Vom Wachsen und Werden der
offenen Gesellschaft
Inhaltsverzeichnis:
01.0 Der Staat, das sind
wir 02.0 Der Staatsapparat 03.0
Die Software einer offenen
Gesellschaft 04.0 Die Software vergangener Zeiten 05.0
Griechische Staatsphilosophie
05.1 Heraklit (520 - um 480 v.
Chr.)
05.2 Protagoras (490 bis 411 v.
Chr.)
05.3
Anything goes
- Paul Feyerabend - 2020 05.4
Platon (428/427
bis 348/347 v. Chr.) 05.5 Freiheitsbegriff der christlichen
Ethik 06.0 Die Stimme des Volkes 06.1
Georg Boas –
Vox-populi-Studie 06.2 Ortega y Gasset - Aufstand der Massen
06.3 Kollektives Wissen 06.4
Die Bienendemokratie 06.5
Individuelles und kollektives Gedächtnis 07.0
Zusammenfassung
und Ausblick 08.0 Quellen
01.0
Der Staat, das sind wir
TOP
Kein Staat kann sich auf
Dauer dem Willen des Volkes entziehen. Das gilt auch für den
demokratischen Rechtsstaat. Auch diese Staatsform kann im Rahmen
des menschlich Möglichen nur dann gegründet, erhalten und vor
dem Verfall bewahrt werden, wenn er nicht nur den Erwartungen
des Volkes entspricht, sondern auch von dazu befugten Stellen
gepflegt, gesichert, bewacht und natürlich bei Bedarf auch
instandgesetzt bzw. an die sich ändernden Lebensgewohnheiten
angepasst wird, weil alles Lebendige, was auch bei einer
Gesellschaft wohl unstrittigerweise der Fall sein dürfte, dem Wandel und der Veränderung unterliegt.
Das gilt natürlich auch
für das Regelwerk, das sozusagen als verpflichtende Leitlinie
einer solchen Gesellschaft den Ordnungsrahmen vorgibt. Diesen
Ordnungsrahmen hat, so lange er nicht modifiziert wird, jeder einzuhalten, der in dieser Gesellschaft
leben möchte. Wem das nicht behagt, weil ihm oder ihr die
Gesetze nicht gefallen, dem ist es in einer offenen Gesellschaft
natürlich möglich, sich eine andere Gesellschaft auszusuchen, in
der andere Regeln gelten.
In geschlossenen Gesellschaften wird
sie oder er - im Gegensatz zu den Gepflogenheiten in offenen
Gesellschaften - dazu gezwungen, sich akribisch an die Regeln zu
halten, weil ihm sonst Böses widerfährt.
Natürlich kann auch eine
offene Gesellschaft nur dann von dauerhaftem Bestand sein, wenn
die dort
geltende Regeln eingehalten werden. Eingriffe in die Rechte von
Personen setzen aber voraus, dass die nicht nur gesetzlich
zugelassen, sondern auch verhältnismäßig sind.
Bedauerlicherweise
leidet die offene Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland
schon seit Jahren daran, die im Inland geltenden Regeln nicht
mehr mit der gebotenen Gründlichkeit durchsetzen zu können, die
zum Schutz dieser Gesellschaft einzuhalten sind, wie das zum
Beispiel in so genannten rechtsfreien Räumen der Fall ist, die
sogar von der Polizei im Einsatzfall nur mit der dafür
erforderlichen Einsatzstärke betreten werden.
02.0
Der Staatsapparat
TOP
Zuerst einmal gilt es
herauszuarbeiten, in welch einem Rahmen offene Gesellschaften
überhaupt denkbar sind.
Bei diesem Rahmen hat Louis Althusser (1918
bis 1990), dem wohl bedeutendsten marxistischen Philosophen des
20. Jahrhunderts, der marxistischen Tradition folgend, als einen
repressiven Staatsapparat, also als eine Unterdrückungsmaschine
der herrschenden Klasse beschrieben hat, die nur funktionieren
kann, wenn Polizei, Gerichte, Gefängnisse, die Armee und
natürlich auch der Staatschef, die Regierung und die Verwaltung,
kurzum der gesamte funktionale Rahmen - bestehend aus
staatlichen Organen, Behörden und Institutionen – den Staat
durch ihre repressive Ausführungs- und Interventionsmacht zu
erhalten vermögen, was im Konfliktfall auch immer die Anwendung
von Gewalt voraussetzt.
Im Gegensatz zu diesen
technisch funktionalen Anforderungen, die einen Staat ausmachen,
bezeichnet Althusser den „ideologischen Staatsapparat“ als ein
Vorhandensein von religiösen, schulischen, familiären,
politischen, medialen, kulturellen zivilgesellschaftlichen und
teilweise auch juristischen und politischen Institutionen. Diese
Funktionalitäten dienen dazu, den regressiven Staatsapparat zu
legitimieren und ihn natürlich auch im Rahmen geltenden Rechts
die Hoheitsbefugnisse einzuräumen, die der Staat benötigt, den
von ihr gewünschten
„ideologischen Staatsapparat“ Wirklichkeit werden zu lassen [En01].
Anders ausgedrückt: Bei
dem ideologischen Staatsapparat handelt es sich sozusagen um die
Software des technisch funktionalen Staatsapparates, die, je
nach vorgenommenen Upgrade, mal so und auch mal anders
funktionierten kann.
03.0
Die Software einer offenen Gesellschaft
TOP
Die magischen Kräfte
einer offenen Gesellschaft bestehen darin, die kritischen
Fähigkeiten des Menschen so ausleben lassen zu können, dass auf
der Grundlage des Verständnisses miteinander konkurrierender
Ideen Kompromisse gefunden, und die miteinander im Wettbewerb
sich befindlichen Ideen friedlich gelöst werden können.
Eine
offene Gesellschaft ist dennoch gut beraten, anzunehmen, dass
die Demokratie keine dauernde Einrichtung bleiben muss, denn die
Geschichte lehrt uns, dass Regierungsformen kommen und gehen.
Gleiches gilt natürlich auch für den Glauben an die menschliche
Vernunft innerhalb der Staatsform der Demokratie, denn gerade
diese Staatsform ist es, die ihre Gegner sozusagen dazu
auffordert, den Aufstand gegen die jeweils bestehende
Zivilisation zu unterstützen.
04.0
Die Software vergangener Zeiten
TOP
Die Vorstellungen über
den Sinn und den Zweck von Staaten verfügen über eine lange
Geschichte. Nach neuesten Erkenntnissen hat es bereits vor sehr
langer Zeit an unterschiedlichen Stellen auf der Erde
Gesellschaften gegeben, die in großen Städten zusammenlebten,
ohne dafür die funktionalen Elemente eines Staates zu benötigen.
In diesen Gesellschaften gab es keine herrschende Klasse,
sondern in ihr lebten Menschen, die sich selbst verwalteten.
Solche Gesellschaften hat es sowohl im heutigen Irak, in China,
in der Ukraine und auch in Nordamerika gegeben. Es würde zu weit
führen, solche Staaten, die sicherlich demokratischer waren als
die Demokratien von heute, hier näher zu skizzieren.
Festzustellen ist aber, dass in diesen „Staaten“ allein das Volk über die Geschicke der Stadt
entschied, dann jedoch für
lange Zeit in Vergessenheit gerieten, weil sie von
Staatssystemen abgelöst wurden, die
sich als Zwangssysteme verstanden.
Wer sich für diese „Neue
Geschichte der Menschheit“ interessiert, wird erstaunt sein, wie
viel auch der moderne Mensch von heute von längst vergangenen
Kulturen noch lernen könnte, insbesondere im Hinblick auf: Selbstverantwortung,
persönliche Freiheit, Gleichheit und Zusammenhaltsgefühl.
Anzumerken ist noch, dass diese Kulturen über Jahrhunderte
Bestand hatten, länger als das bei der Geschichte der Demokratie
der Fall gewesen ist, deren Anfänge bekanntermaßen im antiken
Griechenland zu finden sind, dann lange Zeit in Vergessehheit
gerieten, um dann erst im ausgehenden 18. Jahrhundert sozusagen
ihre
Renaissance zu erleben.
05.0
Griechische Staatsphilosophie
TOP
Vorstellungen darüber, was ein Staat ist, bzw. zu sein hat, wurden bereits Jahrhunderte vor
unserer Zeitrechnung von den Philosophen im antiken Griechenland
durchdacht, analysiert und gelehrt. Es würde zu weit führen, an
dieser Stelle näher darauf einzugehen. Um das Thema eingrenzen
zu können, werden deshalb nur solche Sichtweisen vorgestellt,
die auch heute noch in den Köpfen moderner Menschen existent
sind und folglich nicht hinweggedacht werden können, wenn es
darum geht, die Kraft von Denkgewohnheiten darzustellen, die
mehr als bloße Lebensweisheiten sind.
Beginnen möchte ich mit
dem Weltbild des Heraklit, das von einem „Geschichtsbild“ des
steten Wandels gekennzeichnet ist, auf das Menschen nur einen
geringen Einfluss haben.
05.1 Heraklit (520 - um 480 v.
Chr.)
TOP
Heraklit (520 bis 480 v.
Chr.)
lehrte,
dass die Welt nicht als ein Bauwerk, sondern als ein Prozess,
also als die Gesamtheit aller Ereignisse, Veränderungen und
Tatsachen anzusehen ist. „Alles ist in Fluss und nichts ist in
Ruhe“, das ist der Leitspruch seiner Philosophie. Dennoch war
Heraklit kein Demokrat, denn er lehrte auch, dass Gesetz auch
das sein kann, sich dem Willen eines Mannes zu unterwerfen, auch
wenn ein anderer seiner Lehrsätze lautet: „Für die Gesetze der
Stadt soll ein Volk kämpfen, wie für ihre Mauern.“ In diese
Denkweise passt auch seine nachfolgend aufgelisteten
Vorstellungen, dass:
-
Gegensätze zueinander
passen (Krieg zu
Frieden)
-
Aus Disharmonie im Lauf
der Zeit Harmonie entsteht
-
Alles auf dem Weg des
Streites zu lösen ist
-
Der Weg abwärts der
gleiche ist wie der Weg aufwärts
-
Das Gute und das Böse
dasselbe sind.
Kurzum: Heraklits Lehre
vermittelt die Vorstellung eines Dahintreibens im Dunklen,
verbunden mit dem Prozess des Auflösens bestehender
Lebensformen, aus denen dann - bis zum Ende aller Zeiten –
sozusagen Neues entsteht.
Zum Gottesbild des
Heraklit ist anzumerken, dass es sich bei dem Gott des Heraklit
um ein abstraktes Wesen handelte, das über eine unbeschränkte
Macht verfügt, denn das Göttliche „herrscht, soviel
es nur will“. Dieses Göttliche
ist charakterisiert durch Erkenntnis, Handlungsfähigkeit, Willen
und Durchsetzungskraft. Insoweit trägt dieses
Göttliche
durchaus personale Züge.
Diesbezüglich heißt es
in einem Buch von Heirnich Reinhardt über die Götterwelt des
Heraklit wie folgt:
Heinrich Reinhardt: Selbst
der weiseste Mensch muss vor Gott wie ein Affe erscheinen“, und
zwar durch und durch: „an Weisheit, Schönheit und allem
übrigen“. Gott ist und bleibt vom Menschen her unberührbar,
insofern also „transzendent“; aber etwas in ihm ist mit dem
Menschen vergleichbar [En02].
Und im Hinblick auf die
Götterwelt im antiken Griechenland heißt es in den Fragmenten
des Heraklit, die Götterwelt der Griechen hinterfragend, wie folgt:
Heinrich Reinhardt: Diese
Welt hier […] hat keiner der Götter und keiner der Menschen
geschaffen“. Die Göttergestalten der griechischen Mythologie mit
ihren jeweils beschränkten Eingriffsmöglichkeiten in die Welt
(und erst recht natürlich die Menschen, wie sie sind mit ihren
Fehlern und Dummheiten) sind in Heraklits Augen viel zu klein,
um eine ganze, reich differenzierte Welt schaffen zu können
[En03].
Und was die
Möglichkeiten des Menschen anbelangt, Zugang sowohl zur Wahrheit
als auch zur Zukunft sich verschaffen zu können, umgibt uns
Menschen, ganz im Sinne von Heraklit, sozusagen eine Dunkelheit,
die an eine gewisse Blindheit unseres Denkens und Wahrnehmens,
sozusagen an eine Ohnmacht, eine Geistesverwirrung, sogar an ein
Todesdunkel erinnert, was den Menschen sozusagen mit einem
Schicksal konfrontiert, das die Götter für uns vorsehen.
Irgendwie erinnern
zumindest mich diese Vorstellungen an den Satz christlichen
Selbstverständnisses, der da lautet: Der Mensch denkt, Gott
lenkt.
Auf jeden Fall lässt sich dieses Weltbild nicht mit dem Weltbild
der Technik von heute vereinbaren, dass - fast schon an
religiösen Glauben erinnernd - davon ausgeht, dass es für alles
eine Technische Lösung gibt, heute, morgen und auch in der
Zukunft.
05.2 Protagoras
(490 bis 411 v. Chr.)
TOP
Während bei Protagoras
der Mensch das Maß aller Dinge ist, nimmt diese Funktion bei
Platon Gott.
Während Platon das Bild
eines Menschen entwarf, der, sich in einer Höhle befindend,
lediglich Schatten an den Wänden wahrnehmen konnten, bei denen
es sich um Trugbilder handelte, befinden sich die Menschen des
Protagoras sozusagen in der Höhle und wollen auch gar nicht aus
ihr heraus, weil es außerhalb dieser Höhle schlichtweg nichts
gibt, was für sie von Interesse sein könnte.
Anders
ausgedrückt: Protagoras lehrte, dass man nichts über die Götter
weiß und folglich auch nichts über die Götter wissen muss.
Florian Roth:
Eigentlich, so die Sichtweise von Protagoras, hat jeder seine
eigene Höhle mit seinen eigenen Trugbildern – mit denen man aber
prima leben kann! (Die moderne Hirnforschung sagt uns: Jedes
Hirn hat seine eigene Welt, die es aus dem Chaos der
Sinneswahrnehmungen, aus recht dünnem Datenmaterial durch
Modelle, Vergleiche, Konstruktionen etc. sich schafft.)
Bei
Protagoras und den Sophisten wird Wissen gleichsam
demokratisiert. Wissen ist nicht Geheimnis der Mächtigen
und/oder der Weisen. Nein, es ist lehrbar [...]. Protagoras
zeigt auch, dass alles zwei Seiten hat. Und die Anerkennung
dieses Tatbestandes ist vielleicht die Voraussetzung von
Offenheit, Toleranz, von Akzeptanz und Anerkennung des Anderen
in seiner Meinung
[En04].
Anders ausgedrückt:
Protagoras Denken wandte sich gegen jegliche Form von
Einheitsdenken. In der Sprache von heute ließe sich das auch wie
folgt ausdrücken:
Protagoras trat sozusagen für die „Pluralität
des anything goes“ ein.
05.3 Anything goes - Paul Feyerabend - 2020
TOP
In
Anlehnung an Paul Feyerabend ist in einer offenen Gesellschaft
sozusagen alle möglich. Dennoch seien, so Feyerabend, die in einer offenen
Gesellschaft vorhandenen vielfältigen Kulturen und Identitäten
in ihrer Existenz bedroht, bedingt durch die unheilige Allianz
von Demokratie, Kapitalismus und Rationalismus. Aus diesem
Grunde fordert Paul Feyerabend nicht nur eine strikte Trennung
von Kirche und Staat, sondern auch „die Trennung von
Wissenschaft und Staat“.
Das, was
dem Staat obliegt, ist, den demokratischen Relativismus nicht
nur zu ermöglichen, sondern ihn auch nicht zu behindern, soweit
diese Vielheit sich im Rahmen der Grundordnung hält, die von
allen eingehalten werden muss, um diese Vielfalt überhaupt zu
ermöglichen.
Die
Frage, von welchen Maßstäben in einer offenen Gesellschaft
lebenden Menschen dominiert werden, beantwortet Feyerabend wie
folgt:
In einer
freien Gesellschaft verwendet der Bürger die Maßstäbe der
Tradition, der er angehört. Anders ausgedrückt: In einer offenen
Gesellschaft haben die Menschen das Recht, so zu leben, wie es ihnen passt.
Anders
ausgedrückt:
Paul Feyerabend:
Man gibt im Allgemeinen zu, dass eine demokratische Gesellschaft
nicht den Institutionen überlassen werden darf, die sie enthält;
sie muss diese Institutionen überwachen und kontrollieren. Die
Bürger und Gruppen von Bürgern, die die Kontrolle ausüben,
müssen ständig die Errungenschaften und die Auswirkungen der
mächtigsten Institutionen untersuchen, beurteilen und, wenn
nötig, korrigieren
[En05].
An
anderer Stelle heißt es:
In einer
freien Gesellschaft liegt das private sowie das öffentliche
Leben in den Händen der Bürger und nicht in den Händen von
Spezialisten. Spezialisten, Philosophen eingeschlossen, können
natürlich befragt werden, man studiert ihre Vorschläge, aber man
überlegt sich genau, ob diese Vorschläge und die sie leitenden
Regeln und Maßstäbe erwünscht und brauchbar sind
[En06].
Daraus
leitet Paul Feyerabend Folgendes ab:
Im Leben
entscheidet eben
der Wettstreit
vieler Werte, nicht ein einzelner Wert – und dieser Wettstreit
ist
immer das Ergebnis (individueller und damit auch kollektiver)
Entschlüsse. Damit werden Traditionen zu Grundelementen der
Gesellschaft
[En07].
Wie
dieser Wettstreit unterschiedlichster politischer Anschauungen,
die in einer offenen Gesellschaft miteinander konkurrieren,
ausgetragen wird, ist für den Bestand einer offenen Gesellschaft
von existenzieller Bedeutung, denn Denkgewohnheiten, die
verboten werden, weil „einem nichts besseres einfällt, oder sie
einem nicht behagen“ zerstören
nämlich das, was erhalten bleiben soll: der freie Mensch und
dessen Würde.
Dazu gehört unbestreitbar, dass in einer freien
Gesellschaft davon auszugehen ist, dass der jeweils
entscheidende und handelnde Bürger die Maßstäbe anwenden wird,
die seiner Tradition entsprechen, denn Traditionen sind äußerst
wirkmächtig. Sie prägen nicht nur die Identität von
Einzelpersonen, sie prägen auch das Verständnis von
Menschen, die – ihrer Tradition entsprechend – ihr
gesellschaftliches Leben führen wollen, und das sieht in einem
Gottesstaat bekanntermaßen völlig anders aus, als das in der offenen
Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland der Fall ist.
Traditionen wirken aber nicht nur im religiösen Bereich.
Gleichermaßen wirkmächtig können auch politische Traditionen
sein.
05.4
Platon
(428/427 bis 348/347 v. Chr.)
TOP
Genauso wie Heraklit fühlte
auch Platon, dass in der Geschichte Kräfte am Werk sind, die ein
kosmisches Ausmaß haben. Platon ging davon aus, dass
jegliche von Menschen vorgenommene soziale Veränderung zur
Verderbnis, zum Verfall bzw. zur Degeneration führen werde.
Lediglich in einem idealen Staat, der von einem Philosophen
geführt würde, und der folglich so gut sei, dass in ihm keine
Veränderungen mehr erforderlich sein würden, wären die oben
genannten negativen Veränderungen nicht zu erwarten. Das sei
aber in Staaten unvermeidbar, in denen „normale“ Menschen zu entscheiden
hätten. