Hinnahmepflicht von
Berufsgefahren
Inhaltsverzeichnis:
01
Hingabe- und Dienstleistungsbereitschaft 02
Polizeiliches Berufsrisiko 03
Gefahrenhinnahmepflicht
04 Vor Schießerei
davongelaufen
05 Grenzen der
Gefahrenhinnahmepflicht 06 Trainingszentrum
Terrorlagen 07 Anforderungen an die
Belastbarkeit
08 Das Schießen ist notwendig
geworden 09 Quellen
01
Hingabe- und Dienstleistungsbereitschaft
TOP
Was unter „Volle Hingabe
und Dienstleistungsbereitschaft“zu verstehen ist, das definiert
das Beamtenstatusgesetz (BeamtStG) wie folgt:
§ 34
BeamtStG Wahrnehmung der Aufgaben, Verhalten und Erscheinungsbild
(1)
Beamtinnen und Beamte haben sich mit vollem persönlichem Einsatz
ihrem Beruf zu widmen. Sie haben die übertragenen Aufgaben
uneigennützig nach bestem Gewissen wahrzunehmen. Ihr Verhalten
innerhalb und außerhalb des Dienstes muss der Achtung und dem
Vertrauen gerecht werden, die ihr Beruf erfordern.
Zur Hingabepflicht
gehört auch die Bereitschaft, sich typischen Berufsgefahren
auszusetzen. Dazu gleich mehr. Zuerst sollen die volle Hingabe-
und Dienstleistungsbereitschaft mit Zitaten aus einschlägigen
Gerichtsentscheidungen erklärt werden:
VG
Hannover 2023:
In der als hergebrachtem Grundsatz des Berufsbeamtentums im
Sinne von Art. 33 Abs. 5 GG überlieferten Hingabepflicht kommt
neben der reinen Arbeitspflicht die verfassungsrechtliche
Konzeption des Beamtenverhältnisses als „Lebensberuf“ zum
Ausdruck, der die bestmögliche Erledigung der Aufgaben und ein
ständiges Bemühen erfordert. Der volle persönliche Einsatz
erfordert, zumindest in verantwortlichen Positionen, in die man
nur aufgrund erwiesener Tüchtigkeit und Leistung gelangt - den
individuell optimalen und nicht nur einen generell
durchschnittlichen dienstlichen Einsatz.
VG
Hannover, Beschluss vom 02.01.2023 – Az.: 12 B 3819/22
Die
Verpflichtung zur vollen Hingabe und Dienstleistungsbereitschaft
lässt sich auch als eine Gegenleistung des Dienstherren
verstehen, der seinerseits dazu verpflichtet ist, seine Beamten
so zu alimentieren, dass ihnen eine amtsangemessene
Lebensführung möglich ist.
Aus der
Hingabe- und Dienstleistungspflicht leitet sich auch das
Streikverbot für Beamte ab:
BVerfG 2018:
Das Alimentationsprinzip dient aber zusammen mit dem
Lebenszeitprinzip einer unabhängigen Amtsführung und sichert die
Pflicht des Beamten zur vollen Hingabe für das Amt ab. Um dies
zu gewährleisten, hat das Bundesverfassungsgericht die Pflicht
des Dienstherrn zur amtsangemessenen Besoldung als einen
essentiellen Bestandteil des Alimentationsprinzips betont.
An
anderer Stelle heißt es:
Zählt es
zu den gesetzlich ausdrücklich normierten Grundpflichten eines
Beamten, sich mit voller Hingabe seinem Beruf zu widmen und sein
Amt uneigennützig nach bestem Gewissen zu verwalten, ist damit
gleichsam das Verbot von kollektiven wirtschaftlichen
Kampfmaßnahmen zur Förderung gemeinsamer (eigener)
Berufsinteressen mitgedacht. Einer darüber hinausgehenden
Regelung des Streikverbots bedarf es aus verfassungsrechtlichen
Gründen nicht. Die Beschränkung der Koalitionsfreiheit ist
insoweit, als die Führung von Arbeitskämpfen durch Beamtinnen
und Beamte in Rede steht, verfassungsrechtlich nicht zu
beanstanden. Das Streikverbot für Beamte findet seine Grundlage
in Art. 33 Abs. 5 GG und trägt auch dem Grundsatz der
praktischen Konkordanz Rechnung.
BVerfrG,
Urteil vom 12. Juni 2018 - 2 BvR 1738/12 und andere:
Wann
verletzt ein Beamter seine Hingabe- und Dienstleistungspflicht?
