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§ 11 StVO - Besondere Verkehrslagen

Inhaltsverzeichnis:

01.0 Allgemeines
02.0 Tatbestandsnummern (
TBNR) Bußgeldkatalog
03.0 Kreuzungsräumer
04.0 Nachzügler
05.0 Rettungsgasse für Polizei- und Hilfsfahrzeuge
05.1 Wann sind Rettungsgassen zu bilden?
05.2 Rettungsgasse für Fahrzeuge mit Sonderrechten
05.3 Autobahnähnliche Straßen innerorts
05.4 Keine Behinderungen oder Gefährdungen
05.5
Platzmachen auf anderen Straßen

01.0 Allgemeines

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Um den Massenverkehr von heute im Fluss zu halten, ist es geboten, wenn sich Verkehrsteilnehmer auf die jeweils vorgefundene Verkehrslage einrichten. Von jedem Verkehrsteilnehmer kann folglich erwartet werden, mit seinem Verhalten dazu beizutragen, Verkehrslagen zu entwirren, die als besondere Verkehrslagen anzusehen sind. In diesem Sachzusammenhang ist festzustellen, dass dann, wenn die vorgefundene Verkehrslage es erfordert, gegebenenfalls sogar auf eingeräumte Vorrechte zu verzichten ist. Im Zusammenhang mit den Regelungen im § 11 StVO (Besondere Verkehrslage) bedeutet das:

Bei Verkehrsstockungen nicht nur Rücksicht zu nehmen, sondern gegebenenfalls sogar auf Vorrang zu verzichten

Für Hilfsfahrzeuge eine Rettungsgasse zu bilden.

§ 11 StVO (Besondere Verkehrslage)

Kurzum: § 11 StVO verpflichtet jeden Verkehrsteilnehmer dazu, dabei mitzuwirken, die oben genannten besonderen Verkehrslagen durch angepasstes Verhalten aufzulösen, nicht aber durch unvernünftiges Verhalten zu verstärken.

Fahrzeugführer, die sich nicht an die Regelungen im § 11 StVO halten, begehen Ordnungswidrigkeiten, die nur in zwei Fällen mit einem Verwarnungsgeld vor Ort geahndet werden können. Alle Fehlverhalten, die im Zusammenhang mit dem Bilden oder dem Benutzen von Rettungsgassen verbunden sind, sind nicht nur anzeigepflichtig, sondern haben auch ein erhebliches Bußgeld und ein jeweils einen Monat umfassendes Fahrverbot zur Folge, siehe Tatbestandsnummern (TBNR) gemäß Bußgeldkatalog.

02.0 Tatbestandsnummern (TBNR) Bußgeldkatalog

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111100
Sie fuhren trotz stockenden Verkehrs in die Kreuzung/Einmündung ein und behinderten dadurch Andere.
20,00 Euro

111101
Sie fuhren trotz stockenden Verkehrs in die Kreuzung/Einmündung ein. Es kam zum Unfall.
35,00 Euro

111600
Sie bildeten auf einer Autobahn oder Außerortsstraße keine vorschriftsmäßige Gasse zur Durchfahrt von Polizei- oder Hilfsfahrzeugen, obwohl der Verkehr stockte.
2 Punkte
200 Euro
1 Monat Fahrverbot

111601
Sie bildeten auf einer Autobahn oder Außerortsstraße keine vorschriftsmäßige Gasse zur Durchfahrt von Polizei- oder Hilfsfahrzeugen, obwohl der Verkehr stockte und behinderten diese.
2 Punkte
240,00 Euro
1 Monat Fahrverbot

111602
Sie bildeten auf einer Autobahn oder Außerortsstraße keine vorschriftsmäßige Gasse zur Durchfahrt von Polizei- oder Hilfsfahrzeugen, obwohl der Verkehr stockte, und gefährdeten diese.
2 Punkte
280 Euro
1 Monat Fahrverbot

