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Home Inhaltsverzeichnis: Umgang mit der Demokratie

Zeitenwende Staatsverschuldung

Inhaltsverzeichnis:

01 Prometheus 2023
02 Organisierte Unverantwortlichkeit
03 Bisher bekannt gewordene Optionen
04 Modern Monetary Theorie
05 Sechzig Milliarden, oder was?
06 Warum nur 60 Milliarden?
07 BVerfG, Urteil vom 15.11.2023
08 Beratungs- und Lernresistenz
09 Vorbildhafte Schweiz
10 Zukunft der Schuldenbremse
11 Sondervermögen sind
Schulden
12 Regierungserklärung des Bundeskanzlers

13 Und dann auch das noch

01 Prometheus 2023

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An diesem Mythos lässt sich heute durchaus die Situation der Ampelkoalition festmachen, denn Prometheus war es ja bekanntermaßen, der von den Göttern bestraft wurde, weil er den Menschen das Feuer gebracht hatte und dafür auf Befehl des Göttervaters Zeus gefesselt an einem Felsen im Kaukasusgebirge festgeschmiedet und dem Fraß der Geier preisgegeben wurde.

Nur ist es heute nicht mehr Prometheus, der den Menschen das Feuer bringt, sondern ein „maßloser Prometheus“, der mit seiner Ausgabenfreudigkeit in Milliardenhöhen, wohl die Götter in den roten Roben erzürnt hat.

Gemeint sind die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts, die das „Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021“ für verfassungswidrig erklärten (Urteil vom 15. November 2023 – 2 BvF 1/22) und damit - zumindest vorläufig - dafür gesorgt haben, dass die Quelle der wundersamen Geldvermehrung durch noch mehr Schulden, plötzlich und „unerwartet?“ versiegte. Nun denn, obwohl geliehenes Geld, also Schulden, nicht mehr wie das bei der Leber des Prometheus ja bekanntermaßen der Fall gewesen ist, sich ganz von alleine regenerieren, sondern getilgt werden müssen, lässt sich die Folge dieses „Götterzornes“ nur noch als eine hektische Suche nach Ersatzlösungen beschreiben, denn ohne Geld lässt sich kein Staat machen.

Die Freiheit einer grenzenlosen Geldvermehrung durch Schulden, die aber hat wohl, zumindest nach der Sichtweise von heute, die sich aber ändern kann, zumindest ihr vorläufiges Ende gefunden, denn die Bundesregierung wurde vom Bundesverfassungsgericht sozusagen in „Schuldnerhaft“ genommen, so dass dieses Leistungssubjekt jetzt wohl dazu gezwungen ist, sich darüber im Klaren zu werden, dass es sich bei der Schuldenbremse des Grundgesetzes nicht um eine sich generierende Leber, sondern ganz im Sinne der Schuldenbremse des Grundgesetzes, siehe Artikel 115 Abs. 2 GG, um eine „Brandmauer“ handelt, die nur dann kurzfristig geöffnet werden darf und kann, wenn es sich bei den dafür erforderlichen Anlässen nicht um selbstverschuldete Notlagen handelt, die auch nicht durch eine wohlklingende Namensgebung, zum Beispiel durch ein weiteres „60-Milliarden-Sondervermögen“, umgangen werden kann. Was aber noch viel schlimmer ist, das ist die Jährlichkeit, die auch bei der Ausweisung von Sondervermögen oder anderen Finanzierungsmöglichkeiten von „Ausnahmefällen nationalen Ausmaßes“ einmal abgesehen, zu beachten sind. Anders ausgedrückt: Tricksereien lässt die Schuldenbremse des Artikels 115 Abs. 2 GG nach den Vorgaben der Richter des Bundesverfassungsgerichts wohl nicht mehr zu.

Artikel 115 Abs. 2 GG: (2) Einnahmen und Ausgaben sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen. [...]. Im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, können diese Kreditobergrenzen auf Grund eines Beschlusses der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages überschritten werden. Der Beschluss ist mit einem Tilgungsplan zu verbinden. Die Rückführung der nach Satz 6 aufgenommenen Kredite hat binnen eines angemessenen Zeitraumes zu erfolgen.

Was ist zu erwarten?
Der Mythos Prometheus weiß auch darauf eine Antwort.
Sie lautet:
Die Götter werden müde.
Der Adler wird müde.
Die Wunde schließt sich müde.

Anders ausgedrückt: Der Bundesrepublik Deutschland stehen Entschleunigungen ihrer Politiker bevor, deren Ausmaß heute noch niemand überschauen kann. Deshalb muss man ja auch so lange um den heißen Brei herumreden, zumindest so lange, bis sich niemand mehr für das Kleingedruckte interessiert. Das mag auch nicht zu verwundern, denn jedes Zeitalter hat seine ganz besondere Zeitkrankheit. Die Zeitkrankheit von heute heißt Demokratieverdrossenheit, weil man es einfach nicht mehr ertragen kann, wie in Deutschland Politik gemacht wird. Ergänzend dazu sei angemerkt, dass es sich bei dieser Krankheit sozusagen um eine schleichende Krankheit handelt.

Das, was den Wählerinnen und Wählern bleibt, das lässt sich folglich nur noch als Demokratiemüdigkeit beschreiben, der dann möglicherweise Veränderungen folgen werden, von denen wir schon heute nur noch hoffen können, dass es die Götter im Himmel gut mit uns meinen werden.

02 Organisierte Unverantwortlichkeit

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Bereits von 35 Jahren heißt es in einem Buch von Ulrich Beck, „Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit“, dass es sich bei einer Restrisikogesellschaft um eine versicherungslose Gesellschaft handelt, deren Versicherungsschutz paradoxerweise mit der Größe der Gefahr abnimmt (Seite 132).

Dass dieser Satz aus dem Jahr 1988 heute sozusagen wie die Faust aufs Auge passt, liegt in der Natur der politischen Ratlosigkeit, die sozusagen, was das Ausmaß der Neuverschuldung anbelangt, nunmehr wohl das Ende der Fahnenstange erreicht haben dürfte.

Einsehen will das aber zurzeit noch niemand, denn kaum, dass die Richter des Bundesverfassungsgerichts entschieden hatten, begann bereits, ganz im Sinne von Ulrich Beck, das Gerangel um Standpunkte, Berechnungsverfahren und Ergebnisse, in denen rechtliche, kulturelle und wirtschaftliche Standards immer offener miteinander in Konflikt geraten sind und auch weiterhin in Konflikt geraten werden werden, verbunden mit der ebenso unbeabsichtigten, aber dennoch durchschlagenden „Nebenfolge“, dass die Grundlagen der gesamten Kalkulationen und Vorschläge zur Lösung des Problems kaum noch das Papier wert sein werden, auf dem sie stehen.

Ulrich Beck, der gerade sinngemäß von mir zitiert wurde, beschrieb bereits 1988 - sozusagen vorausahnend - den Zustand der Haushaltspolitik der Bundesrepublik Deutschland von heute. Wörtlich heißt es bei ihm:

Ulrich Beck: Man muss sozusagen um die Ecke der Zukunft denken, das Ungesehene, Vernachlässigte erhält Zentralbedeutung. Gerade deswegen können Folgenvermutungen in die verschiedensten Richtungen ausgesandt werden und kommen mit einem ungeheueren Stimmengewirr gegensätzlicher Ratschläge zurück (Seite 147).

Nur eines wird angesichts der sichtbar gewordenen Ratlosigkeit niemals zugegeben wollen, gemeint sind die Fehler, in denen Milliarden sozusagen verbrannt wurden und werden, denn die können gar nicht eingestanden werden, ohne eigenes Politikversagen damit einzugestehen.