-
Das
kann bei erbrachter Minderleistung bereits der Fall sein
-
Grundsätzlich schulden Beamte dem Dienstherrn eine
durchschnittliche Leistung, d. h. eine Leistung, die den
Anforderungen noch entspricht
-
Die
Leistung genügt nicht mehr den Anforderungen, wenn
sie nicht mehr den Anforderungen des Berufsbildes
entspricht.
Wie dem auch immer sei:
Erst wenn die Minderleistung deutlich unter dem Durchschnitt
liegt, kann von einem Dienstpflichtverstoß ausgegangen werden.
Wie aber ist die Situation zu beurteilen, wenn bei einem ganz
normalen Polizeieinsatz eine Polizeibeamtin oder ein
Polizeibeamter durch eine andere Person verletzt wird?
Es würde
zu weit führen, an dieser Stelle die umfangreiche Rechtsprechung
zu Schadensansprüchen auch nur ansatzweise darzustellen, die den Bereich des
polizeilichen Berufsrisikos
betreffen. Deshalb müssen die folgenden kurzen Erklärungen zu
diesem Thema ausreichen.
02 Polizeiliches Berufsrisiko
TOP
Hinsichtlich des Umgangs mit Gefahren, die für den Polizeiberuf
typisch sind, heißt es in einem Urteil des BGH aus dem Jahr 2018
wie folgt:
BGH 2018:
[Es]
gehört zur Ausbildung und zum Beruf eines Polizeibeamten, sich
auf derartige Belastungssituationen vorzubereiten, mit ihnen
umzugehen, sie zu bewältigen und zu verarbeiten. Das Risiko,
dass er aus einer solchen Belastungssituation eine psychische
Gesundheitsverletzung davonträgt, ist aber jedenfalls bei
Straftaten der vorliegenden Art nicht allein seiner Sphäre
zuzurechnen.
BGH,
Urteil vom 17. April 2018 - VI ZR 237/17 - OLG Zweibrücken
Dennoch:
Wenn es um Gewalt gegen die Polizei geht, besteht im Hinblick
auf das Berufsrisiko von Polizisten wenig Klarheit. Zwar besteht
Einigkeit dahingehend, dass Angriffe auf PolizistInnen in einem
Besorgnis erregenden Umfang zugenommen und der Polizeiberuf
gefährlicher geworden ist, dennoch: Der Respekt vor den
VertreterInnen und Vertretern der Staatsgewalt schwindet rapide und wird
zunehmend aggressiver. Daran haben auch Strafverschärfungen und
gesetzliche Neuerungen im Bereich der Widerstandsdelikte
gegenüber Polizeibeamten nichts ändern können. Werden einschreitende Polizeibeamte
anlässlich polizeilicher Einsatzlagen von anderen Personen
verletzt, dann stellen sich aus diesem Grund nicht nur Fragen
der Strafbarkeit, sondern oftmals auch Fragen, was für ein
Schmerzensgeldanspruch Polizeibeamten daraus erwächst.
Diesbezüglich gilt:
-
Die
Höhe des Schmerzensgeldes wird von Gerichten
einzelfallbezogen, also individuell festgelegt
-
Je
gravierender die körperlichen oder psychischen Schäden sind,
desto höher fällt in der Regel das Schmerzensgeld aus
-
Bei
Polizeibeamten werden auch mögliche Langzeitfolgen bei der
Bemessung von Schmerzensgeld berücksichtigt
-
Die
Länge des Heilungsprozesses und eventuelle Dienstausfälle
spielen eine wichtige Rolle bei der Festsetzung des
Schmerzensgeldes
-
Bei
vorsätzlichen Angriffen auf Polizeibeamte kommt auch dem
Genugtuungsanspruch des Beamten bei der Bemessung von
Schmerzensgelde eine wesentliche Bedeutung zu
-
Ein
Mitverschulden bei der Eskalation einer polizeilichen
Einsatzlage kann zu einer Minderung des Schmerzensgeldes
führen.
Die
Bemessung des Schmerzensgeldes basiert auf § 253 Abs. 2 BGB.
§ 253
Abs. 2 BGB (Immaterieller Schaden)
(2) Ist
wegen einer Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit
oder der sexuellen Selbstbestimmung Schadensersatz zu leisten,
kann auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist,
eine billige Entschädigung in Geld gefordert werden.
Für
Polizeibeamte gibt es in vielen Bundesländern spezielle
Regelungen zur Erfüllungsübernahme durch den Dienstherrn, falls
der Schädiger nicht zahlen kann.
VG
Ansbach 2019: Leitsätze:
1. Wird
ein Polizeibeamter im Einsatz bei einem tätlichen rechtswidrigen
Angriff körperlich verletzt, kann er gegen den Schädiger einen
Schmerzensgeldanspruch geltend machen und sich mit dem Schädiger
im Zivilprozess vergleichen.
2. Ist
der Schädiger zahlungsunlähig, kann der Polizeibeamte das Land
als Anstellungsbehörde auf Erfüllungsübernahme in Anspruch
nehmen, wenn sein Anspruch darauf beruht, dass er wegen der
Eigenschaft als Beamter verletzt wurde und die Übernahme zur
Vermeidung einer unbilligen Härte notwendig ist.
3. Der
rechtskräftigen Feststellung der Zahlungspflicht steht ein
gerichtlicher Vergleich nach § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO gleich,
sobald er unwiderruflich und der Höhe nach angemessen ist.
VG
Ansbach, Urt. V. 25.7.2019 – AN 1 K 18.01545
Wie dem auch immer sei:
Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte tragen ein erhöhtes
Berufsrisiko. Die beiden über die folgenden Links zu öffnenden
Bilder von den Chaostagen in Hannover machen deutlich, was für ein
Risiko damit im Einzelfall gemeint sein kann.
Chaostage in Hannover
1995 - Steine auf Polizisten
Chaostage in Hannover
1995 - Unter Polizei-Schutzschilden
Ich hatte die Gelegenheit,
mit einer Gruppe junger Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten zu
sprechen, die Anfang August 1995 in Hannover unter dem Schutz
der Schildkröte (so heißt die Formation, die von mehreren
Beamten eingenommen wird, wenn sie mit Steinen beworfen werden
und Schutzschilde mit sich führen)
Schutz suchten, um Angriffe auf ihr Leben erfolgreich von sich abwehren
zu können.
Wer nicht dazu bereit oder nicht dazu in der Lage ist, sich als Polizist auch in
solchen Situationen zu bewähren, hat den falschen
Beruf ergriffen. Soweit zur Hinführung zum eigentlichen Thema,
der Gefahenhinnahmepflicht.
03 Gefahrenhinnahmepflicht
TOP
Dass es
sich bei dem Polizeiberuf um einen Beruf handelt, in dem
Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte einem besonderen
Berufsrisiko ausgesetzt sind, das dürfte unbestreitbar sein, zum
Einen, weil das der Wirklichkeit entspricht und zum Anderen,
weil die
Hinnahme von Berufsgefahren Teil des Berufsbildes Polizei ist.
Natürlich gehört es aus diesem Grunde zur polizeilichen
Berufsausbildung, sich sowohl mental als auch physisch auf
gefährliche Situationen vorzubereiten, dennoch besteht zwischen
einem Training und einer real existierenden Gefahr ein großer
Unterschied, denn niemand weiß, was Stresshormone in solchen
Fällen tatsächlich zu leisten vermögen, so dass auch auf
situationsangemessenes Verhalten in Gefahrensituationen trainierte
Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte in tatsächlich erlebten
Extremsituationen nicht wissen können, was sie in solchen
Situationen tun oder unterlassen, zumal sie extremen Gefahren
nicht täglich ausgeliefert sind.
Kurt
Grützner:
In einer Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Kassel vom
15.08.1984 heißt es diesbezüglich: „Von Polizeibeamten kann im
Hinblick auf die Eigenart ihres Dienstes grundsätzlich erwartet
werden, dass sie sich entsprechend den konkreten Erfordernissen
auch Gefahren für Leib, Leben und Gesundheit aussetzen.“ Eine
inhaltliche Begründung [dieser Rechtsauffassung] ist, dass
Polizeibeamte im Unterschied zu den „Normalbürgern“ für solche
Situationen ausgebildet und ausgerüstet sind. Erwähnenswert ist
dabei, dass diese Gefahrenhinnahmeverpflichtung natürlich nur
bei Gefahr für Leib und Leben anderer Menschen Anwendung findet
und nicht z.B. zum Schutz von Sachwerten erwartet werden kann,
und auch nicht wird. In der Zusammenschau der Gesetzes-, Erlass-
und Gerichtsurteilstexte kann man vielleicht sagen, dass dort
auf unterschiedliche Weise so etwas wie einen „Commen Sense“ in
unserer Gesellschaft besteht, der besagt, dass es berufene
Menschen in unserer Gesellschaft geben muss, die in bestimmten
Situationen auch dazu bereit sind, ihr Leben aufs Spiel zu
setzen, um andere Leben zu retten [En01].
Dieser
Sichtweise ist zuzustimmen, denn der Polizeiberuf erwartet von
allen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten, dass sie das
Allgemeinwohl in zumutbaren Fällen - über das Eigeninteresse
hinausgehend - zu schützen bereit sind. Dazu mehr in der Randnummer „Hinzunehmende
Berufsgefahren bei Messerangriffen“.
