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§ 10 StVO - Einfahren und Anfahren

Inhaltsverzeichnis:

01.0 Allgemeines
02.0 Einfahren
02.1 Aus einem Grundstück/einem anderen Straßenteil etc.
02.2 Einfahren vom Parkstreifen
02.3 Einfahren oder Anfahren auf Parkplätzen
02.4 Einfahren von Radfahrern
02.5 Einweisen
lassen
03.0 Anfahren
03.1 Anscheinsbeweis
04.0 Generelle Pflichten beim Ein- und Anfahren
04.1 Ausschluss von Gefährdungen
04.2 Benötigter Platz zum gefahrlosen Ein- bzw. Anfahren
04 3 Umschau/Rückblick/Fahrtrichtungsanzeiger
05.0
TBNR gemäß Bußgeldkatalog 2023

01.0 Allgemeines

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Die Rechtsprechung geht davon aus, dass sowohl für den Ein- als auch für den Anfahrenden gesteigerte Sorgfaltspflichten, insbesondere im Hinblick auf den fließenden Verkehr zu beachten sind.

§ 10 StVO (Einfahren und Anfahren)

Der fließende Verkehr darf deshalb auch im Allgemeinen auf seinen Vorrang vertrauen. Die Folge davon ist, dass, wenn es zu einem Unfall kommt, grundsätzlich von der Alleinhaftung des Ein- bzw. Anfahrenden ausgegangen werden kann, zumal der sich in den fließenden Verkehr eingliedernde Fahrzeugführer in gewissem Maße sogar damit rechnen muss, dass sich andere Verkehrsteilnehmer nicht unbedingt an die Geschwindigkeitsbegrenzungen halten.

Kommt es beim Ein- und Ausfahren zu Regelverstößen, die keinen Unfall, also keinen Personen- oder auch keinen bedeutsamen Sachschaden zur Folge haben, dann handelt es sich bei den in Betracht kommenden Verstößen um geringfügige Ordnungswidrigkeiten, wie das den nachfolgend aufgelisteten im Bußgeldkatalog 2023 aufgeführten Tatbeständen entnommen werden kann, die am Ende dieses Aufsatzes in einer eigenen Randnummer zur Verfügung steht.

Dabei handelt es sich um 17 bußgeldbewehrte Fehlverhalten, die auch dann, wenn es zu einem Verkehrsunfall gekommen ist, als geringfügig angesehen werden können, wenn es sich um so genannte Bagatellunfälle handelt, siehe Anlage 2 zum Erlass Polizei NRW: Aufgaben der Polizei bei Verkehrsunfällen RdErl. des Innenministeriums - 41 - 61.05.01 - 3 - vom 25.8.2008

Dort heißt es:

Unfallgruppe 5
Alle sonstigen Sachschadensunfälle die im Verwarnungsgeldverfahren abgeschlossen werden können (ohne Straftatbestand und ohne bußgeldbewehrte Ordnungswidrigkeit, unabhängig von der Fahrbereitschaft beteiligter Kfz.

Bei solchen Unfällen reicht eine Unfallmitteilung, gegebenenfalls ergänzt durch Fotos, aus.

Anlage 2

02.0 Einfahren

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Ein Einfahren im Sinne von § 19 StVO (Einfahren und Anfahren) setzt ein Fahrverhalten voraus, dass es einem Fahrzeugführer ermöglicht, ohne andere zu gefährden,

  • aus einem Grundstück

  • einer Fußgängerzone (Zeichen 242.1 und 242.2)

  • aus einem verkehrsberuhigten Bereich (Zeichen 325.1 und 325.2)

  • oder von anderen Straßenteilen oder über einen abgesenkten Bordstein hinweg auf die Fahrbahn einzufahren,

  • um sich in den fließenden Verkehr einzugliedern.

