Freiheit paradox
Inhaltsverzeichnis:
01 Freiheit paradox
02 Was ist Freiheit? 03 Die Angst der Eliten vor dem Volk
04 Wahlen versus Abstimmungen 05
Volksentscheide in der
Weimarer Republik 06 Die vom Volk gewählten Abgeordneten
07 Die Demokratie von morgen muss verzichten lernen 08
Angriff auf die Gedankenfreiheit 09
Schlusssätze
01 Freiheit paradox
TOP
Der Missbrauch von
Freiheit führt zur Unfreiheit.
Diese Wahrheit
entspricht menschlicher Logik, denn das Gegenteil von Freiheit
ist Unfreiheit, das Gegenteil eines „guten Menschen“ ist ein
„böser Mensch“ und das Gegenteil von Wahrheit ist die Lüge.
Daran hat sich bis heute
nichts geändert.
Dennoch: Was wir heute
dringender benötigen, als das bisher jemals in der
Menschheitsgeschichte der Fall gewesen ist, das hat Antonio
Gramsci wie folgt in Worte gefasst:
Was wir
brauchen, ist Nüchternheit: einen Pessimismus des Verstandes,
einen Optimismus des Willens.
Antonio
Gramsci
Hinweis:
Antonio Gramsci (1892–1937) zählt zu den großen
politisch-philosophischen Denkern Europas. Seine 29
Gefängnishefte, die in der Zeit von 1919 bis 1936 in der Haft
entstanden sind, verdeutlichen, wie schwer es ist, sein
Selbst
unter den Bedingungen einer faschistischen und stalinistischen
Zensur zu erhalten. Sein Widerstand gegen diese Bestrebungen
seiner Zeit konnte aber auch im Gefängnis nicht gebrochen
werden. Den Menschen, so wie Antonio Gramsci ihn beschreibt, den
wünscht er sich als einen nüchtern denkenden geduldigen
Menschen, der an der Wirklichkeit nicht verzweifelt und der sich
nicht von jeder Dummheit begeistern lässt.
Solche
Menschen gehören heute bedauerlicherweise noch nicht zur
Mehrheit im so genannten politischen Mainstream, zumindest
erhalten diese Menschen in den Leitmedien unserer Zeit kein
ausreichendes Gehör.
Wie dem auch immer sei:
Hier
noch einmal die letzten Zeilen im 29. Gefängnisbrief:
Antonio Gramsci:
Man muss nüchterne, geduldige Menschen schaffen, die nicht
verzweifeln angesichts der schlimmsten Schrecken und sich nicht
an jeder Dummheit begeistern.
Der Eintrag
im letzten
Gefängnisheft
endet mit der viel zitierten Losung: «Pessimismus des
Verstandes, Optimismus des Willens.»
Womit sich
wieder der Bogen schließt, zu dem zentralen Wort unseres
Denkens, das wir
Freiheit
nennen.
02
Was ist Freiheit?
TOP
Definiert man dieses Wort in Bezug auf Lebewesen, die keine
Menschen sind, so lässt sich deren Freiheit mit einem Satz
abschließend beantworten. Freiheit in der Tierwelt bedeutet:
artgerecht leben zu können.
Nun ist,
das zumindest meint die Wissenschaft nachgewiesen zu haben, der
Mensch nichts anderes, als ein intelligentes Tier. Wer diesem
Gedanken folgt, wird unweigerlich mit der Frage konfrontiert,
was es für einen Menschen bedeutet, artgerecht zu leben. Die
sich daraus ergebenden Fragen verlangen nach langen Antworten,
auf die hier aber verzichtet werden soll, weil jede Leserin und
jeder Leser die nachfolgenden Fragen intuitiv und augenblicklich
sofort mit einem Ja oder einem Nein beantworten kann.
Hier
einige Fragen, die so beantwortet werden können.
-
Ist es
artgerecht, ein Kind im Alter von 1 Jahr in die Obhut einer Kita
zu geben?
-
Ist es
artgerecht, wenn Menschen ihr gesamtes Berufsleben in einem Büro
verbringen, um dort einen PC zu bedienen?
-
Ist es
artgerecht, sich überwiegend von Fastfood zu ernähren?
-
Ist es
artgerecht, alle 15 Minuten das Smartphone zu checken, ob dort
neue Nachrichten eingegangen sind?
-
Ist es
artgerecht, einer Arbeit nachzugehen, von der niemand weiß, was
dabei herauskommt?
-
Ist es
artgerecht, drogensüchtig zu werden?
-
Ist es
artgerecht, Alkoholiker zu werden?
-
Ist es
artgerecht, sich als ein Workaholic zu definieren?
Genug
der Fragen. Ich denke, dass all diese Fragen spontan mit einem
Nein beantwortet werden können. Trotzdem gehen wir davon aus,
dass auch solch ein Gebrauch von Freiheit die Freiheit ist, die
wir meinen. Die Frage, ob solch ein Freiheitsgebrauch aber auch
artgerecht ist, diese Frage stellen wir uns erst gar nicht,
weder als Individuen, noch als Gemeinschaftswesen, oder halten
Sie es für artgerecht, wenn die von Menschen geschaffenen
Systeme dazu dienen, den Lebensraum von Menschen zu zerstören,
oder gar Waffensysteme zu kreieren, die dazu in der Lage sind,
höher entwickeltes Leben auf dem Planeten Erde ein Ende bereiten
zu können?
Wie dem auch immer sei:
Was den Zustand des Gebrauchs der menschlichen Freiheit und den
damit verbundenen Gefahren anbelangt besteht zumindest schon
heute Einigkeit darüber, dass in einer begrenzten Welt es keine
grenzenlose Freiheit und somit auch kein grenzenloses Wachstum
geben kann, denn die Folgen eines „immer weiter so“ sind
inakzeptabel.
Einig ist
man sich heute auch weitgehend darüber, dass es auch
biophysikalische Grenzen [En01]
des Wachstums gibt und diese entweder schon erreicht oder gar
bereits überschritten worden sind.
Ulrich Gausmann:
Die Überschreitung dieser Grenzen in dem Drang, Menschen und
Natur als Vorratskammer und Abfallgrube zugleich immer mehr zu
einer Ware zu machen, führt auch zu absoluten Grenzen bis hin
zur Vernichtung der eigenen Lebensgrundlage. Und drittens ist
man sich einig darin, was die Möglichkeit oder besser die
Unmöglichkeit eines „grünen“ Kapitalismus betrifft
[En02].
Anmerkung zu biophysikalischen Grenzen:
Die Wissenschaftler haben biophysikalische Grenzen
identifiziert, innerhalb derer sich die menschliche Zivilisation
entwickelt hat und beim Überschreiten dieser Grenzen Prozesse im
Erdsystem ausgelöst werden, die dieses System destabilisieren
würden. Planetarische Grenzen wurden sogar in neun Bereichen
identifiziert und sieben davon wurden konkret beziffert. Mehr
dazu kann einem Bericht des Potsdamer Instituts für
Klimafolgenforschung aus dem Jahr 2009 entnommen werden, der
über den folgenden Link aufgerufen werden kann.
