei Corona-Protesten nicht länger hinnehmen. Notfalls müssten Versammlungen aufgelöst werden. Gestern gingen in vielen Städten wieder Tausende auf die Straße.

TAZ.de vom 06.01.2022:
Coronademo in München: Eingekesselt auf dem Marienplatz. München hat alle Versammlungen mit Coronabezug verboten. [...]. Trotzdem zogen am Mittwochabend 3.000 Menschen durch die Innenstadt. Allerdings gelang es den Einsatzkräften, die meisten von ihnen schon am Marienplatz einzukesseln. Die Stimmung war aufgeladener als in den Wochen zuvor. Mehr als 1.200 Anzeigen, davon 1.130 Verstöße gegen die Allgemeinverfügung und 35 Strafanzeigen wegen Beleidigung oder Angriffs auf Beamte zählte die Polizei. [...]. Die Einsatzkräfte setzten Schlagstöcke und Pfefferspray gegen die Demonstranten ein, drei Personen wurden verletzt. Die „Spaziergänger*innen“ selbst schienen ebenfalls mäßig zufrieden mit dem Ausgang des Abends.

Wie Sie dem letzten Satz des Zitates aus der TAZ entnehmen können, wurde das Versammlungsrecht durch eine neue Sprachfigur erweitert, durch die der „Spaziergänger“. Dazu gleich mehr.

02 Versammlungsfreundlichkeit der Polizei

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Im Brokdorf-Beschluss des BVerfG aus dem Jahr 1985 heißt es, dass es vorrangige Aufgabe der Polizei ist, Versammlungen nicht zu behindern oder zu erschweren, sondern Versammlungen zu ermöglichen und zu schützen.

Aus der grundlegenden Bedeutung der Versammlungsfreiheit ergeben sich für die zuständige Versammlungsbehörde und somit für die Polizei folgende Konsequenzen:

  • Die Versammlungsbehörde (Polizei) muss sich versammlungsfreundlich entscheiden, um Versammlungen zu ermöglichen

  • Versammlungen dürfen ohne gesetzliche Befugnis nicht behindert werden

  • Eingriffe sind nur auf gesetzlicher Grundlage nach sorgfältiger Güterabwägung und nur zum Schutz zumindest gleichwertiger Rechtsgüter zulässig

  • Für Eingriffsmaßnahmen ist eine hohe Eingreifschwelle zu beachten

  • Eine Auflösung kommt nur als letztes Mittel zur Abwehr schwerwiegender Störungen in Betracht

  • Dazu bedarf es einer nachvollziehbaren Gefahrenprognose, die auf Tatsachen beruhen muss

  • Die polizeiliche Einsatzleitung hat sich dem Versammlungsleiter gegenüber zu erkennen zu geben

  • Eine enge Kommunikation zwischen polizeilicher Einsatzleitung und dem Versammlungsleiter ist anzustreben

  • Die Polizei kann Versammlungen auflösen, aber nur dann, wenn andere polizeiliche Maßnahmen, insbesondere eine Unterbrechung der Versammlung, nicht ausreichen

  • Sobald eine Versammlung für aufgelöst erklärt ist, haben alle Teilnehmer sich sofort zu entfernen

  • Die Verwendung von Ordnern bedarf polizeilicher Genehmigung. Sie ist bei der Anmeldung zu beantragen.

Dies Regelungen gelten uneingeschränkt für Versammlungen unter freiem Himmel, denn gemäß Art 8 Abs. 2 GG kann das Versammlungsrecht für solche Versammlungen durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden.

03 Versammlungsbegriff

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Eine Versammlung setzt die Zusammenkunft von mindestens zwei Personen voraus. Die weiteren Anforderungen, die an eine Versammlung zu richten sind, haben die Richter des Bundesverfassungsgerichts 2011 wie folgt definiert:

BVerfG 2011: Eine Versammlung ist eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung. Dazu gehören auch solche Zusammenkünfte, bei denen die Versammlungsfreiheit zum Zwecke plakativer oder aufsehenerregender Meinungskundgabe in Anspruch genommen wird. Der Schutz ist nicht auf Veranstaltungen beschränkt, auf denen argumentiert und gestritten wird, sondern umfasst vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen, darunter auch Sitzblockaden (...). Bei einer Versammlung geht es darum, dass die Teilnehmer nach außen - schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und des Umgangs miteinander oder die Wahl des Ortes - im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen.