§ 10 StVO (Einfahren und Anfahren)

02.1 Aus einem Grundstück/einem anderen Straßenteil etc.

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Der Vorgang des Ausfahrens aus einem Grundstück dauert solange an, bis der Ausfahrende „in zügiger Fahrt selbst zum fließenden Verkehr gehört oder sein Fahrzeug verkehrsgerecht am Fahrbahnrand oder an anderer Stelle abgestellt hat (OLG Düsseldorf, VersR 1981, 754).

Diese Aussage lässt sich auch auf die anderen Alternativen, die im § 10 Abs. 1 Satz 1 enthalten sind, übertragen.

Gemeint sind Fahrzeugführer, die:

  • Aus einer Fußgängerzone (Zeichen 242.1 und 242.2)

  • Aus verkehrsberuhigten Bereichen (Zeichen 325.1 und 325.2)

  • Aus anderen Straßenteilen oder:

  • Über einen abgesenkten Bordstein hinweg  

auf die Fahrbahn einfahren.

Zeichen 242.1
Ge- oder Verbot
1. Anderer als Fußgängerverkehr darf die Fußgängerzone nicht benutzen.
2. Ist durch Zusatzzeichen die Benutzung einer Fußgängerzone für eine andere Verkehrsart erlaubt, dann gilt für den Fahrverkehr Nummer 2 zu Zeichen 239 entsprechend.

Zeichen 242.2

Zeichen 325.1
Ge- oder Verbot
1. Wer ein Fahrzeug führt, muss mit Schrittgeschwindigkeit fahren.
2. Wer ein Fahrzeug führt, darf den Fußgängerverkehr weder gefährden noch behindern; wenn nötig, muss gewartet werden.
3. Wer zu Fuß geht, darf den Fahrverkehr nicht unnötig behindern.
4. Wer ein Fahrzeug führt, darf außerhalb der dafür gekennzeichneten Flächen nicht parken, ausgenommen zum Ein- oder Aussteigen und zum Be- oder Entladen.
5. Wer zu Fuß geht, darf die Straße in ihrer ganzen Breite benutzen; Kinderspiele sind überall erlaubt.

Zeichen 325.2

Hinweis: Der fließende Verkehr darf auf den Vorrang gegenüber dem Einfahrenden vertrauen. Andererseits darf er den Vorrang aber auch nicht erzwingen. Zumutbare Behinderungen hat er hinzunehmen.

Zufahrt/Grundstücksausfahrt:

Bayerische OLG 1983: Eine von einer durchgehenden Straße abzweigende gemeinsame Zufahrt zu mehreren neben der Straße gelegenen Häusern ist dann, wenn sie nach den äußerlich erkennbaren Umständen lediglich der Anschließung dieser Häuser an den öffentlichen Verkehr dient, trotz ihrer Zugehörigkeit zum öffentlichen Verkehrsraum im Verhältnis zu der durchgehenden Straße keine selbständige Straße, an deren Einmündung die Vorschriften über die Vorfahrt Anwendung finden, sondern ein anderer Straßenteil, bei dessen Verlassen das Vorrecht des fließenden Verkehrs auf der durchgehenden Straße zu beachten ist.

Bayerische OLG, Beschluss vom 27.05.1983 - 1 Ob OWi 55/83

Ergänzend dazu heißt es in einem Urteil des OLG Köln aus dem Jahr 1998 wie folgt:

OLG Köln 1998: Zu den von anderen Straßenteilen Einfahrenden gehören schließlich auch die Radfahrer, die von Radwegen oder Seitenstreifen auf die Fahrbahn einbiegen. Auch sie müssen mehr als besondere Rücksicht, wie sie bisher § 27 III StVO verlangte, nämlich das Äußerste an Sorgfalt aufbringen. Sie werden sich zwar kaum je einweisen lassen müssen; dafür haben sie dann bei Unübersichtlichkeit abzusitzen.