Planetarische Grenzen: Ein sicherer Handlungsraum für die
Menschheit
Zurück
zur menschlichen Freiheit. Dazu ist anzumerken, dass es
Freiheit, ohne die damit zwangsläufig verbundene Verantwortung
hinsichtlich zu erwartender Folgen nicht geben kann. In dem
Roman „Der Idiot“ von Fjodor Dostojewski heißt es:
Das
Gesetz der Selbstzerstörung und das Gesetz der Selbsterhaltung
sind in der Menschheit gleich stark.
Fjodor
Dostojewski (1821 bis 1881)
Zurzeit
scheint es so zu sein, dass dem Hang zur Selbstzerstörung
sozusagen mit wachsender Begeisterung gehuldigt wird.
Mit anderen Worten:
Menschen, die es gelernt haben, dem Hang zur Selbstzerstörung
Grenzen zu setzen, leben artgerechter. Gleiches gilt, im
übertragenen Sinne, auch für Gesellschaften. Dort, wo das
artgerechte menschliche Maß überschritten wird, sind, was
Einzelpersonen anbelangt, Krankheiten bis hin zum Krebs und bis
hin zur Demenz unvermeidbar und im Hinblick auf
gesellschaftliche Systeme hat das Überschreiten von Grenzen zur
Folge, dass Krisen bis hin zur Bereitschaft zur Kriegsführung zu
erwarten sind. Wie heißt es doch so schön bei Theodor W. Adorno
in dessen Minima
Moralia:
Es gibt
kein richtiges Leben im
falschen.
Der
richtige Gebrauch von Freiheit setzt die Fähigkeit zum Träumen
voraus, woraus sich Ideen entwickeln und Veränderungen hin zum
Guten ergeben können, wenn so gedacht wird. Freiheit, so wie ich
sie verstehe, setzt den Willen zum Guten voraus. In der
christlichen Sozialethik wird das als Klugheit bezeichnet, denn
Klugheit bedeutet, dem Guten Geltung zu verschaffen, was aber
nur auf der Basis bestmöglichen Wissens über die
gesellschaftliche Wirklichkeit realisierbar ist. Dafür reichen
weder »gute Absichten« noch »gute Meinungen« aus.
Josef Pieper:
Klugheit fordert deshalb die »rechte Verfassung der praktischen
Vernunft« ein, weil sie sowohl erkennend als auch beschließend
ist. Klugheit ist somit nichts anderes, als das Erkennen dessen,
was wahr und gut ist
[En03].
Kluges
Handeln, das ist somit nichts anderes als die Fähigkeit,
richtige Urteile fällen zu können, und zwar im Hier und im
Jetzt, um diese dann auch zeitnah umzusetzen und nicht erst im
Jahre 2030 oder später.
Klugheit
setzt insoweit die Bereitschaft voraus, sich der Wahrheit zu
stellen, um aus ihr im Rahmen des menschlich Möglichen das
Bestmögliche machen zu wollen. Insoweit kann festgestellt
werden, dass es nicht der Zweck der Klugheit ist, über die
letzten Ziele des eigenen Lebens oder gar über die Zukunft der
gesamten Menschheit Bescheid wissen zu wollen. Diese Ziele sind
nach christlich-abendländischem Denken vorgegeben.
Wie dem auch immer sei:
Heute
überwiegt die Macht der Dummheit.
Was ich
damit meine, möchte ich an einem Beispiel aufzeigen. Am
31.5.2024 fand in Berlin eine Demonstration unter dem Motto:
„Demo gegen Hass“ statt. Eine der verkündeten Botschaften hatte
folgenden Wortlaut: „Hass ist keine Meinung“. Das aber hinderte
die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht daran, laut zu
skandieren:
„Ganz
Berlin hasst die AfD“.
Link
zum Video:
Ganz Berlin hasst die AfD
Wie
lässt sich solch eine Schizophrenie erklären? Ganz einfach: Der
Verfall der westlichen Kultur, ohne deren christliche Wurzeln
die Aufklärung gar nicht möglich gewesen wäre, hat heute dazu
geführt, dass Worte umgedeutet werden, bzw. ihren
Bedeutungsinhalt verlieren, bzw. ganz nach Belieben gebraucht
werden.
Hass
ist, wie das im Motto auf der einen Seite heißt, keine Meinung,
was Hass auch niemals sein kann, denn Hass ist eine Emotion, ein
Gefühl. Aber wenn schon so kommuniziert wird, indem der gleiche
Hass skandiert wird, der bei anderen beklagt wird, dann dürfte
das Ende der Aufklärung erreicht sein.
Anders ausgedrückt:
Um die Freiheit wiederbeleben zu können, wird es erforderlich
sein, die Sprachverwirrung von heute zu beenden, um sich wieder
in Deutschland der Sprache zu bedienen, mit der fast alles im
Rahmen des menschlich Möglichen wirklichkeitsnah beschrieben
werden kann.
Und wer
sich der Wahrheit stellt, dem muss auffallen, dass so, wie wir
heute leben, ein Überleben kaum möglich sein wird und folglich
weltweit Veränderungen vorgenommen werden müssen, um den
Menschen vor sich selbst zu schützen.
Wie
heißt es doch so schön bei Thomas Hobbes (1588 bis 1679): Der
Mensch ist des Menschen Wolf. Um das zu ändern, bedurfte es in
Anlehnung an das Staatsverständnis dieses großen Denkers eines
Leviathans, einer allmächtigen Staatsmacht, die über dem Gesetz
steht und die dazu in der Lage ist, ihre Macht – die keiner
Rechtfertigung durch andere bedurfte – durchzusetzen. Aufgabe
der Untertan war es, sich dieser Macht zu fügen. Sein Leviathan
erschien erstmals im Jahr 1651. Hinzuzufügen ist noch, dass die
Untertanen sich freiwillig den Schutz des Staates wollten.
Nur gut 40
Jahre später beschrieb John Locke (1632 bis 1704) eine
Staatsgewalt, die sich an Gesetz und an Recht zu halten hatte.
1690 erschien sein Buch „Two Treatises of Government“ (Zwei
Abhandlungen über die Regierung). Seine Staatstheorie gilt als
die
erste,
die eine Gewaltenteilung vorsah. Exekutive und Legislative
sollten auf jeden Fall voneinander unabhängig sein.
Danach
lebte John Locke zurückgezogen, um sein Werk „An Essay
Concerning Humane Understanding“ (Versuch über den menschlichen
Verstand) zu schreiben, durch welches er in ganz Europa bekannt
wurde.
Die
Macht der Dummheit konnte er dadurch aber auch nicht aufhalten.