In der folgenden Randnummer
geht es zuerst einmal darum, aufzuzeigen, dass auch durch ein
Unterlassen von Hilfe nicht nur als eine Dienstpflichtverletzung
begangen werden kann, die die Hingabe und Dienstleistungsbereitschaft
umfasst, sondern sogar sogar der Tatbestand einer Straftat, begangen
durch Unterlassen, möglich ist.
04 Vor Schießerei davongelaufen
TOP
Weil sie
ihre Kollegen nach Überzeugung des Gerichts bei einer
lebensgefährlichen Schießerei im Stich ließen, hat das
Amtsgericht Schwelm (NRW) zwei Polizistinnen 2020 zu einer
einjährigen Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Das
Gericht folgte der
Staatsanwaltschaft, die den beiden Polizeibeamtinnen eine "versuchte gefährliche
Körperverletzung im Amt durch Unterlassen" vorgeworfen hatte.
Was war geschehen?
Die
Polizeibeamtinnen (37 und 32 Jahre alt) waren in einer Nacht, Anfang Mai
2020 in Gevelsberg (Nordrhein-Westfalen), zufällig zu einer aus
dem Ruder laufenden Verkehrskontrolle gekommen. Ein
Berufskollege hatte die beiden, die sich der Kontrollstelle mit
ihrem Streifenwagen genähert hatten, angehalten und um
Unterstützung gebeten.
In
dieser Situation eröffnete die zu kontrollierende Person das
Feuer auf einen der beiden Kontrollbeamten. Als einer der beiden
Kontrollbeamten getroffen zu Boden ging, liefen die
hinzugestoßenen Polizistinnen davon. Statt einzugreifen, hielten
sie ein Auto an, stiegen ein und wiesen die Fahrerin an,
weiterzufahren.
Die
urteilende Richterin, so war in den Medien zu lesen, habe
durchaus Verständnis für die beiden Frauen gehabt, die sich aus
Furcht, Angst und Schrecken vom Einsatzort entfernt hatten.
Dennoch sei es ihnen als Polizistinnen rechtlich geboten
gewesen, anders zu handeln – also nicht die Flucht zu ergreifen
– sondern aus der Deckung mindestens Warnschüsse abzugeben. Vor
Gericht hatten auch die beiden Polizistinnen selbst ihr
Fehlverhalten eingeräumt, aber um Verständnis für ihr Verhalten
geworben. Sie hätten um ihr Leben gefürchtet und Unterstützung
holen wollen. Im Urteil des AG Schwelm heißt es unter anderem:
AG Schwelm 2021:
Die
Angeklagten hatten [...]
bedingten
Vorsatz in Bezug auf die Körperverletzung eines anderen Menschen
und die Körperverletzung durch Unterlassen. Sie wussten, dass
der Kollege E durch Schüsse verletzt werden könnte, und nahmen
dies in Kauf. Sie haben sich mit dem möglichen Erfolgseintritt
abgefunden. [...]. Die Angeklagten hatten Todesangst im Hinblick
auf ihre eigene Person, aber auch um den Kollegen E. Aus der
Situation wollten sie aus Fluchtreflex einfach nur weg. Darüber
hinaus oblag den Angeklagten eine Garantenpflicht. Die
Angeklagten waren als Polizeibeamtinnen im Einsatz und
unterliegen damit der Garantenpflicht. Zudem war die ihnen
obliegende Handlung auch zumutbar. Die Angeklagten hatten nicht
die Pflicht, dem Schützen entgegenzurennen und sich dadurch in
Gefahr zu bringen. Aus der Position heraus, in der sich die
Angeklagte C auch zunächst befunden hatte, hätten beide aber
sehr wohl zum Schutze der Kollegen agieren können. Hinter dem
eigenen Fahrzeug in Deckung bestand die Möglichkeit, Warnschüsse
in die Luft abzugeben und auch, Verstärkung zu rufen. Auch wenn
beide Angeklagten ihr Funkgerät im Fahrzeug liegen ließen,
bestand die Möglichkeit in ihrer Deckung hinter dem eigenen
Fahrzeug, sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen
[...]. Die Angeklagte C hatte ein Mobiltelefon bei sich, welches
sie zum Rufen von Verstärkung hätte benutzen können. Die
Angeklagten befanden sich jedenfalls 25 Meter entfernt von dem
Schützen L. Es war ihnen zuzumuten, auch in der
Ausnahmesituation, in der sie sich befanden, sich nicht weiter
von dem Tatort zu entfernen. Bei der Bemessung der konkreten
Strafe war zu Gunsten beider Angeklagten zu berücksichtigen,
dass sie nicht vorbestraft sind, dass sie ein vollumfängliches
Geständnis abgelegt haben und dass die Tat schon einige Zeit
zurückliegt. Außerdem war zu berücksichtigen, dass die Tat im
Versuchsstadium stecken geblieben ist. Weiter war zu
berücksichtigen, dass die Angeklagten durch die vorprozessuale
Berichterstattung in den Medien vorverurteilt wurden und sich
gewaltigen Anfeindungen gegenüber sahen. Weiter war zu ihren
Gunsten zu berücksichtigen, dass eine Verurteilung auch
dienstrechtliche Folgen bis hin zu einer Entfernung aus dem
Dienstverhältnis für die Angeklagten haben kann. Außerdem war zu
berücksichtigen, dass der Zeuge E keinerlei
Strafverfolgungsinteresse gegen die Angeklagten hat. Unter
Berücksichtigung der vorgenannten Erwägungen hielt das Gericht
die Verhängung einer Freiheitsstrafe in Höhe von
einem Jahr
sowohl für
die Angeklagte C als auch für die Angeklagte T für tat- und
schuldangemessen.