An anderer Stelle heißt es:

Andere Straßenteile“ gem. § 10 Satz 1 StVO gehören zur Straße im verkehrsrechtlichen Sinne, sie dienen jedoch nicht dem durchgehenden Verkehr. Maßgebend für die Abgrenzung zwischen Straße und den in § 10 Satz 1 StVO genannten Verkehrsflächen ist das Gesamtbild der äußerlich erkennbaren Merkmale, da der Verkehrsteilnehmer auf klare und einfache Anhaltspunkte angewiesen ist und in erster Linie auf sichtbare Merkmale zurückgreifen können muss, um aus dem an Ort und Stelle erkennbaren Gesamtbild Schlüsse darauf ziehen zu können, welche Verkehrsregelung eingreift.

OLG Köln, Urteil vom 07.10.1998 - 13 U 76/98

Und in einem Urteil des OLG Karlsruhe aus dem Jahr 2015 heißt es im Hinblick auf "andere Straßenteile" wie folgt:

OLG Karlsruhe 2015: Ob ein „anderer Straßenteil“ im Sinne von § 10 Satz 1 StVO vorliegt - mit besonderen Pflichten für den Einfahrenden -, richtet sich nach dem äußeren Gesamteindruck der örtlichen Verhältnisse; der Umstand, dass eine Straße wegen einer Baustelle zeitweise nur für Anlieger freigegeben ist, macht - für sich allein - diese Straße noch nicht zu einem „anderen Straßenteil“.

OLG Karlsruhe, Urteil vom 24.06.2015 - 9 U 18/14

02.2 Einfahren vom Parkstreifen

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Beim Einfahren vom Parkstreifen in den fließenden Verkehr ist ebenfalls äußerste Sorgfalt geboten. Der fließende Verkehr darf dabei nicht gefährdet werden. Geringfügige Behinderungen haben die Fahrzeugführer im fließenden Verkehr hinzunehmen.

OLG Köln 2015: [Kommt es] im Zusammenhang mit dem Einfahren von einem Parkstreifen zu einer Kollision mit einem anderen, im Fließverkehr befindlichen Fahrzeug, spricht bereits der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass die Kollision darauf beruht, dass der vom Parkstreifen einfahrende Verkehrsteilnehmer die ihm nach § 10 StVO obliegende Sorgfalt nicht hinreichend beachtet hat.

OLG Köln, Beschluss vom 16.04.2015 - 19 U 189/14

02.3 Einfahren oder Anfahren auf Parkplätzen

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Zum Einfahren oder Anfahren auf Parkplätzen heißt es in einem Urteil des OLG NRW aus dem Jahr 2014 wie folgt:

OLG Nürnberg 2014: Gemäß § 10 StVO haben diejenigen Verkehrsteilnehmer, die aus einem Grundstück, aus einer Fußgängerzone, aus einem verkehrsberuhigten Bereich auf die Straße oder von anderen Straßenteilen oder über einen abgesenkten Bordstein hinweg auf die Fahrbahn einfahren oder vom Fahrbahnrand anfahren wollen, sich dabei so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Was Fahrspuren auf Parkplätzen betrifft, die grundsätzlich nicht dem fließenden Verkehr dienen, sieht die Rechtsprechung nur ausnahmsweise in solchen Fällen Raum für eine analoge Anwendung des § 10 StVO, in denen verschiedene Bereiche des Parkplatzes sich im Verhältnis zueinander nach dem objektiven Erscheinungsbild als über- und untergeordnete Verkehrsflächen darstellen; verleiht die bauliche Gestaltung oder Markierung einer bestimmten Teilfläche – etwa einem Zu- und Abfahrtsweg – einen eindeutigen Straßencharakter, dann sind die angrenzenden Teilflächen – etwa die einzelnen Parkgassen – als (insoweit untergeordnete) „andere Straßenteile“ einzustufen. Ein eindeutiger Straßencharakter einer nur als Zubringer zu den Parkgassen dienenden Teilfläche ist in Fällen bejaht worden, in denen die betreffende Fahrbahn zum einen zweispurig mit Mittellinie gestaltet und zum anderen seitlich durch bauliche Anlagen in Form von kleinen Hecken und Büschen (so im Berliner Fall) bzw. von Straßenlaternen und Betonpflanzkübeln abgegrenzt war (so im Kölner Fall, in dem das Gericht hinsichtlich des Eindrucks der Bevorrechtigung zusätzlich auf eine vorhandene durchgezogene Linie zur Parkgasse abstellte). Demgegenüber spricht eine örtliche Situation, bei der die Fahrbahnoberflächen sich nicht unterscheiden, eine Mittelstreifenmarkierung des Zubringers fehlt und keine deutlichen seitlichen Abgrenzungen vorhanden sind, gegen die Annahme einer Über- und Unterordnung.

