Einführungstext zu den Grundrechten
Inhaltsverzeichnis
01
Polizei und Grundrechtsschutz 02 Grundrechte 03
Wertegebundene Ordnung 04
Verfassungsgemäße Ordnung 05 Grundrechtsschranken
06 Verfassungsunmittelbare Schranken 07
Gesetzesvorbehalte 08 Grundrechtsimmanente Schranken
09 Grundrechte unter Ausgestaltungsvorbehalt 10
Schranken - Schranken 11
Grundrechtseingriff 12 Vorbehalt der Gesetze und
Gesetzmäßigkeit der Verwaltung 13 Verhältnismäßigkeit
14 Art 1 GG: Menschenwürde 15 Art 2 Abs.
1 GG: Allgemeine Handlungsfreiheit 16 Art 2 Abs. 1 GG:
Allgemeines Persönlichkeitsrecht (APR) 17 Art 2 Abs. 1
GG: Auffangtatbestand 18 Art 2 GG: Leben 19
Art 2 GG: Körperliche Unversehrtheit 20
Art 2 GG: Freiheit der Person 21 Art 3 GG: Gleichheit
vor dem Gesetz 22 Art 3 GG: Diskriminierungsverbot
23 Art 4 GG: Glaubens- und Gewissensfreiheit 24
Art 5 GG: Meinungsfreiheit 25 Art 6 GG: Familie und
Erziehung der Kinder 26 Art 7 GG: Schulpflicht
27 Art 8 GG: Versammlungsfreiheit 28 Art
9 GG: Vereinigungsfreiheit 29 Art 10 GG: Post- und
Fernmeldegeheimnis 30 Art 11 GG: Freizügigkeit
31 Art 12 GG: Freie Berufsausübung 32 Art
13 GG: Unverletzlichkeit der Wohnung 33 Art 14 GG:
Recht auf Eigentum 34 Art 15 GG:
Sozialisierung/Enteignung 35 Art 16 GG: Entzug der
Staatsangehörigkeit 36 Art 16a GG: Asylrecht 37
Art 17 GG: Petitionsrecht 38 Art 18 GG:
Verwirkung von Grundrechten 39 Art 19 GG: Zitiergebot –
Rechtsweggarantie – Wesensgehalt
01
Polizei und Grundrechtsschutz
TOP
Das „Wollen des Staates“ ist das „Sollen seiner Rechtsordnung“ sowie das
gesetzmäßige und rechtmäßige Handeln seiner Amtswalter. Der Staatswille kann
somit als ein System von Normen und menschlichem Verhalten verstanden
werden, die in ihrer Gesamtheit die staatliche Ordnung bilden, an deren
Spitze die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland steht: das Grundgesetz.
Das „Sollen des Grundgesetzes“ geht von der Vorstellung aus, dass es
vorrangige Aufgabe des Staates und seiner Amtswalter ist, die Grundrechte
der Menschen zu achten und zu schützen, die der staatlichen Regelungsgewalt
unterworfenen sind. Diese Selbstverpflichtung geht so weit, dass Menschen
einen Rechtsanspruch darauf haben, vor rechtswidrigen Eingriffen durch den
Staat geschützt zu werden. Was das für den einzelnen Amtswalter, also für
jede Polizeibeamtin und jeden Polizeibeamten bedeutet, das drückt der § 36
des Beamtenstatusgesetzes (BeamtSG) wie folgt aus:
§ 36 Abs. 1 Satz 1 BeamtStG
(Verantwortung für die Rechtmäßigkeit)
(1) Beamtinnen und Beamte tragen für die
Rechtmäßigkeit ihrer dienstlichen Handlungen die volle persönliche
Verantwortung. [...].
Für die Polizei, bei der es sich um ein
mit Zwangsbefugnissen ausgestattetes staatliches Exekutivorgan handelt,
bedeutet dies, dass die für die Polizei tätig werden Amtswalter die
Grundrechte nicht nur zu achten und zu schützen, sondern diese sozusagen zum
Leitbild ihres polizeilichen Berufsverständnisses zu machen haben.
Art 1 Abs. 1 GG:
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie
zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Art 30 Abs. 3 GG:
(3) Die Gesetzgebung ist an die
verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung
sind an Gesetz und Recht gebunden.
Natürlich gehört es auch zu
den polizeilichen Kernaufgaben, für Sicherheit und Ordnung im Rahmen der
verfassungsgemäßen Ordnung im Staate zu sorgen. Der Wunsch nach
hundertprozentiger Sicherheit hat jedoch , man mag das beklagen, dazu
geführt, dass Risiken möglichst umfassend ausgeräumt werden sollen. Weil das
Reservoir möglicher Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aber
unendlich ist, mündet dieses Sicherheitsstreben zu immer neuen Maßnahmen der
Prävention und der Vorsorge durch die Polizei, verbunden mit der von der
Politik erhobenen Forderung, die ganze Härte des Gesetzes diejenigen spüren
zu lassen, die bestehende Regeln nicht beachten bzw. nicht beachten wollen.
Nicht umsonst haben die Mitglieder des Parlamentarischen Rates, die
1948/49 über den Wortlaut des zu verabschiedenden Grundgesetzes bereiten,
das Wort Sicherheit wieder aus dem Wortlaut des Artikels 2 GG wieder
entfernt, weil niemand so ganz genau wusste, was damit eigentlich gemeint
ist. Daran scheint sich bis heute nur insoweit etwas geändert zu haben, als
dass immer mehr Sicherheit nicht verkehrs sein kann. Bei dieser Sichtweise
könnte es sich aber auch um eine demokratiegefährdende Fehleinschätzung
handeln.
Wie dem auch immer sei. Diese Entwicklung fordert die
Polizei zunehmend heraus, weil die damit verbundene neue Bedeutung von
Prävention und Vorsorge die Erwartungshaltung beinhaltet, Gefahren und
Kriminalität bereits im Vorfeld zu unterbinden zu müssen, zu sollen bzw. zu
wollen. Anders ausgedrückt: Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte sollen
Terroranschlage verhindern und Gefährder identifizieren, um erst gar nicht
Wirklichkeit werden zu lassen, was die verfassungsgemäße Ordnung stören
könnte. Die technischen Mittel, die zur Errichtung dieses Ziels vermehrt
eingesetzt werden bezeichnen Kritiker - und das durchaus nachvollziehbaren
Gründen, als einen Weg in den modernen Überwachungsstaat.
Andere
halten den Einsatz solcher Mittel als einen unvermeidbaren Weg der
Verteidigung der Demokratie. Dass diese Entwicklung dennoch als eine Gefahr
für den "Schutz von Menschen vor staatlichen Eingriffen in ihre Grundrechte"
verstanden werden kann, soll an dieser Stelle nur festgestellt werden, denn
jegliche Form von Wachstum stößt an Grenzen.
02
Grundrechte
TOP
Als Grundrechte im Sinne des Grundgesetzes gelten alle den Normadressaten
durch die Verfassung gewährleisteten Rechtspositionen, die im Wege der
Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden können, wenn die Klage zulässig
ist (materieller Grundrechtsbegriff).
Danach zählen unstreitig zu den Grundrechten die in
den Art. 2 - 19 GG enthaltenen Gewährleistungen sowie die
grundrechtsgleichen Rechte in den Artikeln 20, 33, 38, 101, 102, 103 und 104
GG.
03 Wertegebundene
Ordnung
TOP
Das
Grundgesetz ist wertegebunden. Indem der Verfassungsgeber die Grundrechte an
den Anfang stellt, wird deutlich, dass es sich bei diesen Rechten um eine
Werteordnung handelt, in der sich - eine soziale Gemeinschaft vorausgesetzt
- die menschliche Persönlichkeit frei entfalten kann. Um diesem
Freiheitsgedanken Ausdruck, Schutz und Bestand zu verleihen, haben die
Verfassungsgeber die Organisation und den Aufbau des Staates Bundesrepublik
Deutschland (Staatsformmerkmale, Organe und Aufgaben des Staates) so
konstituiert, dass ein Leben in Sicherheit und Freiheit dauerhaft
gewährleistet werden kann. Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung sind
der Werteordnung des Grundgesetzes in ihrer Gesamtheit im besonderen Maße
verpflichtet, siehe Artikel 20 GG.
Art 20 GG
(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein
demokratischer und sozialer Bundesstaat.
(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie
wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der
Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
(3) Die Gesetzgebung ist an die
verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung
sind an Gesetz und Recht gebunden.
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese
Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn
andere Abhilfe nicht möglich ist.
04
Verfassungsgemäße Ordnung
TOP
Die verfassungsmäßige Ordnung, das ist ein unbestimmter Rechtsbegriff,
der nicht nur im Art. 2 Abs. 1 GG, sondern auch an anderer Stelle im
Grundgesetz verwendet wird, hat durch die Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts eine besondere Bedeutung erlangt. Nach Ansicht des
Gerichts ist unter der verfassungsmäßigen Ordnung die gesamte mit der
Verfassung in Einklang stehende Rechtsordnung zu verstehen.
BVerfG 1957: Verfassungsmäßige
Ordnung im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG ist die verfassungsmäßige
Rechtsordnung, d. h. die Gesamtheit der Normen, die formell und materiell
der Verfassung gemäß sind. [...]. Wird, wie [...] gezeigt, in Art. 2 Abs. 1
GG mit der freien Entfaltung der Persönlichkeit die allgemeine
Handlungsfreiheit gewährleistet, die - soweit sie nicht Rechte anderer
verletzt oder gegen das Sittengesetz verstößt - nur an die verfassungsmäßige
Ordnung gebunden ist, so kann unter diesem Begriff nur die allgemeine
Rechtsordnung verstanden werden, die die materiellen und formellen Normen
der Verfassung zu beachten hat, also eine verfassungsmäßige Rechtsordnung
sein muss.
BVerfG, Urteil vom 16.01.1957 - 1 BVR 253/56
In diesem Sinne bezeichnet auch das OVG Münster die verfassungsmäßige
Ordnung als eine verfassungsgemäße Ordnung, die gemäß der Verfassung
aufgebaut ist und somit als die von der Verfassung geschaffene Rechtsordnung
anzusehen ist.
-
Parlamentsgesetze (Bundes- und Landesgesetze)
-
Rechtsverordnungen (Bund, Land, andere Träger öffentlicher Verwaltung)
-
Satzungen
-
Richterrecht
-
Gewohnheitsrecht.
Hinweis: Richterrecht wird nicht
von der Legislative (Parlamentsgesetz) oder Exekutive gesetzt, sondern
entsteht in der Rechtsprechung.
05
Grundrechtsschranken
TOP
Die Grundrechte gewährleisten keine absoluten Freiheiten. Damit ein
friedliches Zusammenleben möglich ist, darf jeder seine Rechte nur in dem
Umfang ausüben, dass dadurch weder die Rechte anderer noch wichtige
Gemeinschaftsinteressen beeinträchtigt werden.
Zu unterscheiden sind folgende
Grundrechtsschranken:
-
Verfassungsunmittelbare Schranken, die sich
unmittelbar aus dem Verfassungstext ergeben
-
Gesetzesvorbehalte durch Gesetz (qualifizierter
Gesetzesvorbehalt) Auf Grund eines Gesetzes (einfacher
Gesetzesvorbehalt)
-
Grundrechtsimmanente Schranken, die jedem
Grundrecht innewohnen, das sozusagen schrankenlos gewährt wird.
06
Verfassungsunmittelbare Schranken
TOP
Verfassungsunmittelbare Schranken ergeben sich unmittelbar aus der
Grundrechtsnorm. So sind gem. Art. 9 Abs. 2 GG Vereine verboten, deren
Zwecke den Strafgesetzen zuwiderlaufen. Gemäß Art. 8 Abs. 1 GG genießen nur
solche Versammlungen den Schutz des Grundrechts, die friedlich und ohne
Waffen durchgeführt werden.
07
Gesetzesvorbehalte
TOP
Ein einfacher Gesetzesvorbehalt ist gegeben, wenn der Gesetzgeber ein
Grundrecht sowohl durch Gesetz als auch auf Grund eines Gesetzes
einschränken darf. Qualifizierter Gesetzesvorbehalt: Ein qualifizierter
Gesetzesvorbehalt ist gegeben, wenn ein Grundrecht nur durch förmliches
Gesetz, also auf Grund eines Parlamentsgesetzes, eingeschränkt werden darf,
siehe zum Beispiel Art 2 Abs. 2 GG.
Dort heißt es:
(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche
Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte
darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.
Einfacher Gesetzesvorbehalt: Das
bedeutet, dass auch Regelungen, die nicht vom Parlament, sondern von dazu
gesetzlich legitimierten Verordnungsgebern erlassen werden können, ebenfalls
unter die Sprachfigur des "Gesetzesvorbehaltes" zu subsumieren sind. Das ist
zum Beispiel bei der Straßenverkehrsordnung der Fall, einem "materiellen
Gesetz", bei dem es sich nicht um ein Parlamentsgesetz, sondern um eine
Rechtsverordnung handelt.
08
Grundrechtsimmanente Schranken
TOP
Die Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) und die Kunstfreiheit (Art. 5
Abs. 3 GG) sind vom Wortlaut des GG her nicht einschränkbar. Dennoch ist
unbestritten, dass Grundrechte nicht grenzenlos gewährt werden, sondern so
genannten „verfassungsimmanenten Schranken“ unterliegen.
Unter „verfassungsimmanenten Schranken“ versteht
man ungeschriebene Grundrechtsbegrenzungen, die zur Anwendung kommen, wenn
unterschiedliche Verfassungsgüter beim Gebrauch grundrechtlich garantierter
Freiheiten miteinander kollidieren. Nach h.M. finden vorbehaltlose
Grundrechte jedoch ihre Grenzen in den verfassungsimmanenten Schranken, also
in den Grundrechten Dritter und in sonstigen Rechtsgütern von
Verfassungsrang.
Die schwächere Norm, also das Grundrecht, das auf
„Kosten anderer Grundrechtsträger übergebührlich in Anspruch genommen wird“,
darf aber nur insoweit zurückgedrängt werden, wie das logisch und
systematisch zwingend (verhältnismäßig) erscheint; ihr sachlicher
Grundwertgehalt muss in jedem Fall respektiert werden. Im Zusammenhang
mit der Ausübung der Religionsfreiheit, einem Grundrecht, das keinen
Schranken unterliegt, heißt es in einem Beschluss des BVerfG aus dem Jahr
2020 wie folgt:
BVerfG 2020: Einschränkungen von
Art. 4 Abs. 1 und 2 GG müssen sich aus der Verfassung selbst ergeben, weil
dieses Grundrecht keinen Gesetzesvorbehalt enthält. Zu solchen
verfassungsimmanenten Schranken zählen die Grundrechte Dritter sowie
Gemeinschaftswerte von Verfassungsrang. Die Einschränkung bedarf überdies
einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage.[...]. Als weitere
verfassungsimmanente Schranke der Religionsfreiheit ist hier die
Funktionsfähigkeit der Rechtspflege insgesamt zu berücksichtigen, die zu den
Grundbedingungen des Rechtsstaats zählt und im Wertesystem des Grundgesetzes
fest verankert ist, da jede Rechtsprechung letztlich der Wahrung der
Grundrechte dient.
BVerfG, Beschluss vom 14. Januar 2020 - 2 BvR
1333/17
Für Eingriffe in schrankenlos gewährte Grundrechte
ist immer eine Ermächtigungsgrundlage nachzuweisen, die sich aus einem
förmlich erlassenen Parlamentsgesetz ergibt.
09
Grundrechte unter Ausgestaltungsvorbehalt
TOP
Einige Grundrechte stehen unter
einem Ausgestaltungsvorbehalt durch den Gesetzgeber. So bestimmt z.B. Art.
12 GG, dass die Berufsausübung durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes
geregelt werden kann. Gesetze, durch die die Ausgestaltung erfolgt,
schränken dieses Grundrecht nicht ein, sondern konkretisieren lediglich den
Schutzbereich des jeweiligen Grundrechtes. Weitere Grundrechte unter
Ausgestaltungsvorbehalt sind Art. 4 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 7 Abs.
4 GG, Art. 14 GG und Art. 38 Abs. 1 GG.
10
Schranken - Schranken
TOP
Schranken-Schranken sind keine Grundrechtsschranken. Es handelt sich
dabei um Anforderungen an den Gesetzgeber, die dieser bei der Einschränkung
von Grundrechten durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes zu beachten hat.
Folgende Schranken hat der Gesetzgeber bei der
Einschränkung von Grundrechten zu beachten:
-
VVerbot von Einzelfallgesetzen (Art. 19 Abs. 1
Satz 1 GG)
-
Zitiergebot (Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG)
-
Wesensgehaltsgarantie (Art. 19 Abs. 2 GG)
-
Verhältnismäßigkeit grundrechtseinschränkender
Normen unter Beachtung der Ausstrahlungswirkung der dadurch
beeinträchtigten Grundrechte.
11
Grundrechtseingriff
TOP
In Bezug auf Grundrechtseingriffe, die von der Polizei durchgeführt
werden, kann die nachfolgend zitierte Stelle aus einem Beschluss des BVerfG
aus dem Jahr 2002 durchaus als eine Legaldefinition der Sprachfigur
„Grundrechtseingriff“ angesehen werden.
BVerfG 2002: Danach wird unter
einem Grundrechtseingriff im Allgemeinen ein rechtsförmiger Vorgang
verstanden, der unmittelbar und gezielt (final) durch ein vom Staat
verfügtes, erforderlichenfalls zwangsweise durchzusetzendes Ge- oder Verbot,
also imperativ, zu einer Verkürzung grundrechtlicher Freiheiten führt.
[...]. Unter der Geltung des Grundgesetzes ist der Grundrechtsschutz nicht
auf Eingriffe im herkömmlichen Sinne begrenzt, sondern auf faktische und
mittelbare Beeinträchtigungen ausgedehnt worden.
BVerfG, Beschluss vom
26. Juni 2002 - 1 BvR 670/91
12
Vorbehalt der Gesetze und Gesetzmäßigkeit der Verwaltung
TOP
Eingriffe in Grundrechte
stehen unter dem „Vorbehalt der Gesetze“. Dieser Grundsatz wird zwar im
Grundgesetz nicht ausdrücklich erwähnt, seine Geltung ergibt sich jedoch in
Anlehnung an die herrschende Meinung aus Art 20 Abs. 3 GG. Gleiches gilt
auch für den Grundsatz der „Gesetzmäßigkeit der Verwaltung“.
Während sich der erste Grundsatz an den Gesetzgeber
richtet, wendet sich der zweite Grundsatz an die öffentliche Verwaltung und
somit auch an die Polizei. Er bedeutet nichts anderes, als dass von den
Amtswaltern von Behörden geltende Gesetze richtig, also rechtsfehlerfrei,
anzuwenden sind.