BVerfG, Beschluss vom 07.03.2011 - 1 BvR 388/05

Die Frage, die sich im Zusammenhang nicht angemeldeter „Montagsspaziergängen“ stellte, lautete: Handelt es sich bei solchen „Montagsspaziergängen“ um Versammlungen?, und, wenn ja, können solche Demonstrationen im Vorfeld verboten werden.

Über diese Fragen hatten 2022 die Richter des Bundesverfassungsgerichts zu entscheiden, weil ein Montagsspaziergänger gegen ein Verbot dieser Spaziergänge Verfassungsbeschwerde mit der Begründung eingelegt hatte, dass solche Veranstaltungen im Vorfeld der Versammlungsbehörde nicht angezeigt werden müssten, so dass sich allein daraus kein Versammlungsverbot ableiten ließe.

Im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2022 heißt es:

BVerfG 2022: Art. 8 Abs. 1 GG schützt die Freiheit, mit anderen Personen zum Zwecke einer gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung örtlich zusammen zu kommen. Als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe ist die Versammlungsfreiheit für eine freiheitlich demokratische Staatsordnung konstituierend. In ihrer idealtypischen Ausformung sind Demonstrationen die gemeinsame körperliche Sichtbarmachung von Überzeugungen, bei der die Teilnehmer in der Gemeinschaft mit anderen eine Vergewisserung dieser Überzeugungen erfahren und andererseits nach außen – schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und die Wahl des Ortes – im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen. Nach Art. 8 Abs. 2 GG kann dieses Recht für Versammlungen unter freiem Himmel durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden. Derartige Beschränkungen sind im Lichte der grundlegenden Bedeutung von Art. 8 Abs. 1 GG auszulegen. Eingriffe in die Versammlungsfreiheit sind nur zum Schutz gleichgewichtiger anderer Rechtsgüter unter strikter Wahrung der Verhältnismäßigkeit zulässig. Insbesondere Versammlungsverbote dürfen nur verhängt werden, wenn mildere Mittel nicht zur Verfügung stehen und soweit der hierdurch bewirkte tiefgreifende Eingriff in das Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 GG auch in Ansehung der grundlegenden Bedeutung der Versammlungsfreiheit für das demokratische und freiheitliche Gemeinwesen insgesamt nicht außer Verhältnis steht zu den jeweils zu bekämpfenden Gefahren und dem Beitrag, den ein Verbot zur Gefahrenabwehr beizutragen vermag. [...]. Ob es mit Bedeutung und Tragweite des Art. 8 GG unter bestimmten Voraussetzungen vereinbar sein kann, präventiv ein Versammlungsverbot durch Allgemeinverfügung für eine prinzipiell unbestimmte Vielzahl von Versammlungen im Stadtgebiet zu erlassen, die mit Aufrufen zu „Montagsspaziergängen“ oder „Spaziergängen“ im Zusammenhang stehen, ist eine verfassungsrechtlich offene Frage, deren Klärung dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben muss. [...]. Angesichts der nicht offensichtlichen Erfolgsaussichten in der Hauptsache ist eine Folgenabwägung vorzunehmen. Diese geht zum Nachteil des Beschwerdeführers aus. [...]. Zum Nachteil des Beschwerdeführers falle insbesondere ins Gewicht, so die Kammer, dass durch die Gestaltung als „Spaziergang“ eine Vorfeldkooperation und damit grundrechtsschonendere Maßnahmen gezielt ausgehebelt wurden – was dem Beschwerdeführer gerade bewusst war.

BVerfG, Beschluss vom 31. Januar 2022 - 1 BvR 208/22

Die eigentlich zu klärende Frage aber, nämlich die, ob auch eine Zusammenkunft von Spaziergängern versammlungsrechtlich als eine Versammlung anzusehen ist, ließen die Richter unbeantwortet.

Aus Sicht der Polizei scheint diese Frage beantwortet zu sein.

In einer Pressemitteilung der Polizei Paderborn, die am 28. Dezember 2021 auf der Website der Polizei NRW veröffentlicht wurde, heißt es:

KPB Paderborn 2022: „Montagsspaziergänge“ sind rechtlich Versammlungen - Polizei schreitet konsequent ein. Nicht nur im Kreis Paderborn, sondern landesweit ist feststellbar, dass es seit einigen Wochen vermehrt zu so genannten „Montags- oder Lichterspaziergängen“ kommt, bei denen die Teilnehmenden sich koordiniert treffen und oftmals in Form des stillen Protests ihren Unmut gegen die geltenden oder geplanten Corona-Schutzmaßnahmen kundtun.

https://polizei.nrw/presse/montagsspaziergaenge-sind-rechtlich-versammlungen-polizei-schreitet-konsequent-ein

Dass diese Rechtsauffassung von anderen nicht unbedingt geteilt wird, sei an dieser Stelle nur festgestellt. Sogar die Gerichte verhalten sich diesbezüglich eher zurückhaltend als eindeutig, was angerufene Gerichte dennoch nicht davon abhielt, erlassene Versammlungsverbote der Polizei bzw. der jeweils zuständigen Versammlungsbehörde zu bestätigen.