OLG Nürnberg, Urteil vom 28.07.2014 - 14 U 2515/13

02.4 Einfahren von Radfahrern

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Auch einfahrende oder anfahrende Radfahrer haben die Regeln des § 10 StVO (Einfahren und Anfahren) zu beachten.

OLG München 2021: In den Leitsätzen heißt es: 1. Aus der Verpflichtung des § 10 StVO, wonach sich derjenige, der von einem Gehweg auf eine Fahrbahn einfahren will, so zu verhalten hat, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist, folgt, dass unklare Sicht den Radfahrer gerade nicht entlastet, sondern im Gegenteil besonders vorsichtiges Fahren auferlegt. 2. Verstößt ein 11-jähriger Radfahrer beim Verlassen des Gehwegs gegen § 10 StVO, der Unfallgegner aber gegen § 3 Abs. 2a StVO, wonach er im Verhältnis zu dem Radfahrer als besonders geschützte Person äußerste Sorgfalt an den Tag zu legen hatte, ist eine Haftungsteilung geboten.

§ 3 Abs. 2a StVO:
(2a)
Wer ein Fahrzeug führt, muss sich gegenüber Kindern, hilfsbedürftigen und älteren Menschen, insbesondere durch Verminderung der Fahrgeschwindigkeit und durch Bremsbereitschaft, so verhalten, dass eine Gefährdung dieser Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist.

An anderer Stelle heißt es in dem Urteil des OLG München:

Der Verstoß des Beklagten gegen die Verpflichtung aus § 10 StVO ist hierbei unabhängig davon, ob sich der Beklagte nur mit dem Vorderrad seines Fahrrades oder bereits mit dem gesamten Fahrrad auf der Fahrbahn befunden hatte. Denn gemäß § 10 StVO hat sich derjenige, der von einem Gehweg auf eine Fahrbahn einfahren will, so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Unstreitig ist vorliegend, dass sich der Beklagte zumindest mit seinem Vorderrad auf der Fahrbahn befunden hat.

OLG München, Urteil v. 03.03.2021 – 10 U 4990/20

02.5 Einweisen lassen

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Die Inanspruchnahme eines „Einweisers“ ist geboten, wenn ein Einfahrender Gefährdungen anderer Verkehrsteilnehmer auch dann nicht ausschließen kann, wenn er sich sozusagen in den Straßenbereich hineintastet. Ob eine Einweisung erforderlich ist, hängt allein von der jeweils gegebenen Örtlichkeit ab. Sie ist also nur dann erforderlich, wenn das die besondere Situation vor Ort tatsächlich erforderlich macht. Eine Einweisung ist nicht erforderlich, wenn der fließende Verkehr das Fahrmanöver des Einfahrenden rechtzeitig erkennen und sich somit darauf einrichten kann. Ein Einweiser darf den fließenden Verkehr nur dann anhalten, wenn ein Einfahren in den fließenden Verkehr anders nicht möglich ist, ohne diesen erheblich zu behindern oder zu gefährden. In diesem Sachzusammenhang ist an die Fahrer großer Lkw zu denken, die rückwärtsfahrend sich mit ihrem Lkw in den fließenden Verkehr einfahren wollen.