Beide Grundsätze gehören zu den tragenden
Prinzipien der rechtsstaatlichen und demokratischen Ordnung im
Geltungsbereich des Grundgesetzes. Amtswalter, die geltendes Recht anwenden,
können darauf vertrauen, dass das Recht, das sie anwenden,
verfassungsrechtlichen Anforderungen entspricht. Es gehört nicht zu den
Aufgaben von Amtswaltern und somit auch nicht zu den Aufgaben von
Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten, geltendes Recht auf seine
Verfassungsmäßigkeit zu prüfen.
Die oben genannten Grundsätze ergeben sich aus dem
Artikel 20 GG.
Art 20 GG
(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein
demokratischer und sozialer Bundesstaat.
(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie
wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der
Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
(3) Die Gesetzgebung ist an die
verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung
sind an Gesetz und Recht gebunden.
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese
Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn
andere Abhilfe nicht möglich ist.
13
Verhältnismäßigkeit
TOP
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der zwar nicht im Grundgesetz
enthalten, wohl aber für die gesamte Rechtsordnung in der Bundesrepublik
Deutschland bestimmend ist, gilt für alle staatlichen Maßnahmen.
Seine Wirkung entfaltet dieses
Verfassungsprinzip auf drei Ebenen:
-
Geeignetheit
-
Erforderlichkeit und
-
Verhältnismäßigkeit
Dem Verhältnismäßigkeitsprinzip liegt der Gedanke
zugrunde, das alle Staatsorgane und somit auch alle Behörden dafür Sorge
tragen müssen, dass stets ein angemessenes Verhältnis zwischen dem
angestrebten Zweck und der zur Zweckerreichung für erforderlich gehaltenen
Maßnahmen herbeizuführen ist.
Mit anderen Worten: Belange des
Allgemeinwohls müssen überwiegen, um Eingriffe in Grundrechte rechtfertigen
zu können. Das bedeutet, dass im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung
immer eine Abwägung zwischen dem "Interesse an der Erfüllung einer
polizeilichen Aufgabe" und der "Schwere des Eingriffs, die ein Adressat
einer polizeilichen Maßnahme zu dulden hat", vorzunehmen ist. Diese
Einzelfallprüfung muss zu dem nachvollziehbaren Ergebnis kommen, dass das
polizeilich zu verfolgende Ziel höher zu bewerten ist, als der zu duldende
Grundrechtseingriff. Ist die Verhältnismäßigkeit im Einzelfall nicht
gegeben, führt das zur Rechtswidrigkeit der Maßnahme.
BVerfG 1965:
In der Bundesrepublik Deutschland hat der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
verfassungsrechtlichen Rang. Er ergibt sich aus dem Rechtsstaatsprinzip, im
Grunde bereits aus dem Wesen der Grundrechte selbst, die als Ausdruck des
allgemeinen Freiheitsanspruchs des Bürgers gegenüber dem Staat von der
öffentlichen Gewalt jeweils nur so weit beschränkt werden dürfe.
BVerfG, Beschluss vom
15.12.1965 - 1 BvR 513/65
14
Art 1 GG: Menschenwürde
TOP
Polizeibezug: Es ist immer die Umwelt, die das
Verhalten von Personen bestimmt, die in den jeweils vorgefundenen
Lebenssituationen aufeinandertreffen. Von Polizeibeamtinnen und
Polizeibeamten muss trotz aller Schwierigkeiten, die der polizeiliche
Berufsalltag mit sich bringt, erwartet werden können, dass sie durch ihr
Verhalten im Rahmen des menschlich Möglichen die Würde ihres jeweiligen
polizeilichen Gegenübers achten und schützen. Was im Übrigen die Würde eines
Amtsträgers im Rahmen seiner Berufsausübung ausmacht. Das bedeutet, dass
Diskriminierungen jeglicher Art von Amtswaltern zu unterlassen sind, denn
Diskriminierungen sind nichts anderes, als Verletzungen der Menschenwürde.
Anders ausgedrückt: Die Würde des
Menschen ist zwar unantastbar, aber tastbar.
Diese Wahrheit wird jede Leserin und jeder Leser
dieser Zeilen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bereits
mehrfach selbst erfahren haben. Aus verfassungsrechtlicher Sicht muss
dennoch von Amtswaltern ein Verhalten erwartet und auch eingefordert werden
können, das mit dem Menschenbild des Grundgesetzes vereinbar ist. Das
bedeutet, kommunikatives Verhalten, das Aspekte von Missachtung, Verachtung,
rassistischem Denken, Geringschätzung, Herabsetzung, Hohn oder Nichtachtung
zum Ausdruck bringt, ist nichts anderes, als eine Verletzung der Würde des
jeweiligen Menschen, der solch ein Verhalten erleben muss.
Mit anderen Worten:
Artikel 1 GG enthält eine Verpflichtung an jede
Polizeibeamtin und an jeden Polizeibeamten, sich nicht nur einer ständigen
Selbstbeobachtung und Selbstkorrektur zu unterziehen, die, so zumindest
sollte es sein, auch durch die Organisation Polizei selbst und insbesondere
auch durch Vorgesetzte, im Berufsalltag gefördert und auch vorgelebt werden
muss, denn nur so kann sich daraus eine Gewohnheit entwickeln. Das setzt
natürlich voraus, dass die gesamte Organisation Polizei sich der Tatsache
bewusst sein muss, dass nur Selbstkontrolle und Selbsterziehung einen
Zustand zu schaffen vermögen, dass dem Menschenbild des Grundgesetzes
tatsächlich entspricht. Das dürfte eine niemals endende Aufgabe sein. Sie
sollte auch auf den Lehrplänen von Fachhochschulen an oberster Stelle
stehen.
B.F. Skinner – Jenseits von
Freiheit und Würde: Freiheit ist ein Problem, das durch die aversiven
Konsequenzen (einander widerstrebenden Wirkungen) von Verhalten entsteht,
während Würde mit positiver Verstärkung zu tun hat. Wenn sich jemand auf
eine Weise verhält, die wir für verstärkend halten, ermutigen wir solches
Verhalten, indem wir ihn loben oder rühmen. Wir applaudieren einem
darstellenden Künstler, damit er seine Darstellung wiederholt.
Diese Verstärkung sollte, wie oben bereits
angedeutet, nach der hier vertretenen Auffassung in der Ausbildung von
Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten einen wesentlichen Stellenwert
einnehmen und im Anschluss daran, sozusagen als ein lebenslanger
Lernprozess, auch in der polizeilichen Berufspraxis erlebt und kultiviert
werden, auch wenn das zugegebenermaßen nicht einfach ist.
Dennoch: Demokratie setzt Amtswalter voraus, die das Menschenbild
des Grundgesetzes leben. Es reicht nicht aus, es bloß zu kennen. Um mit den
Worten von B. F. Skinner diesen Gedanken abzurunden, ist festzustellen, dass
es wirklich eine Kunst ist, Demokratie unter Verzicht auf Diskriminierungen
zu leben. Davon war bereits Immanuel Kant überzeugt, als er in seinem
Essay „Zum ewigen Frieden“, das 1796 in zweiter Auflage erschien, schrieb:
Diese Aufgabe ist daher die schwerste unter
allen; ja ihre vollkommene Auflösung ist unmöglich; aus so krummem Holze,
als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert
werden.
Schutzbereich: Unter welchen
Umständen die Menschenwürde verletzt ist, lässt sich nicht generell
beantworten. In früheren Entscheidungen ging das Bundesverfassungsgericht
von der so genannten Objektformel aus.
BVerfG 1977: Die Menschenwürde stellt den höchsten
Rechtswert innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung dar. Sie kann keinem
Menschen genommen werden. Achtung und Schutz der Menschenwürde gehören zu
den Konstitutionsprinzipien des Grundgesetzes. Die freie menschliche
Persönlichkeit und ihre Würde stellen den höchsten Rechtswert innerhalb der
verfassungsmäßigen Ordnung dar. Der Staatsgewalt ist in allen ihren
Erscheinungsformen die Verpflichtung auferlegt, die Würde des Menschen zu
achten und sie zu schützen. [...]. Dem liegt die Vorstellung vom Menschen
als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt ist, in
Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich zu entfalten. Diese Freiheit
versteht das Grundgesetz nicht als diejenige eines isolierten und
selbstherrlichen, sondern als die eines gemeinschaftsbezogenen und
gemeinschaftsgebundenen Individuums. Sie kann im Hinblick auf diese
Gemeinschaftsgebundenheit nicht „prinzipiell unbegrenzt“ sein. Der Einzelne
muss sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die
der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den
Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht; doch
muss die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleiben. Dies bedeutet, dass
auch in der Gemeinschaft grundsätzlich jeder Einzelne als gleichberechtigtes
Glied mit Eigenwert anerkannt werden muss. Es widerspricht daher der
menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt im Staate zu machen. Der
Satz, „der Mensch muß immer Zweck an sich selbst bleiben“, gilt
uneingeschränkt für alle Rechtsgebiete; denn die unverlierbare Würde des
Menschen als Person besteht gerade darin, dass er als selbstverantwortliche
Persönlichkeit anerkannt bleibt.
BVerfG, Urteil vom 21.
Juni 1977 – 1 BvL 14/76
Doch wann ist das der Fall?
Schließlich gibt es mannigfache Beispiele, in denen sich der Staat ohne
Rücksicht auf den Willen von Betroffenen durchsetzt und ohne dass deswegen
ernsthaft Verletzungen der Menschenwürde behauptet werden
(Steuereintreibung, Verurteilung zu Strafen, Durchsuchung von Wohnungen,
Festnahme von Personen, Anwendung von Zwang).
In Anlehnung an die
Rechtsprechung der Richter des Bundesverfassungsgerichts ist davon
auszugehen, dass sich die Menschenwürde nur zeit- und situationsabhängig
beschreiben lässt, was in jedem Fall eine Bewertung des Einzelfalls
erforderlich macht.
BVerfG 2020:
Bei der Bestimmung von Inhalt und Reichweite des – nicht abschließend
umschriebenen – Schutzbereichs des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist zu
berücksichtigen, dass die Würde des Menschen unantastbar ist und gegenüber
aller staatlichen Gewalt Achtung und Schutz beansprucht. Von der Vorstellung
ausgehend, dass der Mensch in Freiheit sich selbst bestimmt und entfaltet,
umfasst die Garantie der Menschenwürde insbesondere die Wahrung personaler
Individualität, Identität und Integrität. Damit ist ein sozialer Wert- und
Achtungsanspruch verbunden, der es verbietet, den Menschen zum „bloßen
Objekt“ staatlichen Handelns zu machen oder ihn einer Behandlung
auszusetzen, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt. Die
unverlierbare Würde des Menschen als Person besteht hiernach darin, dass er
stets als selbstverantwortliche Persönlichkeit anerkannt bleibt. Zwar ist
das Leben die vitale Basis der Menschenwürde. Daraus kann jedoch nicht der
Schluss gezogen werden, dass eine auf einen freien Willen zurückgehende
Selbsttötung der in Art. 1 Abs. 1 GG garantierten Menschenwürde
widerspräche. Die Menschenwürde, die dem Einzelnen ein Leben in Autonomie
gewährleistet, steht der Entscheidung des zur freien Selbstbestimmung und
Eigenverantwortung fähigen Menschen, sich zu töten, nicht entgegen.
BVerfG, Urteil vom 26.
Februar 2020 - 2 BvR 2347/15
15
Art 2 GG: Allgemeine Handlungsfreiheit
TOP
Polizeibezug:
Durch eine Vielzahl polizeilicher Maßnahmen wird die allgemeine
Handlungsfreiheit tangiert. Dafür immer den Rechtsbegriff
„Grundrechtseingriff“ zu verwenden, fällt in vielen Fällen wegen der
Geringfügigkeit der jeweils zu treffenden Maßnahmen schwer, zumal auch die
Richter des BVerfG davon ausgehen, „dass der Einzelne Einschränkungen seiner
Grundrechte hinzunehmen hat, wenn überwiegende Allgemeininteressen dies
rechtfertigen“, siehe Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juli
1999 - 1 BvR 2226/94.
Davon kann zB ausgegangen werden, wenn
Fahrzeugführer anlässlich von Verkehrskontrollen aufgefordert werden,
Führerschein und Fahrzeugschein zu Kontrollzwecken auszuhändigen, oder auf
Fragen eine Antwort geben sollen, durch die sich eine befragte Personen
selbst nicht belastet.
Aber auch bei formellen Befragungen, zu denen
insbesondere Vernehmungen gehören, handelt es sich um Eingriffe in die
allgemeine Handlungsfreiheit. Die Folge davon ist, dass einer Vernehmung
immer eine Belehrung vorausgegangen sein muss, denn niemand ist dazu
verpflichtet ist, sich selbst zu belasten.
Auch ein Verbot der
Weiterfahrt, weil ein kontrolliertes Fahrzeug sich nicht in einem
verkehrssicheren Zustand befindet, berührt das Grundrecht der allgemeinen
Handlungsfreiheit genauso, wie die Aufforderung an Personen, einen Ort zu
verlassen oder diesen nicht zu betreten. Auch Weisungen, etwas zu tun oder
zu unterlassen, zum Beispiel, die Musik leiser zu stellen, damit die
Nachbarn schlafen können, berührt die allgemeine Handlungsfreiheit. Die
Anlässe polizeilicher Maßnahmen, die durch so genannte mündliche Verfügungen
sich an die allgemeine Handlungsfreiheit von Personen richten, sind so
vielfältig, dass die bisherigen Ausführungen ausreichen sollten, zumindest
ein Vorstellungsbild darüber zu bekommen, was für einen Stellenwert das
Grundrecht der „allgemeinen Handlungsfreiheit“ im polizeilichen Berufsalltag
einnimmt.
Hinweis: Werden Personen von der Polizei zu
Kontrollzwecken angehalten, dann ist die dafür erforderliche Zeit nicht als
ein Eingriff in die Bewegungsfreiheit, sondern lediglich als ein Eingriff in
die allgemeine Handlungsfreiheit zu bewerten, da es sich bei einem Anhalten
zu Kontrollzwecken in den weitaus meisten Fällen um eine polizeiliche
Maßnahme handelt, die kaum mehr als 10 Minuten in Anspruch nimmt.
Schutzbereich: Art. 2 Abs. 1 GG schützt die allgemeine
Handlungsfreiheit, soweit nicht die Rechte anderer verletzt werden und nicht
gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstoßen wird.
Umstritten ist, ob nur der Kernbereich der Persönlichkeit erfasst wird,
damit sich der Einzelne als geistig sittliche Persönlichkeit entfalten kann
(Kernbereichstheorie) oder ob der Schutzbereich von Art. 2 Abs. 1 GG weiter
reicht. Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, dass Art. 2 Abs. 1
GG die Handlungsfreiheit umfassend schützt (allgemeine Handlungsfreiheit).
BVerfG 1957: Das
Grundgesetz kann mit der „freien Entfaltung der Persönlichkeit“ nicht nur
die Entfaltung innerhalb jenes Kernbereichs der Persönlichkeit gemeint
haben, der das Wesen des Menschen als geistig-sittliche Person ausmacht;
denn es wäre nicht verständlich, wie die Entfaltung innerhalb dieses
Kernbereichs gegen das Sittengesetz, die Rechte anderer oder sogar gegen die
verfassungsmäßige Ordnung einer freiheitlichen Demokratie sollte verstoßen
können. Gerade diese, dem Individuum als Mitglied der Gemeinschaft
auferlegten Beschränkungen zeigen vielmehr, dass das Grundgesetz in Art. 2
Abs. 1 GG die Handlungsfreiheit im umfassenden Sinne meint.
BVerfG, Urteil vom 16.01.1957 - 1 BVR 253/56
Diese extensive Auslegung entspricht auch dem Wortlaut des
Entwurfs des Parlamentarischen Rates zu Art. 2 Abs. 1 GG aus dem Jahr
1948/49, der aber verworfen wurde. In der Urfassung hieß es:
Jeder kann tun und lassen, was er will, soweit
er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige
Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
16 Art 2 Abs. 1 GG: Allgemeines Persönlichkeitsrecht
(APR)
TOP
Polizeibezug: Bei polizeilichen Maßnahmen, die das allgemeine
Persönlichkeitsrecht berühren, handelt es sich in den überwiegenden Fällen
um bedeutsame Eingriffe in Persönlichkeitsrechte.
Beispiele:
-
Aktivieren einer Cockpit-Kamera zum Zwecke der
Bildaufzeichnung einer
-
Verkehrskontrolle
-
Aktivieren einer Body-Cam zur Eigensicherung
-
Durchsuchung einer Person zur Eigensicherung
-
Durchführung eines Datenabgleichs
-
Durchführung von Observationen
-
Fotografieren und Videografieren von Personen
-
Eingriffe in das Recht auf informationelle
Selbstbestimmung.
Bei allen oben genannten Eingriffen in das APR
handelt es sich um polizeiliche Maßnahmen, die den Nachweis von
Ermächtigungen voraussetzen, die sich aus förmlichen Parlamentsgesetzen, zum
Beispiel aus dem Polizeigesetz oder aus der Strafprozessordnung ergeben.
Im Gegensatz dazu sind Eingriffe in die allgemeine Handlungsfreiheit
auch auf der Grundlage von Rechtsverordnungen zulässig. Beispiel: Allgemeine
Verkehrskontrollen dürfen auf der Grundlage von § 36 StVO (Zeichen und
Weisungen der Polizeibeamten) durchgeführt werden. Bei der StVO handelt es
sich um eine Rechtsverordnung.
Schutzbereich: Das
Bundesverfassungsgericht hat zum besonderen Schutz der privaten Sphäre im
inhaltlichen Zusammenhang zu Art 1 GG das allgemeine Persönlichkeitsrecht
(APR) fallspezifisch entwickelt. Zum Schutz der Privat-, Intim- und
Sozialsphäre des Einzelnen wurden bedeutsame Rechtspositionen aus dem APR
abgeleitet.
BVerfG 2019:
Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt die freie Entfaltung der
Persönlichkeit und bietet dabei insbesondere auch Schutz vor einer
personenbezogenen Berichterstattung und Verbreitung von Informationen, die
geeignet sind, die Persönlichkeitsentfaltung erheblich zu beeinträchtigen.
Eine wesentliche Gewährleistung ist der Schutz vor Äußerungen, die geeignet
sind, sich abträglich auf das Ansehen der Person, insbesondere ihr Bild in
der Öffentlichkeit, auszuwirken. Die Rechtsprechung hat aus dem Grundrecht
insoweit verschiedene Schutzdimensionen abgeleitet wie den Schutz eines
unantastbaren Bereichs privater Lebensgestaltung, die Garantie der
Privatsphäre, das Recht am eigenen Bild oder gesprochenen Wort oder das
Recht auf die Darstellung der eigenen Person, die soziale Anerkennung sowie
die persönliche Ehre. Diese Schutzgehalte werden insoweit aber nicht als
abschließend umschriebene und voneinander abzugrenzende Gewährleistungen
verstanden, sondern als Ausprägungen, die in Blick auf den konkreten
Schutzbedarf jeweils anhand des zu entscheidenden Falles herauszuarbeiten
sind. [...]. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst nach ständiger
Rechtsprechung als eigenständige Ausprägung auch das Recht auf
informationelle Selbstbestimmung. Danach setzt die freie Entfaltung der
Persönlichkeit unter den modernen Bedingungen der Datenverarbeitung den
Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und
Weitergabe seiner persönlichen Daten voraus. Das Grundrecht gewährleistet
damit die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe
und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen. Wer nicht mit
hinreichender Sicherheit überschauen kann, welche ihn betreffenden
Informationen in bestimmten Bereichen seiner sozialen Umwelt bekannt sind,
und wer das Wissen möglicher Kommunikationspartner nicht einigermaßen
abzuschätzen vermag, kann in seiner Freiheit wesentlich gehemmt werden, aus
eigener Selbstbestimmung zu planen oder zu entscheiden.
BVerfG, Beschluss vom
06. November 2019 - 1 BvR 16/13
Aus dem APR
abgeleitete Rechtspositionen im Überblick:
-
Recht auf informationelle Selbstbestimmung
(RiS)
-
Integrität informationstechnischer Systeme
-
Schutz der Ehre
-
Recht am eigenen Bild
-
Recht am eigenen Wort
-
Recht auf Gegendarstellung
-
Schutz der Intim-, Privat- und Sozialsphäre.
17 Art 2
Abs. 1 GG: Auffangtatbestand
TOP
Nach h. M. ist die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) als
ein Auffangtatbestand ausgestaltet. Es ergänzt als „unbenanntes“
Freiheitsrecht die im GG speziell gewährten Freiheitsrechte. Der
Rechtssprechung gibt dieser Auffangtatbestand die Möglichkeit, nicht im
Grundgesetz enthaltenen „Freiheitsrechten“ Grundrechtsqualität zuzusprechen.
Mehr dazu in der folgenden Randnummer.
BVerfG 1989: Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ergänzt
als „unbenanntes“ Freiheitsrecht die speziellen („benannten“)
Freiheitsrechte, die, wie etwa die Gewissens- oder die Meinungsfreiheit,
ebenfalls konstituierende Elemente der Persönlichkeit schützen. Seine
Aufgabe ist es, im Sinne des obersten Konstitutionsprinzips der Würde des
Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) die engere persönliche Lebenssphäre und die
Erhaltung ihrer Grundbedingungen zu gewährleisten, die sich durch die
traditionellen Freiheitsgarantien nicht vollständig erfassen lassen; diese
Notwendigkeit besteht namentlich auch im Blick auf moderne Entwicklungen und
die mit ihnen verbundenen neuen Gefährdungen für den Schutz der menschlichen
Persönlichkeit. Wegen der Eigenart des allgemeinen Persönlichkeitsrechts hat
die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den Inhalt des geschützten
Rechts nicht abschließend umschrieben, sondern seine Ausprägungen jeweils
anhand des zu entscheidenden Falles herausgearbeitet. Als generellere Norm
tritt Art. 2 Abs. 1 GG hinter spezieller ausgestalteten Freiheitsrechten
zurück. Diese Konsequenz folgt aus dem Grundsatz der Spezialität, der als
allgemeines Rechtsprinzip anerkannt ist.
BVerfG, Urteil vom
31.01.1989 - 1 BvL 17/87
Der Anwendungsbereich von Art. 2 Abs.
1 GG ist nur eröffnet, wenn andere Freiheitsrechte nicht greifen.
BVerfG 1957: Neben der
allgemeinen Handlungsfreiheit, die Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet, hat das
Grundgesetz die Freiheit menschlicher Betätigung für bestimmte
Lebensbereiche, die nach den geschichtlichen Erfahrungen dem Zugriff der
öffentlichen Gewalt besonders ausgesetzt sind, durch besondere
Grundrechtsbestimmungen geschützt; bei ihnen hat die Verfassung durch
abgestufte Gesetzesvorbehalte abgegrenzt, in welchem Umfang in den
jeweiligen Grundrechtsbereich eingegriffen werden kann. Soweit nicht solche
besonderen Lebensbereiche grundrechtlich geschützt sind, kann sich der
Einzelne bei Eingriffen der öffentlichen Gewalt in seine Freiheit auf Art. 2
Abs. 1 GG berufen. Hier bedurfte es eines Gesetzesvorbehalts nicht, weil
sich aus der Beschränkung der freien Entfaltung der Persönlichkeit durch die
verfassungsmäßige Ordnung der Umfang staatlicher Eingriffsmöglichkeiten ohne
weiteres ergibt.
BVerfG, Urteil vom 16. Januar 1957 - 1 BvR 253/5
18 Art 2 GG: Leben
TOP
Polizeibezug:
Das Leben ist ein verfassungsrechtlich geschützter Höchstwert. Polizeibezug
hat dieses Grundrecht durchaus, denn im polizeilichen Berufsalltag kann es
zu Situationen kommen, in denen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte von der
Schusswaffe Gebrauch machen. Welche allgemeinen Vorschriften diesbezüglich
das PolG NRW enthält, wird im Folgenden zitiert:
§ 63 PolG NRW (Allgemeine Vorschriften
für den Schusswaffengebrauch)
(1) Schusswaffen dürfen nur gebraucht werden,
wenn andere Maßnahmen des unmittelbaren Zwanges erfolglos angewendet sind
oder offensichtlich keinen Erfolg versprechen. Gegen Personen ist ihr
Gebrauch nur zulässig, wenn der Zweck nicht durch Schusswaffengebrauch gegen
Sachen erreicht werden kann.
(2) Schusswaffen dürfen gegen Personen nur
gebraucht werden, um angriffs- oder fluchtunfähig zu machen. Ein Schuss, der
mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tödlich wirken wird, ist nur
zulässig, wenn er das einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen
Lebensgefahr oder der gegenwärtigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung
der körperlichen Unversehrtheit ist.
(3) Gegen Personen, die dem äußeren Eindruck
nach noch nicht 14 Jahre alt sind, dürfen Schusswaffen nicht gebraucht
werden. Das gilt nicht, wenn der Schusswaffengebrauch das einzige Mittel zur
Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben ist.
(4) Der Schusswaffengebrauch ist unzulässig,
wenn für den Polizeivollzugsbeamten erkennbar Unbeteiligte mit hoher
Wahrscheinlichkeit gefährdet werden. Das gilt nicht, wenn der
Schusswaffengebrauch das einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen
Lebensgefahr ist.
Der finale Rettungsschuss, also ein bewusst
tödlich wirkender gezielter Schuss, zum Beispiel auf einen Geiselnehmer, ist
im § 63 Abs. 2 Satz 2 PolG NRW geregelt. Losgelöst vom Gebrauch der
Schusswaffe gegen Personen, sind Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte dazu
verpflichtet, alles in ihren Möglichkeiten zu tun, um zum Beispiel einen
Suizid zu verhindern oder Menschen, auch unter Einsatz der eigenen
Gesundheit, zu retten.
Diesbezüglich wurde im August 2022, als ich
diesen Text schrieb, ein polizeilicher Schusswaffengebrauch mit tödlichem
Ausgang diskutiert, der sich in Dortmund ereignet hatte. Dort wurde ein
16jähriger Ausländer in Anwesenheit von mehrerer Polizeibeamten von einem
Polizisten mit 5 Schüssen aus einer Maschinenpistole so schwer verletzt, der
ein Messer in der Hand hielt und damit Polizeibeamte bedrohte bzw. angriff.
Es würde zu weit führen, an dieser Stelle diesen polizeilichen
Schusswaffengebrauch näher zu erörtern, denn dazu gäbe es sehr viel zu
schreiben und zu sagen. Vielleicht macht ja der folgende Text deutlich,
worum es beim polizeilichen Einschreiten im Ernstfall tatsächlich geht:
Anlass: 1921 wurde in
Schwelm anlässlich einer allgemeinen Verkehrskontrolle auf die
kontrollierenden Beamten geschossen. Zwei Polizistinnen, die sich ebenfalls
am Kontrollort befanden, entfernten sich vom Einsatzort, ohne ihren Kollegen
zu helfen, auf die geschossen wurde.
Die
Richterin des AG Schwelm, die über dieses Verhalten der beiden
Polizeibeamten zu urteilen hatte, bewertete dieses "Angstverhalten"
sinngemäß wie folgt: Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte, die sich, ohne
ihren Berufskollegen zu helfen, auf die geschossen wird, vom Einsatzort
entfernen, um sich keinen „unnötigen“ Gefahren auszusetzen, müssen damit
rechnen, aus dem Polizeivollzugsdienst wegen mangelnder Bereitschaft,
Berufsgefahren hinzunehmen, entfernt zu werden.
Mit Urteil vom
16.11.2121 – 59 Ls 25/20 verurteilte die Richterin des AG Schwelm diese
beiden Polizeibeamtinnen, die sich einer für sie lebensbedrohenden Gefahr
entzogen hatten und sozusagen ihre Kollegen sich selbst überließen, auf die
geschossen wurde, zu einem Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung. Dieses
Strafmaß bedeutet für die beiden Polizeibeamtinnen, falls die von ihnen
eingelegten Beschwerden erfolglos bleiben sollten, dass sie aus dem
Polizeidienst entlassen werden.
Schutzbereich:
Das Recht auf Leben ist nicht nur ein Abwehrrecht gegen den Staat, sondern
ein verfassungsrechtlicher Höchstwert, der umfassende staatliche
Schutzpflichten auslöst, die besonders ernst genommen werden müssen. Im
Zusammenhang mit Fragen, die die Verschärfung des Waffenrechts betrafen,
nahmen die Richter des BVerfG hinsichtlich der Schutzpflicht des Staates,
menschliches Leben schützen zu müssen, 2013 wie folgt Stellung:
BVerfG 2013: Die Schutzpflicht
gebietet dem Staat, sich schützend und fördernd vor gefährdetes menschliches
Leben zu stellen, es insbesondere vor rechtswidrigen Eingriffen Dritter zu
bewahren. Eine solche Schutzpflicht besteht auch hinsichtlich der
Missbrauchsgefahren, die vom Umgang mit Schusswaffen ausgehen. Bei der
Erfüllung dieser Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG kommt dem
Gesetzgeber wie der vollziehenden Gewalt jedoch ein weiter Einschätzungs-,
Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu. Die Entscheidung, welche Maßnahmen
geboten sind, kann nur begrenzt nachgeprüft werden. Das
Bundesverfassungsgericht kann eine Verletzung der Schutzpflicht daher nur
dann feststellen, wenn die öffentliche Gewalt Schutzvorkehrungen überhaupt
nicht getroffen hat oder die ergriffenen Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder
völlig unzulänglich sind, das gebotene Schutzziel zu erreichen. Nach diesem
Maßstab können die Vorschriften des Waffengesetzes, die den Umgang mit
Waffen und Munition unter Berücksichtigung der Belange der öffentlichen
Sicherheit und Ordnung regeln (§ 1 Abs. 1 WaffG), von Verfassungswegen nicht
beanstandet werden.
Beschluss vom 23.
Januar 2013 - 2 BvR 1645/10
19
Art 2 GG: Körperliche Unversehrtheit
TOP
Polizeibezug: Das Grundrecht auf körperliche
Unversehrtheit wird verletzt, wenn eine Person mehr als unbedeutend in ihrem
körperlichen Wohlbefinden beeinträchtigt wird. In Anlehnung an die im
Strafrecht übliche Begriffsdefinition handelt es sich bei einer körperlichen
Misshandlung um eine üble, unangemessene (sozialwidrige) Behandlung, die
entweder das körperliche Wohlbefinden oder die körperliche Unversehrtheit
eines anderen nicht nur ganz unerheblich beeinträchtigt.
Als
körperliches Wohlbefinden gilt der Zustand, der vor der Einwirkung vorhanden
war. Wenn das Opfer vor der Einwirkung bereits krank oder verletzt war oder
sich unwohl gefühlt hat, kann dieses „Wohlbefinden“ zusätzlich negativ
beeinträchtigt werden. Von einer körperlichen Misshandlung kann in der
Regel ausgegangen werden: Wenn einem anderen z.B. durch Schlagen, Boxen,
Treten, Kneifen, Stoßen oder Würgen Schmerzen zugefügt werden.
Wenn
bei einem anderen Ekelgefühle hervorgerufen oder gesteigert werden.
Lediglich unerhebliche Beeinträchtigungen des körperlichen Wohlbefindens
sind in der Regel keine Körperverletzungen, zum Beispiel:
-
Leichte Druckstellen am Oberarm
-
Kleinere Rempler
-
Ein leichter Stoß vor die Brust etc.
-
Befindlichkeitsstörungen.
Ausnahme: Bei der Entnahme einer Blutprobe durch
einen approbierten Arzt, die von der Polizei angeordnet wird, handelt es
sich um einen kaum spürbaren Eingriff in die körperliche Unversehrtheit
einer Person. Dennoch handelt es sich bei der Maßnahme der Entnahme einer
Blutprobe um einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit.
Vergleichbares gilt auch, wenn das äußere Erscheinungsbild einer Person
verändert wird.
Warum?
Bei der Polizei handelt es sich um eine
Institution, die mit Hoheitsgewalt ausgerüstet ist, also Zwang anwenden
darf, wenn das die Gesetze zulassen. Auch wenn die Entnahme einer Blutprobe
durch einen approbierten Arzt in der Regel als ein unbedeutender Eingriff in
die körperliche Unversehrtheit anzusehen ist, handelt es sich dabei dennoch
um einen Eingriff in dieses Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, weil
es sich bei der Eingriffsbefungnis die zur Anwendung kommt, siehe § 81a StPO
(Körperliche Untersuchung des Beschuldigten; Zulässigkeit körperlicher
Eingriffe) um eine Zwangsbefugnis handelt .
Wie dem auch immer sei.
Es würde zu weit führen, alle Möglichkeiten auch nur zu benennen, die es
Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte erlauben, Zwang anzuwenden, was in den
weitaus meisten Fällen mit Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit
verbunden sein dürfte.
Im März 2022 schrieb der
UN-Sonderberichterstatter über Folter, Nils Melzer, die Bundesregierung an,
weil es nach seinem Kenntnisstand anlässlich von Corona-Demonstrationen in
Deutschland zu exzessiver polizeilicher Gewaltanwendung gekommen sei. In
seinem Schreiben heißt es u.a.: „Dem vorliegenden Videomaterial nach zu
urteilen scheint die deutsche Polizei einen übermäßig freizügigen und harten
Ansatz zu verfolgen, wobei sie überwältigende körperliche Gewalt bereits
sehr niedrigschwellig zum Einsatz bringt. Insbesondere die Standardpraxis
der deutschen Polizei, ungehorsame, aber gewaltlose Demonstranten zu Boden
zu zwingen oder zu werfen, verstößt gegen die Erfordernisse der abgestufter
Gewaltanwendung und bringt unnötige und unverhältnismäßige Risiken von
Körperverletzungen sowie unnötige Demütigungen mit sich.“
Diese
Ausführungen machen deutlich, dass bei dem Thema „Polizeigewalt“
zwangsläufig Bereiche berührt werden, die Menschenrechte berühren. Im
Artikel 2 Abs. 2 GG heißt es: (2) Jeder hat das Recht auf Leben und
körperliche Unversehrtheit. Schutzbereich.
Art 2 GG gewährleistet das Recht auf körperliche
Unversehrtheit. Auch bei diesem Grundrecht handelt es sich um ein
Abwehrrecht, das den Einzelnen vor staatlichen Eingriffen schützt. Im
Zusammenhang mit dem Genehmigungsverfahren für das Atomkraftwerk
Mülheim-Kärlich, äußerten sich die Richter des BVerfG 1979 zum Grundrecht
auf körperliche Unversehrtheit wie folgt:
BVerfG 1979: Als
verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab kommt das in Art. 2 Abs. 2 GG
gewährleistete Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in
Verbindung mit dem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz in Betracht. Nach
anerkannter Rechtsprechung schützt dieses Grundrecht nicht nur als
subjektives Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe. Vielmehr folgt darüber
hinaus aus seinem objektiv-rechtlichen Gehalt die Pflicht der staatlichen
Organe, sich schützend und fördernd vor die darin genannten Rechtsgüter zu
stellen und sie insbesondere vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten
anderer zu bewahren.
BVerfG, Beschluss vom
20. Dezember 1979 – 1 BvR 385/77
20
Art 2 GG: Freiheit der Person
TOP
Polizeibezug: Wie bereits schon an anderer Stelle
festgestellt, handelt es sich beim Anhalten einer Person zur Durchführung
von Kontrollmaßnahmen nicht um Eingriffe in deren körperliche
Bewegungsfreiheit, sondern – wegen der Geringfügigkeit einer durch Anhalten
bedingten Ortsbindung – um Eingriffe in die allgemeine Handlungsfreiheit.
Eingriffe in die Bewegungsfreiheit einer Person, die Art 2 Abs. 2 GG
schützt, beginnen in der Regel erst dort, wo eine Person festgehalten wird,
es ihr also nicht mehr erlaubt wird, einen Ort zu verlassen. Das ist zum
Beispiel der Fall, wenn eine Person zur Abwehr einer Gefahr in
Polizeigewahrsam genommen, zur Feststellung ihrer Identität zur
Polizeistation verbracht wird oder oder zur Verfolgung einer Straftat
vorläufig festgenommen wird.
Eingriffe in die Bewegungsfreiheit einer
Person sind zum Beispiel gegeben, wenn von der Polizei Personen:
-
Festgehalten werden, um deren Identität
festzustellen
-
Gegen ihren Willen mit einem Streifenwagen zur
Polizeistation gebracht werden In eine Gewahrsamszelle eingeliefert
werden
-
Von der Polizei anlässlich von Demonstrationen
„eingekesselt“ werden Festgehalten werden, um eine Soforteinweisung
in ein Landeskrankenhaus zu ermöglichen
-
In Abschiebehaft genommen werden.
Eingriffe in die Bewegungsfreiheit einer Person
sind auch dann anzunehmen, wenn es einer Person verboten wird, Orte zu
betreten, die diese Person „normalerweise“ betreten darf. Das ist der Fall,
wenn Personen:
-
Von der Polizei aufgrund häuslicher Gewalt aus
ihrer Wohnung für die Dauer von 10 Tage verwiesen werden
-
Aufenthaltsvorgaben und Kontaktverbote zu
beachten haben Elektrische Fußfesseln tragen müssen, die immer dann
aktiv werden, wenn „verbotenes Terrain“ betreten wird.
Schutzbereich: Vom
Schutzbereich "Freiheit der Person" ist unstreitig die körperliche
Bewegungsfreiheit und das damit verbundene Recht erfasst, sich von jedem
beliebigen Ort ohne Behinderung entfernen zu können (enge Auslegung)
und/oder Orte aufsuchen zu können, die allgemein oder rechtlich zugänglich
sind, sofern Gesetze das nicht verbieten.
BVerfG 1996: Das Grundrecht des
Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG schützt die im Rahmen der geltenden allgemeinen
Rechtsordnung gegebene tatsächliche körperliche Bewegungsfreiheit vor
staatlichen Eingriffen. Sein Gewährleistungsinhalt umfasst von vornherein
nicht eine Befugnis, sich unbegrenzt überall aufhalten und überall
hinbewegen zu dürfen. Demgemäß liegt eine Freiheitsbeschränkung nur vor,
wenn jemand durch die öffentliche Gewalt gegen seinen Willen daran gehindert
wird, einen Ort oder Raum aufzusuchen oder sich dort aufzuhalten, der ihm an
sich (tatsächlich und rechtlich) zugänglich ist. Der Tatbestand einer
Freiheitsentziehung (Art. 104 Abs. 2 GG) kommt ohnehin nur in Betracht, wenn
die - tatsächlich und rechtlich an sich gegebene - körperliche
Bewegungsfreiheit durch staatliche Maßnahmen nach jeder Richtung hin
aufgehoben wird.
BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1516/93
Gemäß Art 2 Abs. 2 GG darf in die Freiheit der Person nur auf Grund
eines Gesetzes eingegriffen werden. Art 104 Abs. 1 Satz 1 GG stellt klar,
dass dazu ein förmliches Parlamentsgesetz erforderlich ist.
Art 104 Abs. 1 Satz 1 GG
(1) Die Freiheit der Person kann nur auf Grund
eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen
Formen beschränkt werden.
Sowohl bei den Polizeigesetzen als auch bei der
StPO, auf deren Grundlage Eingriffe in die körperliche Bewegungsfreiheit
zulässig sind, handelt es sich um förmliche Gesetze (Parlamentsgesetze).
Freiheitsbeschränkung oder Freiheitsentziehung
Art. 104 GG unterscheidet zwischen Freiheitsbeschränkung und
Freiheitsentziehung. Nicht vom Schutzbereich erfasst sind demnach
Einwirkungen, die die Merkmale einer Freiheitsbeschränkung (noch) nicht
erfüllen. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn Personen zu Kontrollzwecken
lediglich angehalten werden (Allgemeine Verkehrskontrollen, Befragungen
etc.).
Für Freiheitsbeschränkungen und Freiheitsentziehungen ist ein
förmliches Gesetz erforderlich. Freiheitsentziehungen stehen unter
Richtervorbehalt. Einwirkungen, die die Merkmale einer Freiheitsbeschränkung
(noch) nicht erfüllen, sind auch aufgrund materieller Gesetze
(Rechtsverordnungen, Satzungen, ordnungsbehördliche Verordnungen) zulässig.
Das BVerfG stellt auf die Intensität des Eingriffs ab. Danach ist
Freiheitsbeschränkung (Art 104 Abs. 1 GG) der Oberbegriff;
Freiheitsentziehung ist die schwerste Form der Freiheitsbeschränkung.
BVerfG 2002: Der Tatbestand
der Freiheitsentziehung kommt nur in Betracht, wenn die - tatsächlich und
rechtlich an sich gegebene - körperliche Bewegungsfreiheit nach jeder
Richtung hin aufgehoben wird. [...]. Freiheitsbeschränkung (Art. 104 Abs. 1
GG) und Freiheitsentziehung (Art. 104 Abs. 2 GG) grenzt das
Bundesverfassungsgericht nach der Intensität des Eingriffs ab.
Freiheitsentziehung ist die schwerste Form der Freiheitsbeschränkung. Eine
Freiheitsbeschränkung liegt vor, wenn jemand durch die öffentliche Gewalt
gegen seinen Willen daran gehindert wird, einen Ort aufzusuchen oder sich
dort aufzuhalten, der ihm an sich (tatsächlich und rechtlich) zugänglich
ist. Der Tatbestand der Freiheitsentziehung kommt nur in Betracht, wenn die
- tatsächlich und rechtlich an sich gegebene - körperliche Bewegungsfreiheit
nach jeder Richtung hin aufgehoben wird. 3. Für den schwersten Eingriff in
das Recht auf Freiheit der Person, die Freiheitsentziehung, fügt Art. 104
Abs. 2 GG dem Vorbehalt des (förmlichen) Gesetzes den weiteren,
verfahrensrechtlichen Vorbehalt einer richterlichen Entscheidung hinzu, der
nicht zur Disposition des Gesetzgebers steht. Der Richtervorbehalt dient der
verstärkten Sicherung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Alle
staatlichen Organe sind verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass der
Richtervorbehalt als Grundrechtssicherung praktisch wirksam wird.
BVerfG, Beschluss vom
15. Mai 2002 - 2 BvR 2292/00
Dem entspricht auch die
Legaldefinition „Freiheitsentziehung“ in § 415 Abs. 2 FamFG (Gesetz über das
Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen
Gerichtsbarkeit).
§ 415 Abs. 2
FamFG (Freiheitsentziehungssachen)
(2) Eine Freiheitsentziehung liegt vor, wenn
einer Person gegen ihren Willen oder im Zustand der Willenlosigkeit
insbesondere in einer abgeschlossenen Einrichtung, wie einem Gewahrsamsraum
oder einem abgeschlossenen Teil eines Krankenhauses, die Freiheit entzogen
wird.
21 Art 3 GG:
Gleichheit vor dem Gesetz
TOP
Polizeibezug: Die Gleichheit vor dem Gesetz als
einen Rechtsanspruch zu verstehen, der von genereller Bedeutung ist, lässt
sich leicht nachvollziehen. Eine ganz andere Frage hingegen ist die
Umsetzung dieses „Gleichheitsgebotes“ im polizeilichen Berufsalltag, zumal
es dort eine Vielzahl von Situationen gibt, in denen es wirklich
schwerfällt, den polizeilichen Gegenüber in der jeweils vorgefundenen
Situation so respektvoll und somit „gleich“ zu behandeln, wie dies das
Menschenbild des Grundgesetzes einfordert, denn Art 3 GG gewährleistet nicht
nur die Gleichheit vor dem Gesetz, sondern verbietet zugleich auch
Diskriminierungen jeglicher Art. Dazu gleich mehr. Zuerst gilt es zu klären,
was unter dem „allgemeinen Gleichheitsgrundsatz“ zu verstehen ist.
Schutzbereich:
BVerfG 2013: Der allgemeine
Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz
gleich zu behandeln sowie wesentlich Gleiches gleich und wesentlich
Ungleiches ungleich zu behandeln. Verboten ist daher auch ein
gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss, bei dem eine Begünstigung einem
Personenkreis gewährt, einem anderen Personenkreis aber vorenthalten wird.
[...]. Eine Norm verletzt danach den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3
Abs. 1 GG, wenn durch sie eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu
anderen Normadressaten verschieden behandelt wird, obwohl zwischen beiden
Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen,
dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen können.
BVerfG, Beschluss vom
07. Mai 2013 - 2 BvR 909/06
22
Art 3 GG: Diskriminierungsverbot
TOP
Polizeibezug:
Art 3 Abs. 3 GG:
(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes,
seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft,
seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen
benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung
benachteiligt werden.
Diese Textstelle im Artikel 3 des
Grundgesetzes hat deshalb einen engen Bezug zur Polizei, weil ihr nicht erst
seit den vielen Black-Matters-Demonstrationen im Juni 2022 diskriminierendes
Verhalten von farbigen Menschen vorgeworfen wurde. Nur zu Ihrer
Erinnerung: Die Ermordung des US-Amerikaners George Floyd durch einen
US-Polizisten am 25. Mai 2020 in Minneapolis im US-Bundesstaat Minnesota,
der vor laufender Kamera den farbigen US-Amerikaner George Floyd am Boden
fixiert, und ihm dabei das Atmen unmöglich gemacht hatte, löste auch in
Deutschland nicht nur eine Debatte über Rassismus, sondern auch eine
Vielzahl von Demonstrationen aus, auf denen auch der deutschen Polizei
vorgeworfen wurde, sich gegenüber farbigen Menschen diskriminierend zu
verhalten.
Diese Vorwürfe sind ernst zu nehmen und machen es
erforderlich, innerhalb der Organisation Polizei eine „Demokratiekultur“ zu
kultivieren, die solche Vorwürfe gegenstandslos werden lässt. Das setzt aber
nicht nur ein anderes Miteinander, sondern auch eine andere Führungskultur
im Personalkörper voraus, das Diskriminierungen jeglicher Art zu
Regelverletzungen erklärt. Das aber wird nicht einfach sein, denn Respekt
lässt sich nicht anordnen, wohl aber erfahren, was natürlich auch für
erlebte Respektlosigkeiten gilt. Anders ausgedrückt: Wer selbst
wertgeschätzt wird, kann auch andere wertschätzen. Wo diese Wertschätzung
verweigert, oder nur unzureichend erlebt wird, entwickeln sich zwangsläufig
auch Verhaltensweisen, die sich darin äußert, dass mangelnde erlebte
Wertschätzung einfach an andere weitergegeben wird. So ist das Leben.
Schutzbereich: Diesbezüglich ist Art 3 Abs. 3 GG
einschlägig und unmissverständlich formuliert. Dennoch: Zwischen
Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit besteht ein nicht zu leugnender
großer Unterschied:
Im Koalitionsvertrag, den die SPD mit den GÜNEN
und der FDP 2021 abgeschlossen hat, heißt es diesbezüglich wie folgt:
Koalitionsvertrag 2021:
Bürgernähe und eine transparente Fehlerkultur werden wir stärken, indem wir
die Aus- und Fortbildung bei der Polizei weiterentwickeln und noch
intensiver die Grundsätze der freiheitlich demokratischen Grundordnung,
insbesondere der Grund- und Menschenrechte, vermitteln. Damit beugen wir
auch der Entstehung und der Verfestigung von Vorurteilen, Diskriminierungen
und radikalen Einstellungen vor. Die in anderen Bereichen bewährte
Sicherheitsüberprüfung von Bewerberinnen und Bewerbern weiten wir aus und
stärken so die Resilienz der Sicherheitsbehörden gegen demokratiefeindliche
Einflüsse. In diesem Zusammenhang sorgen wir auch für die Ausweitung von
Supervisionsangeboten. Wir führen eine unabhängige Polizeibeauftragte bzw.
einen unabhängigen Polizeibeauftragten für die Polizeien des Bundes als
Anlaufstelle beim Deutschen Bundestag mit Akteneinsichts- und
Zutrittsrechten ein. Wir führen die pseudonyme Kennzeichnung von
Polizistinnen und Polizisten ein.
Racial Profiling ist
rechtswidrig.
OVG
Koblenz 2016: Die Richter des OVG entschieden, dass die Kontrolle
einer dunkelhäutigen Familie in einem Zug durch Beamte der Bundespolizei
rechtswidrig gewesen ist. Die Beamten hatten in einem Zug deutsche
Staatsangehörige mit dunkler Hautfarbe kontrolliert und deren Daten
abgeglichen. Im Anschluss daran hatten die Beamten das Abteil wieder
verlassen.
OVG Koblenz, Urteil vom 21.04.2016 - Az. 7 A
11108/14.OVG
23 Art
4 GG: Glaubens und Gewissensfreiheit
TOP
Polizeibezug Beide Begriffe „Glauben“ und „Gewissen“
entziehen sich weitgehend einer Definition. In jedem Fall handelt es sich um
ethische Grundüberzeugungen, die menschlichem Handeln zugrunde liegen. Diese
Grundrechte sind aus Sicht der Polizei deshalb von Bedeutung, weil es bei
Andersdenkenden die Bereitschaft voraussetzt, sich sozusagen in das Weltbild
von Personen „hineinversetzen“ zu können/wollen, dessen Weltbild einem fremd
ist oder, Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte ihnen dieses „Verstehen“
Probleme bereitet.
Schutzbereich: Zwei Zitate
aus höchstrichterlichen Entscheidungen fordern sozusagen dazu auf, über zwei
Grundrechte nachzudenken, die für Menschen von essentieller Bedeutung sind.
BVerfG 1962: Das
Grundgesetz sieht die freie menschliche Persönlichkeit und ihre Würde als
höchsten Rechtswert an. So hat es folgerecht in Art. 4 Abs. 1 die Freiheit
des Gewissens und seiner Entscheidungen, in denen sich die autonome
sittliche Persönlichkeit unmittelbar ausspricht, als „unverletzlich“
anerkannt. Auf diesem Grundsatz beruht auch Art. 4 Abs. 3 GG. Er hat die
Gewissensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG nicht nur zur allgemeinen
(ideologischen) Voraussetzung. Er nimmt den Begriff des freien Gewissens
wieder auf, erhebt ihn also zum eigenen normativen Bestandteil; er
garantiert selbst die Freiheit einer Gewissensentscheidung gegen den
Kriegsdienst mit der Waffe und verspricht, sie zu achten. In der
Konfliktslage zwischen der Gemeinschaft, die hier mit einer besonders
ernsten Forderung an ihre Bürger herantritt, und dem Einzelnen, der nur
seinem Gewissen folgen will, räumt die Verfassungsnorm dem Schutz des freien
Einzelgewissens in bemerkenswert weitgehender Weise den Vorrang ein. Das ist
einem Staate angemessen, der eine Gemeinschaft freier Menschen sein will und
gerade in der Möglichkeit freier Selbstbestimmung des Einzelnen einen
gemeinschaftsbildenden Wert erkennt. „Gewissen“ wird in Art. 4 GG - das
zeigt auch die Entstehungsgeschichte - im Sinne des allgemeinen
Sprachgebrauchs verstanden. Das Verfassungsrecht geht davon aus, dass die
Grundlagen des politischen Zusammenlebens einheitlich für alle Staatsbürger
zu bestimmen sind. Verfassungsbegriffe sind daher für alle Bekenntnisse und
Weltanschauungen gleich zu interpretieren. Die Aufgabe der Verfassungsorgane
ist es, die Einheitlichkeit der Rechtsordnung für alle Staatsbürger zu
gewährleisten. „Gewissen“ im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs und somit
auch im Sinne des Art. 4 Abs. 3 GG ist als ein (wie immer begründbares,
jedenfalls aber) real erfahrbares seelisches Phänomen zu verstehen, dessen
Forderungen, Mahnungen und Warnungen für den Menschen unmittelbar evidente
Gebote unbedingten Sollens sind. [...]. Eine Gewissensentscheidung wird -
das folgt aus ihrem Wesen - stets angesichts einer bestimmten Lage
getroffen, in der es innerlich unabweisbar wird, sich zu entscheiden; der
Ruf des Gewissens wird dem Einzelnen vernehmbar als eine sittliche und
unbedingt verbindliche Entscheidung über das ihm gebotene Verhalten. In
diesem Sinn ist die Gewissensentscheidung wesenhaft und immer
„situationsbezogen“; dass sie zugleich „normbezogen“ sein kann, etwa wenn es
sich um die Bewährung einer grundsätzlichen weltanschaulichen Überzeugung
oder Glaubenshaltung handelt, wird damit nicht geleugnet, denn dabei geht es
um die besondere Frage, welche Maßstäbe und Einflüsse auf das Zustandekommen
der Entscheidung (bewusst oder unbewusst) einwirken. Als eine
Gewissensentscheidung ist somit jede ernste sittliche, d. h. an den
Kategorien von „Gut“ und „Böse“ orientierte Entscheidung anzusehen, die der
Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt
verpflichtend innerlich erfährt, so dass er gegen sie nicht ohne ernste
Gewissensnot handeln könnte.
BVerfG, Beschluss vom
20.12.1960 - 1 BvL 21/60
In diesem
Sachzusammenhang trägt es zum Verstehen unterschiedlicher und zu Teil sich
sogar ausschließender Standpunkte bei, sich auch mit der Position der
Richter des Bundesverfassungsgerichts auseinanderzusetzen, die den „zivilen
Ungehorsams“ betreffen.
BVerfG
1986: Unter zivilem oder bürgerlichem Ungehorsam wird - im
Unterschied zum Widerstandsrecht gegenüber einem Unrechtssystem - ein
Widerstehen des Bürgers gegenüber einzelnen gewichtigen staatlichen
Entscheidungen verstanden, um einer für verhängnisvoll und ethisch illegitim
gehaltenen Entscheidung durch demonstrativen, zeichenhaften Protest bis zu
aufsehenerregenden Regelverletzungen zu begegnen. In den Stellungnahmen der
Friedens- und Konfliktforschungsinstitute sowie in der Literatur ist
ausgeführt worden, dass Anlass zu solchen Aktionen nur eine Angelegenheit
von wesentlicher allgemeiner Bedeutung, insbesondere die Abwendung schwerer
Gefahren für das Gemeinwesen sein könne; dabei gehe es in Fällen der
vorliegenden Art nicht um eine faktische Verhinderung des Protestanlasses,
insbesondere nicht um eine effektive Lähmung staatlicher Funktionen, sondern
um ein dramatisches Einwirken auf den Prozess der öffentlichen
Meinungsbildung; kennzeichnend sei stets, dass der Ungehorsam unbedingt
gewaltfrei und damit unter Ausschluss jeden Risikos für andere auszuüben
sei, ferner öffentlich und demgemäß prinzipiell kalkulierbar und im Übrigen
zeitlich und örtlich verhältnismäßig im Sinne praktischer Konkordanz unter
Berücksichtigung der jeweiligen Umstände. Die Respektierung derartiger
Aktionen hat der Bundesgerichtshof in der Laepple-Entscheidung als
unvereinbar mit den Grundprinzipien des demokratischen Rechtsstaats
abgelehnt. Dem ist im Schrifttum zugestimmt worden mit der Begründung,
ziviler Ungehorsam sei Rechtsbruch, verletze die innerstaatliche
Friedenspflicht, verstoße gegen das Prinzip der Gleichheit aller vor dem
Gesetz und setze sich über das Mehrheitsprinzip hinweg, das für ein
demokratisch verfasstes Gemeinwesen konstituierend sei. Demgegenüber wird
seitens der Friedensforschungsinstitute und Konfliktforschungsinstitute
darauf verwiesen, das Konzept des zivilen Ungehorsams sei in den gereifteren
angelsächsischen Demokratien im Bewusstsein der Unvollkommenheiten des
demokratischen Willensbildungsprozesses als eines Prozesses von trial and
error entwickelt worden. Die erwähnte Denkschrift der EKD, die in anderem
Zusammenhang entschieden für eine Ethik der Rechtsbefolgung durch Bürger und
Amtsinhaber eintritt, warnt davor, die Ernsthaftigkeit und Herausforderung,
die in Aktionen des zivilen Ungehorsams liege, durch Hinweise auf die
Legalität und Legitimität des parlamentarischen Regierungssystems und seiner
Mehrheitsentscheidungen abzutun; auch wenn die Aktionen rechtswidrig seien
und den dafür vorgesehenen Sanktionen unterlägen, seien sie als Anfrage an
Inhalt und Form demokratischer Entscheidungen ernst zu nehmen.
BVerfG, Urteil vom 11.11.1986 - 1 BvR 713/83
Diese Ausführungen lassen es zu, sich in handlungsbestimmende
Wirklichkeiten von Menschen hineinversetzen zu können. Auf jeden Fall lassen
es die Zitate zu, darüber nachzudenken, was es heißt, in einer offenen
Gesellschaft, die sich als ein freiheitlich demokratische Grundordnung
versteht, sich zumindest demokratieverstehend zu verhalten. Mit der ganzen
Härte des Gesetzes lassen sich weder der "zivile Ungehorsam" noch die
Überzeugungen von Andersdenkenden "bekämpfen". Im Gegenteil, je mehr Härte,
umso größer die Anzahl der Demokratieverweigerer.
Die Frage, die
sich nunmehr stellt, lautet: Wie stellen Sie sich die zukünftige Polizei
vor?
Im Rahmen dieses Kurses werde ich diese Frage hin und wieder
aufwerfen, beantworten möchte ich sie aber an dieser Stelle nicht, denn dazu
wäre wirklich sehr viel zu schreiben.
24
Art 5 GG: Meinungsfreiheit
TOP
Polizeibezug: Die Meinungsfreiheit gehört in einer
offenen Gesellschaft zu den Grundbedingungen ihres Funktionierens. Dass es
beim Gebrauch der Meinungsfreiheit auch zu Grenzüberschreitungen kommen
kann, gehört aus Sicht der Polizei sozusagen zum polizeilichen Berufsalltag.
Unbestreitbar ist, dass einschreitende Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte
anlässlich von Demonstrationen, aber nicht nur dort, oftmals als Nazis,
Faschisten, Rassisten oder mit anderen Worten ehrverletzend bezeichnet
werden. Auch das Akronym A.C.A.B. (All Cops Are Bastards) kommt
Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten zumindest irgendwie vertraut vor. Ob
solch ein Akronym als eine Beleidigung von Einsatzkräften angesehen werden
kann, darüber ist sich die Rechtsprechung bis heute noch nicht einig.
Die Meinungsfreiheit wird auch im Internet, in sozialen Medien, in Foren
und auch in Chaträumen auf eine Art und Weise zum Ausdruck gebracht, die
gegen geltendes Recht verstößt. Beleidigungen gehören im Netz fast schon zum
guten Ton. Das gilt für volksverhetzende Inhalte gleichermaßen.
Die
Meinungsfreiheit ist für Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte aber auch
deshalb bedeutsam, weil Beamte sowohl innerhalb als auch außerhalb ihres
Dienstes sich bei politischer Betätigung mäßigen müssen und Zurückhaltung zu
wahren haben, die sich aus ihrer Stellung gegenüber der Gesamtheit und aus
der Rücksicht auf die Pflichten ihres Amtes ergeben.
Diesbezüglich
heißt es im Beamtenstatusgesetz (BeamtStG) wie folgt:
§ 33 Abs. 2 BeamtStG (Grundpflichten)
(2) Beamtinnen und Beamte haben bei politischer
Betätigung diejenige Mäßigung und Zurückhaltung zu wahren, die sich aus
ihrer Stellung gegenüber der Allgemeinheit und aus der Rücksicht auf die
Pflichten ihres Amtes ergibt.
Schutzbereich:
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Meinungsfreiheit ist
sehr umfangreich. Die nachfolgenden Zitate machen deutlich, welchen
Stellenwert die Meinungsfreiheit in einer offenen Gesellschaft hat und was
zum Schutzbereich dieses Grundrechts gehört.
BVerfG 1958: Das Grundrecht auf
freie Meinungsäußerung ist als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen
Persönlichkeit in der Gesellschaft eines der vornehmsten Menschenrechte
überhaupt (un des droits les plus precieux de l’homme nach Artikel 11 der
Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789). Für eine
freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist es schlechthin konstituierend,
denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf
der Meinungen, der ihr Lebenselement ist. Es ist in gewissem Sinn die
Grundlage jeder Freiheit überhaupt, „the matrix, the indispensable condition
of nearly every other form of freedom“ (Cardozo).
BVerfG, Beschluss vom 15.01.1958 – 1 BvR 400/51
BVerfG 1966:
Das durch Art. 5 GG gewährleistete Recht der freien Meinungsäußerung,
Presse-, Rundfunk-, Fernseh- und Filmfreiheit sind für eine freiheitliche
demokratische Staatsordnung schlechthin konstituierend. Art. 5 GG garantiert
auch die freie Bildung der öffentlichen Meinung. Aus dem Grundrecht der
freien Meinungsäußerung ergibt sich ein grundsätzliches Recht der freien
politischen Betätigung. Meinungsfreiheit, Vereinigungs- und
Koalitionsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Petitionsrecht sichern die
Freiheit der Meinungs- und Willensbildung des Volkes. Art. 21, 38 und 28 GG
schützen zusätzlich die freie Willensbildung des Volkes.
BVerfG, Urteil vom
19.07.1966 – 2 BvF 1/65
BVerfG 1985:
Der Begriff der „Meinung“ in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG ist grundsätzlich weit
zu verstehen: Sofern eine Äußerung durch die Elemente der Stellungnahme, des
Dafürhaltens oder Meinens geprägt ist, fällt sie in den Schutzbereich des
Grundrechts (BVerfGE 61, 1 [9]).
BVerfG, Beschluss vom
19.11.1985 – 1 BvR 934/82
25 Art 6 GG: Familie und Erziehung der Kinder
TOP
Polizeibezug:
Im polizeilichen Berufsalltag ist es nicht ungewöhnlich, dass
Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte mit Lebenssituationen konfrontiert
werden, in denen sie sich fragen, ob Kinder dort leben sollten, wo sie von
einschreitenden Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten zum Beispiel anlässlich
von Familienstreitigkeiten angetroffen werden. Es kommt auch vor, dass
Minderjährige zur Polizei kommen und um Schutz ersuchen, weil sie es zu
Hause einfach nicht mehr aushalten. Auch um Kinder und Jugendliche, die von
zu Hause weggelaufen sind, hat sich die Polizei zu kümmern, wenn die als
„vermisst“ gemeldeten Minderjährigen aufgegriffen werden. In solchen Fällen
werden Minderjährige in Polizeigewahrsam genommen und in Zusammenarbeit mit
dem Jugendamt wird dann zuerst einmal nach einer kurzfristigen Lösungen
gesucht, die den Verbleib von vermissten oder von zu Hause weggelaufenen
Minderjährigen betreffen. Diesbezüglich heißt es zum Beispiel im § 42 SGB
VIII wie folgt:
§ 42 Abs. 1 SGB
VIII (Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen)
(1) Das Jugendamt ist berechtigt und
verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen,
wenn 1. das Kind
oder der Jugendliche um Obhut bittet oder
2. eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes
oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert und
a) die Personensorgeberechtigten nicht
widersprechen oder
b) eine familiengerichtliche Entscheidung nicht
rechtzeitig eingeholt werden kann oder
3. ein ausländisches Kind oder ein ausländischer
Jugendlicher unbegleitet nach Deutschland kommt und sich weder
Personensorge- noch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten.
Längerfristig wirkende Maßnahmen fallen nicht in den
Zuständigkeitsbereich der Polizei, dafür sind die Jugendämter zuständig.
Polizeiliche Feststellungen machen es aber oftmals erforderlich, die
Jugendämter von Zuständen in Kenntnis zu setzen, die deren Einschreiten
erforderlich macht. Aus diesem Grund ist die Zusammenarbeit zwischen der
Polizei und den Jugendämtern in NRW durch einen Erlass geregelt.
Dort heißt es u.a.:
3.3.2
Zusammenarbeit mit den
Jugendämtern
Der Kontakt zu den Jugendämtern sollte besonders
eng sein. Sie werden über jugendgefährdende Orte sowie über gefährdete
Kinder und Jugendliche unterrichtet. Das Jugendamt ist unverzüglich zu
verständigen, wenn erzieherische Maßnahmen schon während der polizeilichen
Ermittlungen notwendig erscheinen. Die Bewährungshilfe sollte bereits
informiert werden, wenn aufgrund polizeilicher Feststellungen zu befürchten
ist, dass von ihr Betreute wieder in die Kriminalität abzugleiten drohen.
[...]. Die Polizei unterstützt die Ordnungs- und Jugendbehörden bei der
Überwachung der Bestimmungen des Jugendschutzgesetzes, um Gefährdungen zu
verhindern, die das körperliche, geistige oder seelische Wohl von Kindern
und Jugendlichen bedrohen. Bei Gefährdungen für Kinder und Jugendliche
trifft die Polizei die unaufschiebbar notwendigen Maßnahmen im Rahmen ihrer
Zuständigkeit. Sie wirkt auf intervenierende Maßnahmen originär zuständiger
Behörden hin.
Schutzbereich: Die
nachfolgenden Zitate aus Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts machen
deutlich, dass sich das Vorstellungsbild einer Familie, so wie sie im
Artikel 6 GG zumindest angedeutet ist, im Laufe von 70 Jahren Grundgesetz
gravierend gewandelt hat. Aber schon damals, als 1948/49 der
Parlamentarische Rat über das Grundgesetz beriet, kam es hinsichtlich des
Inhalts dieses Grundrechts zu handfesten Streitigkeiten, weil die
Vorstellungsbilder bereits damals einfach zu unterschiedlich waren. Fast
wären die Beratungen im Parlamentarischen Rat an dem "Vorstellungsbild der
Familie" gescheitert.
Die folgenden Zitate lassen erahnen, was heute
zum Schutzbereich des Artikels 6 GG gehört.
BVerfG 1957: Art 6 Abs. 1 GG
ist nicht nur ein „klassisches Grundrecht“ zum Schutze der spezifischen
Privatsphäre von Ehe und Familie sowie Institutsgarantie, sondern darüber
hinaus zugleich eine Grundsatznorm, das heißt eine verbindliche
Wertentscheidung für den gesamten Bereich des Ehe und Familie betreffenden
privaten und öffentlichen Rechts.
BVerfG, Beschluss vom
17.01.1957 – 1 BvL 4/54
BVerfG 2002:
Der besondere Schutz der Ehe in Art 6 Abs. 1 GG hindert den Gesetzgeber
nicht, für die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft Rechte und
Pflichten vorzusehen, die denen der Ehe gleich oder nahe kommen.
BVerfG, Urteil vom
17.05.2002 - 1 BvF 1/01
BVerfG 2009:
Es ist verfassungsrechtlich nicht begründbar, aus dem besonderen Schutz der
Ehe abzuleiten, dass andere Lebensgemeinschaften im Abstand zur Ehe
auszugestalten und mit geringeren Rechten zu versehen sind.
BVerfG, Beschluss vom
07.05.2009 - 1 BvR 1164/07
BVerfG 2013:
Zwei Personen gleichen Geschlechts, die gesetzlich als Elternteile eines
Kindes anerkannt sind, sind auch im verfassungsrechtlichen Sinne Eltern (Art
6 Abs. 2 Satz 1 GG). [...]. Leben eingetragene Lebenspartner mit dem
leiblichen oder angenommenen Kind eines Lebenspartners in sozial-familiärer
Gemeinschaft, bilden sie mit diesem eine durch Art 6 Abs. 1 GG geschützte
Familie im Sinne des Grundgesetzes. Auch im Vergleich zur Situation
leiblicher Kinder eingetragener Lebenspartner ist die Ungleichbehandlung
adoptierter Kinder eingetragener Lebenspartner nicht zu rechtfertigen.
Zwischen der Adoption eines leiblichen Kindes des eingetragenen
Lebenspartners und der Adoption eines angenommenen Kindes des eingetragenen
Lebenspartners bestehen keine Unterschiede solcher Art, die die
unterschiedliche Behandlung rechtfertigen könnten.
BVerfG, Urteil vom
19.02.2013 - 1 BvL 1/11
Hinweis: Im
Familienreport des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend aus dem Jahr 2020 heißt es:
Die
Familie ist 2019 für 77 Prozent der Bevölkerung nach wie vor der wichtigste
Lebensbereich, noch vor dem Beruf und dem Freundeskreis. Bei Eltern mit
minderjährigen Kindern sind es sogar 91 Prozent. In den zurückliegenden
Jahren ist die Wertschätzung der Familie konstant hoch geblieben und seit
2006 nahezu unverändert.
Trotzdem: Die
klassische Vater-Mutter-Kind-Familie kann in Deutschland nicht mehr als
häufigste Form des Zusammenlebens verstanden werden.
26 Art 7 GG: Schulpflicht
TOP
Polizeibezug:
Bei der Durchsetzung der Schulpflicht handelt es sich nicht um eine
polizeiliche Aufgabe, dafür sind die Schulen selbst verantwortlich. Dennoch
können auch Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten mit der Durchsetzung der
Schulpflicht konfrontiert werden, dann nämlich, wenn der Dienstherr von
seiner Polizei erwartet, in Kaufhäusern und anderen Lokalitäten nach
Schulpflichtigen zu suchen, die eigentlich im Unterricht sein müssten.
Die Erwartungshaltung des Dienstherrn kann sogar so weit gehen, dass er
von der Polizei erwartet, in Flughäfen Personen zu kontrollieren, um dort
die Identität von Personen festzustellen, die in Begleitung von
schulpflichtigen Kindern sozusagen kurz vor Ferienbeginn in den Urlaub
fliegen wollen. Solche Polizeieinsätze hat es gegeben, die dann aber
berechtigterweise die Frage aufgeworfen haben, ob das wirklich eine
polizeiliche Aufgabe ist.
Unabhängig davon ist die Schule heute aber
durchaus auch als ein Ort anzusehen, an dem Straftaten verübt bzw.
vorbereitet werden. Das macht eine Zusammenarbeit zwischen Polizei und
Schulen unvermeidbar. Diesbezüglich heißt es in dem Erlass „Zusammenarbeit
bei der Verhütung und Bekämpfung der Jugendkriminalität“ in NRW wie folgt:
4.2
Schule
Themen der Kriminalprävention, insbesondere zur
Vermeidung von Gewalt, Diskriminierung, politisch motivierter Straftaten
sowie Drogenkonsum beziehungsweise Erläuterungen des Betäubungsmittelrechts
und Cybercrime, sind in der Schule zu behandeln. Dazu können Angebote vor
allem von Polizei, Jugendamt, Schulpsychologie sowie Einrichtungen der
Sucht- und Drogenhilfe und allgemeine Beratungsstellen genutzt werden.
Vertrauensbildend sind regelmäßige anlassunabhängige Besuche oder
Sprechstunden der Polizei und des Jugendamts in den Schulen.
4.2.2
Straftaten an der Schule oder
im schulischen Kontext
Besteht gegen Schülerinnen oder Schüler der
Verdacht der Begehung eines Verbrechens, so hat die Schulleitung die
Strafverfolgungsbehörden zu benachrichtigen. Für den Fall des Verdachts
eines Vergehens prüft die Schulleitung, ob pädagogische/schulpsychologische
Unterstützung, erzieherische Einwirkungen beziehungsweise Ordnungsmaßnahmen
ausreichen oder ob wegen der Schwere der Tat oder anderer gewichtiger
Umstände, zum Beispiel mehrfache Auffälligkeiten, eine Benachrichtigung der
Polizei oder der Staatsanwaltschaft erforderlich ist. Eine Benachrichtigung
ist in der Regel erforderlich bei:
a) gefährlichen Körperverletzungen,
b) Straftaten gegen die sexuelle
Selbstbestimmung
c) Einbruchsdiebstählen,
d) Verstößen gegen das Waffengesetz,
e) Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz,
f) gefährlichen Eingriffen in den
Straßenverkehr,
g) erheblichen Fällen von Bedrohung oder Nötigung,
h) Sachbeschädigung,
i) Cybercrime sowie
j) politisch motivierten Straftaten.
Schutzbereich: Zur
inhaltlichen Gestaltung des Schutzbereiches können die nachfolgenden Zitate
aus höchstrichterlichen Entscheidungen hilfreich sein.
BVerfG 1969: Art 7 GG behandelt
Einzelfragen des Schulwesens. Eine in sich geschlossene Regelung enthält er
nicht. Nach Art 7 Abs. 1 GG steht das gesamte Schulwesen unter der Aufsicht
des Staates. Zur Schulaufsicht im Sinne des Art 7 Abs. 1 GG gehört
jedenfalls die Befugnis des Staates zur zentralen Ordnung und Organisation
des Schulwesens mit dem Ziel, ein Schulsystem zu gewährleisten, das allen
jungen Bürgern gem. ihren Fähigkeiten die dem heutigen gesellschaftlichen
Leben entsprechenden Bildungsmöglichkeiten eröffnet.
BVerfG, Beschluss vom
24.06.1969 – 2 BvR 446/64
BVerfG 1977:
Der Staat kann daher in der Schule grundsätzlich unabhängig von den Eltern
eigene Erziehungsziele verfolgen. Der allgemeine Auftrag der Schule zur
Bildung und Erziehung der Kinder ist dem Elternrecht nicht nach-, sondern
gleichgeordnet.
BVerfG, Beschluss
vom 21.12.1977 – 1 BvL 1/75, 1 BvR 147/75
Hinweis:
Dem Wortlaut von Art 7 Abs. 1 GG kann nicht entnommen werden, dass Kinder im
schulfähigen Alter einer allgemeinen Schulpflicht unterliegen. Die
Schulpflicht ist in den Schulgesetzen der Länder geregelt.
27 Art 8 GG: Versammlungsfreiheit
TOP
Polizeibezug:
Aufgabe der Polizei ist es, Versammlungen nicht nur zu schützen, sondern
sich insgesamt versammlungsfreundlich zu verhalten. Diese von der Polizei
einzufordernde Grundhaltung ist bei der Wahrnehmung versammlungsrechtlicher
Aufgaben, in Anlehnung an den so genannten Brokdorf-Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1985, immer noch richtungsweisend.
BVerfG 1985: Steht
kollektive Unfriedlichkeit nicht zu befürchten, ist also nicht damit zu
rechnen, dass eine Demonstration im Ganzen einen gewalttätigen oder
aufrührerischen Verlauf nimmt, (...) oder dass der Veranstalter oder sein
Anhang einen solchen Verlauf anstreben, (...) oder zumindest billigen, dann
muss für die friedlichen Teilnehmer der von der Verfassung jedem
Staatsbürger garantierte Schutz der Versammlungsfreiheit auch dann erhalten
bleiben, wenn einzelne andere Demonstranten oder eine Minderheit
Ausschreitungen begehen (...). Würde unfriedliches Verhalten Einzelner für
die gesamte Veranstaltung und nicht nur für die Täter zum Fortfall des
Grundrechtsschutzes führen, hätten diese es in der Hand, Demonstrationen
"umzufunktionieren" und entgegen dem Willen der anderen Teilnehmer
rechtswidrig werden zu lassen (...); praktisch könnte dann jede
Großdemonstration verboten werden, da sich nahezu immer "Erkenntnisse" über
unfriedliche Absichten eines Teiles der Teilnehmer beibringen lassen.
BVerfG, Beschluss vom 14.05.1985 - 1 BvR 233,
341/81
Hinweis: Unfriedlich ist eine
Versammlung in Anlehnung an die Vorgaben des Brokdorf-Beschlusses erst dann,
wenn ihre Teilnehmer kollektiv unfriedlich handeln oder die Unfriedlichkeit
einzelner Teilnehmer mittragen oder es zu Gewalttätigkeiten zwischen
Versammlungsteilnehmern kommt. Allein vermummte Personen machen aus einer
Versammlung noch keine unfriedliche Versammlung.
Auch die Vielzahl
von Versammlungen haben, insbesondere anlässlich der Corona-Krise, dazu
geführt, dass die Polizei sozusagen bis an die Grenze ihrer
Leistungsfähigkeit in Anspruch genommen wurde. Das wissen alle
Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten, die in so genannten
Einsatzhundertschaften verwendet werden und bei Einsätzen anlässlich von
Großdemonstrationen angefordert werden. Die ca. 2600 Beamten in den
Einsatzhundertschaften der Polizei NRW verfügen über eine besondere
Schutzausrüstung, um sie anlässlich von gewaltsamen
Auseinandersetzungen, zu denen es bei Demonstrationen durchaus kommen kann,
zu schützen.
Großdemonstration im Hamburger Hafen:
Am 13. August 2022 haben sich im Hamburger Hafen 70.000 Menschen an einem
Klimastreik. Veranstalter war Fridays for Future. Aktivisten legten den
Verkehr lahm. Die Polizei war mit zwei Hundertschaften vor Ort. Der
polizeiliche Gesamteinsatzleiter wird in der Onlineausgabe des Hamburger
Abendblattes wie folgt zitiert:
„Auch
wenn mit 70.000 Teilnehmern weit mehr als erwartet gekommen waren, konnten
wir als Polizei dank des friedlichen Verlaufs mit der Situation problemlos
umgehen.“
In einer Meldung in der Onlineausgabe der Berliner
Zeitung zur gleichen Großdemonstration heißt es unter der Überschrift:
Zusammenstöße bei Blockaden nach Klimademos in Hamburg wie folgt:
"Bei den Blockaden von Klimaaktivistinnen und
Klimaaktivisten in Hamburg ist es am Samstag zu Zusammenstößen gekommen.
Nach Angaben der Polizei hatten Teilnehmer einer Blockade an der
Kattwykbrücke die Beamten mit Pfefferspray attackiert, worauf diese mit
Pfefferspray, Schlagstöcken und Wasserwerfern reagierten, um die Blockade
aufzulösen. Eine Sprecherin von „Ende Gelände“ bezeichnete den Vorfall als
„einen neuen Höhepunkt an polizeilicher Gewalt und Willkür gegen unsere
Klimaproteste“.
Presseorgane, deren
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nur das berichten sollen, was eine
Gesellschaft spaltet, beschreiben nicht immer das, was die Polizei für
angemessen hält.
Übrigens:
Auf NTV.de vom
15.08.2022 äußerte sich NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) zu dem, was da
möglicherweise im Herbst 2022 Wirklichkeit werden könnte, wie folgt:
"Da etablieren sich neue Staatsfeinde!"
NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU), fürchtet,
dass sich da Ungutes zusammenbraut. Das Protestpotenzial in Deutschland
beschäftige sich nicht mehr mit Corona, sondern schüre mit neuen Themen
Ängste in der Bevölkerung. [...]. Für die Polizei seien über 100
Satellitentelefone bestellt worden, um bei einem Stromausfall kommunizieren
zu können.
Ein Innenminister, der es für richtig hält, von
Staatsfeinden zu sprechen, der muss sich wirklich fragen lassen, wie er zu
so genannter Hass-Speach steht. Und was den Kauf von 100 Satellitentelefonen
betrifft. Bei 47 Kreispolizeibehörden bedeutet das, dass jede KPB 2
Satellitentelefone erhält.
Da hilft wirklich nur noch die ganze
Härte des Gesetzes.
Schutzbereich: Die
nachfolgenden Zitate aus höchstrichterlichen Entscheidungen machen deutlich,
was zum Schutzbereich der Versammlungsfreiheit gehört:
BVerfG 1985: Bei der
Versammlungsfreiheit handelt sich um die Freiheit zur kollektiven
Meinungskundgabe in physischer Präsenz, voller Offenheit und ohne
Zwischenschaltung von Medien. Die Versammlungsfreiheit bietet die
Möglichkeit zur Einflussnahme auf den politischen Willensbildungsprozess.
Sie ist ein Regulativ zur Vermeidung von Staatsverdrossenheit und Ohnmacht.
Das Recht des Bürgers, durch Ausübung der Versammlungsfreiheit aktiv am
politischen Meinungs- und Willensbildungsprozess teilzunehmen, gehört zu den
unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens. [...].
Diese grundlegende Bedeutung des Freiheitsrechts ist vom Gesetzgeber beim
Erlass grundrechtsbeschränkender Vorschriften sowie bei deren Auslegung und
Anwendung durch Behörden und Gerichte zu beachten.
BVerfG, Beschluss vom
14.05.1985 – 1 BvR 233, 341/81
BVerfG 1991: Dabei beschränkt
sich der Schutz dieses Grundrechts nicht allein auf die Teilnahme an einer
bestehenden Versammlung, sondern umfasst auch den gesamten Vorgang des
Sich-Versammelns. Dazu zählt namentlich der Zugang zu einer bevorstehenden
oder sich bildenden Versammlung. Andernfalls liefe die Versammlungsfreiheit
Gefahr, durch staatliche Maßnahmen im Vorfeld der Grundrechtsausübung
ausgehöhlt zu werden. Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit schützt auch
nicht nur solche Teilnehmer vor staatlichen Eingriffen, die die Ziele der
Versammlung oder die dort vertretenen Meinungen billigen, sondern kommt
ebenso denjenigen zugute, die ihnen kritisch oder ablehnend gegenüberstehen
und dies in der Versammlung zum Ausdruck bringen.
BVerfG, Beschluss vom
11.06.1991 – 1 BvR 772/90
BVerfG 2001:
Versammlung im Sinne des Artikels 8 GG ist eine örtliche Zusammenkunft
mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der
öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung.
Versammlungen im Sinne des Art 8 GG sind demnach örtliche Zusammenkünfte
mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der
öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung. Art 8
GG schützt die Teilhabe an der Meinungsbildung, nicht aber die zwangsweise
oder sonst wie selbsthilfeähnliche Durchsetzung eigener Forderungen.
BVerfG, Beschluss vom
24.10.2001 - 1 BvR 1190/90
28
Art 9 GG: Vereinigungsfreiheit
TOP
Polizeibezug: Die Vereinigungsfreiheit, die auch das
Recht gewährt, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und
Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, fordert die Polizei nur dann
heraus, wenn es zu Arbeitskämpfen, auch Streiks genannt, kommt. Damit ein
Streik rechtmäßig ist, müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein: Der
Streik darf gesetzlich nicht verboten sein. Weiterhin müssen die vom
Bundesarbeitsgericht entwickelten Voraussetzungen vorliegen.
Beamte
dürfen nicht streiken.
Im Falle eines rechtmäßigen Streiks sind außer
kollektiver Arbeitsverweigerung alle Mittel erlaubt, die nicht verboten
sind. Ein Streik ist aber kein Rechtfertigungsgrund für Straftaten.
Rechtswidrige Kampfmittel sind in der Regel zugleich als Nötigungen
strafbar. Typische rechtswidrige Tathandlungen von Streikenden gegen
Arbeitswillige sind zum
Beispiele:
-
Erzwingen des Durchganges durch
Streikbrechertore
-
Spießrutenlaufen
-
Versperrung der Zugangswege
-
Androhung von Repressalien
-
Drohung mit Hausbesuchen
-
Androhung der Aufnahme in schwarze Listen
-
Gewaltanwendung zur
Einstellung der Arbeit.
Gegenüber
dem bestreikten Betrieb sind unzulässig:
-
Blockaden des Abtransports von Waren
-
Behinderung des Zugangs von Notarbeiten
-
Drohung mit einer Werksbesetzung
-
Nötigende
Mahnwachen.
Kommt es zur Anwendung rechtswidriger Kampfmittel
im Zusammenhang mit Streiks, ist die Polizei gefordert. So lange erlaubte
Kampfmittel eingesetzt werden, ist die Polizei zur strikten Neutralität
verpflichtet. Ein Streik ist nur rechtmäßig, wenn er von einer Gewerkschaft
zur Regelung tariflich vereinbarer Ziele ordnungsgemäß durchgeführt wird.
Schutzbereich: Auch hier einige Textstellen aus
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts:
BVerfG 1960: Das Grundrecht des
Art. 9 Abs. 1 GG gewährleistet den Bürgern die Freiheit, sich zu
Vereinigungen des privaten Rechtes zusammenzuschließen. Gegen die gesetzlich
angeordnete Zugehörigkeit zu einer Organisation des öffentlichen Rechts
(„negative Vereinigungsfreiheit“) schützt dieses Grundrecht nicht.
BVerfG, Beschluss vom
25. Februar 1960 - 1 BvR 239/52
BVerfG 1977:
Den frei gebildeten Koalitionen ist durch Art 9 Abs. 3 die im öffentlichen
Interesse liegende Aufgabe zugewiesen und in einem Kernbereich garantiert,
insbesondere Löhne und sonstige materielle Arbeitsbedingungen in einem von
staatlicher Rechtsetzung frei gelassenen Raum in eigener Verantwortung und
im wesentlichen ohne staatliche Einflussnahme durch unabdingbare
Gesamtvereinbarungen sinnvoll zu ordnen.
BVerfG, Beschluss vom
24.05.1977 – 2 BvL 11/74
BVerfG 1989:
Das Grundrecht des Art. 9 Abs. 1 GG gewährleistet die Freiheit, sich zu
Vereinigungen des privaten Rechts zusammenzuschließen. Mit dem Recht,
Vereine und Gesellschaften zu bilden, garantiert Art. 9 Abs. 1 GG das
Prinzip freier sozialer Gruppenbildung. Der Schutz des Grundrechts umfasst
sowohl für Mitglieder als auch für die Vereinigung die Selbstbestimmung über
die eigene Organisation, das Verfahren ihrer Willensbildung und die Führung
ihrer Geschäfte sowie - unbeschadet der Frage der Rechtsfähigkeit - das
Recht auf Entstehen und Bestehen. Art. 9 Abs. 1 GG schützt insbesondere vor
einem Eingriff in den Kernbereich des Vereinsbestandes und der
Vereinstätigkeit; die Vorschrift soll so einen effektiven Grundrechtsschutz
gewährleisten. [...]. Art. 9 Abs. 1 GG schützt insbesondere vor einem
Eingriff in den Kernbereich des Vereinsbestandes und der Vereinstätigkeit;
die Vorschrift soll so einen effektiven Grundrechtsschutz gewährleisten.
BVerfG, Beschluss vom
15. Juni 1989 - 2 BvL 4/87
Hinweis:
Politische Parteien sind zwar grundsätzlich ebenfalls Vereine, trotzdem ist
Art. 9 GG auf sie nicht anwendbar. Diesbezüglich sind die Regelungen in Art.
21 GG spezieller.
29 Art 10
GG: Post- und Fernmeldegeheimnis
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Polizeibezug: Eingriffe in das Post- und
Fernmeldegeheimnis kommen im polizeilichen Berufsalltag selten vor.
Einschlägige Befugnis für die Postbeschlagnahme ist § 99 StPO
(Postbeschlagnahme). Zur Anordnung einer Postbeschlagnahme ist nur der
Richter, bei Gefahr im Verzug auch die Staatsanwaltschaft (StA) befugt.
Hinsichtlich der Anordnung solcher Maßnahmen ist § 100 StPO (Verfahren bei
Postbeschlagnahme) einschlägig. Auch auf Facebook-Konten und E-Mails findet
§ 99 StPO Anwendung. Für die Durchsicht solcher "Papiere" ist § 110 StPO
(Durchsicht von Papieren und elektronischen Speichermedien) einschlägig. Die
Überwachung der Telekommunikation ist im § 100a StPO
(Telekommunikationsüberwachung) geregelt.
Dort heißt es:
§ 100 Abs. 1 StPO (Verfahren bei der
Postbeschlagnahme und Auskunftsverlangen)
(1) Zur Anordnung der Maßnahmen nach § 99 ist
nur das Gericht, bei Gefahr im Verzug auch die Staatsanwaltschaft befugt.
Für die Durchsicht solcher "Papiere" ist § 110 StPO (Durchsicht von
Papieren und elektronischen Speichermedien) einschlägig.
Bei
Eingriffen in das Post- und Fernmeldegeheimnis handelt es sich um heimlich
durchgeführte polizeiliche Überwachungsmaßnahmen. Im Hinblick auf die
Schwere heimlicher Überwachungsmaßnahmen hat sich das BVerfG mit Urteil vom
20.04.2016 - 1 BvR 966/09 umfassend zu der Sprachfigur "heimlicher
Überwachungsmaßnahmen" geäußert.
BVerfG 2016: Heimliche Überwachungsmaßnahmen, sofern sie, wie die
meisten der hier in Rede stehenden Maßnahmen, tief in die Privatsphäre
eingreifen, sind mit der Verfassung nur vereinbar, wenn sie dem Schutz oder
der Bewehrung von hinreichend gewichtigen Rechtsgütern dienen, für deren
Gefährdung oder Verletzung im Einzelfall belastbare tatsächliche
Anhaltspunkte bestehen. Sie setzen grundsätzlich voraus, dass der Adressat
der Maßnahme in die mögliche Rechtsgutverletzung aus Sicht eines
verständigen Dritten den objektiven Umständen nach verfangen ist. Eine
vorwiegend auf den Intuitionen der Sicherheitsbehörden beruhende bloße
Möglichkeit weiterführender Erkenntnisse genügt zur Durchführung solcher
Maßnahmen nicht. [...]. Für Maßnahmen, die der Strafverfolgung dienen und
damit repressiven Charakter haben, kommt es auf das Gewicht der verfolgten
Straftaten an, die der Gesetzgeber insoweit in - jeweils näher bestimmte -
erhebliche, schwere und besonders schwere Straftaten eingeteilt hat. [...].
Für Maßnahmen, die der Gefahrenabwehr dienen und damit präventiven Charakter
haben, kommt es unmittelbar auf das Gewicht der zu schützenden Rechtsgüter
an. Heimliche Überwachungsmaßnahmen, die tief in das Privatleben
hineinreichen, sind nur zum Schutz besonders gewichtiger Rechtsgüter
zulässig. Hierzu gehören Leib, Leben und Freiheit der Person sowie der
Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes.
BVerfG, Urteil vom 20. April 2016 - 1 BvR 966/09
Werden solche heimlichen Maßnahmen zum Zweck der Gefahrenabwehr
durchgeführt, müssen dafür die Voraussetzungen gegeben sein, die in den
Länderpolizeigesetzen diesbezüglich enthalten sind.
Schutzbereich:
BVerfG
1972: Das Grundrecht des Briefgeheimnisses schützt den brieflichen
Verkehr der Einzelnen untereinander gegen eine Kenntnisnahme der
öffentlichen Gewalt von dem Inhalt des Briefes.
BVerfG, Beschluss v. 14.03.1972 - 2 BvR 41/71
Das Grundrecht des Fernmeldegeheimnisses definierten die Richter des
Bundesverfassungsgerichts 2002 wie folgt:
BVerfG 2002: Der Schutz des
Fernmeldegeheimnisses (Artikel 10 Abs. 1 GG) erstreckt sich [auch] auf die
von Privaten betriebenen Telekommunikationsanlagen. [...]. Das Grundrecht
des Fernmeldegeheimnisses dient der freien Entfaltung der Persönlichkeit
durch einen Kommunikationsaustausch mit Hilfe des Fernmeldeverkehrs. Es ist
unerheblich, um welche Inhalte es sich handelt und ob sie privater,
geschäftlicher oder politischer Art sind. Der Schutz ist nicht auf die
früher von der Deutschen Bundespost genutzten Technologien und angebotenen
Fernmeldedienste (wie Telefon, Telefax oder Teletext) beschränkt, sondern
umfasst sämtliche mit Hilfe der verfügbaren Telekommunikationstechniken
erfolgenden Übermittlungen von Informationen. Auf die konkrete
Übermittlungsart (etwa über Kabel oder Funk, durch analoge oder digitale
Vermittlung) und Ausdrucksform (etwa Sprache, Bilder, Töne, Zeichen oder
sonstige Daten) kommt es nicht an. Mit Rücksicht auf die zwischenzeitlich
erfolgte technologische Entwicklung ist der, früher üblich gewesene Begriff
des Fernmeldewesens, in anderen Bestimmungen des Grundgesetzes
zwischenzeitlich durch den der Telekommunikation ersetzt worden.
BVerfG, Beschluss v.
09. 10.2002 - 1 BvR 1611/96
30
Art 11 GG: Freizügigkeit
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Polizeibezug: Polizeiliche Eingriffe in das Recht
auf Freizügigkeit sind zum Beispiel auf der Grundlage von § 34 PolG NRW
(Platzverweisung), hier insbesondere im Zusammenhang mit längerfristigen
Platzverweisungen möglich. Gleiches gilt für Wohnungsverweisungen und
Rückkehrverbote zum Schutz vor häuslicher Gewalt gemäß § 34a PolG NRW
(Wohnungsverweisung und Rückkehrverbot zum Schutz vor häuslicher Gewalt).
Auf die gesetzlichen Möglichkeiten im Sinne von § 34b PolG NRW
(Aufenthaltsvorgabe und Kontaktverbot), soll hier nur hingewiesen werden.
Schutzbereich: Bereits 1957 positionierten sich die
Richter des BVerfG zur Freizügigkeit wie folgt:
BVerfG 1957: Artikel 11 Abs. 1
GG gewährleistet die Freizügigkeit „im ganzen Bundesgebiet.“ [...]. Das
Grundrecht der Freizügigkeit darf nur unter bestimmten in Artikel 11 Abs. 2
GG einzeln aufgeführten Voraussetzungen gesetzlich eingeschränkt werden. Bei
der Formulierung der Einschränkungstatbestände hat der Grundgesetzgeber
offensichtlich an Beschränkungen der innerstaatlichen Freizügigkeit gedacht;
die herkömmlichen und sachgerechten Beschränkungen der Ausreisefreiheit sind
nicht erwähnt. Dennoch entbehrt die Ausreisefreiheit als Ausfluss der
allgemeinen Handlungsfreiheit nicht eines angemessenen grundrechtlichen
Schutzes (Artikel 2 Abs. 1 GG).
BVerfG, Urteil v. 16.
01.1957 - 1 BvR 253/56
Anders ausgedrückt: Der Schutzbereich
des Grundrechts auf Freizügigkeit ist in Anlehnung an die herrschende
Meinung weit auszulegen.
31
Art 12 GG: Freie Berufsausübung
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Polizeibezug: Berufsverbote werden durch
Polizeibeamte nicht verfügt. Das bedeutet jedoch nicht, dass Personen, die
Polizeibeamtin oder Polizeibeamter werden möchten, nicht selbst an der
freien Ausübung ihres Berufes gehindert werden können. Insbesondere im
Zusammenhang mit Bemühungen, rechtsextrem eingestellte Polizeibewerberinnen
und -bewerber den Zugang zum öffentlichen Dienst nicht zu gestatten. So
genannte Verfassungstreue-Checks sollen verhindern, dass Reichsbürger,
Neonazis oder anderweitig dem radikalen Spektrum angehörige Personen der
Zugang in den Polizeivollzugsdienst nicht gewährt wird. Diese Idee ist nicht
neu. In einer Meldung auf der Website des NDR vom 05.05.2022 heißt es:
NDR.de vom 05.05.2022: Eine
solche allgemeine Regelanfrage beim Verfassungsschutz für Staatsdiener gab
es schon einmal in Westdeutschland: Vor 50 Jahren mit dem „Radikalenerlass“.
Dadurch sollte der „Marsch durch die Institutionen“ und eine kommunistische
Unterwanderung des Staates verhindert werden. Bis zu 3,5 Millionen
Westdeutsche wurden auf ihre politische Gesinnung durchleuchtet, was zu
11.000 offiziellen Verfahren geführt hatte, 265 Personen wurden aus dem
öffentlichen Dienst entlassen.
Heute
stellt sich erneut die Frage, die da lautet, wie kann verhindert werden,
dass rechtsextreme Personen Polizeibeamte werden? Einige Bundesländer wollen
alle Anwärter auf ihre Verfassungstreue hin überprüfen. In einer
Pressemitteilung der GdP-Hamburg vom 28.08.2022 heißt es diesbezüglich:
GdP-Hamburg: Radikalen
Tendenzen in der Polizei entgegenwirken - Belastungen des Polizeiberufs
erforschen! Unabhängig von individueller Schuld und Verantwortung kann und
muss die GdP zur Frage politischen Radikalismus in der Polizei Stellung
nehmen. Hierzu stellt die GdP fest: Politischer Extremismus, also die
Durchsetzung politisch radikaler Vorstellungen durch die aggressive
Bekämpfung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, ist mit dem
Polizeiberuf unvereinbar. Polizeibeschäftigte, die des politischen
Extremismus im Rahmen eines rechtsstaatlichen Verfahrens überführt sind,
müssen die Polizei verlassen. Im Bereich des politischen Radikalismus
erkennt die GdP allerdings Graubereiche, die ohne individuelle
Sachverhaltsklärung nicht pauschal zu beantworten sind. Richtschnur bleibt
die Einstellung des jeweiligen Beamten/in zur freiheitlich-demokratischen
Grundordnung. In diesem Zusammenhang sind pauschale Werturteile und die
vorschnelle Bezeichnung von Vorgängen als rassistisch oder populistisch als
nicht hilfreich zu bewerten.
Wie dem auch immer sei.
Gesinnungsprüfungen wird in einer offenen Gesellschaft wohl immer der Makel
anhaften, den ideologischen Standpunkt von Bewerberinnen und Bewerbern
hinsichtlich der Kompatibilität deren Weltsicht mit dem Werteverständnis des
Staates abzugleichen. Die damit verbundenen Probleme berühren den Kern
demokratischen Rechtsverständnisses.
In einer Meldung auf Golem.de
vom 12. 03.2022 heißt es zum Beispiel:
Golem.de vom 12.03.2022: Rechte Chats in NRW: Sechs
Polizisten entlassen, 251 verdächtig. Der Sonderbeauftragte im Kampf gegen
Rechtsextremismus bei der Polizei stellte das Lagebild im Landtag vor. Im
Skandal um rechtsextreme Polizisten-Chats in Nordrhein-Westfalen sind sechs
Kommissaranwärter entlassen worden. Es würden noch eine Reihe weiterer
Verfahren gegen Polizeibeamte geführt mit dem Ziel, sie aus dem Dienst zu
entfernen. Demnach sind Männer sowie der Wach- und Wechseldienst von den
Verdachtsfällen überproportional betroffen. 110 von 186 ausgewerteten Fällen
konzentrieren sich auf die Polizeipräsidien in Essen (50), Köln (21), Aachen
(25) und Dortmund (14). Die meisten Fälle seien als Rassismus (125),
NS-Verherrlichung (95), Antisemitismus (66) und Gewaltverherrlichung (62) zu
werten. Bei den arbeitsrechtlichen Verfahren gegen Nicht-Beamte seien drei
Abmahnungen und zwei Kündigungen ausgesprochen worden.
Schutzbereich: Hier der Versuch einer
Standortbestimmung.
BVerfG 1958:
Die Regelung nach Art 12 Abs. 1 GG erstreckt sich auf Berufsausübung und
Berufswahl, aber nicht auf beide in gleicher Intensität. Das Grundrecht soll
die Freiheit des Individuums schützen, der Regelungsvorbehalt ausreichend
Schutz der Gemeinschaftsinteressen sicherstellen. Die Freiheit der
Berufswahl darf nur eingeschränkt werden, soweit der Schutz besonders
wichtiger Gemeinschaftsgüter es zwingend erfordert. Ist ein solcher Eingriff
unumgänglich, so muss der Gesetzgeber stets diejenige Form des Eingriffs
wählen, die das Grundrecht am wenigsten beschränkt.
BVerfG, Urteil vom
11.06.1958 – 1 BvR 596/56
Hinsichtlich des Zugangs zu
öffentlichen Ämtern ist im Zusammenhang mit der freien Berufswahl jedoch das
grundrechtsgleiche Recht des Art. 33 GG spezieller, so dass für Art 12 GG
kein Raum bleibt.
Dort heißt es:
Art 33 GG
(1) Jeder Deutsche hat in jedem Lande die
gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten.
(2) Jeder Deutsche hat nach seiner Eignung,
Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen
Amte. (3) Der
Genuss bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte, die Zulassung zu
öffentlichen Ämtern sowie die im öffentlichen Dienste erworbenen Rechte sind
unabhängig von dem religiösen Bekenntnis. Niemandem darf aus seiner
Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einem Bekenntnisse oder einer
Weltanschauung ein Nachteil erwachsen.
(4) Die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse
ist als ständige Aufgabe in der Regel Angehörigen des öffentlichen Dienstes
zu übertragen, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und
Treueverhältnis stehen.
(5) Das Recht des öffentlichen Dienstes ist
unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu
regeln und fortzuentwickeln.
Hinsichtlich
rechtsextremistischer Einstellungen innerhalb der Polizei heißt es in dem
Buch der Autoren Benjamin Derin und Tobias Singelnstein mit dem Titel: „Die
Polizei – Helfer, Gegner, Staatsfeind“, Econ-Verlag 2022, wie folgt:
Derin/Singelnstein 2022:
Betrachtet man die vorliegenden Befunde in einer Gesamtschau, muss man davon
ausgehen, dass es eine nicht unwesentliche Gruppe von Beamten in der Polizei
gibt, die ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild haben (S. 200). An
anderer Stelle heißt es sinngemäß, dass die Polizei sich damit schwertut,
über politische Einstellungen zu reden. Politische Überzeugungen gelten als
Privatsache. Im Kollegenkreis zählt Loyalität und Zusammenhalt.
Bisher war es so, dass es zumindest in NRW
ausreichte, wenn Bewerberinnen und Bewerber sich durch Leistung ihrer
Unterschrift zur freiheitlich demokratischen Grundordnung
bekannten/bekennen. In Zukunft wird diese Prüfung wohl intensiver sein, als
das bisher der Fall gewesen ist. Wie die „Sicherheitsüberprüfungen“ im
Freistaat Bayern aussehen, das in der "Bekanntmachung über die Pflicht zur
Verfassungstreue im öffentlichen Dienst (Verfassungstreue-Bekanntmachung –
VerftöDBek), Bekanntmachung der Bayerischen Staatsregierung vom 3. Dezember
1991, Az. B III 3-180-6-403 geregelt.
Was unter dem
unbestimmten Rechtsbegriff „freiheitliche demokratische Grundordnung“ zu
verstehen ist, wird im Zusammenhang mit den Ausführungen zum Schutzbereich
des Artikels 18 GG (Verwirkung von Grundrechten) erneut aufgegriffen, weil
dort der unbestimmte Rechtsbegriff im Wortlaut des Grundrechtes verwendet
wird.
32 Art 13 GG:
Unverletzlichkeit der Wohnung
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Polizeibezug: Das Durchsuchen und/oder Betreten von
Wohnungen gehört zu den so genannten polizeilichen Standardmaßnahmen, die
aus unterschiedlichsten Anlässen erforderlich werden können, zum Beispiel
anlässlich von häuslicher Gewalt, zur Abwehr von Gefahren, zur Ergreifung
von Personen, zum Auffinden von Beweismitteln oder zur Unterbindung von
Immissionen, die von Wohnungen ausgehen, die nach Art, Ausmaß oder Dauer zu
einer erheblichen Belästigung der Nachbarschaft führen. Auch zur Abwehr
einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder
für Sachen von bedeutendem Wert können Wohnungen betreten bzw. durchsucht
werden, wenn das erforderlich ist.
Die Auflistung ist nicht
abschließend. Festzustellen ist, dass Wohnungen zum Zweck der
Gefahrenabwehr auf der Grundlage von Befugnissen, die in den Polizeigesetzen
enthalten sind, Wohnungen sowohl durchsucht als auch betreten werden können.
Zum Zweck der Strafverfolgung kommt als gesetzlich zugelassene Rechtsfolge
nur eine Durchsuchung in Betracht. Während das Betreten einer Wohnung als
eine Inaugenscheinnahme anzusehen ist, setzt eine Durchsuchung eine
intensive Suche nach Personen oder sicherzustellenden Gegenständen voraus.
Schutzbereich: Das Grundgesetz definiert nicht, was
unter Wohnung iSv Artikel 13 GG zu verstehen ist. Das
Bundesverfassungsgericht und die herrschende Meinung legen den
Wohnungsbegriff weit aus. Demnach gelten als Wohnung alle Räume, die der
Einzelne der Öffentlichkeit entzogen und zur Stätte seines Lebens und
Wirkens bestimmt hat.
Im Einzelnen zählen dazu:
-
Räume, die der Wohnungsinhaber im engeren Sinne
ständig zum Wohnen nutzt (Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche, Bad,
Esszimmer, Flure)
-
Räume, die der Wohnungsinhaber zum Wohnen zur
Zeit des Grundrechtseingriffs tatsächlich nutzt (Wohnmobile, Wohnwagen,
Wohnboote, Zelte, Hotelzimmer)
-
Zur Wohnung gehörende Nebenräume (Keller,
Boden, Garage, eingezäunter Garten)
-
Betriebs- und Geschäftsräume (Büros,
Ladenlokale, Gaststätten, eingezäuntes Betriebsgelände)
-
Notunterkünfte, Asylantenwohnheime.
Artikel 13 Abs. 1 GG schütz den Bereich der
Privatsphäre, den der Einzelne als Wohnung bestimmt hat und in dem er
unbehelligt von anderen leben möchte und im Grundsatz dort tun und lassen
kann, was ihm beliebt.
Nicht als Wohnung zählen Pkw, Hafträume,
eingezäunte Äcker und Wiesen.
BVerfG 1983: Wohnung im Sinne des Art 13 GG ist allein die
räumliche Privatsphäre. Das Grundrecht normiert für die öffentliche Gewalt
ein grundsätzliches Verbot des Eindringens in die Wohnung oder des
Verweilens darin gegen den Willen des Wohnungsinhabers. Dazu gehören etwa
der Einbau von Abhörgeräten und ihre Benutzung in der Wohnung, nicht aber
Erhebungen und die Einholung von Auskünften, die ohne Eindringen oder
Verweilen in der Wohnung vorgenommen werden können. Sie werden von Art 13 GG
nicht erfasst.
BVerfG, Urteil vom 15.12.1983 – 1 BvR 209/83
33 Art 14 GG: Recht auf
Eigentum
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Polizeibezug: Täglich werden von Polizeibeamtinnen und
Polizeibeamten Gegenstände sowohl zum Zweck der Gefahrenabwehr als auch zum
Zweck der Strafverfolgung sichergestellt bzw. beschlagnahmt. Das geschieht
dadurch, indem Sachen sozusagen in amtliche Verwahrung genommen werden.
Ob es sich bei den oben nur angedeuteten Maßnahmen lediglich um
Eingriffe in die „Verfügungsgewalt über Eigentum“, oder um Eingriffe in das
Grundrecht auf „Eigentum“ handelt, ist eine Frage, die aus
polizeirechtlicher Sicht bedeutungslos ist, weil in den weitaus meisten
Fällen eine sichergestellte Sache wieder an berechtigte Personen
zurückgegeben wird, wenn für eine amtliche Verwahrung kein Grund mehr
besteht. Nach der hier vertretenen Rechtsauffassung ist ein Eingriff in das
Recht auf Eigentum nur dann gegeben, wenn es sich bei dem Eingriff um eine
Enteignung handelt, besser gesagt, die Person, der eine Sache gehört, wird
dauerhaft die Verfügungsgewalt über sichergestellte/beschlagnahmte
Gegenstände entzogen. Für diese Sichtweise spricht Art 14 Abs. 1 Satz 2 GG:
Art 14 Abs. 1 GG
(1) Das Eigentum und das Erbrecht werden
gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.
Das bedeutet, dass im Rahmen polizeilichen Eingriffsrechtes die zur
Verfügung stehenden Eingriffsbefugnisse bestimmen, unter welchen
Voraussetzungen Gegenstände in amtliche Verwahrung genommen werden dürfen
(durch Sicherstellung, Beschlagnahme oder durch Einziehung) und wie mit
solchen Gegenständen umzugehen ist. Ob es sich bei den oben genannten
Maßnahmen um Eingriffe in die „Verfügungsgewalt über Eigentum“ oder aber um
Eingriffe in das Grundrecht auf „Eigentum“ handelt, ist eine Detailfrage,
die nach der hier vertretenen Rechtsauffassung Verfassungsrechtlern
vorbehalten bleiben sollte, denn für beide Sichtweisen gibt es
nachvollziehbare Gründe. Für die polizeiliche Berufspraxis ist diese
Unterscheidung bedeutungslos.
Schutzbereich: Für
die oben skizzierte Sichtweise spricht auch das nachfolgend mitgeteilte
Zitat aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1968:
BVerfG 1968: Eigentum ist
eine Form der Sachherrschaft und damit der umfassende Begriff für die
vielfältig denkbaren, sachenrechtlichen Beziehungen. Diese Sachherrschaft
kann nach den verschiedensten Gesichtspunkten und Anschauungen ausgestaltet
werden. Das Eigentum bürgerlichen Rechts ist durch seine Privatnützigkeit
und grundsätzliche Verfügungsfähigkeit gekennzeichnet. Daneben kennt aber
die geltende Rechtsordnung in mannigfacher Weise Sachherrschaften, die -
obwohl als Eigentum bezeichnet - nicht auf Privatnützigkeit, sondern auf
Fremdnützigkeit ausgerichtet sind. Werden Sachen dieser Art, wenn sie sich
in der Hand des Staates befinden, grundsätzlich aus der Privatrechtsordnung
herausgenommen und einer ausschließlich öffentlich-rechtlichen
Sachherrschaft unterstellt, die man als „öffentliches Eigentum“ bezeichnet,
so liegt darin jedenfalls dann keine Schmälerung des durch Art 14 Abs. 1
Satz 1 GG gewährleisteten Rechtsinstituts, wenn diese Sachen einem
besonderen öffentlichen Zweck gewidmet sind und im Hinblick auf diese
Zweckbindung die private Verfügungsfähigkeit ganz oder weitgehend
ausgeschlossen ist.
BVerfG, Urteil vom
18.12.1968 – 1 BvR 638, 673/64
34
Art 15 GG: Sozialisierung/Enteignung
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Polizeibezug: Solche Maßnahmen werden von der
Polizei nicht verfügt, wohl aber durchgesetzt, zum Beispiel, um den Abriss
ganzer Dörfer zu ermöglichen, damit die im Boden vorhandene Braunkohle
abgebaggert werden kann. Die Ortschaft Lützerath darf, so hat es das OVG
Münster im März 2022 entschieden, für den Braunkohletagebau Garzweiler II
abgebaggert werden, vgl. OVG Münster, Beschluss vom 28.03.2022, Az. 21 B
1675/21 und 21 B 1676/21.
Klimaschützer kündigten im Anschluss an
diesen Beschluss umgehend Proteste an. Schutzbereich:
BVerfG 1954: Die
„wirtschaftliche Neutralität“ des Grundgesetzes besteht lediglich darin,
dass sich der Verfassungsgeber nicht ausdrücklich für ein bestimmtes
Wirtschaftssystem entschieden hat. Dies ermöglicht dem Gesetzgeber, die ihm
jeweils sachgemäß erscheinende Wirtschaftspolitik zu verfolgen, sofern er
dabei das Grundgesetz beachtet. Die gegenwärtige Wirtschafts- und
Sozialordnung ist zwar eine nach dem Grundgesetz mögliche Ordnung,
keineswegs aber die allein Mögliche. [...]. Sie beruht auf einer vom Willen
des Gesetzgebers getragenen wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidung,
die durch eine andere Entscheidung ersetzt oder durchbrochen werden kann.
BVerfG, Urteil vom 20.
Juli 1954 – 1 BvR 459/52
Auch wenn das Eigentum zu den so
genannten heiligen Rechten gehört, so zumindest wurde es schon in der
Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, die am 26. August 1789 von der
französischen Nationalversammlung verabschiedet wurden, bezeichnet, und der
Schutz des Eigentums auch ein erklärtes Ziel aller Beteiligten war, die an
der Textfassung des Grundgesetzes mitgewirkt haben, wurde trotz aller
Gegensätze eine sprachliche Regelung geschaffen, die durchaus eine
Veränderung bestehender Eigentumsvorstellungen zumindest zulassen würde.