Hier nur ein Beispiel.

OVG Koblenz 2022: Der Antragsgegner hat in seiner Allgemeinverfügung das Verbot der sogenannten „Montagsspaziergänge“ am 3. Januar 2022 auf § 15 Abs. 1 Versammlungsgesetz – VersammlG – gestützt und zur Begründung ausgeführt, dass es sich hierbei um gegen die Corona-Schutzmaßnahmen gerichtete Versammlungen handele, die nicht entsprechend § 14 VersammlG angemeldet worden seien und von denen Infektionsgefahren ausgingen, die nicht gering oder vernachlässigbar seien. Bei vergleichbaren „Spaziergängen“, die akkurat geplant und nur scheinbar spontan seien, hätten sowohl im Landkreis Südliche Weinstraße als auch bundesweit zahlreiche Teilnehmer keine Mund-Nasen-Bedeckung getragen. Hierdurch könne die Verbreitung des SARS-CoV-2-Virus ungehindert erfolgen, was es in Anbetracht der hohen Inzidenzen der Südpfalz unbedingt zu vermeiden gelte. Aufgrund der damit einhergehenden Gefährdung der öffentlichen Sicherheit seien daher diese „Spaziergänge“ zu verbieten, da andere Maßnahmen nicht in gleicher Weise zur Abwehr der Infektionsgefahren und damit der Gesundheitsgefahren in der aktuellen Pandemielage geeignet seien.

Ob das Versammlungsverbot, das maßgeblich mit von den „Spaziergängen“ ausgehenden Infektionsgefahren durch Verbreitung des SARS-CoV-2-Virus begründet worden ist, auf § 15 Abs. 1 VersammlG gestützt werden kann, lässt sich bei der im vorliegenden Eilrechtsschutzverfahren nur möglichen Prüfung der Rechtslage nicht zweifelsfrei beurteilen.

Hierzu bedarf es, wie das Verwaltungsgericht bereits zutreffend ausgeführt hat, einer Klärung der Frage, in welchem Verhältnis die versammlungsrechtliche Befugnis zum Erlass eines Versammlungsverbots zu den infektionsschutzrechtlichen Befugnissen nach § 28 Abs. 1 Infektionsschutzgesetz – IfSG – zum Erlass von notwendigen Schutzmaßnahmen steht.

Eine Klärung dieser schwierigen Rechtsfragen muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.

OVG Koblenz, Beschluss vom 03. Januar 2022 - 7 B 10005/22

Wie Sie sehen, ist es gar nicht so einfach, rechtsverbindlich festzustellen, dass es sich bei den „Montagsspaziergängen“ oder wie man die auch immer bezeichnen möchte, tatsächlich um Versammlungen handelt.

Ob solch ein mutloser Umgang mit dem Versammlungsrecht durch die Gerichte tatsächlich als eine „versammlungsfreundliche Rechtsprechung“ bezeichnet werden kann, auf die in den Beschlüssen bzw. Urteilen immer Bezug genommen wird, diese Frage bitte ich Sie, liebe Leserin und lieber Leser, selbst zu beantworten.

Festzustellen ist, dass die Polizei diesbezüglich weniger ängstlich ist.

04 Polizeiliche Belastungsgrenze ist erreicht

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Festzustellen ist, dass die Polizei, bedingt durch die Vielzahl von Corona-Demonstrationen, nicht nur über zunehmenden Stress leidet, sondern tatsächlich an ihre Leistungsgrenze gekommen ist, denn die Polizei befindet sich sozusagen im Dauereinsatz. Auf Bild.de vom 18.02.2022 heißt es, dass im Zusammenhang mit Corona-Einsätzen die Polizei 2,4 Millionen Überstunden zur Eindämmung des Corona-Virus geleistet hat, entweder durch Corona-Kontrollen oder anlässlich von Demonstrationen. Überstundenrekorde sozusagen, sowohl bei der Polizei des Bundes als auch bei den Polizeien in den Bundesländern.