AG
Schwelm, Urteil vom 16. November 2021 - 59 Ls 25/20
Hinweis:
Im Oktober
2022 reduzierten die Richter des LG Hagen die vom AG Schwelm
verhängte Freiheitsstrafe von 1 Jahr auf Bewährung auf „4 Monate
auf Bewährung“.
Damit
lässt das Berufungsurteil des LG Hagen den Polizeibeamtinnen,
die sich aus Angst vom Einsatzort entfernt hatten, zumindest die
Hoffnung, als Polizistinnen weiter Verwendung im Polizeidienst
zu finden. Aber auch das LG Hagen wertete das Nicht-Eingreifen
der Polizistinnen im Urteil als versuchte gefährliche
Körperverletzung im Amt durch Unterlassen.
Das
Urteil ist zwischenzeitlich rechtskräftig geworden.
Auch nach
der hier vertretenen Überzeugung sind Berufsgefahren
hinzunehmen, wozu auch die Berufsgefahren gehören, die sich in
so genannten polizeilichen Extremlagen stellen, nicht nur, weil
dies Teil des Berufsbildes Polizei ist, sondern auch deshalb,
weil der Umgang mit gefährlichen Situationen auch Teil der
Berufsausbildung ist, in der die dafür erforderlichen
Kompetenzen erworben werden können.
05 Grenzen der Gefahrenhinnahmepflicht
TOP
Wo diese
Grenze zu ziehen ist, das lässt sich allgemeingültig nicht
beschreiben, sondern nur in Anlehnung an polizeiliche
Einsatzlagen nachvollziehbar aufzeigen. Während von einem
Feuerwehrmann in Schutzausrüstung und mit einem Atemgerät
ausgestattet, erwartet werden kann, auch ein lichterloh
brennendes Haus zu betreten, wird solch eine Handlung wohl kaum
von einem Polizisten verlangt werden können, der lediglich seine
Dienstkleidung trägt, und zwar auch dann nicht, wenn im
brennenden Haus Menschen verzweifelt um Hilfe rufen.
Anders
dürfte jedoch die Erwartung an professionell ausgebildete
Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte zu richten sein, wenn sie mit
gefährlichen Einsatzsituationen konfrontiert werden, die
berufstypisch sind:
Als
gefährliche Einsatzsituationen, in denen die sich daraus
ergebenden Berufsgefahren hinzunehmen sind, kommen unter anderen
in Betracht:
-
Außer Kontrolle geratene häusliche Gewalt
-
Personen, die ein Messer in der Hand halten, aber noch
keinen gegenwärtigen Angriff gegen Polizeibeamte unternommen
haben
-
Demonstranten, die Polizeibeamte mit Steinen bewerfen
-
Fußballfans, die mit pyrotechnischen Gegenständen
Polizeibeamte bewerfen
-
Die
Beendigung von Schlägereien
-
Konfrontation mit anderen Gefahren, die das Leben oder die
körperliche Unversehrtheit von Polizisten bedrohen, die hier
aber nicht aufgelistet werden.
Die
Bereitschaft, sich Berufsgefahren nicht aussetzen zu müssen
endet dort, wo polizeiliche Hilfe nicht mehr oder nicht möglich ist.
Unbestreitbar ist, dass Polizeibeamte ihr
Leben nicht opfern müssen, wenn dadurch jegliche Hilfe zu spät
kommen würde.