111603
Sie bildeten auf einer Autobahn oder Außerortsstraße keine vorschriftsmäßige Gasse zur Durchfahrt von Polizei- oder Hilfsfahrzeugen, obwohl der Verkehr stockte. Es kam zum Unfall.
2 Punkte
320,00 Euro
1 Monat Fahrverbot

111606
Sie benutzten mit Ihrem Fahrzeug auf einer Autobahn oder Außerortsstraße unberechtigt eine freie Gasse für die Durchfahrt von Polizei- oder Hilfsfahrzeugen.
2 Punkte
240,00 Euro
1 Monat Fahrverbot

111607
Sie benutzten mit Ihrem Fahrzeug auf einer Autobahn oder Außerortsstraße unberechtigt eine freie Gasse für die Durchfahrt von Polizeioder Hilfsfahrzeugen und behinderten diese.
2 Punkte
280,00 1 Monat Fahrverbot

111608
Sie benutzten mit Ihrem Fahrzeug auf einer Autobahn oder Außerortsstraße unberechtigt eine freie Gasse für die Durchfahrt von Polizeioder Hilfsfahrzeugen und gefährdeten diese.
2 Punkte
300,00 Euro
1 Monat Fahrverbot

111609
Sie benutzten mit Ihrem Fahrzeug auf einer Autobahn oder Außerortsstraße unberechtigt eine freie Gasse für die Durchfahrt von Polizeioder Hilfsfahrzeugen. Es kam zum Unfall.
2 Punkte
320,00 Euro
1 Monat Fahrverbot

03.0 Kreuzungsräumer

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Bei starkem Verkehrsaufkommen kommt es in Kreuzungs- und Einmündungsbereichen, trotz vorhandener Vorfahrtsregelung insbesondere durch Lichtzeichenanlagen oftmals zu besonderen Verkehrslagen durch auflaufende Staubildung. Dabei kann es zu Situationen kommen, in denen in der Kreuzung der so genannte „hängengebliebene Querverkehr“ es den im Kreuzungsbereich stehen gebliebenen Fahrzeugführern ermöglichen muss, den Kreuzungsbereich verlassen zu können. Diesbezüglich heißt es in einem Urteil des LG Essen aus dem Jahr 2022 wie folgt:

LG Essen 2022: In der Regel gilt, dass ein Kraftfahrer, der bei Grünlicht in eine Kreuzung einfahren will, dem in der Kreuzung hängengebliebenen Querverkehr ermöglichen muss, die Kreuzung zu räumen.

Kreuzungsräumer im Rahmen des § 11 Abs. 1, Abs. 3 StVO ist, wer, nachdem er bei Grün in die Kreuzung eingefahren war, zunächst anhalten musste und es nicht mehr schafft, die Kreuzung zu verlassen, bevor der querende Verkehr Grün erhält. Das betrifft in der Regel Abbieger, kann aber auch auf Geradeausfahrer bei stockendem Verkehr zutreffen. Kreuzungsräumer kann jedenfalls nur der sein, der in das Kreuzungsviereck (gebildet durch die Verlängerungen der Fahrbahnränder) zumindest zu einem großen Teil bereits bei Grün eingefahren ist.

In Konkretisierung der allgemeinen Sorgfaltsanforderungen des § 1 StVO, beruhend auf dem Gedanken ständiger Vorsicht und gegenseitiger Rücksichtnahme, gebieten § 11 Abs. 1, 3 StVO im Falle von Verkehrsstauungen dem an sich Vorrangberechtigten durch ausnahmsweise Vorrangverzicht zur Entwirrung verwickelter Verkehrslagen beizutragen. Daraus folgt im Interesse der Verkehrssicherheit die allgemein anerkannte, klare und eindeutige Regel, dass ein Kraftfahrer, der bei Grünlicht in eine Kreuzung einfahren will, zunächst dem in der Kreuzung „hängengebliebenen” Querverkehr die Möglichkeit geben muss, die Kreuzung zu verlassen. Nachzüglern muss also, um Stauungen zu vermeiden, die Möglichkeit gegeben werden, die Kreuzung alsbald zu verlassen. Ebenso ist der Kreuzungsräumer auch gegenüber dem Gegenverkehr gemäß § 11 Abs. 1, Abs. 3 StVO bevorrechtigt, die Kreuzung noch zu räumen.

Infolgedessen ist bei einem Unfall auf einer Kreuzung, auf welcher der Fahrzeugverkehr durch eine Lichtzeichensignalanlage geregelt ist, und bei dem es zu einem Zusammenstoß zwischen einem Fahrzeug, das bei dem Umschalten der Ampel auf „Grün” anfährt, und einem Fahrzeug des Querverkehrs/Gegenverkehrs, das die Kreuzung räumen will, in der Regel von einer überwiegenden Verursachung des in die Kreuzung einfahrenden Querverkehrs/Gegenverkehrs auszugehen, bzw. sogar von der Alleinschuld von dessen Fahrer, wenn dieser den Kreuzungsräumer rechtzeitig erkennen konnte oder aus dem Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmer mit Kreuzungsräumern rechnen musste.

Allerdings befreit dies den Kreuzungsräumer nicht, seinerseits die ihm obliegende Sorgfaltspflicht nach § 1 Abs. 2 StVO beim Räumen der Kreuzung zu beachten. Wer im Kreuzungsbereich zunächst aufgehalten worden ist und diesen dann als „Nachzügler“ gegenüber dem Querverkehr bevorrechtigt räumen darf, kann nicht blindlings darauf vertrauen, dass er vorgelassen wird. Vielmehr hat er den Kreuzungsbereich vorsichtig, unter sorgfältiger Beachtung des einsetzenden Gegen- oder Querverkehrs mit Vorrang zu verlassen. Denn wer in der Kreuzung aufgehalten wird, muss damit rechnen, dass inzwischen der Querverkehr durch Grünlicht freigegeben wurde. Er darf daher nur vorsichtig einfahren und nicht ohne weiteres auf die Einräumung des Vorranges vertrauen.

LG Essen, Urteil vom 24.11.2022 - 16 O 116/21

So auch eine Entscheidung des BGH aus dem Jahr 1976. Dort heißt es:

BGH 1976: Verkehrsteilnehmer, für die durch grünes Licht der Verkehr freigegeben ist (§ 37 Abs. 2 Nr. 1 Abs. 1 StVO 1970), brauchen zwar im Allgemeinen nicht damit zu rechnen, dass Fahrzeuge von der Seite her unerlaubter­ Weise in die Kreuzung einfahren. Auch nach neuem Recht befreit sie dieses ihnen an sich zustehende Vorfahrtrecht jedoch nicht von der Verpflichtung, den aufgrund vorangegangener Lichtphase in die Kreuzung eingefahrenen Verkehrsteilnehmern, die diese nicht mehr rechtzeitig verlassen konnten, das Vorrecht einzuräumen.

BGH, Urteil vom 09.11.1976 - VI ZR 264/75

04.0 Nachzügler

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Nachzügler, die in einen Kreuzungsbereich bei Grün einfahren, und dort stehengeblieben sind, haben besondere Sorgfaltspflichten zu beachten:

OLG Hamm 2016: Wer im Kreuzungsbereich zunächst aufgehalten worden ist und diesen dann als sog. „Nachzügler“ gegenüber dem Querverkehr bevorrechtigt räumen darf, kann nicht blindlings darauf vertrauen, dass er vorgelassen wird.

Vielmehr hat er den Kreuzungsbereich vorsichtig, unter sorgfältiger Beachtung des einsetzenden Gegen- oder Querverkehrs mit Vorrang zu verlassen. Dabei erhöhen sich die Anforderungen an die Aufmerksamkeit des Kreuzungsräumers mit seiner Verweildauer im Kreuzungsbereich: Je länger er sich nach seiner Einfahrt bei grünem Ampellicht im Kreuzungsbereich aufhält, desto eher muss er mit einem Phasenwechsel und anfahrendem Querverkehr rechnen. Er darf dann nicht an- oder weiterfahren, wenn er sich nicht vergewissert hat, dass eine Kollision mit einfahrenden Fahrzeugen ausgeschlossen ist.

OLG Hamm, Urteil vom 26.08.2016 - 7 U 22/16

05.0 Rettungsgasse für Polizei- und Hilfsfahrzeuge

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Rettungsgassen müssen nur auf Autobahnen oder auf Außerortsstraßen mit mindestens zwei Fahrstreifen für eine Richtung gebildet werden, um Schutzgüter von hohem Wert, wozu das Leben und die Sicherheit zweifelsohne gehören, retten zu können. In Deutschland ist das Bilden einer Rettungsgasse eine bußgeldbewehrte Pflicht. Je nach vorhandenen Fahrspuren für eine Richtung sind Rettungsgassen wie folgt zu bilden:

Zwei Spuren:
Die Rettungsgasse muss zwischen dem linken und dem rechten Fahrstreifen gebildet werden.

Drei Spuren:
Die Rettungsgasse muss zwischen dem linken und dem mittleren Fahrstreifen gebildet werden.

Vier Spuren:
Die Rettungsgasse muss zwischen dem äußersten linken und der rechts danebenliegenden Spur gebildet werden.

Link zur Grafik Rettungsgassen

§ 11 Abs. 2 StVO
(2) Sobald Fahrzeuge auf Autobahnen sowie auf Außerortsstraßen mit mindestens zwei Fahrstreifen für eine Richtung mit Schrittgeschwindigkeit fahren oder sich die Fahrzeuge im Stillstand befinden, müssen diese Fahrzeuge für die Durchfahrt von Polizei- und Hilfsfahrzeugen zwischen dem äußerst linken und dem unmittelbar rechts daneben liegenden Fahrstreifen für eine Richtung eine freie Gasse bilden.

05.1 Wann sind Rettungsgassen zu bilden?

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Eine Antwort auf diese Frage haben die Richter des OLG Oldenburg in einem Beschluss aus dem Jahr 2022 gegeben:

OLG Oldenburg 2022: Die Rettungsgasse ist [...] zu bilden „sobald Fahrzeuge... mit Schrittgeschwindigkeit fahren oder sich die Fahrzeuge im Stillstand befinden.“ [...] Laut Duden.de bedeutet das Wort sobald „in dem Augenblick, da...“ bzw. „gleich wenn“. Damit wird hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, dass eine Überlegungsfrist nicht besteht, die Pflicht zur Bildung einer Rettungsgasse vielmehr sofort eingreift, nachdem die in § 11 Abs. 2 StVO beschriebene Verkehrssituation eingetreten ist.

[...]. Würde man einem Fahrzeugführer, in einer Situation, in der der vor ihm befindliche Verkehr zum Erliegen gekommen ist, eine Überlegungsfrist zubilligen, während derer er zunächst noch die Rettungsgasse blockieren dürfte, hätte dies zur Konsequenz, dass er nach Erkennen der Verkehrssituation und Ablauf einer Überlegungsfrist erst noch möglicherweise zeitaufwendig rangieren müsste, um die Rettungsgasse freizugeben.

OLG Oldenburg, Beschluss vom 20.09.2022 - 2 Ss(OWi) 137/22

05.2 Rettungsgasse für Fahrzeuge mit Sonderrechten

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Hinsichtlich des Bildens einer Rettungsgasse zur Durchfahrt eines mit eingeschaltetem Martinshorn und Blaulicht herannahenden Einsatzfahrzeuges heißt es in einem Beschluss des Kammergerichts Berlin aus dem Jahr 2020 wie folgt:

KG Berlin 2020: Nach dem neu gefassten Tatbestand des § 11 Abs. 2 StVO ist eine Rettungsgasse bei stehenden oder nur Schrittgeschwindigkeit fahrenden Fahrzeugen u.a. auf der Autobahn zu bilden. Dagegen kann ein Betroffener verstoßen haben, wenn er eine Rettungsgasse für das herannahende mit eingeschaltetem Martinshorn und Blaulicht fahrenden Einsatzfahrzeug der Polizei mit der Folge blockierte, dass dieses seine Geschwindigkeit auf 1 km/h reduzieren und das schräg in der Gasse stehende Fahrzeug des Betroffenen umfahren musste.