Wer heute solche obszönen Perversitäten wie „Unabhängigkeit“, „einen Mangel an Lernfähigkeit“, oder gar Eingeständnis von Fehlern“ oder - was an Perversität nicht mehr zu überbieten ist – sogar die Notwendigkeit eines Systemwandels auch nur eingestehen würde, der darf sich nicht wundern, wenn der Verfassungsschutz ihm dann schon auf die Finger schaut.

03 Bisher bekannt gewordene Optionen

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Die bisher bekannt gewordenen Optionen, einen verfassungsgemäßen Haushalt 2024 verabschieden zu können, lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  • Einen Weg finden, der es zulässt, die zurzeit bestehende Wirtschaftslage zu einem Notfall nationalen Ausmaßes zu erklären, um weiter Schulden machen zu können

  • Den Artikel 115 GG zu ändern, um die lästige Schuldenbremse flexibler handhaben zu können

  • Kürzungen von Subventionen, wo immer das noch geht

  • Steuererhöhungen, die alle gleichermaßen treffen

  • Eingriffe in das soziale Sicherungssystem

  • Sparen bei Asylsuchenden und Flüchtlingen

  • Steuergeschenke beenden oder die

  • Dienstwagenregelung abschaffen, aber das würde ja schon zu den Foltermethoden gehören, die diesem privilegierten Nutzerkreis wirklich nicht zugemutet werden können.

Abzuwarten bleibt auch, wann von den Beamten ein Solidaritätsbeitrag eingefordert wird, um die Staatshaushalte nicht noch weiter zu belasten, denn wie die öffentlichen Hände die zurzeit eingeforderten Gehaltserhöhungen im öffentlichen Dienst von 10,5 Prozent überhaupt stemmen sollen, das weiß ja auch noch niemand, zumal der Gehaltsanstieg mindestens 500 Euro im Monat ausmachen soll. Anders ausgedrückt: Allein die Übertragung dieser Forderung auf die Beamtenpensionen dürften mehr als 60 Milliarden kosten.

Noch im Oktober 2020 hieß es in einem Artikel auf Spiegel.de, die Beamtenpensionen betreffend, wie folgt:

Im Schnitt entsprechen die Pensionslasten einem Drittel der jährlichen Wirtschaftsleistung der Länder. Zusammengerechnet ergeben die Verpflichtungen von Bund und Ländern für die kommenden 40 Jahre Ende 2019 rund zwei Billionen Euro - das entspricht rund 60 Prozent der jährlichen deutschen Wirtschaftsleistung.

Link zur Quelle

Das war 2020.

04 Modern Monetary Theorie

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Diese Theorie geht von der Vorstellung aus, dass Staaten so viel Geld ausgeben können, wie sie wollen, denn sie können einfach nicht pleite gehen.

Solch eine Alternative zu bisherigen desaströsen Währungszusammenbrüchen, die ja wohl hinreichend bekannt sein dürften, hat Maurice Höfgen 2020 in seinem Buch „Mythos Geldknappheit – Modern Monetary-Theory oder: Warum es am Geld nicht scheitern muss“ sozusagen ausgeschlossen und die "Unmöglichkeit eines Staates, durch Geldvermehrung dem Bankrott zu entgehen", wie folgt zu erklären versucht:

Maurice Höfgen: Staatsausgaben erhöhen 1:1 das Nettogeldvermögen des nichtstaatlichen Sektors. Vereinfacht gesprochen: Staatsausgaben landen auf den Girokonten von Firmen und Haushalten und erhöhen deren Gesamtpunktestand auf der Anzeigetafel. Die Ausgaben des Staates sind die Einnahmen von Ihnen, mir und dem Rest der Welt. Staatsausgaben kosten uns kein Geld, sie machen uns reicher. (S. 42).

Ob der Staat Ausgaben durch Überziehung seines Kontos bei der Zentralbank oder durch Begeben von Staatsanleihen organisiert, ist letztlich zweitrangig. Staatsausgaben führen immer zu einem höheren Nettogeldvermögen des nichtstaatlichen Sektors. Im Gegenzug wird selbiges Nettogeldvermögen durch Steuern immer reduziert. Aus unserer Sicht als Privatperson ergibt sich: Staatsausgaben machen uns reicher, Steuern machen uns ärmer. Die roten Zahlen des Staates sind die schwarzen Zahlen des nichtstaatlichen Sektors. Diese Einsicht ist fundamental für das Verständnis des Geldsystems und die Bewertung von Reformvorschlägen. (53).

Für einen währungsherausgebenden Staat geht es weder um Finanzierbarkeit noch um irgendwelche buchhalterischen Finanzgrößen. Die finanzielle Fähigkeit, Ausgaben zu tätigen - jetzt und in der Zukunft -, ist unabhängig von Steuereinnahmen und unabhängig von ausgegebenen Staatsanleihen. Die relevante Frage ist: Wie setzen wir unsere realen Ressourcen bestmöglich ein, um unsere gesellschaftlichen Zielvorstellungen, das größtmögliche Gemeinwohl, zu erreichen? aWenn darauf eine Antwort gefunden werden kann, dann steht einer Umsetzung nichts im Wege. Es sei denn, Staaten haben sich eigens Beschränkungen auferlegt. (83)

Eine solche Beschränkung enthält der Artikel 109 Abs. 3 GG.

Art. 109 Abs. 3 GG
(3) Die Haushalte von Bund und Ländern sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen. Bund und Länder können Regelungen zur im Auf- und Abschwung symmetrischen Berücksichtigung der Auswirkungen einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung sowie eine Ausnahmeregelung für Naturkatastrophen oder außergewöhnliche Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, vorsehen. Für die Ausnahmeregelung ist eine entsprechende Tilgungsregelung vorzusehen. Die nähere Ausgestaltung regelt für den Haushalt des Bundes Artikel 115 mit der Maßgabe, dass Satz 1 entsprochen ist, wenn die Einnahmen aus Krediten 0,35 vom Hundert im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt nicht überschreiten. Die nähere Ausgestaltung für die Haushalte der Länder regeln diese im Rahmen ihrer verfassungsrechtlichen Kompetenzen mit der Maßgabe, dass Satz 1 nur dann entsprochen ist, wenn keine Einnahmen aus Krediten zugelassen werden.

Diese Beschränkung war nicht nur 2009 sinnvoll, als sie als Folge der damals gerade überwundenen Finanzkrise in das Grundgesetz eingefügt wurde. Sie ist aber auch heute noch sinnvoll, obwohl führende Politiker darauf hinweisen, dass sich die Zeiten geändert haben und Regelungen, die vor 24 Jahren sinnvoll gewesen sein mögen, sich heute schlichtweg überlebt haben. Zweifel an dieser Sicht dürften dennoch berechtigt sein.

Warum? Komplexe Probleme lassen sich nicht lösen, ohne zeitgleich andere komplexe Probleme entweder entstehen oder anwachsen zu lassen. Um welches Problem könnte es sich dabei handeln?

Verantwortungsvolle Okonomen gehen auch heute immer noch von der Vorstellung aus, das durch immer mehr Schulden und durch die damit verbundene Geldvermehrung die Inflation anwachsen wird.

Anlässlich eines Symposiums stellte der ehemalige Präsident der USA John F. Kennedy (1917 bis 1963) im Rahmen einer Diskussion mit dem US-amerikanischen Ökonomen James Tobin diesem Fragen, die hier nur verkürzt wiedergegeben wird:

Kennedy: Gibt es irgendein ökonomisches Limit für das Defizit?
Tobin:
Das einzige Limit ist tatsächlich Inflation.
Kennedy:
Das ist es. Das Defizit kann von jeglicher Höhe sein und die Schulden können von jeglicher Höhe sein, vorausgesetzt, dass sie keine Inflation erzeugen. Alles andere ist nur Gerede.

Zitiert nach Maurice Höfgen. Mythos Geldknappheit. Modern Monetary Theorie oder Warum es am Geld nicht scheitern muss: Schöffer/Poeschel-Verlag 2020. S. 82

05 Sechzig Milliarden, oder was?

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Ob es sich lediglich um diese Summe handelt, das sei einmal dahingestellt. Wie hoch auch immer die schuldenfinanzierten Investitionshilfen des Staates ausfallen werden, mit 60 Milliarden Euros wird der Weg in eine klimaneutrale Zukunft wohl kaum realisiert werden können. Staatliche Investitionshilfen können sowieso nur als ein Anreiz verstanden werden, privates Kapital in einem weitaus größeren Umfang „dahingehend zu motivieren“, investiert zu werden.

Anders ausgedrückt: Die Summe von 60 Milliarden Euro machen nur einen kleinen Anteil von maximal 20 Prozent der Investitionen aus, die dadurch letztendlich ausgelöst werden sollen.

Kurzum: Die 60 Milliarden, wenn es denn gelingen solltge, auch 2024 Mittel in dieser Höhe der Wirtschaft zur Verfügung zu stellen, sollen dazu dienen, mindestens 300 Milliarden privater Geldmittel von privaten Geldgebern dazu zu bewegen,  wirtschaftliches Wachstum in eine neue – in eine klimaneutrale Wirtschaft – zu investieren.

06 Warum nur 60 Milliarden?

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Warum es gerade nur 60 Milliarden schuldenfinanzierte Euros sind, über die zurzeit diskutiert wird, das wirft zuerst einmal die Frage auf, sich mit dem Ursprung dieser Summe auseinanderzusetzen, zumal über deren Verfassungswidrigkeit die Richter des Bundesverfassungsgerichts bereits 2021 dazu im Rahmen eines Eilverfahrens entscheiden sollten, denn bereits im Februar 2022 hatten sich 197 Abgeordnete der CDU/CSU an das BVerfG gewandt, um zu verhindern, dass Haushaltsmittel, die nicht mehr für die Pandemiebekämpfung (COVID) benötigt wurden, dem Klimaschutz zugeführt werden sollten, denn im Verlauf des Haushaltsjahres 2021 hatte sich gezeigt, dass die im Nachtragshaushaltsgesetz vorgesehene Summe für die Pandemiebekämpfung nicht mehr benötigt wurde.

Vor diesem Hintergrund entstand im politischen Raum bereits schon 2021 die Idee, die mit dem Nachtragshaushaltsgesetz 2021 eingeräumte Kreditermächtigung in der vollen Höhe von 60 Milliarden Euro auf den „Energie- und Klimafonds“ (nachfolgend: EKF), einem unselbständigen Sondervermögen des Bundes (...), zu übertragen.

Diesbezüglich heißt es in dem Beschluss:

a) Zwar sei COVID-19 als Massenerkrankung eindeutig eine Naturkatastrophe im Sinne von Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG. Für den Klimawandel gelte dies hingegen nicht. Dabei handele es sich nicht um den Fall eines „exogenen Schocks“, den der verfassungsändernde Gesetzgeber 2009 im Blick gehabt habe, als er die Möglichkeit der notlagenbedingten Kreditaufnahme ausgestaltet habe. Es sei hierbei um den budgetären Ausgleich plötzlich auftretender, nicht vorauszusehender Notsituationen gegangen. Der Klimawandel sei seit Langem bekannt, erfordere langfristig und weitgreifend angelegtes Staatshandeln und stelle sich deshalb als im Rahmen der regulären Haushaltswirtschaft zu bewältigende strukturelle Zukunftsherausforderung dar. Begriffe man den Klimawandel als Notsituation im Sinne von Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG, käme dies einer faktischen Abschaffung der Schuldenbremse gleich.

Dennoch lehnten die Richter des Bundesverfassungsgerichts den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen ein Parlamentsgesetz mit der Begründung ab, dass es sich dabei um einen erheblichen Eingriff in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers handeln würde, der besonders strengen Maßgaben unterliege.

Wörtlich heißt es in dem Beschluss:

Der Normenkontrollantrag, der mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gesichert werden soll, ist zwar weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Eine Ausnahmekonstellation, in der eine summarische Prüfung des Gesetzes anzustellen wäre, liegt jedoch nicht vor. Die danach gebotene Folgenabwägung ergibt, dass die Nachteile, die sich aus dem Erlass der einstweiligen Anordnung ergeben, die Nachteile deutlich überwiegen, die bei einer Ablehnung des Antrags zu besorgen sind.

Zwischenergebnis: Der Antrag in der Hauptsache, so die Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts, ist aber weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Zur weiteren Vorgehensweise des Gerichts heißt es in dem Beschluss:

BVerfG November 2022: Das Bundesverfassungsgericht wird (deshalb) zu klären haben, ob die Tatbestandsvoraussetzungen für die notlagenbedingte Ausnahme vom grundsätzlichen Verbot der strukturellen Neuverschuldung nach Art. 109 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG im Grundsatz verfassungsgerichtlich voll überprüfbar sind (...). Einschränkungen der Kontrolldichte könnten für das in Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG vorgesehene Erfordernis einer erheblichen Beeinträchtigung der staatlichen Finanzlage und für die Ausgestaltung der Rückführung der aufgenommenen Kredite binnen eines angemessenen Zeitraums gelten.

Beschluss vom 22. November 2022 - 2 BvF 1/22

07 BVerfG, Urteil vom 15. November 2023

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Diesem Urteil lag das oben bereits kurz aufgezeigte abstrakte Normenkontrollverfahren zugrunde. Wie bereits festgestellt, hatte sich im Haushaltsjahr 2021 gezeigt, dass die im Nachtragshaushaltsgesetz vorgesehenen Aufstockungen in Höhe von 60 Milliarden Euro für die Pandemiebekämpfung nicht mehr benötigt und deshalb in voller Höhe – sozusagen ersatzweise oder im Wege der Umwidmung – dem „Energie- und Klimafonds“, einem Sondervermögen des Bundes, zugeführt werden sollten.

Diesbezüglich haben die Richter des Verfassungsgerichts am 15. November 2023 jedoch entscheiden, was durchaus voraussehbar war, siehe den Beschluss vom 22. November 2022, dass das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 mit Art. 109 Abs. 3, Art. 110 Abs. 2 und Art. 115 Abs. 2 Grundgesetz (GG) unvereinbar und somit nichtig ist.

Im Zentrum des Urteils standen drei Artikel des Grundgesetzes.

Art. 109 Abs. 3 GG
Art. 110 Abs. 2 GG
Art. 115 Abs. 2 GG

Art. 109 Abs. 3 Satz 2 und Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG lassen es zu, dass der Bundestag von seinem Recht Gebrauch machen kann, im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, die Schuldenbremse außer Kraft zu setzen, die seit 2009 im Grundgesetz verankert ist. Das setzt aber voraus, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen der Notsituation und der Überschreitung der Kreditobergrenzen nachzuweisen ist und somit außer Zweifel steht, dass eine Auflockerung der Schuldenbremse unverzichtbar weil unvermeidbar ist.

BVerfG 2023: In materieller Hinsicht setzt Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG eine Naturkatastrophe oder eine außergewöhnliche Notsituation voraus, die sich der Kontrolle des Staates entzieht und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigt. Zudem verlangt Art. 115 Abs. 2 Satz 7 und 8 GG einen Tilgungsplan zur Kreditrückführung in einem angemessenen Zeitraum.

Das Begriffsverständnis von einer „Naturkatastrophe“ im Sinne von Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG kann im Wesentlichen an die Auffassungen anknüpfen, die sich zu Art. 35 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 Satz 1 GG entwickelt haben.

Der Begriff der „Naturkatastrophe“ bezeichnet dabei unmittelbar drohende Gefahrenzustände oder Schädigungen von erheblichem Ausmaß, die durch Naturereignisse ausgelöst werden, wie etwa Erdbeben, Hochwasser, Unwetter, Dürre oder Massenerkrankungen.

Demgegenüber ist der Begriff der „außergewöhnlichen Notsituation“ im Sinne von Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG abweichend von dem Tatbestandsmerkmal des „besonders schweren Unglücksfalls“ aus Art. 35 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 Satz 1 GG zu bestimmen. Unter Letzterem wird nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein Schadensereignis von großem Ausmaß verstanden, das – wie ein schweres Flugzeug- oder Eisenbahnunglück, ein Stromausfall mit Auswirkungen auf lebenswichtige Bereiche der Daseinsvorsorge oder ein Unfall in einem Kernkraftwerk – wegen seiner Bedeutung in besonderer Weise die Öffentlichkeit berührt und auf menschliches Fehlverhalten oder technische Unzulänglichkeiten zurückgeht.

Durch das Attribut der Außergewöhnlichkeit der Notsituation kommt zugleich zum Ausdruck, dass nicht jede Beeinträchtigung der Wirtschaftsabläufe der Ausnahmeklausel des Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG unterfällt. Insbesondere sind Beeinträchtigungen der Finanz- und Wirtschaftslage nicht schon dann ein Anwendungsfall dieser Norm, wenn es sich um bloße Auf- und Abschwungbewegungen eines zyklischen Konjunkturverlaufs handelt. Dem Regelungszusammenhang von Art. 115 Abs. 2 Satz 3, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG lässt sich vielmehr entnehmen, dass solche Entwicklungen abschließend im Rahmen der Konjunkturkomponente des grundsätzlichen Verbots struktureller Neuverschuldung Niederschlag finden sollen und keine weitergehende Durchbrechung desselben rechtfertigen können.

Zwischen der Notsituation und dem Neuverschuldungsbedarf muss eine kausale Beziehung bestehen. Erforderlich ist, dass die Notsituation ursächlich zu einer Reaktion des Staates führt, die sich in einer erheblichen Weise auf die „Finanzlage“ des Bundes auswirkt und gerade deshalb die Rechtfertigung für eine Neuverschuldung bietet. Der Finanzbedarf, der durch die Reaktion des Staates auf die Naturkatastrophe oder die außergewöhnliche Notlage sowie durch mögliche vorbeugende Maßnahmen entsteht, muss den Gesamthaushalt spürbar belasten.

Eine Notsituation, die nur „unerhebliche“ Folgen für die Finanzlage des Staates mit sich bringt, kann keine notlagenbedingte Neuverschuldung tragen. In solchen Fällen muss ein plötzlich auftretender Finanzbedarf ohne zusätzliche Kreditaufnahme, beispielsweise durch Haushaltsumschichtungen, Ausgabenkürzungen oder Steuererhöhungen, gedeckt werden. Das Tatbestandsmerkmal der „erheblichen“ Beeinträchtigung der staatlichen Finanzlage stellt damit in allgemeiner Weise auf den Einfluss der äußeren Krise auf die staatlichen Finanzen in ihrer Gesamtheit ab. Weitere Anforderungen ergeben sich aus dem Merkmal der Erheblichkeit nicht.

Ob eine Naturkatastrophe oder außergewöhnliche Notsituation vorliegt, die sich der Kontrolle des Staates entzieht, unterliegt vollumfänglicher verfassungsgerichtlicher Prüfung.

Zur Schuldenbremse heißt es:

Nach Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG a. F. durften die Einnahmen aus Krediten die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten. Ausnahmen waren nur zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zulässig. Dabei führen die konkreten Anwendungsvoraussetzungen des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 GG a. F. zu einer verfassungsgerichtlich nur begrenzt kontrollierbaren Abwägung. Nur wenn das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht ernsthaft und nachhaltig gestört war oder eine solche Störung unmittelbar drohte, durfte von der Ausnahmevorschrift Gebrauch gemacht werden. Dem Haushaltsgesetzgeber stand bei der Prüfung, ob eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts vorlag oder unmittelbar drohte, ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu. Damit korrespondierte eine Darlegungslast im Gesetzgebungsverfahren. Dem Bundesverfassungsgericht oblag im Streitfall die Prüfung, ob die im Gesetzgebungsverfahren dargelegte Beurteilung und Einschätzung des Gesetzgebers nachvollziehbar und vertretbar war (...).

Bereits nach dem geschriebenen Tatbestand des Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG ist zu prüfen, ob gerade die Naturkatastrophe oder außergewöhnliche Notsituation die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigt, ob also eine Kausalbeziehung zwischen der Notlage, dem erhöhten Finanzbedarf und der Störung der Lage der staatlichen Finanzen besteht.

Überschreitungen der regulären Kreditobergrenze können verfassungsrechtlich nur gedeckt sein, wenn der Haushaltsgesetzgeber mit ihnen zweckgerichtet Maßnahmen zur Überwindung oder Vorbeugung einer Naturkatastrophe oder außergewöhnlichen Notsituation finanziert (...). Nicht erfasst sind dagegen Neukredite für allgemeinpolitische Maßnahmen, die allenfalls anlässlich der vermeintlich günstigen Gelegenheit des Aussetzens der Schuldenbremse ergriffen werden, aber nicht auf die Überwindung der Krisensituation zielen (...).

Je weiter allerdings das auslösende Ereignis in der Vergangenheit liegt, je mehr Zeit zur Entscheidungsfindung gegeben ist und je entfernter die Folgen sind, desto stärker wird sich der Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum des Haushaltsgesetzgebers verengen, weil die Folgen seines Handelns mit der Zeit besser abzuschätzen sind und so verhindert werden kann, dass die Ausnahme der Überschreitung der Kreditobergrenzen zur Regel wird, wie es bei der grundgesetzlichen Vorgängerregelung bemängelt wurde (...).

Macht der Gesetzgeber wiederholt innerhalb eines Haushaltsjahres oder innerhalb aufeinander folgender Haushaltsjahre von der Möglichkeit notlagenbedingter Kreditmittel Gebrauch, so wachsen auch die Anforderungen an seine Darlegungslasten. Je länger die Krise dauert und je umfangreicher der Gesetzgeber notlagenbedingte Kredite in Anspruch genommen hat, desto detaillierter hat er die Gründe für das Fortbestehen der Krise (Krisendiagnose) und die aus seiner Sicht weiter gegebene Geeignetheit der von ihm geplanten Maßnahmen zur Krisenbewältigung darzulegen.

Es folgen umfangreiche Ausführungen zur Jährlichkeit.

Die Geltung der Grundsätze der Jährlichkeit, Jährigkeit und Fälligkeit im Staatsschuldenrecht erstreckt sich auch auf die Ausnahmeregelung des Art. 109 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG für Naturkatastrophen und außergewöhnliche Notsituationen. Zwar rechtfertigen diese Normen gerade die Überschreitung der Obergrenze der jährlichen Nettokreditaufnahme. In ihrem auf die Durchbrechung der regulären Grenze gerichteten Ausnahmecharakter bleiben die Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG aber eng auf das jährliche Berechnungssystem der Schuldenbremse bezogen.

Die Prinzipien der Jährlichkeit, Jährigkeit und Fälligkeit können nicht dadurch außer Kraft gesetzt werden, dass der Gesetzgeber eine Gestaltungsform wählt, bei der Kreditermächtigungen für ein juristisch unselbständiges Sondervermögen (Nebenhaushalte) nutzbar gemacht werden. Auch juristisch unselbständige Nebenhaushalte werden von dem Verbot der Neuverschuldung nach Art. 109 Abs. 3 Satz 1, Art. 115 Abs. 2 GG umfasst, weshalb die allgemeinen Anforderungen aus dem Zeitbezug der Schuldenbremse bei dem Einsatz eines Sondervermögens im Grundsatz anwendbar bleiben.

Deshalb:

Mit dem Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2021 werden dem KTF als unselbständigem Sondervermögen des Bundes kreditfinanzierte Mittel in Höhe von 60 Milliarden Euro zugeführt, die sich auf die Berechnung der zulässigen Kreditaufnahme für das Jahr 2021 auswirken, während die vom Gesetzgeber zur Krisenbewältigung ins Auge gefassten Maßnahmen, deren Finanzierung die Kreditermächtigungen dienen sollen, für kommende Haushaltsjahre geplant sind. Tatsächlich wirksame Verschuldung entsteht für den Bund nach dieser Konzeption vor allem in den kommenden Jahren und voraussichtlich über die dann für das jeweilige Haushaltsjahr geltende verfassungsrechtliche Verschuldungsgrenze hinaus. Dabei werden die jetzt geschaffenen Kreditermächtigungen ohne Anrechnung auf die Verschuldungsgrenze des dann aktuellen Haushaltsjahres nutzbar gemacht, weil die Anrechnung bereits mit der Ermächtigung im Ausnahmejahr 2021, nicht aber mit der späteren Kreditaufnahme selbst erfolgen soll. Dies ist mit dem Grundsatz der Jährigkeit in Verbindung mit dem Grundsatz der Fälligkeit bei Anwendung der Art. 109 Abs. 3, Art. 115 Abs. 2 GG nicht zu vereinbaren.

Die Verabschiedung des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes für das Jahr 2021 nach Ablauf des Haushaltsjahres 2021 – das Gesetz wurde vom Deutschen Bundestag am 27. Januar 2022 beschlossen und am 25. Februar 2022 im Bundesgesetzblatt verkündet – widerspricht damit dem verfassungsrechtlich in Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG wurzelnden Haushaltsgrundsatz der Vorherigkeit. Bei diesem Grundsatz handelt es sich nicht nur um einen Ausdruck organschaftlicher Pflichten, sondern um eine verfassungsrechtlich justiziable Maßgabe an ein Nachtragshaushaltsgesetz.

BVerfG, Urteil vom 15. November 2023 - 2 BvF 1/22

08 Beratungs- und Lernresistenz

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Es spricht für die Selbstüberschätzung der Bundesregierunge von heute, obwohl sich deren Minister sehr viel Geld dafür ausgeben, sich auch hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Auswirkungen ihres Tuns von externen Anwaltskanzleien beraten zu lassen, nicht einsehen wollen, dass das Grundgesetz ihren Handlungen dennoch Grenzen setzt.

Und das mit dem Ergebnis des nunmehr vorliegenden Urteils der Bundesverfassungsrichterinnen und -richter zu rechnen war, das deutete sich bereits in dem Beschluss des Gerichts aus dem Jahre 2022 an (November 2022). Die folgenden Zitate aus diesem Beschluss dürften Ihnen, wenn Sie die Zitate aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom November 2023 gelesen haben, zumindest bekannt vorkommen, denn sich wurden in dem Urteil (November 2023) wiederholt.

Seit einem Jahr war vor dem Urteil Folgendes bekannt:

BVerfG November 2022: Art. 109 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit Art. 115 Abs. 2 Sätze 6 bis 8 GG gibt dem Bundestag das Recht, zu beschließen, dass die sich aus den dargestellten Maßgaben ergebenden Kreditobergrenzen im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, überschritten werden dürfen. Über die geschriebenen Tatbestandsvoraussetzungen von Art. 115 Abs. 2 Sätze 6 bis 8 GG hinaus stellt sich die Frage, ob ein spezifischer Veranlassungszusammenhang zwischen der Notsituation und der Überschreitung der Kreditobergrenzen erforderlich ist und ob insoweit Anforderungen der Verhältnismäßigkeit zu beachten sind. Auch könnten für die Schuldenbremse aus allgemeinen Haushaltsgrundsätzen, wie etwa dem Jährlichkeitsprinzip, weitere verfassungsrechtliche Maßgaben folgen. Sollten diese Anforderungen gelten, bestehen Anhaltspunkte dafür, dass das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 ihnen nicht genügt.

In formeller Hinsicht verlangt Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG für die Überschreitung der Kreditobergrenze bei Naturkatastrophen und außergewöhnlichen Notsituationen einen Beschluss der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages; dies ist gemäß Art. 121 GG die Mehrheit seiner gesetzlichen Mitgliederzahl. In dem qualifizierten Mehrheitserfordernis kommt die Tragweite der parlamentarischen Entscheidung, eine Ausnahme von der Schuldenbremse zu beschließen, zum Ausdruck.

Der Tatbestand von Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG setzt in materieller Hinsicht eine Naturkatastrophe oder eine außergewöhnliche Notsituation voraus, die sich der Kontrolle des Staates entzieht und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigt. Zudem verlangt Art. 115 Abs. 2 Sätze 7 und 8 GG einen Tilgungsplan zur Kreditrückführung in einem angemessenen Zeitraum.

Das Begriffsverständnis von einer „Naturkatastrophe“ im Sinne von Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG dürfte im Wesentlichen an dasjenige anknüpfen, welches sich zu Art. 35 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 Satz 1 GG entwickelt hat. Unter den Begriff der „Naturkatastrophe“ werden in diesem Zusammenhang unmittelbar drohende Gefahrenzustände oder Schädigungen von erheblichem Ausmaß, die durch Naturereignisse ausgelöst werden, wie Erdbeben, Hochwasser, Unwetter, Dürre, Massenerkrankungen, gefasst.

Die Naturkatastrophe oder außergewöhnliche Notsituation, welche den Anlass für die Ausnahme vom grundsätzlichen Verbot der strukturellen Neuverschuldung geben soll, muss sich nach dem Wortlaut der Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG der Kontrolle des Staates entziehen.

[Auch muss es sich bei der Anwendung von] Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG um eine Ausnahmebestimmung handelt, die nach dem Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers eng auszulegen ist, um den Zuwachs von Staatsschulden im Gegensatz zu den Vorläuferregelungen wirksam zu begrenzen.

Im Ergebnis erscheint es jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass die im Rahmen des angegriffenen Gesetzes vorgenommene Zuführung von Kreditermächtigungen an den mittlerweile in den Klima- und Transformationsfonds (KTF) überführten Energie- und Klimafonds (EKF) nicht den verfassungsrechtlichen Vorgaben an eine notlagenbedingte Kreditaufnahme des Bundes entspricht.

BVerfG, Beschluss vom 22. November 2022 - 2 BvF 1/22

Eine Bundesregierung, die in Kenntnis dieser Rechtsauffassung des höchsten deutschen Gerichts weiter mit geltendem Verfassungsrecht in der Hoffnung gespielt hat, dass sich die Richter ihrer Denkweise anschließen würden, hat nicht funktioniert, denn die Richter des Bundesverfassungsgerichts haben Recht gesprochen und damit zum Ausdruck gebracht, dass sie nicht dazu bereit waren, dieses Spiel einfach mitzuspielen.

09 Vorbildhafte Schweiz

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Während die Schuldenbremse in der Bundesrepublik Deutschland erst 2009 im Grundgesetz verankert wurde, regelt der Artikel 126 der Schweizer Bundesverfassung die Schuldenbremse bereits seit 2001.

Auch dort soll die Schuldenbremse chronische Defizite und damit einen Schuldenanstieg verhindern. In der Bevölkerung genießt die Schuldenbremse im Übrigen eine große Unterstützung, denn 85 Prozent der Schweizer Wählerinnen und Wähler hatten im Rahmen einer Volksbefragung die Schuldenbremse gutgeheißen, und auch heute noch, also 22 Jahre nach ihrer Einführung, hat die Schuldenbremse in der Bevölkerung und im Parlament einen starken Rückhalt.