Angesichts dieser Tatsache vermag es nicht zu verwundern, dass auch die Gewerkschaft der Polizei über zu wenig Personal und über immer mehr Überstunden Klage führt. Beklagt werden „desolate Zustände, die eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf nahezu unmöglich machen“.

https://www.berliner-woche.de/mitte/c-blaulicht/gewerkschaft-kritisiert-personalmangel-und-fordert-doppelte-verguetung-bei-ueberstunden_a317520

Zukunft: Wie es mit den „Montagsspaziergängen“ weitergehen wird, bleibt abzuwarten. Obwohl zurzeit aufgrund der gelockerten Corona-Maßnahmen diese eingestellt wurden, ist ein Ende dennoch nicht in Sicht, denn ein neues Infektionsschutzgesetz wird bereits vorbereitet (Stand August 2022). Außerdem wird, aufgrund der "Gaskrise" sozusagen ein heißer Herbst erwartet.

05 Polizeigewalt im Rahmen von Corona-Demonstrationen

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Dass Demonstrationen, die von der Polizei rechtmäßig aufgelöst wurden, auch unter Anwendung zulässiger Zwangsmittel aufgelöst werden können, dürfte unbestreitbar sein, denn ein Staat, der nicht dazu in der Lage ist, die von seinen Organen angeordneten rechtlich zulässigen Maßnahmen erzwingen bzw. durchsetzen zu können, ist ein Staat, der sich sozusagen in der Auflösung befindet.

Eine ganz andere Frage lautet aber:

Wo beginnt Polizeigewalt, hier zu verstehen als eine Grenzüberschreitung, die nach unserem Rechtsverständnis nur in „Polizeistaaten“ möglich sind und dort, sollte es dabei zu Menschenrechtsverletzungen kommen, dort ungesühnt bleiben, weil alles, was die Polizei in einem Polizeistaat tut, dem Willen der Staatsmacht entspricht.

Polizeigewalt 2021:

Dass die oben angedeutete Grenze auch von Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten in Deutschland überschritten wurde, die, im Gegensatz zur Polizei in so genannten „Polizeistaaten“, Menschenrechte zu achten und zu schützen haben, macht es bedauerlicherweise unvermeidbar, auch in einem Einführungstext zum Versammlungsrecht diesen Vorwurf zumindest kurz zu thematisieren.

Festzustellen ist, dass der Schweizer Rechtswissenschaftler Nils Melzer in seiner Eigenschaft als UN-Sonderberichterstatter über Folter in Deutschland geschehene Polizeigewalt zum Anlass genommen hat, sich in einem 20 DIN-A-4-Seiten umfassenden Bericht bei der Bundesregierung über ein „Systemversagen“ zu beschweren.

Wer sich für dieses Beschwerdeschreiben interessiert, das im Originaltext im Internet vorgehalten wird, der kann diesen Bericht über folgenden Link einsehen.

Bericht des UN-Sonderberichterstatters über Folter

In seinem Schreiben an die Bundesregierung beklagt sich Nils Melzer über exzessive Polizeigewalt. Es würde zu weit führen, die Fälle, auf die sich Nils Melzer bezieht, hier im Einzelnen zu benennen. Festzustellen ist, dass über die Fälle, auf die Bezug genommen wird, Videoaufzeichnungen zur Verfügung stehen.

In seinem Bericht beklagt sich Nils Metzer auch darüber, dass Polizeigewalt nicht erst seit den Corona-Demonstrationen zu einem Problem geworden sei, unter Coronabedingungen aber zugenommen habe, weil die Diskriminierung von Coronagegnern sogar öffentlich gerechtfertigt worden seien. Solchermaßen stigmatisiert und dem Volkszorn ausgeliefert, sanken offensichtlich auch die Hemmschwellen innerhalb des Polizeiapparats, so dass sich der geschürte Frust und Hass gewalttätig entladen konnte.

In einem Interview mit der „WELT“ diagnostiziert Nils Metzer eine „große Diskrepanz zwischen den normativen Ambitionen der deutschen Rechtsordnung und deren Umsetzung durch die Behörden.“

In einer Meldung auf WELT.de vom 19.04.2022 heißt es: Der Rechtsprofessor Nils Melzer hat als UN-Sonderberichterstatter über Folter einige Fälle von brutalem Vorgehen der Polizei bei den Berliner Querdenken-Demos untersucht. Diese stehen aus seiner Sicht stellvertretend für eine verzerrte deutsche Wahrnehmung beim Umgang mit Polizeigewalt. Wenn sich daran nichts ändere, so suggeriert die Überschrift dieses Artikels, würde die Einhaltung von Menschenrechten auch in Deutschland eine Schönwetter-Demokratie voraussetzen.

Andernfalls ist man bloß eine Schönwetter-Demokratie“

06 Besinnung oder Neuorientierung?

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Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit sind nicht immer deckungsgleich.