Nach dem neu gefassten Tatbestand des § 11 Abs. 2 StVO ist eine Rettungsgasse bei stehenden oder nur Schrittgeschwindigkeit fahrenden Fahrzeugen u.a. auf der Autobahn zu bilden. Dagegen hat der Betroffene verstoßen. Denn nach den gerichtlichen Feststellungen befuhr er den mittleren Fahrstreifen der BAB. Es hatte sich bereits eine Rettungsgasse zwischen dem von ihm befahrenen Fahrstreifen und dem linken Fahrstreifen gebildet, als er seinen Fahrstreifenwechsel von dem mittleren, in den linken Fahrstreifen einleitete. Er war aber nicht in der Lage, diesen zu beenden und blockierte daher die Rettungsgasse für das herannahende mit eingeschaltetem Martinshorn und Blaulicht fahrenden Einsatzfahrzeug der Polizei mit der Folge, dass dieses seine Geschwindigkeit auf 1 km/h reduzieren und das schräg in der Gasse stehende Fahrzeug des Betroffenen umfahren musste. Diese Feststellungen zur tatsächlichen Verkehrslage lassen den von Gericht gezogenen Schluss zu, dass die Fahrzeugkolonne auf der linken Spur entweder „stockte“ oder „teilweise zum Stillstand“ gekommen war.

Als stockender Verkehr wird nach dem Willen des Verordnungsgebers eine sich nur mit Schrittgeschwindigkeit bewegende Fahrzeugkolonne bezeichnet. Der Begriff Schrittgeschwindigkeit ist nicht gesetzlich definiert. Er wird in der Rechtsprechung unterschiedlich bestimmt. Das OLG Hamm hat den Streitstand in seinem Beschluss [...] zutreffend wie folgt dargestellt: Während etliche bzw. möglicherweise auch eine überwiegende Anzahl von Obergerichten den Begriff der Schrittgeschwindigkeit in Übereinstimmung mit dem angefochtenen Urteil mit maximal 7 km/h definieren, wird in anderen obergerichtlichen Entscheidungen auch ein Wert von max. 10 km/h benannt. Im Einklang mit dem Verordnungsgeber wird auch vertreten, dass die Schrittgeschwindigkeit deutlich unter 20 km/h liegen muss. Einer abschließenden Entscheidung des Senates bedarf es dazu nicht, da nach der den Urteilsgründen zu entnehmenden tatsächlichen Verkehrslage jedenfalls von einer Geschwindigkeit von nicht mehr als 7 km/h der sich auf dem linken Fahrstreifen bewegenden Fahrzeugen auszugehen oder der Verkehr auf diesem Fahrstreifen sogar ganz zum Erliegen gekommen war.

KG Berlin, Beschluss vom 26.02.2020 - 3 Ws (B) 27/20, 3 Ws (B) 27/20 - 162 Ss 158/19

05.3 Autobahnähnliche Straßen innerorts

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Auf autobahnähnlichen Straßen innerorts ist die Gassenregelung nicht anzuwenden, weil die Grenzen zulässiger Auslegung, entgegen dem Wortlaut des § 11 Abs. 2 StVO, auch auf eine autobahnähnlich ausgebauten innerörtliche Straße anzunehmen.

BayObL 2023: Maßgebend für die Auslegung einer Norm ist in erster Linie der Wortlaut, wobei der Wortsinn einerseits die Grenze der Auslegung bestimmt, andererseits aber bei der Auslegung zwischen den möglichen Wortbedeutungen bis zur „äußersten sprachlichen Sinngrenze“ gewählt werden darf, jenseits dieser beginnt der Bereich der Analogie. Eine verfassungsrechtlich unzulässige richterliche Rechtsfortbildung ist dadurch gekennzeichnet, dass sie, ausgehend von einer teleologischen Interpretation, den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, ihren Widerhall nicht im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder - bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke - stillschweigend gebilligt wird.