Sie lebt heute immer noch und verfügt, man mag das bedauern, um
ein enormes Wachstumspotenzial.
03
Die Angst der Eliten vor dem Volk
TOP
Die
Freiheit des Volkes gilt es zu begrenzen, denn ein Volk, das an
politischen Entscheidungen zu beteiligen ist, ist für
diejenigen, deren Kreise dadurch gestört würden, unerträglich.
Aus diesem Grunde wurde bei der Konzipierung des Grundgesetzes
auch großen Wert darauf gelegt, dass die Einflussnahme des
Volkes, von Wahlen einmal abgesehen, sozusagen auf die
Einflussmöglichkeiten begrenzt, die im Grundrechtskatalog
aufgelistet sind:
Art. 5
GG: Meinungsfreiheit
Art. 8
GG: Versammlungsfreiheit
Art. 9
GG: Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit
Art. 17
GG: Petitionsrecht
Widerstandsrecht:
Für den Fall, dass der Staat wirklich einmal handlungsunfähig
werden sollte, wurde 1968 – im Zusammenhang mit der
Notstandsverfassung – das Widerstandsrecht in das Grundgesetz
aufgenommen. Im Parlamentarischen Rat war 1949 solch eine
Forderung verworfen worden.
Art.
20 Abs. 4 GG: Widerstandsrecht
(4)
Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen,
haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere
Abhilfe nicht möglich ist.
Geschützt
werden soll durch das Widerstandsrecht des Einzelnen der
Verfassungsstaat, aber nur dann, wenn es sich um einen absoluten
Ausnahmefall handelt, in dem „alle Mittel der Normallage“
versagen, die einem Staat zur Selbsterhaltung zur Verfügung
stehen.
Das heißt:
Solange Konflikte noch in zivilen Formen ausgetragen werden
können, bzw. friedlicher Protest noch Gehör finden kann, steht
niemandem das Recht auf Widerstand zu.
Anders ausgedrückt:
Die letzten sechs Wörter drücken genau das aus, was gemeint ist.
Widerstand im
Sinne von Artikel 20 Abs. 4 setzt
eine
Ausnahmesituation voraus,
wenn andere
Abhilfe nicht möglich ist,
um den
Verfassungsstaat zu schützen.
Artikel 20 rechtfertigt keinen zivilen Ungehorsam.
Das
Demokratieverständnis der Mitglieder im Parlamentarischen Rat
lässt sich wie folgt zusammenfassen: Das Volk hat außen vor zu
bleiben, denn die Entscheidungen, die zu treffen sind, sind
ausschließlich denen vorbehalten, die im Namen des Volkes deren
Souveränität ausüben. Die Einbeziehung des Volkes in wichtige
Entscheidungen bzw. ein Volksbegehren, wie das die Weimarer
Reichsverfassung noch vorsah, wurde mit der Begründung
abgelehnt, dass es ja das Volk war, das Adolf Hitler an die
Macht kommen ließ, eine Aussage, die sich aus Sicht der
politischen Eliten gut und überzeugend anhörte, um die eigene
Verantwortung dahinter zu verstecken. Mehr dazu an anderer
Stelle in diesem Aufsatz.
Das, was
die Machtausübung in der Bundesrepublik Deutschland anbelangte,
das sollte ausschließlich den gewählten politischen Eliten
überlassen werden.
So auch
die Sichtweise von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier,
dessen Position zur direkten Einflussnahme des Volkes auf
politische Entscheidungen den nachfolgenden Zitaten entnommen
werden kann.
Beim 27.
Wissenschaftlichen Kongress der
Deutschen
Vereinigung für Politikwissenschaft am 26. September 2018 in
Frankfurt am Main sagte der Bundespräsident:
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier:
Ich persönlich bleibe skeptisch, ob die Parlamente und die
repräsentative Demokratie in ihrer Autorität gestärkt werden,
wenn ihnen – wie von den Verfechtern der direkten Demokratie
häufig vorgeschlagen – gerade die sensiblen Entscheidungen
entzogen werden.
Hinsichtlich der Rolle, die die Politikwissenschaft zu
übernehmen hat, um die repräsentative Demokratie zu erhalten,
heißt es:
Für eine
solche Debatte brauchen wir die Politikwissenschaft, heute mehr
denn je. Nicht als Neuauflage der Demokratiewissenschaft der
Vergangenheit, sondern als professionelle und vielfältige
Disziplin, die detailgenau untersucht, aber auch die großen
Fragen unserer Zeit im Blick hat – und der es im besten Fall
gelingt, empirische Analysen und normative Argumente miteinander
zu verknüpfen.
Was wir
brauchen, ist eine kreative und mutige Politikwissenschaft, die
aktuelle Diskurse über die Demokratie informiert, inspiriert,
die mit Leidenschaft und Urteilskraft zur Aufklärung der
Gesellschaft über sich selbst beitragen kann
[En04].
Mit anderen Worten:
Das, was die deutsche Demokratie braucht, das sind Experten und
Menschen, wie wissen, was sie tun.
Anders ausgedrückt:
Alle
Macht den Experten. Die Stimme des Volkes könnte deren
Demokratieverständnis nur stören.
Ganz
anders die Sichtweise des Bundespräsidenten anlässlich eines
Besuchs in der Schweiz im April 2018. Dort sprach sich
Frank-Walter Steinmeier, seiner Position treu bleibend, in Bezug
auf die Bundesrepublik Deutschland gegen Volksabstimmungen auf
Bundesebene aus.
FAZ.de
vom 26.4.2018:
In der Schweiz lobt Bundespräsident Steinmeier das dortige
Modell direktdemokratischer Beteiligung. Für Deutschland sieht
er Volksabstimmungen kritisch. Hier gebe es eine andere
„politische DNA“.
Auf
kommunaler Ebene sei dagegen mehr Beteiligung sinnvoll und
notwendig. Deutschland habe mit dem Grundgesetz die Lehren aus
dem Scheitern der ersten Demokratie von 1918 bis 1933 gezogen,
sagte Steinmeier weiter
[En05].
Wie dem auch immer sei:
Das, was die Machtinhaber innerhalb der bundesdeutschen
repräsentativen Demokratie erhalten wollen, das sind Menschen,
die der Obrigkeit vertrauen, selbst in Ruhe gelassen werden
wollen, ihre Selbsterfüllung im Konsum finden und im Übrigen von
Nutzen sind.
Was damit
gemeint ist, darüber hat
Larken
Rose ein Buch mit dem Titel „Der Nutzmensch“ geschrieben, dessen
Untertitel lautet: „Handbuch für den modernen Tyrannen“. Bei dem
Autor handelt es sich um einen amerikanischen Philosophen und um
einen Freiheitsaktivisten, der die gefährlichste aller
Religionen beschreibt, die den Geist in Ketten legt. Gemeint
sind Gesellschaftssysteme, denen es gelingt, den Menschen
vollständig zu kontrollieren und zu beherrschen. In westlichen
Systemen geschieht dies in Anlehnung an
Larken
Rose durch Techniken, die so ausgefeilt sind, dass davon
betroffene Personen es gar nicht mehr merken, wie aktiv sie sich
an der Zerstörung der eigenen Freiheit beteiligen.