03.0 Anfahren

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Anfahren setzt ein nicht verkehrsbedingt haltendes oder parkendes Fahrzeug voraus, dessen Fahrer sein Fahrzeug vom linken oder rechten Fahrbahnrand in den fließenden Verkehr eingliedern will. In Anlehnung an ein Urteil des Landgerichts Saarbrücken muss der Anfahrende die Sorgfaltsanforderungen des § 10 StVO auch dann noch be­achten, wenn er vor der Kollision tatsächlich bereits eine Strecke von 12 bis 16 Meter angefahren ist.

§ 10 StVO (Einfahren und Anfahren)

LG Saarbrücken 2020: § 10 StVO [ist] auch dann noch zu beachten, wenn das Beklagtenfahrzeug vor der Kollision tatsächlich bereits eine Strecke von 12-16 Meter angefahren sein sollte. Auch in diesem Fall waren die Auswirkungen des Anfahrens in den Einmündungsbereich auf das weitere Verkehrsgeschehen noch nicht ausgeschlossen und es bestand ein unmittelbarer räumlicher und zeitlicher Zusammenhang mit dem Anfahrvorgang.

LG Saarbrücken – Az.: 13 S 117/20 – Urteil vom 23.12.2020

Erst wenn solch ein räumlicher Zusammenhang zwischen Anfahren/Einfahren  und dem erfolgten Zusammenstoß nicht mehr besteht, kann ein Fehlverhalten im Sinne von § 10 StVO (Einfahren und Anfahren) ausgeschlossen werden.

Hinsichtlich der Verhaltenspflichten für ein Anfahren heißt es in einem Urteil des OLG Düsseldorf aus dem Jahr 2017 wie folgt:

OLG Düsseldorf 2017: Nach § 10 StVO muss derjenige, der vom Fahrbahnrand anfahren will, sich so verhalten hat, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist; erforderlichenfalls muss er sich einweisen lassen. Dies betrifft grundsätzlich auch entgegenkommenden oder rückwärts fahrenden Verkehr.

An anderer Stelle:

Kann der Ein- oder Anfahrende angesichts der konkreten Straßen- und Verkehrsverhältnisse vor Ort nicht übersehen, ob er den fließenden Verkehr gefährdet, so darf er sich nur vorsichtig in die Fahrbahn hinein tasten, bis er die Übersicht hat. Vorsichtiges Hineintasten bedeutet allerdings - wie in § 8 Abs. 2 Satz 3 StVO - nicht bloßes Langsamfahren, sondern zentimeterweises Vorrollen bis zum Übersichtspunkt mit der Möglichkeit, sofort anzuhalten. In der Anfahrsituation gilt somit auch unabhängig von § 10 StVO eine allgemeine Pflicht zur Rücksichtnahme gegenüber allen Verkehrsteilnehmern, auch wenn sich diese selbst nicht verkehrsgerecht verhalten.

OLG Düsseldorf, Urteil vom 24.10.2017 - I-1 U 133/16

Für den Ein- und Anfahrenden gelten gesteigerte Sorgfaltspflichten. Die Wendung „ausgeschlossen“ bedeutet, dass dem Ein- und Anfahrenden das Äußerste an Sorgfalt gegenüber dem fließenden Verkehr, auferlegt wird. Der fließende Verkehr darf im Allgemeinen auf seinen Vorrang vertrauen. Dies führt grundsätzlich dazu, dass von einer Alleinhaftung des Ein- bzw. Anfahrenden auszugehen ist, wenn es zu einem Unfall kommt.