Richterliche Rechtsfortbildung überschreitet die verfassungsrechtlichen Grenzen, wenn sie deutlich erkennbare, möglicherweise sogar ausdrücklich im Wortlaut dokumentierte gesetzliche Entscheidungen abändert oder ohne ausreichende Rückbindung an gesetzliche Aussagen neue Regelungen schafft.

Die Pflicht zur Bildung einer Rettungsgasse gilt dem eindeutigen Wortlaut des § 11 Abs. 2 StVO nach nicht für den innerstädtischen Verkehr auf einer Bundesstraße. Der autobahnähnliche Ausbau ändert daran nichts.

§ 11 Abs. 2 StVO benennt lediglich Autobahnen sowie Außerortsstraßen mit mindestens zwei Fahrstreifen für eine Richtung. Eine Autobahn kann zwar auch innerstädtisch verlaufen, dies ist hier aber nicht festgestellt. Die Eigenschaft einer Straße als Autobahn wird nicht durch begriffliche Merkmale oder ihren Ausbau, sondern durch die rechtsgestaltende Wirkung des Verkehrszeichens Z 330.1 der Anlage 3 zur StVO begründet.

Zeichen 330.1 Anlage 3 StVO

Hier handelte es sich nach den Feststellungen bei der von dem Betroffenen befahrenen Straße um eine Bundesstraße mit baulich getrennten, zweistreifigen Richtungsfahrbahnen im Bereich einer geschlossenen Ortschaft. Damit lag weder das Befahren einer Autobahn noch einer Außerortsstraße vor.

BayObLG, Beschluss vom 26.09.2023 - 201 ObOWi 971/23

05.4 Keine Behinderungen oder Gefährdungen

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Der § 11 StVO sieht solch ein Unterlassen tatbestandlich nicht vor. Kommt es im Zusammenhang mit Regelverstößen auf der Grundlage von § 11 StVO (Besondere Verkehrslagen) dennoch zu solchen Beeinträchtigungen, dann ist diese Lücke durch§ 1 StVO (Grundregeln) zu schließen.

Gasse für Polizei- und Hilfsfahrzeuge: Im Zusammenhang mit Erschwernissen durch unzureichende Gassenbildung, durch die Hilfsfahrzeugen, die Sonderrechte betroffen sein können, unterscheidet sich eine Behinderung von einer Gefährdung dadurch, dass eine Gefährdung voraussetzt, dass eine Anfahrt zum Ort der Hilfeleistung nicht möglich ist, denn das ist eine Gefahr für die Funktionsfähigkeit des Staates und seiner Einrichtungen, denn Polizei und Rettungsdienste können nur dann ordnungsgemäß funktionieren, wenn sie zum Gefahrenort gelangen können.

Ist eine Anfahrt nur durchführbar, indem nur unter Anwendung besonderer Vorsicht eine Anfahrt zum Ort der Hilfeleistung möglich ist, ist von einer Behinderung auszugehen.

05.5 Platzmachen auf anderen Straßen

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Gassen sind für Polizei und Rettungsdienste nur auf Autobahnen und auf Außerortsstraßen mit mindestens zwei Fahrstreifen für eine Richtung zu bilden.

Auf Innerortsstraßen und auf anderen Außerortsstraßen findet diese Regelung keine Anwendung.

Dort ergibt sich die Verpflichtung, Polizei- und Rettungsfahrzeugen Platz zu machen, aus § 38 Abs. 1 StVO (Blaues Blinklicht und gelbes Blinklicht).

Blaues Blinklicht und Martinshorn ordnen an:

Alle übrigen Verkehrsteilnehmer haben sofort freie Bahn zu schaffen“.

§ 38 StVO (Blaues Blinklicht und gelbes Blinklicht)


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