Eliten,
die die repräsentative Demokratie für alternativlos halten, und
das ist immer noch die Meinung der Mehrheit der politischen
Elite, sollten sich daran erinnern, was Alternativlosigkeit
bedeutet:
William Pitt:
Alternativlosigkeit ist das effektivste Argument für die
Zerstörung der Freiheit
[En06].
In einem
Kapitel, das die Überschrift „Aus Lüge wird Freiheit“ trägt,
heißt es bei Larken Rose wie folgt:
Larken Rose:
Die Wertvorstellungen einer ganzen Gesellschaft zu verändern,
ist nicht annähernd so kompliziert, wie du denkst. Du benötigst
dazu nur etwas Planung und Geduld. Die meisten Menschen haben
ein Wertesystem, das aus Emotionen, Überzeugungen und
Manipulationen besteht. Beweise, Logik oder eigenständiges
Denken spielen für sie nur eine untergeordnete Rolle. Sie
glauben, dass alles, was sich für sie gut und „passend“ anfühlt,
ihnen dabei hilft, unbequeme Gedanken und Unsicherheit zu
vermeiden. Die meisten Nutzmenschen glauben das, was sie nach
Vorstellung ihrer Eltern oder „Lehrer“ glauben sollen. Das ist
für sie wesentlich bequemer, als sich selbst mit der Realität
auseinandersetzen zu müssen. Zudem sind sie intellektuell nicht
standfest genug, um an einer Überzeugung festzuhalten, und
richten ihre Fahne sofort nach dem Wind, wenn eine „Autorität“
etwas sagt, was davon abweicht.
Diesem
Absatz beendet der Autor mit einem Zitat von Adolf Hitler, das
folgenden Wortlaut hat:
Was für ein
Glück für die Regierenden, dass die Menschen nicht denken
[En07].
Dass
dieser Gefahr der Manipulation denen Menschen auch in westlichen
Demokratien ausgesetzt sind, eine ernstzunehmende Gefahr
darstellen, das in Frage zu stellen, würde bedeuten, 200 Jahre
Wissenschaftsgeschichte zu leugnen, deren Ziel es war und ist,
herauszufinden, wie der Mensch funktioniert und wie sein Denken,
sein Verhalten und seine Bereitschaft, anderen zu vertrauen, im
Sinne derjenigen beeinflusst werden kann, die tatsächlich über
die dafür erforderlichen Mittel verfügen, solch eine Kontrolle
durchzusetzen. Es würde zu weit führen, bereits an dieser Stelle
die Gefahr des so genannten Nudgings zu thematisieren. Insoweit
muss es zuerst einmal ausreichen, festzustellen, dass die
Wissenschaft heute tatsächlich weiß, wie Gesellschaften so
beeinflusst werden können, dass sie sich so verhalten, wie das
den Eliten gefällt.
Auch das
nenne ich Freiheit paradox.
04
Wahlen versus Abstimmungen
TOP
Wahlen:
Der freie
Mensch in der besten Regierungsform, die Deutschland jemals
hatte, darf, soweit er wahlberechtigt ist, seine Volksvertretung
wählen. Ist das geschehen, dann hat dieser freie Wähler
sozusagen den direkt gewählten Abgeordneten des Deutschen
Bundestags sozusagen alle Freiheiten übertragen, die Politik in
der sich daran anschließenden Legislaturperiode von vier Jahren
zu gestalten, denn zur Aufgabe des Bundestages gehört es auch,
die Bundesregierung zu wählen, denn im Artikel 63 Abs. 1 GG
heißt es:
(1) Der
Bundeskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom
Bundestage ohne Aussprache gewählt.
Das, was
den Bürgern noch als Einflussnahme verbleibt, das ist sein
Recht, im Rahmen der Meinungsfreiheit die Regierung zu
kritisieren, oder demonstrierend auf die Straße zu gehen, um
politische Entscheidungen vielleicht doch noch rückgängig machen
zu können.
Abstimmungen:
Weitere Einflussnahmen auf politische Entscheidungen werden den
Bürgern vorenthalten, obwohl es im Artikel 20 Abs. 2 GG heißt:
(2) Alle
Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen
und
Abstimmungen
und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden
Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
Fraglich
ist jedoch, ob dem Begriff der „Abstimmungen“ ein normativer
Charakter innewohnt und somit Art. 20 Abs. 2 GG als ein
Verfassungsauftrag anzusehen ist. Von den Vertretern, die sich
die Staatsform des Grundgesetzes nur als eine repräsentative
Demokratie vorstellen können, wird der Auftrag, der sich aus
Artikel 20 Abs. 2 GG ergibt, deshalb ausschließlich im
Zusammenhang mit Artikel 28 GG verstanden, der einen
Volksentscheid nur zur Neuregelung von Bundesländern vorsieht.
Artikel 29 Abs. 2 GG
2)
Maßnahmen zur Neugliederung des Bundesgebietes ergehen durch
Bundesgesetz, das der Bestätigung durch Volksentscheid bedarf.
Die betroffenen Länder sind zu hören.
Im Übrigen
wird darauf verwiesen, dass die „Mütter und Väter“ des
Grundgesetzes, also die Mitglieder des Parlamentarischen Rates,
sich bewusst für die repräsentative Demokratie entschieden
haben, weil die Erfahrungen mit Volksentscheidungen aus der
Weimarer
Republik
die Ursache dafür waren, dass Hitler an die Macht kommen konnte.
Dem ist
aber nicht so, denn nicht die Wähler, sondern die Abgeordneten
des
Deutschen
Reichstages, unter ihnen auch der erste Bundespräsident Theodor
Heuss, stimmten dem Ermächtigungsgesetz zu und übertrugen damit
dem Reichskanzler Adolf Hitler sozusagen diktatorische Gewalt.
Die
Volksbegehren, die es in der Weimarer Republik schafften, zur
Abstimmung zu gelangen, hatten wirklich keinen Einfluss auf
diese unsägliche Entscheidung der Abgeordneten im
Deutschen
Reichstag. Dennoch war Theodor Heuss einer der eloquentesten
Gegner einer repräsentativen Demokratie, soweit in ihr Elemente
der direkten Demokratie enthalten sein sollten. Volksentscheide
wie in Weimar, so Theodor Heuss, müssen deshalb ausgeschlossen
werden, weil „der Hund an die Kette gelegt werden muss.“ Gemeint
waren die Wählerinnen und Wähler.