Das aber sollte nicht der Maßstab für handelnde Staatsorgane sein, zumindest was die Wahrung und den Schutz der Menschenrechte anbelangt.

Wie sich die Polizei diesbezüglich anlässlich von Versammlungen verhält, lässt somit nicht nur Rückschlüsse auf das Demokratieverständnis der Institution Polizei, sondern gleichermaßen auch Rückschlüsse auf das Demokratieverständnis der für die Institution Polizei handelnden Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten zu.

Natürlich lässt sich alles schönreden, wenn es nicht gelingt, Bürgerproteste durch den Einsatz der Polizei sozialverträglich, sondern nur durch den Einsatz von Gewalt zu lösen.

Die reflexhafte Antwort darauf lautet: Es handelt sich um bedauerliche Einzelfälle. Zu dieser Argumentation neigen politische Verantwortung tragende Innenminister von Natur aus, und zwar auch dann, wenn die ihnen unterstellte Polizei versucht, diese Konflikte mit „der ganzen Härte des Gesetzes“ sozusagen aus der Welt zu schaffen, ohne zu wissen, was Politiker, die diese Formel gebetsmühlenhaft verwenden, damit eigentlich meinen.

Wie dem auch immer sei.

Die Polizei und die für die Polizei handelnden Amtswalter sind Seismographen eines erlebbaren Demokratieverständnisses.

Aber, was solls.

Bloß nichts falsch machen und trotzdem die ganze Härte des Gesetzes anwenden, das scheint die Devise der Polizei von heute zu sein.

07 Deeskalation setzt Kommunikation voraus

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Deeskalation endet nicht dort, wo Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte Demonstrantinnen und Demonstranten sozusagen auf Armlänge gegenüberstehen. Solange dort gesprochen wird, ist für Gewalt noch kein Raum, sowohl auf Seiten der Polizei, als auch auf Seiten der Demonstranten.

Sich daran zu erinnern kann nicht falsch sein.

Tröstlich ist, dass, diesen Gedanken aufgreifend, im Versammlungsgesetz des Landes NRW den § 3 VersG NRW (Zusammenarbeit) gibt, dessen Wortlaut ich als Schlussworte für diesen Einführungstext verwende:

§ 3 VersG NRW (Zusammenarbeit)
(1) Aufgabe der zuständigen Behörde ist es, die Durchführung der Versammlung vor Störungen zu schützen und von der Versammlung oder von Dritten auf die Versammlung oder ihre Teilnehmer ausgehende Gefahren für die öffentliche Sicherheit abzuwehren.
(2) Soweit es nach Art und Umfang der Versammlung erforderlich ist, bietet die zuständige Behörde der Person, die eine öffentliche Versammlung veranstaltet oder der die Leitung übertragen worden ist, rechtzeitig ein Kooperationsgespräch an, um die Gefahrenlage und sonstige Umstände zu erörtern, die für die ordnungsgemäße Durchführung der Versammlung wesentlich sind. Bestehen Anhaltspunkte für Gefahren, die gemäß § 13 Absatz 1 oder 2, § 23 Absatz 1 zu einem Verbot oder Beschränkungen führen können, ist Gelegenheit zu geben, durch ergänzende Angaben oder Veränderungen der beabsichtigten Versammlung ein Verbot oder Beschränkungen entbehrlich zu machen.
(3) Die Veranstalterin oder der Veranstalter einer öffentlichen Versammlung ist aufgerufen, mit den zuständigen Behörden zu kooperieren, insbesondere Auskunft über Art, Umfang und vorgesehenen Ablauf der Veranstaltung zu geben. Die Veranstalterin oder der Veranstalter ist zur Mitwirkung nicht rechtlich verpflichtet. Die zuständige Behörde soll die Mitwirkung der Veranstalterin oder des Veranstalters oder der die Versammlung leitenden Person jedoch bei Maßnahmen nach § 13 berücksichtigen.
(4) Im Rahmen der Kooperation informiert die zuständige Behörde die Person, die eine öffentliche Versammlung veranstaltet oder der die Leitung übertragen worden ist, vor und während der Versammlung über erhebliche Änderungen der Gefahrenlage, soweit dieses nach Art und Umfang der Versammlung erforderlich ist.

08 Schlüsselwörter

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Die Schlüsselwörter können als ein Kurzkommentar zum Versammlungsrecht verstanden werden. Sie können sowohl von der Startseite im Ordner VersR als auch durch einen Klick auf den folgenden Link aufgerufen werden.

Schlüsselwörter zum Versammlungsrecht

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