Beispiel:
Als Lars
und Mia am Unfallort eintreffen, steht die Kabine eines Lkw hell
in Flammen. Die Beamten sind nicht dazu in der Lage, dem Fahrer
zu helfen, ohne sich selbst in Lebensgefahr zu bringen. Die
Beamten müssen mit ansehen, wie der Fahrer in dem Lkw ein Opfer
der Flammen wird. Rechtslage?
In solch
einer Situation wird niemand von Polizeibeamten vor Ort erwarten
können, das eigene Leben zu gefährden, um einen Menschen zu
bergen, dessen Leben nicht mehr gerettet werden kann.
Andererseits wird von Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten
jedoch ein Einschreiten in lebensbedrohenden Situationen
einzufordern sein, wenn es darum geht, Menschenleben tatsächlich
retten zu können, wie das zum Beispiel anlässlich von Amoklagen
in Schulen der Fall sein kann, wenn ein außer Kontrolle
geratener Schüler dort sozusagen ein Massaker anrichtet.
Weglaufen oder Verstecken, bzw. in Deckung gehen, bis die
richtige Polizei kommt, das kann und darf in solchen Extremlagen
keine Option sein.
Hinweis:
Den Vorwurf der Feigheit musste sich im Mai 2022 die Polizei in
Texas gefallen lassen, als ein Amokschütze in einer Grundschule
ein Blutbad anrichtete (19 getötete Kinder und 2 getötete
Lehrer) und sich später herausstellte, dass es den
Einsatzkräften schlichtweg an Mut gefehlt hatte, diesem Töten
ein Ende zu bereiten.
06 Trainingszentrum Terrorlagen
TOP
2017
wurde im Landesamt für Ausbildung, Fortbildung und
Personalangelegenheiten der Polizei NRW (LAFP NRW) das erste
Trainingszentrum eröffnet, in dem sich Polizisten auf
situationsangemessenes Verhalten in Extremsituationen
vorbereiten, um im Einsatzfall professionell reagieren zu
können. Das circa 55 Fußballfelder große neue Trainingszentrum
wird durch das LAFP NRW für die Aus- und Fortbildung genutzt.
Was lässt sich
daraus im Hinblick auf die
Bereitschaft, Berufsgefahren hinzunehmen, ableiten?
Zuerst
einmal die Feststellung, dass Polizisten bereits während ihrer
Ausbildung entsprechend trainiert werden. Anders ausgedrückt:
Alle an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in NRW
studierenden zukünftigen Polizeikommissarinnen und
Polizeikommissare nehmen während ihrer Modulausbildung im
Zuständigkeitsbereich des LAFP an solchen und auch an anderen
Trainings teil.
Anders ausgedrückt:
Sowohl
theoretisch als auch praktisch wissen die Nachwuchskräfte der
Polizei in NRW, wie sie sich zu verhalten haben, wenn es
lebensgefährlich werden könnte. Zwischenzeitlich gibt es allein
in NRW weitere Trainingsorte dieser Art oder befinden sich
im Aufbau.
-
2022
Bochum: Amok-Trainingszentrum in Bochum eröffnet
-
2023
Duisburg: Neues Trainingszentrum bereitet Polizisten auf den
Ernstfall vor
-
2024
Wuppertal:
Neues
Trainingszentrum für die Polizei –
Ein
Meilenstein für mehr Sicherheit.
07 Anforderungen an die Belastbarkeit
TOP
Es
dürfte deutlich geworden sein, dass der Polizeiberuf hohe
Anforderungen an die physische und psychische Belastbarkeit
stellt, denen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte zu entsprechen
haben. Diese ergeben sich nicht nur aus dynamisch verlaufenden
Einsatzlagen, sondern auch aus den besonderen Erschwernissen des
Wechselschichtdienstes.
Aber
auch Maßnahmen aus besonderen Anlässen sowie aus der Tatsache,
dass Polizisten mit einer zunehmenden Gewaltbereitschaft
konfrontiert werden, machen deutlich, dass körperliche und
physische Fitness Grundvoraussetzungen aller Polizeibeamtinnen
und Polizeibeamten sein sollten, die im operativen
Polizeivollzugsdienst eingesetzt sind.
Diesbezüglich heißt es im Sporterlass der Polizei NRW unter
anderem wie folgt:
1.
Ziele
Die
Aufgaben im Polizeivollzugsdienst erfordern ein
überdurchschnittliches körperliches Leistungsvermögen.
Bürgerinnen und Bürger sowie der Dienstherr haben Anspruch
darauf, dass alle PVB diese Grundvoraussetzung erfüllen.
3.
Zielgruppe
Alle PVB
haben vor Vollendung des 55. Lebensjahres regelmäßig ihre
körperliche Leistungsfähigkeit nachzuweisen.