Angenommen in der Volksabstimmung vom 2. Dez. 2001, in Kraft seit 2. Dez. 2001 (BB vom 22. Juni 2001, BRB vom 4. Febr. 2002 - AS 2002 241; BBl 2000 4653, 2001 2387 2878, 2002 1209).

Ganz anders die Situation in Deutschland.

Dort gibt es zwar eine Schuldenbremse, aber das hindert in dieser Demokratie weder die Regierung noch die Abgeordneten der Regierungsparteien im Deutschen Bundestag daran, geltendes Verfassungsrecht zu missachten, wider besseres Wissen, muss man sagen, denn die Frage nach der Verfassungswidrigkeit der Missachtung der Schuldenbremse stellt sich ja nicht erst im Anschluss an das Urteil der Richter des Bundesverfassungsgerichts vom 15. November 2023, obwohl jetzt der Eindruck erweckt werden soll, dass dem so ist und niemand hat damit rechnen können, dass solch ein Urteil zu erwarten war.

Wie dem auch immer sei: Es entspricht wohl der Denkstruktur von Politikern, sich zuerst einmal überrascht zu zeigen.

Dass die Schweizer Wählerinnen und Wähler über mehr gesunden Menschenverstand verfügten, darauf sei an dieser Stelle nur hingewiesen. Dass so viel gesunder Menschenverstand im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nicht verankert ist, das seinen Ursprung im Parlamentarischen Rat, als es 1948/49 darum ging, die aufzubauende Republik vor der Dummheit des Volkes zu schützen. Daran sei an dieser Stelle nur kurz erinnert, denn bereits damals hielt es der Parlamentarische Rat für unverantwortlich, in Anlehnung an die Schweizer Demokratie, ein Volksbegehren mit in das Grundgesetz aufzunehmen, denn die Unfähigkeit des „Kettenhundes“, so die Bezeichnung des Volksbegehrens durch den ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss, musste verhindert werden.

Ganz anders die Sichtweise in der Schweiz.

In einem Artikel in der Neuen Züricher Zeitung vom 23.11.2023 zieht der Ökonom Christoph Schaltegger  im Hinblick auf die Schweizer Schuldenbremse eine positive Bilanz, denn im Gegensatz zur bundesdeutschen Verfassungswirklichkeit mache die Schweizer Schuldenbremse der Politik nicht nur striktere Vorgaben, was die Höhe der Neuverschuldung angehe, sie motiviere die Regierung auch zur Sparsamkeit.

Und im Hinblick auf die Situation in Deutschland heißt es in dem Artikel: Obwohl die deutsche Schuldenbremse nicht ganz so strikt ausgelegt sei wie ihr Schweizer Vorbild, habe auch der deutsche Bundeshaushalt von den Fiskalregeln profitiert, denn gemessen an seinen europäischen Nachbarn, ist die Verschuldungsquote des deutschen Staates vergleichsweise gering. Der Staat könne deshalb gut auf Notsituationen reagieren.

Abzuwarten bleibt dennoch, wie lange es dauern wird, bis sich die Politik wieder an den Kernsatz der „Modern Monetary Theoriy (MMT)“ zu erinnern, der da lautet:

Ein Staat muss im Hinblick auf seine eigene Währung keine Insolvenz fürchten.

10 Zukunft der Schuldenbremse

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Bevor diesbezüglich nach einer Antwort gesucht wird, dürfte es sinnvoll sein, zuerst einmal deren Anfänge zu beschreiben, die nunmehr gut 25 Jahre zurückliegen.

Am Anfang stand die globale Finanz- und Wirtschaftskrise von 2009, die in den Jahren danach sozusagen nahtlos in die Euro-Schuldenkrise überging. Damals senkte die Europäische Zentralbank einerseits die Zinsen auf sehr niedrige Werte und in letzter Instanz auf null Prozent. Gleichzeitig wurde jedoch auch mit der „unkonventionellen Geldpolitik“ begonnen. Darunter verstand man den Kauf von Staatsanleihen der Euro-Mitgliedsländer durch das Eurosystem.

Anders ausgedrückt: Durch die jeweiligen nationalen Notenbanken wurde Geld in den Umlauf gegeben, das sozusagen direkt aus der Druckerpresse kam. Mit anderen Worten: Die Notenbanken vergrößerten bewusst und gewollt die Geldmenge im gesamten Euroraum – von einst 800 Milliarden Euro auf den Höchststand von zeitweise beinahe 9 Billionen Euro.

Daran hat sich Gravierendes geändert.

Ende Juli des Jahres 2023 belief sich die Geldmenge in der Eurozone auf eine Summe von rund 15,96 Billionen Euro. Dies entspricht einem minimalen Rückgang um rund 0,8 Prozent im Vergleich zum Ende des Vorjahres, siehe Statista.com.

Im Vergleich zur Geldmenge, die im Jahr 2009 in der EU im Umlauf war, hat sich die Geldmenge 2023 in der EU jedoch fast verdoppelt.

Diesen „Höhenflug hat Deutschland bereits erreicht“, denn die Geldmenge in Deutschland entwickelte sich im gleichen Zeitraum wie folgt: Betrug die Geldmenge in Deutschland 2009 noch 1,9 Billionen Euro, verdoppelte sie sich – Stand 2022 – auf 3,8 Billionen Euro.

Was das für die Entwicklung der Inflationsrate bedeutet, das vermag man nur zu erahnen, zumal durch die neuerdings wieder steigenden Zinsen zwangsläufig auch die Ausgaben für Geld ansteigen werden, das in den Umlauf gebracht wurde. Auch wenn zurzeit die Inflationsrate wieder rückläufig ist, ist das noch längst keine Garantie dafür, dass dies auch so bleibt.

Wie dem auch immer sei: Sogar der ifo-Chef Clemens Fuest plädiert für weitere Sondervermögen. In einem Artikel, der am 24. November 2023 auf der Website der Finanzmarktwelt veröffentlicht wurde, heißt es:

Finanzmarktwelt.de: Die Bundesregierung kann laut ifo-Chef Clemens Fuest ihre Investitions- und Klimaziele nicht ohne die Aufnahme neuer Schulden erreichen, und sollte zu diesem Zweck ein weiteres Sondervermögen im Grundgesetz verankern. “Wir brauchen eine Defizitfinanzierung, um den Investitionsbedarf und die Infrastruktur der Energiewende zu finanzieren. Die Frage ist, wie das erreicht werden kann. Eine Möglichkeit ist die Verschuldung öffentlicher Unternehmen“, so Clemens Fuest. Der bessere Ansatz bestehe aber darin, “einen neuen Fonds (Sondervermögen) einzurichten und ihn im Grundgesetz zu verankern.” Dazu müsste sich die Ampelkoalition von Bundeskanzler Olaf Scholz im Bundestag die Unterstützung der CDU/CSU-Opposition sichern, wie bereits bei der Einrichtung für das „Sondervermögen Bundeswehr“ nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine. Clemens Fuest zufolge sei dies kurzfristig nicht möglich, “aber vielleicht nach Verhandlungen”.

Link zu dem Artikel

11 Sondervermögen sind Schulden

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Ein Sondervermögen (volkswirtschaftlich Extrahaushalt) ist im deutschen Haushaltsrecht ein wirtschaftlich verselbständigter Nebenhaushalt (Schattenhaushalt), der ausschließlich zur Erfüllung einzelner begrenzter Aufgaben des Bundes in einer besonderen Situation bestimmt ist und deshalb von dem sonstigen Bundesvermögen getrennt verwaltet werden muss.