03.1 Anscheinsbeweis

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Diesbezüglich heißt es in einem Urteil des OLG Düsseldorf aus dem Jahr 1986 wie folgt:

OLG Düsseldorf 1986: Bei einem Unfall eines im fließenden Verkehr befindlichen Fahrzeugs mit einem vorher vom Fahrbahnrand Anfahrenden spricht der Beweis des ersten Anscheins für dessen Verschulden.

OLG Düsseldorf, Urteil vom 19.03.1986 - 15 U 152/85

Aber:

BGH 2022: Der fließende Verkehr darf seine ungehinderte Weiterfahrt aber nicht erzwingen (§ 11 Abs. 3 StVO) und muss das Ein- oder Anfahren gegebenenfalls durch Verringern seiner Geschwindigkeit erleichtern, da ansonsten im Stadtverkehr jedes Ein- oder Anfahren zum Erliegen käme.

BGH Urteil v. 08.03.2022 - VI ZR 1308/20

Dennoch:

KG Berlin 2007: Kommt es [...] In unmittelbarem Zusammenhang mit einem Anfahren vom Fahrbahnrand/Fahrstreifenwechsel zu einer Kollision zwischen dem Anfahrenden und dem nachfolgenden Verkehr, spricht nach der ständigen Rechtsprechung des KG der Beweis des ersten Anscheins für eine schuldhafte Unfallverursachung durch den Anfahrenden/Fahrstreifenwechsler.

KG Berlin Beschluss vom 10.12.2007 - 12 U 33/07

04.0 Generelle Pflichten beim Ein- und Anfahren

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In diesem Sachzusammenhang ist anzumerken, dass sowohl der Ein- und Ausfahrende als auch der Verkehrsteilnehmer im fließenden Verkehr zur Rücksicht verpflichtet ist. Das bedeutet, dass der Verkehrsteilnehmer im fließenden Verkehr mäßige Behinderungen hinzunehmen hat, jedenfalls bei hinreichend großen Einscherlücken.

Der Ein- und Ausfahrenden hat:

  • Äußerste Sorgfalt walten zu lassen, so zumindest die Position urteilender Gerichte. Dazu gehört neben einer aufmerksamen Umschau auch eine gebotene Rückschau

  • Andere Verkehrsteilnehmer dürfen nach dem Wortlaut von § 10 StVO nicht gefährdet werden

  • Die Absicht einzufahren oder anzufahren ist rechtzeitig und deutlich anzukündigen

Die im Gesetz benannten Anforderungen werden im Folgenden kurz erörtert.

04.1 Ausschluss von Gefährdungen

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Eine Gefahr beim Ein- und oder Anfahren auszuschließen bedeutet, dass im Rahmen menschlich möglicher Aufmerksamkeit und Sorgfalt eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer nicht zu erwarten ist.

Eine Gefährdung setzt eine Gefahr voraus. Dabei handelt es sich um eine Situation, in der ein Schaden einzutreten droht bzw. eine Lebenssituation besteht, in der mit der Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Schadensereignisses zu rechnen ist, wenn diese Situation nicht sofort durch geeignete Maßnahmen beendet bzw. abgewendet wird.

Der unbestimmte Rechtsbegriff einer Gefahr setzt auch im Zusammenhang mit § 10 StVO sozusagen einen „Beinahe-Unfall“ voraus, also ein Geschehen, bei dem ein unbeteiligter Beobachter zu der Einschätzung gelangt, dass „es in dieser Situation gerade noch einmal gut gegangen ist“. Diese Umschreibung einer konkreten Gefahr entspricht im Übrigen auch der Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG).

BVerwG 1970: Eine konkrete Gefahr liegt vor, wenn in dem zu beurteilenden konkreten Einzelfall in überschaubarer Zukunft mit dem Schadenseintritt hinreichend wahrscheinlich gerechnet werden kann.