5.
Nachweis
Der
Nachweis der Leistungsfähigkeit gilt jeweils für einen Zeitraum
von einem Jahr. Vor Ablauf der Gültigkeit muss der
Leistungsnachweis erneut erbracht werden.
Die
körperliche Leistungsfähigkeit wird durch den Erwerb des
Deutschen Sportabzeichens (DSA) in seiner jeweils gültigen
Fassung nachgewiesen. Der Nachweis der Schwimmfähigkeit ist
dabei in mindestens einer der Leistungsgruppen erforderlich
[En02].
Hinweis am Rande:
1947 hieß es im Hinblick auf die körperliche Leistungsfähigkeit
von Polizeibeamten in einem Aufsatz von Karl A.
Pforr,
dem damaligen Präsidenten der Polizei in Berlin, wie folgt:
Dem
Bürger ein Helfer und Berater, den Verbrechern ein Schrecken,
dem Staat ein Arm, der den Gehorsam erzwingt. Jeder
Polizeibeamte muss laufen, springen, schwimmen und boxen können.
Nur dann ist es möglich, Verbrechen wirksam zu bekämpfen.
Karl A.
Pforr. Die Polizeischule, eine Pflanzstätte polizeilichen
Geistes
Damit ist
eigentlich alles gesagt. Ergänzen lässt sich dieses Thema noch
durch einen Beschluss der Innenministerkonferenz aus dem Jahr
2011, in dem auf die Grundposition des
Deutschen
Polizeisportkuratoriums Bezug genommen wird.
Beschluss IMK :
-
Die
IMK nimmt die „Grundpositionen des DPSK zum Sport in der Polizei“
(Stand: 07.03.11) sowie den Beschluss des AK II vom
05./06.05.11 zur Kenntnis.
-
Sie
ist weiterhin der Auffassung, dass vor allem die Positionierung
zur
-
körperlichen Leistungsfähigkeit als Schlüsselqualifikation des
Polizeiberufs,
-
Eigenverantwortung von Polizeivollzugsbeamtinnen und
-beamten für
die körperliche Fitness,
-
Bedeutung des Gesundheits- und Präventionssports vor dem
Hintergrund der Altersstruktur der Personalkörper der
Polizeien des Bundes und der Länder,
-
Verpflichtung des Dienstherren zur Förderung des Sports in
der Polizei und der Verantwortung und Vorbildfunktion von
Vorgesetzten und zur
-
Bedeutung des Wettkampf- und Spitzensports von erheblicher
Bedeutung für die Polizeien der Länder und des Bundes sind
[En03].
Es kann
davon ausgegangen werden, dass Polizeibeamtinnen und
Polizeibeamte die als Team, möglicherweise sogar unterstützt
durch weitere Einsatzkräfte, in
Extremsituationen Angreifer auch ohne den Einsatz der
Schusswaffe überwältigen können. Wann es sich um solche Situationen
handelt, das kann nur in Kenntnis von konkreten
Einsatzsituationen geklärt und erörtert werden. Dennoch lässt die Häufigkeit, in denen in den letzten Jahren Polizeibeamtinnen
und Polizeibeamte von der Schusswaffe Gebrauch machten,
insbesondere um Personen zu überwältigen, die ein Messer in der
Hand hielten, zumindest die Frage zu, wie professionell
einschreitende Polizisten mit solchen Einsatzlagen umgehen
können sollten, denn Polizisten tragen nicht nur Schutzkleidung, zum
Beispiel Schutzwesten, sie führen auch die nachfolgend
aufgeführten Waffen mit sich:
-
Einsatzmehrzweckstock:
Das ist eine Waffe, die Polizisten nur dann mit sich führen
dürfen, wenn sie in den Gebrauch dieser Waffe nicht nur
eingewiesen wurden, sondern den Gebrauch dieser Waffe auch
in festgelegten Trainings weiterhin unter Beweis gestellt
haben.
-
Distanzelektroimpulsgeräte:
Auch bekannt als Taser. Dieses Gerät, bei dem es sich
ebenfalls um eine Waffe handelt, hat eine Reichweite von gut
5 bis maximal 10 m. Erreicht der Stromstoß die
Körperoberfläche, kann vom Eintritt einer sofortigen
Wehrlosigkeit ausgegangen werden.
-
Reizstoffsprühgerät.
Auch diese Geräte können aus einer Distanz von 2,5 bis 4 m
erfolgreich angewendet werden. Bei einem RSG handelt es
sich jedoch nicht um eine Waffe im Sinne des Polizeirechts.