Das, was
die Weimarer Reichsverfassung ihren Wählerinnen im Hinblick auf
die Einflussnahme auf politische Entscheidungen erlaubte, dazu
heißt es in der Weimarer Reichsverfassung wie folgt:
Artikel 73
WRV
Ein vom Reichstag beschlossenes Gesetz ist vor seiner Verkündung
zum Volksentscheid zu bringen, wenn der Reichspräsident binnen
eines Monats es bestimmt. [...]. Das Verfahren beim
Volksentscheid und beim Volksbegehren regelt ein Reichsgesetz.
Artikel 76
WRV
Soll auf
Volksbegehren durch Volksentscheid eine Verfassungsänderung
beschlossen werden, so ist die Zustimmung der Mehrheit der
Stimmberechtigten erforderlich.
Es würde
zu weit führen, nähere Ausführungen zu dem Reichsgesetz zu
machen, in dem während der Weimarer Republik das Rechtsinstitut
des Volksbegehrens geregelt war.
Wer sich
dafür interessiert, der kann das „Gesetz über den Volksentscheid
vom 27. Juni 1921“ über den folgenden Link aufrufen.
Gesetz über den Volksentscheid
Ein
solches oder auch nur ein annähernd vergleichbares Gesetz gibt
es in der Bundesrepublik von Deutschland von heute jedoch nicht.
Wohl aber ein Bundeswahlgesetz.
Warum?
05
Volksentscheide in der Weimarer Republik
TOP
Was die
Weimarer Reichsverfassung vorsah, wurde vom Parlamentarischen
Rat mit der Begründung abgelehnt, dass mit Volksentscheiden in
der Weimarer Republik schlechte Erfahrungen gemacht wurden und
solche Entscheide sogar den Aufstieg von Adolf Hitler ermöglicht
hätten. Dafür aber fehlen wissenschaftliche Beweise bis heute.
Deshalb kann durchaus davon ausgegangen werden, dass dieses
Argument nur als ein vorgeschobenes Argument angesehen werden
kann, um diejenigen Abgeordneten zu entlasten, zu denen auch der
erste Bundespräsident Theodor Heuss gehörte, die im Reichstag
dem Ermächtigungsgesetz zustimmten, durch das Adolf Hitler
diktatorische Macht übertragen wurde.
Wie dem auch immer sei:
Zu fragen ist dennoch, wie Otmar Jung das in seinem Buch
„Direkte Demokratie in der Weimarer Republik“ getan hat,
„warum sich
die Bundesrepublik von fast allen Ländern des
westlich-demokratischen Typus, die neben dem parlamentarischen
Regelbetrieb selbstverständlich Formen direkter Demokratie
praktizieren?“
Bei den
vier großen Volksbefragungen, die in der Weimarer Republik zur
Abstimmung gelangten, und die Otmar Jung analysiert hat, wird
nämlich deutlich, dass dem Volk durchaus bewusst war, worüber
sie zu entscheiden hatten.
1926
Enteignung der Fürstenvermögen
1926
Volksbegehren in Aufwertungsfragen
1928
Volksbegehren
Panzerkeuzerverbot
1929
Volksbegehren Youngplan
Der wohl
wichtigste und auch tatsächlich durchgeführte Volksentscheid
betraf die so genannte Fürstenenteignung.
Paul Schreyer:
Nach der Revolution von 1918 waren die deutschen Fürsten
entmachtet worden, ihr Besitz, vor allem große Liegenschaften,
wurden beschlagnahmt. [...]. Daraufhin folgten verbissene
juristische Kämpfe der um Entschädigung streitenden Fürsten.
[...]. Der Unmut in der Öffentlichkeit über Urteile zugunsten
der Fürsten, in denen die Revolution gewissermaßen juristisch
wieder rückgängig gemacht wurde, wuchs schließlich so weit, dass
ein von KPD und SPD gemeinsam betriebener Volksentscheid im Jahr
1926 breiten Rückhalt erfuhr
[En08].
Der
Gesetzesentwurf, der zur Abstimmung gestellt wurde, hatte
folgenden Wortlaut:
Otmar Jung:
Das gesamte Vermögen der Fürsten, die bis zur Staatsumwälzung im
Jahre 1918 in einem der deutschen Länder regiert haben, sowie
das gesamte Vermögen der Fürstenhäuser, ihrer Familien und
Familienangehörigen werden zum Wohle der Allgemeinheit ohne
Entschädigung enteignet. Das enteignete Vermögen wird Eigentum
des Landes, in dem das betreffende Fürstenhaus bis zu seiner
Absetzung oder Abdankung regiert hat. Das enteignete Vermögen
wird verwendet zugunsten der Erwerbslosen, der
Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen, der Sozial- und
Kleinrentner, der bedürftigen Opfer der Inflation, der
Landarbeiter,
Kleinpächter
und Kleinbauern durch Schaffung von Siedlungsland auf dem
enteigneten Landbesitz
[En09].
Das
Volksbegehren scheiterte. Warum?
Paul Schreyer:
Am Ende nahmen von 40 Millionen
Wahlberechtigten
gut 15 Millionen an der Abstimmung teil. Von diesen wiederum
stimmten 96 Prozent für eine entschädigungslose Enteignung der
Fürsten. Klarer hätte das demokratische Votum kaum ausfallen
können. Jedoch: Laut Weimarer Rechtsverfassung war ein
Volksentscheid nur dann gültig, wenn mindestens 50 Prozent der
Bevölkerung teilnahmen. Die Abstimmung scheiterte somit
trotz
eindeutigem Ergebnis
„mangels Beteiligung“
[En10].
Vielleicht war es die Angst der Mitglieder im Parlamentarischen
Rat, die darin bestand, dass das Volk auf den Gedanken kommen
könnte, noch einmal darüber entscheiden zu wollen, der Macht des
Geldes, wie das der Artikel 14 Abs. 2 des Grundgesetzes durchaus
vorsieht, dem Allgemeinwohl entsprechend zu beschneiden.
Dort
heißt es:
(2)
Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der
Allgemeinheit dienen.
06
Die vom Volk gewählten Abgeordneten
TOP
Sobald
das Wahlvolk gewählt hat, befindet es sich in der Rolle des
Zuschauers, denn nur in seltenen Fällen gelingt es
Protestierenden, die Regierenden davon zu überzeugen, dass es
besser für sie ist, aufgebrachten Teilen der Wählerschaft
zumindest vorübergehend ein Stück entgegenzukommen.
Als
Beispiel für einen solchen Teilerfolg seien die Proteste der
Landwirte genannt, die Anfang 2024 wegen Kürzungen von
Agrarsubventionen ihren Protest mit allen ihnen zur Verfügung
stehenden Möglichkeiten auf den Straßen in Deutschland
„auslebten“.
Deutscher Bauernverband:
Vom 8. bis 12. Januar 2024 wird in ganz Deutschland eine
Aktionswoche durchgeführt, bei der Landwirtschaft und
Transportgewerbe gemeinsam demonstrieren.
Landwirtinnen, Landwirte, das Transportgewerbe, Spediteure und
Lkw-Fahrer werden ab dem 8. Januar deutschlandweit mit
Demonstrationen, Sternfahrten oder Kundgebungen ihre
Unzufriedenheit mit den
Haushaltspänen
der Bundesregierung zum Ausdruck bringen. Bundesweit werden in
allen Bundesländern über 100 Aktionen stattfinden, um
Bevölkerung und Politik davor zu warnen, die
Wettbewerbsfähigkeit und die Existenz der Landwirte und
mittelständischen Transportunternehmen aufs Spiel zu setzen
[En11].
Die
Folge dieser Proteste war, dass die Bundesregierung geplante
Kürzungen für Landwirte teilweise zurücknahm.
Solche
„Erfolge durch Proteste“ sind aber wohl eher die Ausnahme, nicht
die Regel, denn der politische Wille des Volkes soll ja durch
die vom Volk gewählten Abgeordneten im Deutschen Bundestag
ausgeübt werden, siehe Artikel 38 Abs. 1 GG.
Art 38 Abs. 1 GG
(1)
Die
Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner,
unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie
sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen
nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.
Das, was
der Satz 2 des Artikels 38 Abs. 1 GG nahelegt, dass die
gewählten Abgeordneten an Aufträge und Weisungen nicht gebunden,
und nur ihrem Gewissen unterworfen sind, entspricht aber nicht
der Verfassungswirklichkeit von heute.
Marco
Bülow, der von 1992 bis 2018 Mitglied der SPD und für diese
Partei von 2002 bis 2018 als Abgeordneter im Deutschen Bundestag
war, dann aber 2018 die SPD verließ, um den Rest seiner
Abgeordnetenzeit bis 2021 als partei- und fraktionsloser
Politiker im Deutschen Bundestag zu verbringen, schildert die
Abstimmungsfreiheit der im Deutschen Bundestag vertretenen
Abgeordneten wie folgt:
Video:
Marco Bülow über den Fraktionszwang
07
Die Demokratie von morgen muss verzichten lernen
TOP
Die
Demokratie von morgen wird nur dann eine Chance haben, wenn es
demokratischen Gesellschaften gelingt, verzichten zu lernen.
Während
jeder Erwachsene aus eigener Erfahrung wissen muss, dass es im
Leben, sei es bei der Arbeit, beim Sport, im Studium, in der
Liebe oder in der Kunst und natürlich auch beim Erhalt der
eigenen Gesundheit nichts, aber auch gar nichts gibt, das ganz
ohne die Bereitschaft zum Verzicht gelingen könnte, lässt den
Schluss zu, dass dies auch für Gesellschaften gilt.
Dennoch
gibt es Politiker, die meinen, dass dies für Gesellschaften
nicht gilt, denn sogar die umweltbewussten Politiker von heute
halten es für möglich, die Menschheit ganz ohne Abstriche vom
Gewöhnten und Bequemen zu retten bzw. die ökologische Krise auf
eine Art und Weise zu beseitigen, die sogar Wirtschaftswachstum
und Wohlstandsvermehrung zugleich verspricht.
Das zu
glauben fällt schwer.
Warum?
Die Antwort
auf dieses Fragewort lässt sich in wenigen Worten ausdrücken:
Die Industrialisierung und der Kapitalismus kennen nur eine
Richtung, die Richtung der Zerstörung. Nach meinem Kenntnisstand
war es die Frankfurter Schule, die diese Sicht der Dinge
intellektuell wohl am überzeugendsten formuliert hat, denn für
Max Horkheimer (1895 bis 1973) und Theodor W. Adorno (1903 bis
1969) gehört nun einmal zum Fortschritt kapitalistischer Systeme
die „Tendenz zur Selbstzerstörung“
[En12].
08
Angriff auf die Gedankenfreiheit
TOP
Das
Gedicht „Die Gedanken sind frei“ stammt aus der Feder von
Hoffmann von Fallersleben (1798 bis 1874). Der Text, von dem im
Folgenden nur die erste Strophe zitiert wird, wurde 1780 zum
ersten Mal auf Flugblättern veröffentlicht. Im Zeitraum zwischen
1810 und 1820 entstand die Melodie dazu.
Die
Gedanken sind frei, wer kann sie erraten? Sie fliegen
vorbei wie nächtliche Schatten. Kein Mensch kann sie
wissen, kein Jäger sie schießen, mit Pulver und Blei.
Die Gedanken sind frei.
Diese
Euphorie im Hinblick auf menschliches Denken, das sich jeglicher
Form der Beeinflussung von außen zu entziehen vermag, vermochte
schon damals nicht zu überzeugen, was eine Vielzahl von
Inquisitionsprozessen belegen, in denen Menschen durch Folter
dazu gezwungen wurden, das zu sagen, was andere hören wollten.
Heute, gut 300 Jahre später, findet ein anderer Angriff auf die
Meinungsfreiheit statt, denn Wissenschaftlern ist es in den
zurückliegenden gut 200 Jahren gelungen, herauszufinden, wie das
Denken der Menschen nicht nur beeinflusst und manipuliert,
sondern auch gesteuert werden kann. Das betrifft sowohl das
„langsame Denken“ als auch das „schnelle Denken“.
Während
das langsame Denken, das im Neokortex sozusagen als der Raum für
die menschliche Vernunft anzusehen ist, durch Sprache und durch
dauerhaft wiederholte Botschaften beeinflusst werden kann,
befindet sich die „Heimat“ des schnellen Denkens im menschlichen
Stammhirn, auch Reptiliengehirn genannt. Dieses Gehirn steuert
unsere Emotionen, zu denen auch unsere Empathiefähigkeit gehört,
Eigenschaften, über die auch Tiere verfügen.
Wie dem auch immer sei:
Tausende von Wissenschaftlern haben in den letzten Jahrzehnten
daran gearbeitet, herauszufinden, wie das menschliche Gehirn
funktioniert und wie es manipuliert und für Ziele gewonnen
werden kann, die von Menschen mit klarem Verstand niemals
angestrebt werden würden. Was damit gemeint sein kann, das
möchte ich nur an einem Beispiel aufzeigen, nämlich am Beispiel
der kognitiven Kriegsführung. Es würde zu weit führen, diesen
Prozess der Kriegsvorbereitung im Detail zu erklären. Die beiden
folgenden Zitate aus Statements des Bundesverteidigungsministers
Boris Pistorius (SPD) lassen aber zumindest erkennen, wie
kognitive Kriegsführung (zu der auch die Kriegsvorbereitung und
die Einstimmung auf die Notwendigkeit eines Krieges gehört),
funktioniert:
FAZ.de
vom 30.10.2023:
Pistorius: „Wir müssen kriegstüchtig werden“.
Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius warnt vor der Gefahr
eines Krieges in Europa. Angesichts dessen müsse die Bundeswehr
im Eiltempo modernisiert werden. Die Zivilgesellschaft müsse
umdenken
[En13].