Im Unterschied zum Bundeshaushalt, der sämtliche Einnahmen und Ausgaben des Bundes darstellt (allgemeine Haushaltsfinanzierung aller Ressorts), sind die Ausgaben des Sondervermögens streng zweckgebunden. Zur Deckung der Ausgaben eines Sondervermögens kann der Bund ermächtigt werden, Kredite aufzunehmen (Wikipedia).

Auf der Website des Bundesrechnungshofes heißt es:

Bundesrechnungshof Stand 25.11.2023: Auf Bundesebene gibt es zurzeit 29 Sondervermögen. Die ältesten stammen noch aus den 1950er Jahren, die jüngsten wurden im vergangenen Jahr eingerichtet. Hierzu zählen beispielsweise das Sondervermögen von 100 Mrd. Euro für die Bundeswehr und der Wirtschaftsstabilisierungsfonds in der Energiekrise von 200 Mrd. Euro.

Sondervermögen haben in der Haushaltswirtschaft des Bundes eine erhebliche Bedeutung. Ihr finanzieller Umfang beträgt insgesamt rund 869 Mrd. Euro – alleine für die aktuell bestehenden größeren Sondervermögen.

Das Verschuldungspotenzial der Sondervermögen lag Ende 2022 bei insgesamt rund 522 Mrd. Euro. Das ist das rund Fünffache der im Finanzplanungszeitraum 2023 bis 2027 ausgewiesenen Kreditaufnahme.

Sondervermögen sind also größtenteils entweder ausgelagerte Schuldentöpfe oder sie hängen finanziell am „Tropf“ des kreditfinanzierten Bundeshaushaltes. In der Gesamtschau ist es deshalb zutreffender, von „Sonderschulden“ als von Sondervermögen zu sprechen. Die tatsächliche Nettokreditaufnahme ist unter Einbeziehung der Sondervermögen demnach auch deutlich höher als die im Bundeshaushalt ausgewiesene Nettokreditaufnahme.

Unter Einbeziehung der Sondervermögen würde die Nettokreditaufnahme im Jahr 2023 von 45,6 Milliarden Euro auf insgesamt 192,8 Milliarden Euro ansteigen.

Link zur Quelle

Die Frage, die sich zumindest mir abschließend stellt, lautet:

Wer soll das alles bezahlen?

Diese Frage ist nicht neu, denn die hat bereits 1949 Jupp Schmitz in seinem Karnevalslied „Wer soll das bezahlen?“, gestellt, sozusagen als eine Anspielung auf die durch die Währungsreform vom Juni 1948 ausgelösten Preissteigerungen.

In seinem Lied heißt es:

Wer soll das bezahlen?
Wer hat das bestellt?
Wer hat so viel Pinkepinke?
Wer hat so viel Geld?

Diese Frage stellt sich heute erneut, obwohl die Gründe für die Frage heute andere als 1949 sind. Denn heute hat auf diese Frage eine Gesellschaft eine Antwort zu finden, für die nichts mehr normal ist, und in der ein Zurück zur Normalität eine Behandlung voraussetzen würde, die heute noch nicht einmal ansatzweise diskutiert wird.

Stephan Lessenichs lesenswertes Buch „Nicht mehr normal“, kann insoweit durchaus als eine zutreffende Gesellschaftsanalyse angesehen werden, weil sich die bundesdeutsche Gesellschaft bereits am Rande des Nervenzusammenbruchs befindet.

Warum?

Ein Zurück zur vermeintlichen Normalität ist nicht nur äußerst unwahrscheinlich, sondern geradezu irrsinnig, und zu dem auch gefährlich.

Übrigens:

Für die 45 Milliarden 2023 getätigten Ausgaben wurde bereits eine Lösung gefunden, indem die Schuldenbremse auf 2023 ausgeweitet wurde, denn niemand kann einen solchen Betrag in den wenigen Wochen bis Ende des Jahres 2023 einsparen.

Was aus der Schuldenbremse 2024 wird, das lässt sich heute jedoch nur erahnen. Dem Gesetz der gewohnten Wiederholung folgend, wird man sie wohl so weit aufweichen, dass am Ende dieser Entwicklung von ihr wohl kaum noch etwas übrig bleiben wird.

12 Regierungserklärung des Bundeskanzlers

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Zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtswidrigkeit des Nachtragshaushalts 2022 sagte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in seiner Regierungserklärung am 28.11.2023 im Deutschen Bundestag unter anderem:

Klar ist: Dieses Urteil schafft eine neue Realität – für die Bundesregierung und für alle gegenwärtigen und zukünftigen Regierungen, im Bund und in den Ländern. Diese Realität mache es schwieriger, wichtige und weithin geteilte Ziele für unser Land zu erreichen. In Kombination mit unvorhergesehenen äußeren Krisen, also der Pandemie, der Flut im rheinland-pfälzischen Ahrtal, dem Angriff Russlands auf die Ukraine und der darauffolgenden Energiekrise, stehe Deutschland vor Herausforderungen, wie unsere Republik sie in dieser Konzentration und Härte wohl noch nicht erlebt hat.“

Konkrete Aussagen zu den damit verbundenen Veränderungen und Einsparungen vermied der Kanzler, was der Parteivorsitzende Friedrich Merz (CDU) zum Anlass nahm, dem Bundeskanzler vorzuwerfen:

„Sie können es nicht.“
Zu lange haben wir weggeschaut, uns die Lage schöngeredet und gehofft, es wird für uns schon alles gutgehen.“

In einem Artikel in der Onlineausgabe der Neuen Züricher Zeitung vom 29.11.2023 heißt es sinngemäß, dass unter einer von Friedrich Merz geführten Regierung alles anders aussehen würde. Der ernüchternde Rückblick von Friedrich Merz zeige, dass Deutschland nicht wirklich strategiefähig sei. Das Land sei nicht ausreichend in der Lage, „die Puzzlestücke, die vor uns liegen, zusammenzusetzen“, das Lagebild zu erkennen und dann die richtigen Ableitungen und Konsequenzen zu ziehen. Daher müsse mit Nachdruck eine strategische Kultur in Deutschland ausgebaut werden.

Kurzum: Das Versprechen von Friedrich Merz, sollte es der CDU 2025 gelingen, den Kanzler zu stellen, würde darin bestehen, die CDU wieder zur Partei der Bundeswehr zu machen, denn die Rüstungsindustrie sei eine strategische Industrie.

Seine Botschaft lautete: Bundeswehr, Rüstungsbeschaffung sowie die gesamte Verteidigung habe für die Union wieder oberste Priorität.

Solche Aussagen lassen für die Zukunft nichts Gutes erahnen, denn in Zeiten, in denen die Rüstungsindustrie zum Wachstumsmotor gemacht wird – soweit das nicht schon längst der Fall ist – macht deutlich, dass die Fortsetzung einer gescheiterten Politik wohl keine andere Wahl zulässt, als sich auf den nächsten Krieg vorzubereiten.

Ob durch solch markige Versprechen aber die Führungsschwäche verdeckt werden kann, die heute durchaus parteiübergreifend Standard geworden ist, das kam in dieser Debatte nicht zur Sprache.

Auch kein Wort zu der Machtfrage in der so genannten postmodernen Demokratie, in der jeder alles besser weiß als der andere.

Was zur Macht im Staate zu sagen ist, das hat Niklas Luhmann in seinem Buch „Macht im System“ in wenigen Sätzen auf den Punkt gebracht.

Niklas Luhmann: Alle komplexen Systeme müssen mithin so organisiert sein, dass Macht auf Macht angewendet werden kann. Die Systemmacht - und nicht etwa die jeweils an der Spitze verfügbare Macht - mus reflexiv werden. An der Macht des Systems sind alle Mitglieder durch ihre Mitgliedschaft in originärer Form dadurch beteiligt, dass sie im System eine Rolle spielen, die Kommunikationsweisen des Systems benutzen, die permanente Abhängigkeitsverhältnisse ausnutzen und die gemeinsame Orientierung an vergangenen oder künftig möglichen bindenden Entscheidungen aktivieren können. Nur weil dies so ist, kann die einem Mitglied zufallende Macht auf die anderen angewandt und dadurch in ihrer Selektivität verstärkt werden.