Personen, deren Augen mit dem versprühten Reizstoff in
Berührung kommen, werden im Normalfall von der
einschreitenden Polizei problemlos unter Kontrolle gebracht
werden können.
-
Pistole, Gewehr oder Maschinenpistole:
Dass es sich hier um Waffen handelt, die tödlich eingesetzt
werden können, bedarf keiner weiteren Erörterung. Auch wenn
der Wortlaut der polizeilichen Zwangsbefugnisse vorsieht,
dass Schusswaffen gegen Personen nur gebraucht werden
dürfen, um angriffs- oder fluchtunfähig zu machen, kann dies beim
Einsatz in Stresssituationen nicht garantiert werden.
Nachtrag: Am 2.7.2025 heißt es in einem Bericht
auf Apollo-News.net wie folgt:
Wegen Messerangriffen: Polizei soll
Erste-Hilfe-Gürtel wie beim Militär bekommen.
Angesichts der zunehmenden Messerangriffe fordert die Deutsche
Polizeigewerkschaft, dass alle Polizisten mit
Erste-Hilfe-Gürteln ausgestattet werden. So sollen starke
Blutungen schnell abgebunden werden können. Laut dem
Bundeskriminalamt stieg die Zahl der Angriffe auf Polizisten im
Jahr 2023 um acht Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Es gab über
46.000 Angriffe.
08 Das Schießen ist notwendig geworden
TOP
In einem
Interview, das Manuel Ostermann, der 1. stellvertretende
Bundesvorsitzende der
Deutschen
Polizeigewerkschaft (DPolG) im Deutschen Gewerkschaftsbund
(DGB)dem Nachrichtenmagazin
NiUS
gab, sagte Manuel Ostermann unter anderem:
Von
Kritikern der Polizei wird uns vorgehalten, schießwütig geworden
zu sein, das aber ist nicht der Fall, es ist notwendig geworden,
denn allein 79 Messerdelikte pro Tag in Deutschland, 43 davon
gegen Leib und Leben unmittelbar ... jeden einzelnen Tag ...
bedeuten, dass natürlich der Einsatz eines Schusswaffengebrauchs
natürlich immens in die Höhe schnellt ... und ich sage Ihnen das ganz offen,
ich bin auch dankbar, dass die Kolleginnen und Kollegen
entsprechend reagieren, denn was wäre die andere Option? Die
andere Option ist möglicherweise der eigene Tod und das ist
keine Option [En04].
Diese
Ausführungen teile ich in ihrer Absolutheit nicht, zumal Angst,
Stress, fehlender Mut bzw. fehlendes Vertrauen in die eigenen
Möglichkeiten, auch im Hinblick darauf, solch eine Situation im
Team, also gemeinsam meistern zu können, den Einsatz der
Schusswaffe nicht reflexhaft auslösen darf. Ich möchte mir an dieser Stelle die
Beispiele ersparen, die diesen Einwand rechtfertigen.
Wie dem auch immer sei:
Festzustellen ist, dass es sich beim Polizeiberuf um einen mit
Risiken behafteten Beruf handelt und folglich von Polizeibeamtinnen
und Polizeibeamten erwartet werden kann, Berufsgefahren - auch
wenn diese Gefahren
von Personen ausgehen, die ein Messer in der Hand halten - bis zu
einer gewissen Intensität auch anders abgewehrt werden können, als durch
den Einsatz der Schusswaffe.
09 Quellen
TOP
Endnote_01
Landespolizeipfarrer Kurt Grützner: „...unter Einsatz meines
Lebens“ - Landespolizeipfarrer Kurt Grützner, Seite 4: Der
Aufsatz ist nicht mehr im Internet aufrufbar.
https://www.ekkw.de/img_ekkw/aktuell/...unter_Einsatz_meines_Lebens.pdf
Zurück
Endnote_02
Förderung der körperlichen Leistungsfähigkeit von
Polizeivollzugsbeamtinnen und Polizeivollzugsbeamten (PVB) durch
Sport in der Polizei RdErl. d. Ministeriums für Inneres und
Kommunales - 412 - 58.27.02 v. 18.6.2013 –
https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_text_
anzeigen?v_id=10000000000000000281
Zurück
Endnote_03 Deutschen Polizeikuratorium:
Polizeisport-Depesche Sonderausgabe 2011.
https://dpsk.de/wp-content/uploads/2022/05/
Sonderausgabe_Polizeisportdepesche.pdf
Zurück
Endnote_04 Interview als Videoaufzeichnung:
https://www.nius.de/clips/das-schiessen-ist-
notwendig-geworden/2fdc4564-5b01-4574-ab2c-b937d3b0cd81
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