BVerwG, Urteil vom 26.06.1970 - 4 C 99.67

04.2 Benötigter Platz zum gefahrlosen Ein- bzw. Anfahren

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Der Ein- oder Anfahrende muss sich vergewissern, dass die Fahrbahn für ihn im Rahmen der gebotenen Sicherheitsabstände (§ 4 StVO) frei ist.

§ 4 StVO (Abstand)

Die Größe der jeweils gebotenen "Einfahrlücke" wird von den Gerichten unterschiedlich behandelt. So wird zum Beispiel eine Fahrtstrecke von 10 bis 20 m nicht für ausreichend angesehen, wenn es beim Ein- oder Anfahren zu einem Verkehrsunfall kommt, weil diese Distanz nicht ausreicht, um einen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang beim „Einfädeln“ in den fließenden Verkehr durch Ein- oder Anfahren auszuschließen. Für andere Gerichte sind konkrete Meterangaben und Fahrstrecken jedoch nicht entscheidend. Dort gehen die Richter von der Annahme aus, dass § 10 StVO nicht mehr greift, wenn sich der An- oder Einfahrende „endgültig in den fließenden Verkehr eingeordnet“ hat.

OLG Düsseldorf 2012: Der Vorgang des Einfahrens ist erst dann beendet, wenn sich das Fahrzeug endgültig in den fließenden Verkehr eingeordnet hat oder wenn es auf der Straße wieder verkehrsgerecht abgestellt ist und jede Auswirkung des Anfahrvorgangs auf das weitere Verkehrsgeschehen ausgeschlossen ist.

An anderer Stelle heißt es:

Entsprechendes gilt gemäß § 10 StVO. Der Ein- oder Anfahrende muss sich vergewissern, dass die Fahrbahn für ihn im Rahmen der gebotenen Sicherheitsabstände (§ 4 StVO) frei ist und dass er niemanden übermäßig behindert. Nach § 10 StVO hat der fließende Fahrbahnverkehr Vorrang gegenüber den Benutzern nicht zur Fahrbahn gehörender Flächen. Ob das im fließenden Verkehr befindliche Fahrzeug weiterfahren oder alsbald halten oder parken will, ist unerheblich. Der fließende Verkehr darf in der Regel auf die Beachtung seines Vorrangs vertrauen. Von dem Einfahrenden wird äußerste Sorgfaltspflicht gefordert, auch er ist gegenüber dem fließenden Verkehr nahezu allein verantwortlich.

OLG Düsseldorf, Urteil vom 15.05.2012 - I - 1 U 127/11

04.3 Umschau/Rückblick/Fahrtrichtungsanzeiger

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Zu den Sorgfaltspflichten beim Ein- und Anfahren gehört die Forderung, jegliche Gefährdung der Verkehrsteilnehmer auszuschließen, die sich im fließenden Verkehr befinden. Lediglich geringfügige Behinderungen haben Fahrzeugführer des fließenden Verkehrs hinzunehmen.

Fahrtrichtungsanzeiger: Um ihrer Sorgfaltspflicht beim Ein- oder Anfahren nachkommen zu können ist es geboten:

Den Fahrtrichtungsanzeiger zu betätigen. Das hat rechtzeitig und deutlich zu geschehen. Die Benutzung der Fahrtrichtungsanzeiger ist im Grundsatz ohne Einschränkung vorgeschrieben und gilt deshalb auch für Fälle, in denen ein Fahrzeug nur wenig bewegt wird. Der Anfahrende oder Einfahrende darf sich nicht darauf verlassen, dass andere Verkehrsteilnehmer daraufhin entsprechend reagieren. Auch der anfahrende Bus- oder Linienverkehr muss trotz seines Vorrangs, rechtzeitig links blinken.

§ 20 StVO (Öffentliche Verkehrsmittel und Schulbusse)

Umschau- und Rückschaupflichten ergänzen im Zusammenhang mit der zu gewährleistenden „äußersten Sorgfalt“ beim Ein- und Anfahren die Pflichten des jeweils Ein- oder Anfahrenden.

LG Saarbrücken 2020: Der Anfahrende [hat sich] so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Die hohen Sorgfaltsanforderungen des § 10 StVO sind dabei solange zu beachten, bis jede Auswirkung des Anfahrvorganges auf das weitere Verkehrsgeschehen ausgeschlossen ist, und sich nicht mehr die typische Gefahr verwirklicht, die daraus resultiert, dass andere Verkehrsteilnehmer sich noch nicht auf das Hineinbegeben des Fahrzeuges in den fließenden Verkehr eingestellt haben. Als „anderer Verkehrsteilnehmer“ ist dabei jede Person in den Schutzbereich dieser Vorschrift einbezogen, die sich selbst verkehrserheblich verhält, d. h. körperlich und unmittelbar auf den Ablauf eines Verkehrsvorgangs einwirkt, primär und insbesondere der fließende Durchgangsverkehr auf der Straße.

LG Saarbrücken, Urteil vom 23.12.2020 - 13 S 117/20

05.0 TBNR gemäß Bußgeldkatalog 2023

TOP

110100
Sie fuhren aus einem Grundstück auf die Straße und gefährdeten dadurch Andere.
30,00 Euro

110101
Sie fuhren aus einem Grundstück auf die Straße. Es kam zum Unfall.
35,00 Euro

110106
Sie fuhren aus einer Fußgängerzone (Zeichen 242.1, 242.2) auf die Straße und gefährdeten dadurch Andere.
30,00 Euro

110107
Sie fuhren aus einer Fußgängerzone (Zeichen 242.1, 242.2) auf die Straße. Es kam zum Unfall.
35,00 Euro

110112
Sie fuhren aus einem verkehrsberuhigten Bereich (Zeichen 325.1, 325.2) auf die Straße und gefährdeten dadurch Andere.
30,00 Euro

110113
Sie fuhren aus einem verkehrsberuhigten Bereich (Zeichen 325.1, 325.2) auf die Straße. Es kam zum Unfall.
35,00 Euro

110118
Sie fuhren von einem anderen Straßenteil auf die Fahrbahn und gefährdeten dadurch Andere.
30,00 Euro

110119
Sie fuhren von einem anderen Straßenteil auf die Fahrbahn. Es kam zum Unfall.
35,00 Euro

110124
Sie fuhren über einen abgesenkten Bordstein hinweg auf die Fahrbahn und gefährdeten dadurch Andere.
30,00 Euro

110125
Sie fuhren über einen abgesenkten Bordstein hinweg auf die Fahrbahn. Es kam zum Unfall.
35,00 Euro

110130
Sie fuhren vom Fahrbahnrand an und gefährdeten dadurch Andere. 30,00 Euro

110131
Sie fuhren vom Fahrbahnrand an. Es kam zum Unfall.
35,00 Euro

110142
Sie fuhren aus einem Grundstück auf die Straße, ohne den Fahrtrichtungsanzeiger zu benutzen.
10,00 Euro

110148
Sie fuhren aus einer Fußgängerzone (Zeichen 242.1, 242.2) auf die Straße, ohne den Fahrtrichtungsanzeiger zu benutzen.
10,00 Euro

110154
Sie fuhren von einem verkehrsberuhigten Bereich (Zeichen 325.1, 325.2) auf die Straße, ohne den Fahrtrichtungsanzeiger zu benutzen.
10,00 Euro

110160
Sie fuhren von einem Straßenteil auf die Fahrbahn, ohne den Fahrtrichtungsanzeiger zu benutzen.
10,00 Euro

110166
Sie fuhren über einen abgesenkten Bordstein auf die Fahrbahn, ohne den Fahrtrichtungsanzeiger zu benutzen.
10,00 Euro

110172
Sie fuhren vom Fahrbahnrand der Straße an, ohne den Fahrtrichtungsanzeiger zu benutzen.
10,00 Euro


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