35 Art 16 GG: Entzug der
Staatsangehörigkeit
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Polizeibezug: Dieses Grundrecht hat keine Bedeutung
für den polizeilichen Berufsalltag. Schutzbereich:
Diesbezüglich
ist der Wortlaut von Art 16 GG einschlägig.
Art 16 GG
(1) Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht
entzogen werden. Der Verlust der Staatsangehörigkeit darf nur auf Grund
eines Gesetzes und gegen den Willen des Betroffenen nur dann eintreten, wenn
der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird.
(2) Kein Deutscher darf an das Ausland
ausgeliefert werden. Durch Gesetz kann eine abweichende Regelung für
Auslieferungen an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder an einen
internationalen Gerichtshof getroffen werden, soweit rechtsstaatliche
Grundsätze gewahrt sind.
36
Art 16a GG: Asylrecht
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Polizeibezug: Die Prüfung asylrechtlicher Fragen
fallen nicht in den Zuständigkeitsbereich der Polizei. Dennoch ergeben sich
im polizeilichen Berufsalltag eine Vielzahl von Berührungspunkten mit
Flüchtlingen und Asylbewerbern. Die folgenden Zitate aus einer Broschüre des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), das den Ablauf des
deutschen Asylverfahrens beschreibt (Stand: 04/2021; 3. aktualisierte
Fassung), macht das deutlich:
BAMF 2021: Für alle in Deutschland ankommenden Asylsuchenden gilt:
Sie müssen sich unmittelbar bei oder nach ihrer Ankunft bei einer
staatlichen Stelle melden. Dies kann schon an der Grenze oder später im
Inland geschehen. Wer sich bereits bei der Einreise als asylsuchend meldet,
wendet sich an die Grenzbehörde. Sie leitet Asylsuchende dann an die
nächstgelegene Erstaufnahmeeinrichtung weiter. Wer sein Asylgesuch erst im
Inland äußert, kann sich hierzu bei einer Sicherheitsbehörde (zum Beispiel
der Polizei), einer Ausländerbehörde, bei einer Aufnahmeeinrichtung oder
direkt bei einem Ankunftszentrum oder Anerkennungseinrichtung melden. Erst
dann kann ein Asylverfahren beginnen. [...]. Die während der Registrierung
erfassten Daten werden im Ausländerzentralregister (AZR) gespeichert. Das
AZR ist eine bundesweite personenbezogene Datei, die zentral vom Bundesamt
geführt wird. Sie enthält Informationen über Menschen aus dem Ausland, die
sich in Deutschland aufhalten oder aufgehalten haben. Alle Ausländerbehörden
arbeiten mit diesen Daten, wenn sie ihre Aufgaben wahrnehmen.[...]. Für
Antragstellende, die nach einer negativen Entscheidung im Asylverfahren
nicht freiwillig ausreisen, tritt ein gesetzliches Einreise- und
Aufenthaltsverbot – die sogenannte Wiedereinreisesperre – in Kraft. [...].
Tritt ein Einreise- und Aufenthaltsverbot in Kraft, so wird dies für die
betroffene Person im bundesweiten polizeilichen Informationssystem INPOL und
im Ausländerzentralregister eingetragen. Bei einer Einreisekontrolle kann
dann die Einreise verweigert werden, bei einem illegalen Aufenthalt im
Bundesgebiet sogar eine Festnahme erfolgen. Das Einreise- und
Aufenthaltsverbot gilt grundsätzlich nicht nur für das Bundesgebiet, sondern
für den gesamten Schengenraum.
Diese kurzen Zitate aus einer
53 Seiten umfassenden Broschüre zeigen zumindest ansatzweise auf, mit
welchen asylrechtlichen Problemstellungen die Polizei in ihrem Berufsalltag
konfrontiert wird, zum Beispiel anlässlich von Personenkontrollen oder im
Anschluss an durchgeführte Datenabfragen wenn zum Beispiel im Anschluss
daran die kontrollierte Person in Abschiebehaft genommen werden muss etc.
Schutzbereich: Aus der Vielzahl von
höchstrichterlichen Entscheidungen seinen an dieser Stelle nur zwei
Entscheidungen genannt:
BVerfG
1989: Politische Verfolgung im Sinne von Art 16 Abs. 2 Satz 2 GG
ist grundsätzlich staatliche Verfolgung. Eine Verfolgung ist dann eine
politische, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an seine politische
Überzeugung, seine religiöse Grundentscheidung oder an für ihn unverfügbare
Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die
ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der
staatlichen Einheit ausgrenzen.
BVerfG, Beschluss vom
10.07.1989 – 2 BvR 502, 100, 961/86
Wirtschaftsflüchtlingen wird kein Asyl gewährt. Kein Asylrecht für
Terroristen.
Asylsuchende, die auf dem Luftweg in die
Bundesrepublik einreisen, werden im Transitbereich so lange festgehalten,
bis über ihre Asylanträge entschieden wurde.
BVerfG 1996: Die Begrenzung des
Aufenthalts von Asylsuchenden während des Verfahrens nach § 18a AsylVfG auf
die für ihre Unterbringung vorgesehenen Räumlichkeiten im Transitbereich
eines Flughafens stellt keine Freiheitsentziehung oder Freiheitsbeschränkung
im Sinne von Art 2 Abs. 2 Satz 2 und Art 104 Abs. 1 und 2 GG dar. Effektiver
Rechtsschutz (Art 19 Abs. 4 GG) verlangt im Flughafenverfahren Vorkehrungen
des Bundesamtes und der Grenzschutzbehörden, dass die Erlangung
gerichtlichen Rechtsschutzes nicht durch die obwaltenden Umstände unzumutbar
erschwert oder gar vereitelt wird.
BVerfG, Urteil vom
14.05.1996 - 2 BvR 1516/93
Das Asylrecht von heute
unterscheidet sich wesentlich von dem Grundrecht auf Asyl, wie es noch in
der Urfassung des Grundgesetzes ausgestaltet war. Im Artikel 16 Abs. 2 Satz
2 heißt es in der Urfassung wie folgt:
Art 16 Abs. 2 GG
Politisch Verfolgte genießen Asyl.
Im Anschluss an heftige Debatten, die 1993 im Deutschen Bundestag
anlässlich der Änderung des Asylrechts geführt wurden, wurde Art 16a GG neu
in das Grundgesetz eingeführt.
37
Art 17 GG: Petitionsrecht
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Polizeibezug: Personen, gegen die sich polizeiliche
Maßnahmen gerichtet haben, steht das Recht zu, sich über erlebtes
unangemessenes Verhalten bei vorgesetzten Stellen zu beschweren. Das gilt
selbstverständlich auch für Maßnahmen, die vom Beschwerdeführer als
rechtswidrig angesehen werden.
Schutzbereich:
BVerfG 1953: Das Grundrecht
des Art 17 GG verleiht demjenigen, der eine zulässige Petition einreicht,
ein Recht darauf, dass die angegangene Stelle die Eingabe nicht nur
entgegennimmt, sondern auch sachgerecht überprüft und dem Petenten zum
Mindesten die Art der Erledigung schriftlich mitteilt. Der Petent hat, wenn
er die gleiche Petition nochmals bei der gleichen Stelle anbringt,
grundsätzlich keinen Anspruch auf sachliche Prüfung und Entscheidung.
BVerfG, Beschluss vom
22.04.1953 – 1 BvR 162/51
38
Art 18 GG: Verwirkung von Grundrechten
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Polizeibezug:
Für die Polizei unbedeutend. Bisher hat es noch keinen Fall in der
Geschichte des Grundgesetzes gegeben. Über die Verwirkung von
Grundrechten entscheidet allein das Bundesverfassungsgericht.
Antragsberechtigte im Sinne von § 36 Bundesverfassungsgerichtsgesetz sind:
-
Bundesregierung
-
Bundestag
-
Landesregierungen.
Schutzbereich: Art 18 GG geht
von der Vorstellung aus, dass es sich bei der Demokratie des Grundgesetzes
um eine wehrhafte Demokratie handelt, die dazu in der Lage ist, sich gegen
Kräfte wehren zu können, die die freiheitliche demokratische Grundordnung
bekämpfen und missbrauchen. Diese Sprachfigur ist, wie an anderer Stelle in
diesem Aufsatz bereits erwähnt, für das Berufsverständnis von
Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten bedeutsam, weil das Bekenntnis zur
freiheitlich demokratischen Grundordnung sozusagen als eine
Zulassungsvoraussetzung anzusehen ist, um überhaupt ein öffentliches Amt
bekleiden zu können.
Aus diesem Grunde wird eine Stelle aus einem
Urteil des Bundesverfassungsgerichts zitiert, das aus den Anfangsjahren der
Bundesrepublik Deutschland stammt.
BVerfG 1952: Freiheitliche demokratische Grundordnung im
Sinne des Art 21 II GG ist eine Ordnung, die unter Ausschluss jeglicher
Gewalt und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf
der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen
Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden
Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im
Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der
Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die
Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit
der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und
die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf
verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.
BVerfG, Urteil vom 23.10.1952 – 1 BvB 1/51
Diese freiheitlich demokratische Grundordnung vollumfänglich
zu akzeptieren, ist eine Grundvoraussetzung, um in den Polizeivollzugsdienst
eingestellt werden zu können. Lange Zeit reichte es aus, wenn
Bewerberinnen und Bewerber im Rahmen des Einstellungsverfahrens bei der
Polizei, den Wortlaut des oben zitierten Textes, besser gesagt den Inhalt
dieses Textes, durch Unterschriftsleistung anerkannten. Bestrebungen,
Bewerberinnen und Bewerber mit verfassungsfeindlichen Einstellungen den
Zugang zu erschweren, werden aber wohl dazu führen, dass eine
Unterschriftsleistung allein in Zukunft nicht mehr ausreichen wird. Wie
die Sicherheitsüberprüfungen von Polizeibewerberinnen und Bewerbern im
Einzelnen aussehen werden, darüber haben die Länder zu entscheiden, denn
Polizei ist Ländersache.
Auf die Regelungen im Freistaat Bayern wurde
bereits an anderer Stelle hingewiesen.
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Art 19 GG: Zitiergebot – Rechtsweggarantie – Wesensgehalt
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Polizeibezug:
Das Zitiergebot richtet sich an den Gesetzgeber. Polizeiliche Aufgabe ist
es, Gesetzen Geltung zu verschaffen, die von der Polizei auszuführen sind.
Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte müssen deshalb wissen, dass alle
Maßnahmen, durch die Personen in ihren Grundrechten beeinträchtigt werden,
auf Antrag der davon betroffenen Person einer gerichtlichen Kontrolle
unterliegen. Eingriffe in den Wesensgehalt eines Grundrechts kommen nur
dann in Betracht, wenn in den Kernbereich eines Grundrechtes eingegriffen
wird, was zum Beispiel im Rahmen von Observationsmaßnahmen oder anlässlich
so genannter Großer Lauschangriffe durchaus möglich ist.
Schutzbereich Wesensgehalt: Zum Wesensgehalt eines Grundrechts
zählt, in Anlehnung an ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr
2004, auch der so genannte Kernbereichsschutz. Was damit gemeint ist, hat
der Landesgesetzgeber NRW wie folgt im Polizeigesetz des Landes NRW
geregelt:
§ 16 PolG NRW (Schutz
des Kernbereichs privater Lebensgestaltung bei der Datenerhebung mit
besonderen Mitteln)
(1) Die Erhebung personenbezogener Daten, die
dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen sind, ist unzulässig.
(2) Eine Erhebung ist unverzüglich zu
unterbrechen, wenn sich tatsächliche Anhaltspunkte dafür ergeben, dass
Daten, die dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen sind,
erfasst werden; dies gilt nicht, soweit die Erhebung aus zwingenden
informations- oder ermittlungstechnischen Gründen nicht unterbleiben kann.
Die Erhebung darf fortgesetzt werden, wenn zu erwarten ist, dass die Gründe,
die zur Unterbrechung geführt haben, nicht mehr vorliegen. Die anordnende
Stelle ist über den Verlauf der Maßnahme unverzüglich zu unterrichten.
Liegen die Voraussetzungen der Anordnung nicht mehr vor, so hat sie den
Abbruch der Maßnahme anzuordnen.
(3) Bestehen Zweifel hinsichtlich der
Kernbereichsrelevanz der erhobenen Daten, sind diese unverzüglich dem oder
der behördlichen Datenschutzbeauftragten und einer von dem Behördenleiter
oder der Behördenleiterin besonders beauftragten Leitungsperson des höheren
Polizeivollzugsdienstes zur Durchsicht vorzulegen. Im Falle des § 17 Absatz
2 Satz 3 erfolgt die Durchsicht durch das zuständige Amtsgericht. § 18
Absatz 4 bleibt unberührt.
(4) Wurden Daten erfasst, die dem Kernbereich
privater Lebensgestaltung zuzurechnen sind, dürfen sie nicht verwendet
werden. Aufzeichnungen hierüber sind unverzüglich zu löschen. Die Tatsache
ihrer Erlangung und Löschung ist zu dokumentieren.
(5) Der Kernbereich umfasst auch das durch das
Berufsgeheimnis geschützte Vertrauensverhältnis zu den in §§ 53 und 53a der
Strafprozessordnung genannten Berufsgeheimnisträgern.
Schutzbereich Rechtsweggarantie: Art 19 Abs. 4 GG gewährt nicht
nur die Möglichkeit, einen Akt der öffentlichen Gewalt gerichtlich
überprüfen zu lassen, sondern gewährt grundsätzlich auch einen Anspruch auf
vollständige und wirksame Überprüfung.
BVerfG 1983: Art 19 Abs. 4 GG garantiert nicht nur das
formelle Recht und die Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern auch die
Effektivität des Rechtsschutzes; der Bürger hat einen substantiellen
Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle.
BVerfG, Urteil vom
15.12.1983 – 1 BvR 209, 269, 362, 420, 440, 484/83
Aus dem
Anspruch aus Art 19 Abs. 4 GG auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle folgt
grundsätzlich die Pflicht der Gerichte, die angefochtenen Maßnahmen der
öffentlichen Gewalt in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig zu
überprüfen. Dabei sind die Gerichte nicht an von der Exekutive getroffenen
Feststellungen und Wertungen gebunden. Dies gilt insbesondere für die
Ausfüllung von unbestimmten Rechtsbegriffen.
Gefahr im
Verzug Im Zusammenhang mit Wohnungsdurchsuchungen hat das
Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 20. Februar 2001 (BvR 1444/00) ein
Grundsatzurteil zum Richtervorbehalt und zur Bedeutung des unbestimmten
Rechtsbegriffs „Gefahr im Verzug“ anlässlich von Wohnungsdurchsuchungen
getroffen.
Danach gewährt Art 19 Abs. 4 GG den Betroffenen von
Wohnungsdurchsuchungen, die von der Staatsanwaltschaft oder von der Polizei
angeordnet wurden, einen lückenlosen gerichtlichen Schutz gegen die
Verletzung ihrer Rechtssphäre durch Eingriffe der öffentlichen Gewalt.
Daraus ergibt sich für die Gerichte die Pflicht, angefochtene Akten der
öffentlichen Gewalt in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig zu
überprüfen. Das gilt auch für den unbestimmten Rechtsbegriff „Gefahr im
Verzug“. Dieser Rechtsbegriff gewährt nichtrichterlichen Organen keinen
Spielraum bei der Auslegung und Anwendung. Insoweit steht der Exekutive
bei der Auslegung des Begriffs „Gefahr im Verzug“ kein Ermessen zu.
BVerfG 2001: Der Begriff
„Gefahr im Verzug“ in Art 13 Abs. 2 GG ist eng auszulegen; die richterliche
Anordnung einer Durchsuchung ist die Regel, die nichtrichterliche die
Ausnahme. „Gefahr im Verzug“ muss mit Tatsachen begründet werden, die auf
den Einzelfall bezogen sind. Reine Spekulationen, hypothetische Erwägungen
oder lediglich auf kriminalistische Alltagserfahrung gestützte,
fallunabhängige Vermutungen reichen nicht aus. Gerichte und
Strafverfolgungsbehörden haben im Rahmen des Möglichen tatsächliche und
rechtliche Vorkehrungen zu treffen, damit die in der Verfassung vorgesehene
Regelzuständigkeit des Richters auch in der Masse der Alltagsfälle gewahrt
bleibt. Auslegung und Anwendung des Begriffs „Gefahr im Verzug“ unterliegen
einer unbeschränkten gerichtlichen Kontrolle. Die Gerichte sind allerdings
gehalten, der besonderen Entscheidungssituation der nichtrichterlichen
Organe mit ihren situationsbedingten Grenzen von Erkenntnismöglichkeiten
Rechnung zu tragen.
BVerfG, Urteil vom
20.02.2001 – BVerfG, 2 BvR 1444/00
Für die Anordnung der
Entnahme von Blutproben wurde durch die Änderung des § 81a StPO im Jahr 2017
eine Sonderregelung geschaffen.
§
81a Abs. 2 Satz 2 StPO (Körperliche Untersuchung des Beschuldigten;
Zulässigkeit körperlicher Eingriffe)
(2) Die Entnahme einer Blutprobe bedarf
abweichend von Satz 1 keiner richterlichen Anordnung, wenn bestimmte
Tatsachen den Verdacht begründen, dass eine Straftat nach § 315a Absatz 1
Nummer 1, Absatz 2 und 3, § 315c Absatz 1 Nummer 1 Buchstabe a, Absatz 2 und
3 oder § 316 des Strafgesetzbuchs begangen worden ist.
Mit
anderen Worten: Stellen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte anlässlich
festgestellter Verkehrsdelikte fest, dass zur Beweisführung eines
Verkehrsdeliktes die Entnahme einer Blutprobe anzuordnen ist, können das
Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte nunmehr aus eigener Machtbefugnis.
Richtervorbehalt:
BVerfG 2019: Zu den Anforderungen an einen dem Gebot der
praktischen Wirksamkeit des Richtervorbehalts entsprechenden richterlichen
Bereitschaftsdienst gehört die uneingeschränkte Erreichbarkeit eines
Ermittlungsrichters bei Tage, auch außerhalb der üblichen Dienststunden. Die
Tageszeit umfasst dabei ganzjährig die Zeit zwischen 6 Uhr und 21 Uhr.
Während der Nachtzeit ist ein ermittlungsrichterlicher Bereitschaftsdienst
jedenfalls bei einem Bedarf einzurichten, der über den Ausnahmefall
hinausgeht.
BVerfG, Beschluss vom 12.03.2019 – 2 BvR 675/14
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