Ich
erspare es mir, den Prozess der Kriegsvorbereitung in den
folgenden sieben Monaten zu beschreiben.
FocusOnline.de
vom 6.6.2024:
Bundestag im Tickerprotokoll: Pistorius’ klare Ansage: „Wir
müssen bis 2029 kriegsfähig sein“. Am Mittwoch, dem 5. Juni 2024
sagte der Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) anlässlich
der Regierungsbefragung im Bundestag ganz klar und
unmissverständlich, dass man keine Kriegspartei werde und die
Ukraine weiterhin bedingungslos unterstützt.
Das Video,
das auf der Website von
FocusOnline
zur Verfügung steht und über den folgenden Link aufgerufen
werden kann, habe ich wortgetreu in Schrift umgewandelt.
Boris Pistorius:
Jeder Euro zählt, meine Damen und Herren. Uns muss klar sein:
Ein russischer Sieg käme uns alle teuerer am Ende, als unsere
Unterstützung für die Ukraine heute (spärlicher Applaus).
Videostatement
Genug der einleitenden Worte:
Mir geht es darum, aufzuzeigen, dass kognitive Kriegsführung
tatsächlich funktioniert, denn bei dieser „Soft-Power-Waffe“
handelt es sich wohl um die modernste und fortschrittlichste
Form der Kriegsführung. Der Fachterminus dafür lautet „Cognitive
Warfare“.
Dabei
ist natürlich zu berücksichtigen, dass die Militärs und
Regierungen verschiedener Länder heute intensiv an dieser neuen
Art der Kriegsführung forschen und neben den USA vor allem China
und Russland die treibenden Kräfte sind.
Wie dem auch immer sei:
Dass auch die NATO die
Kognitive
Kriegsführung spätestens seit 2020 aktiv vorantreibt und damit
die Kriegspropaganda und die damit verbundene Manipulation der
Bevölkerung auf ein ganz neues Niveau anzuheben versucht, das
lässt sich gut belegen.
Das zu
verwirklichende Ziel der
Kognitiven
Kriegsführung lässt sich wie folgt beschreiben. Moderne und
fortschrittlichste Manipulationstechniken kommen zum Einsatz,
deren Ziel es ist, jeden einzelnen Menschen von der
Notwendigkeit der Kriegsvorbereitung zu überzeugen. Dabei
handelt es sich nicht nur um Propaganda, sondern um weitaus
verfeinerte Methoden der Einflussnahme, die nicht nur auf die
Gehirne von Individuen, sondern weit darüber hinausgehend, auch
die öffentliche Meinung sozusagen auf Linie bringen sollen.
Die
dafür neu geschaffenen Worte lauten:
Nudging
und Framing
Anders ausgedrückt:
Jahrzehntelange Forschung haben ihren Beitrag dazu geleistet,
herauszufinden, wie Menschen manipuliert und gesteuert werden
können und wie sowohl ihr „langsames Denken“, das sich im so
genannten Neokortex ereignet, als auch ihr „schnelles Denken“ zu
beeinflussen, das im ältesten Teil des menschlichen Gehirns, im
so genannten Reptiliengehirn beheimatet ist.
Und
warum das Ganze?
Ganz einfach:
Es ist nicht immer leicht, die seit vielen Jahren immer weiter
ansteigenden Rüstungsausgaben zu begründen. Das funktioniert
nur, wenn in einer Gesellschaft so viel Angst vor einem bösen
Feind vorhanden ist, der solch einen Aufwand zu rechtfertigen
vermag.
Um das
zu erreichen, kommt zuerst einmal Soft-Power zum Einsatz, um
dann, wenn der Boden vorbereitet ist, viel Geld in Hard-Power
investieren zu können, denn wenn die Gesellschaft erst einmal
von der Notwendigkeit rapide wachsender Rüstungsausgaben
überzeugt ist, weil nur so einer drohenden Gefahr
erfolgversprechend begegnet werden kann, dann kann in Hard-Power
investiert werden: in Panzer, Hubschrauber, Drohnen etc.
Wie dem
auch immer sei.
Walter Lippmann:
Wir müssen
uns erinnern, dass das, was in Kriegszeiten von Seiten des
Feindes von der Front berichtet wird, immer Propaganda ist, und
was von uns von der Front berichtet wird, Wahrheit und
Aufrichtigkeit ist, die Sache der Menschlichkeit und ein
Kreuzzug für den Frieden.
Walter
Lippmann
Zurzeit
wird die Gesellschaft Schritt für Schritt daran gewöhnt, dass
auch in Deutschland hergestellte Waffen dazu benutzt werden
dürfen, Ziele hinter der Front, also in von Russen besetzten
Bereichen der Ukraine, angreifen zu können
[En14].
Und all
das geschieht in einer Zeit, in der weltweit die mentale
Leistungsfähigkeit, insbesondere die von jungen Menschen
abnimmt, während die Depressionsraten dramatisch ansteigen.
Jeder Vierzigste leidet mittlerweile an Alzheimer, und das bei
rapide sinkendem Erkrankungsalter. Außerdem mehren sich die
Hinweise, dass sich hinter den zahlreichen negativen Einflüssen,
denen Menschen heute ausgesetzt sind, die Gleichgültigkeit zu,
und die Denkfähigkeit abnimmt.
Unter
diesen Voraussetzungen dürfte es keine Unmöglichkeit mehr sein,
den Menschen ihre Fähigkeit zum selbstständigen Denken
vollständig zu nehmen.
Das aber
wäre das Ende von Freiheit, verursacht durch den Missbrauch von
Freiheit. Das ist das aber Paradoxe an der Freiheit. Lässt man
dieser „Freiheit“ weiterhin ihren Lauf, dann kann davon
ausgegangen werden, dass die menschliche Vernunft dabei auf der
Strecke bleiben wird.
Und wenn
die Freiheit doch verloren gehen würde? Dann hilft nur noch der
Glaube daran, dass ihr Tod kein Ender, sondern ein Wender ist.
Aber
noch ist es nicht so weit, obwohl die Vorbereitungen schon
längst im Gange sind.
Verteidigungsminister Boris Pistorius
(SPD) am 5. Juni 2024 im Deutschen Bundestag:
Wir müssen
bis 2029 kriegstüchtig sein. Wir müssen Abschreckung leisten, um
zu verhindern, dass es zum Äußersten kommt. Drei Themen sind
dabei zentral: Personal, Material und Finanzen. Im Ernstfall
brauchen wir wehrhafte junge Frauen und Männer, die dieses Land
verteidigen können. Wir müssen durchhaltefähig und aufwuchsfähig
sein. Ich bin überzeugt: Wir brauchen eine neue Form des
Wehrdienstes. Hierzu werde ich zeitnah einen Vorschlag machen,
den ich mit Ihnen und den Menschen im Land diskutieren will. Ich
kann aber bereits sagen, dass ein solcher Wehrdienst nicht
völlig frei von
Pflichten
welcher Art sein kann.