Niklas Luhmann, Macht im System, Suhrkamp 2012,Seite 94/95

Reflexive Politik im Sinne von Luhmann bedeutet, dass Ursachen, die in der Vergangenheit gesetzt und gepflegt wurden und auch weiterhin gepflegt werden, nicht allein dadurch verschwinden, indem man sie hinterfragt. Das aber allein reicht schon aus, die eigentliche Macht im Staat sozusagen reflexartig aktiv werden zu lassen, denn wer etwas hinterfragt und etwas verändern will, der kann sicher sein, durch lauten Protest daran gehindert zu werden. Reflexiv bedeutet natürlich auch: Meinungen und Standpunkte drehen, wenden, umkehren, beugen, wiedergeben oder widerspiegeln können, verbunden mit der Fähigkeit etwas zu bedenken, über etwas nachzusinnen, zu prüfen, zu vergleichen und vor allen Dingen, Rücksicht zu nehmen, damit die eigentliche Macht im Staate, gemeint sind die Wirtschaft, das Geld, die Wählerinnen und Wähler, nicht böse werden. Wer also meint, dass ein Bundeskanzler oder ein Parteivorsitzender tatsächlich über die Macht verfügt, wie das Thomas Hobbes (1588 bis 1679) in seinem Leviathan beschrieben hat, der irrt. Dort heißt es in Bezug auf Macht:

Thomas Hobbes: Die größte menschliche Macht ist jene, die, aus der Macht der meisten Menschen zusammengesetzt, durch Übereinstimmung in einer natürlichen oder staatlichen Person vereint ist, der deren gesamte von ihrem Willen abhängige Macht zur Verfügung steht, wie die Macht eines Gemeinwesens; oder die vom Willen jedes Einzelnen abhängige Macht, wie die Macht einer Partei oder verschiedener verbündeter Parteien. Deshalb ist es Macht, Diener zu haben, ist es Macht, Freunde zu haben: Denn sie sind vereinte Kräfte.

Reichtum, mit Freigebigkeit verbunden, ist auch Macht, weil er einem Freunde oder Diener verschafft. Ohne Freigebigkeit ist das nicht so, denn in diesem Fall beschützt er die Menschen nicht, sondern macht sie zur Zielscheibe des Neides.

Der Ruf nach Macht ist Macht, denn er bringt Ergebenheit jener mit sich, die des Schutzes bedürfen. [...]. Erfolg ist (auch) Macht, weil er den Ruf von Weisheit oder Glück begründet, was die Menschen veranlasst, den Betreffenden entweder zu fürchten oder sich auf ihn zu verlassen.

Thomas Hobbes, Leviathan, Meiner-Verlag, 1996, Seite 69/72

Gut 300 Jahre später beschreibt Max Weber (1864 bis 1920) die Macht als ein „Vermögen“, jede Chance innerhalb einer sozialen Beziehung zu nutzen, den eigenen Willen auch gegen Widerstreben anderer durchzusetzen.

Oder, In Anlehnung an Karl Mannheim (1893 bis 1947), einem österreichisch-ungarischen Jude mit deutscher und britischer Staatsbürgerschaft das vorschlägt, bei der Machtfrage immer davon auszugehen, dass auf den Einzelnen sozialer Druck ausgeübt wird, um das gewünschte Verhalten herbeizuführen.

Dass solch ein Druck im System auch auf die Mächtigen (Regierung) selbst ausgeübt werden kann, das kennzeichnet die Wirklichkeit von heute. Macht ist somit als eine Fähigkeit zu verstehen, auf das Verhalten von Menschen nicht nur Einfluss nehmen zu können, sondern, darüber hinausgehend, beim Nichtbefolgen das gewünschte Verhalten dieses auch erzwingen zu können.

Anders ausgedrückt: Wenn die Regierung etwas anderes will als wir wollen, dann streiken wir, dann entlassen Unternehmer Arbeitsplätze, verlagern ihre Produktionsstätten ins Ausland oder entziehen den Parteien einfach ihre materiellen Zuwendungen (Spenden).

Diese Möglichkeiten führen zu einem Machtbegriff, der sich wie folgt in einen Satz zusammenfassen lässt: Von einer Person kann man sagen, dass sie in dem Maße Macht hat, indem sie das Verhalten anderer im Einklang mit ihren eigenen Absichten bringen kann.

Und wenn am Tag nach der Regierungserklärung des Bundeskanzlers Olaf Scholz (SPD) der Partgeivorsitzende der CDU Friedrich Merz den Bundeskanzler als einen "Klempner der Macht" bezeichnet, und der Kanzler damit kontert, stolz auf dieses Lob zu sein, dann kann man sich nur noch die Haare raufen.

Ich denke, das reicht.

Wie harmlos und unverbindlich sich Macht heute darstellt, das kann der Debatte im  zu den Folgen des Urteils der Richter des Bundesverfassungsgerichts vom 15. November 2023 entnommen werden, die im Deutschen Bundestag am 28.11.2023 stattfand und in der Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) eine Regierungserklärung abgab.

Diese Debatte kann über den folgenden Link aufgerufen werden.

Regierungserklärung des Bundeskanzlers

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD)

04.00 - 25.14

Parteivorsitzender Friedrich Merz (CDU)

25.15 - 43.27

Diese 40 Minuten reichen aus, um eine Rhetorik verinnerlichen zu können, die heute für Politik gehalten wird. Wer noch mehr wissen möchte: Auch die anderen Parteien im Deutschen Bundestag kommen  in der gut zweieinhalb Stunden dauernden Debatte zu Wort.

13 Und dann auch das noch

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Am 30.11.2023 heißt es in einer Pressemitteilung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg, im Hinblick auf die gesetzlich vorgegebene Verpflichtung,  die Klimaziele im Sinne des Klimaschutzgesetzes (KSG) einzuhalten, dass nach § 8 KSG zunächst das zuständige Bundesministerium der Bundesregierung ein Sofortprogramm vorzulegen habe, das die Einhaltung der Jahresemissionsmengen des jeweiligen Sektors für die folgenden Jahre sicherstellt. Die Bundesregierung hat dann über die zu ergreifenden Maßnahmen im betroffenen Sektor oder in anderen Sektoren oder über sektorübergreifende Maßnahmen zu beraten und diese „schnellstmöglich“ zu beschließen.

§ 8 Klimaschutzgesetz (KSG)
Sofortprogramm bei Überschreitung der Jahresemissionsmengen


Diesbezüglich kommen die
Verwaltungsrichter zu dem Ergebnis, dass das nunmehr beschlossene Klimaschutzprogramm nicht den Anforderungen des § 8 Klimaschutzgesetz erfüllt.

Das Gericht hat eine Revision zum Bundesverwaltungsgericht zugelassen, wodurch die Eilbedürftigkeit zumindest erst einmal vertagt ist.

OVG Berlin Brandenburg, Pressemitteilung vom 30.11.2023

Bei der Revision gegen dieses Urteil des OVG Berlin-Brandenburg, die Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) noch am gleichen Tag angekündigt hat, dürfte es sich aber wohl eher um eine "Luftnummer" handeln, denn das Problem der "Sofortmaßnahmen" wird wohl dadurch gelöst werden, so heißt es in der Tagesschau vom 30.11.2023, dass im neuen KIimaschutzgesetz, das in Kürze zu erwarten sein wird, § 8 KSG wohl gestrichen und durch eine moderatere Textfassung ersetzt werden wird.

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