Darüber hinaus ist es unsere Verantwortung, der Truppe die
bestmögliche Ausrüstung für ihre Aufgabe zur Verfügung zu
stellen. Das Material das wir bislang aus unserem Einzelplan und
dem Sondervermögen beschaffen, war der erste wichtige Schritt,
um die Bundeswehr in den Stand zu bringen, den wir brauchen. Wir
müssen in den Fähigkeitsaufbau und die Einsatzfähigkeit weiter
investieren. 30 Jahre lang ist das nicht passiert. Wir brauchen
Hauptwaffensysteme, Luftverteidigungssysteme, Munition und
Einsatzunterstützung vom Kampfpanzer bis zur mobilen Feldküche.
Wir müssen daher in den nächsten Jahren weiter erheblich in
unsere Bundeswehr investieren. Nachhaltig, verlässlich und
substanziell. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Video
Redebeitrag des Bundesverteidigungsministers
Die SPD
von heute scheint ihren Altbundeskanzler Helmut Schmidt völlig
vergessen zu haben, der folgende Position vertrat:
„Lieber
100 Stunden umsonst verhandeln als eine Minute schießen.“
Diesen Satz
verwendete die SPD Oberhausen-Rheinhausen noch im Mai 2014 unter
dem Motto:
Gemeinsam.
Zukunft. Gestalten. SPD -
Soziale
Politik für Dich.
An anderer Stelle heißt es:
Die SPD hat eine lange Tradition als Friedenspartei. Unsere
Friedenspolitik hat immer auf Frieden durch Verständigung und
Zusammenarbeit gesetzt. Wir wollen keine neue Spaltung Europas.
Wir wollen keine neue Konfrontation. Wir wollen den Frieden
sichern.
Zurück
zu Helmut Schmidt. Seine Botschaft hat, auch nach der hier
vertretenen Überzeugung, der Maßstab eines Politikers zu sein,
der sein Land vor dem Grauen des Krieges bewahren will. Zum
Verhandeln braucht es keine Munition, sondern dazu braucht es
Verstand!
Übrigens:
Durch Bomben lässt sich kein Frieden schaffen. Wer glaubt, dass
gut 80 Jahre Nachkriegsfrieden auf der Grundlage eines
Friedensvertrages hat wachsen können, der irrt. Einen
Friedensvertrag hat es nach der bedingungslosen Kapitulation,
die am 5. Mai 1945 in Reims von den Oberbefehlshabern der
Wehrmacht im Auftrag der Staatsregierung in Reims unterschrieben
wurden, nicht gegeben.
Kapitulationsurkunde im Original:
Dass es
zu keinem Friedensvertrag kam, lag auch nicht nur daran, dass es
in der Nachkriegszeit zunächst keine deutsche Regierung mehr
gab, die einen solchen Vertrag hätte unterschreiben können,
sondern auch an den Folgen eines Friedensvertrages, der ohne die
Höhe der in einem solchen Vertrag festzulegenden
Reparationsleistungen gar nicht denkbar gewesen wäre. Die zu
leistenden Reparationsleistungen wären aber so gigantisch
gewesen, dass sich Deutschland davon bis heute wohl kaum erholt
haben dürfte.
09
Schlusssätze
TOP
Freiheit
ohne Verantwortung, das ist nichts anderes als Selbstbetrug. Das
gilt auch für die Aufgabe von Freiheit, um noch mehr Sicherheit
gewinnen zu können.
Schon
Benjamin Franklin (1706 bis 1790), einer der Gründungsväter der
Vereinigten Staaten von Amerika, warnte davor, die Freiheit
aufzugeben, um Sicherheit gewinnen zu können, da man am Ende
beides verlieren werde.
Dem ist
genauso zuzustimmen, wie einem Zitat von Edmund Burke (1729 bis
1797), dem wohl einflussreichsten britischen Staatsphilosophen
zur Zeit der Aufklärung, das folgenden Wortlaut hat:
Edmund Burke:
Ein Volk gibt niemals seine Freiheit auf, außer in irgendeiner
Verblendung.
Edmund
Burke
10 Quellen
TOP
Endnote_01 Die Biophysik ist eine interdisziplinäre
Wissenschaft, die darum bemüht ist, die Gesetze und Methoden der
Physik in biologischen Systemen und Prozessen zu untersuchen und
zu beschreiben. Zurück
Endnote_02 Ulrich Gausmann.
The great Weset. Wirtschaft und Finanzen neu gedacht.
Assel-Verlag München 2023, Seite 41 Zurück
Endnote_03
Josef Pieper. Schriften zur philosophischen Anthropologie und
Ethik. Das Menschenbild der Tugendlehre. Traktat über die
Klugheit. Meiner Verlag 2. Auflage 2006
Zurück
Endnote_04 Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter
Steinmeier beim 27. Wissenschaftlichen Kongress der Deutschen
Vereinigung für Politikwissenschaft am 26. September 2018 in
Frankfurt am Main.
https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/
Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2018/09/
180926-DPVW-Kongress-Frankfurt.html Zurück
Endnote_05
FAZ.de vom 26.4.2024: Steinmeier spricht sich gegen
Volksabstimmungen auf Bundesebene aus.
https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/steinmeier-
gegen-volksabstimmungen-auf-bundesebene-15561953.html
Zurück
Endnote_06 Zitiert nach: Larken Rose. Der Nutzmensch.
Selbstverlag 2021, Seite 19 Zurück
Endnote_07 Ebd.
Larken Rose, Seite 90 Zurück
Endnote_08 Paul
Schreyer. Die Angst der Eliten. Wer fürchtet die Demokratie?
Westend-Verlag 5. Auflage 2021, Seite 65
Zurück
Endnote_09 Otmar Jung. Direkte Demokratie in der Weimarer
Republik. Campus Verlag 1989, Seite 61 – Quelle:
Zulassungsverordnung zum Volksentscheid
Zurück
Endnote_10 Ebd. Paul Schreier, Seite 66
Zurück
Endnote_11 Deutscher Bauernverband. Pressemitteilung.
Aktionswoche in ganz Deutschland.
https://www.bauernverband.de/presse-medien/pressemitteilungen/
pressemitteilung/landwirtschaft-und-transportgewerbe-
demonstrieren-gemeinsam-ab-8-januar Zurück
Endnote_12
Horkheimer/Adorno. Dialektik der Aufklärung
Zurück
Endnote_13 FAZ.de vom 30. 10.2023: Pistorius: „Wir müssen
kriegstüchtig werden“.
https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/zivilgesellschaft-
muss-laut-pistorius-umdenken-wir-muessen-
kriegstuechtig-werden-19277739.html Zurück
Endnote_14
Vgl. Jonas Tögel: Kognitive Kriegsführung: Neueste
Manipulationstechniken als Waffengattung der NATO,
Westend-Verlag 2023, Einleitung Zurück
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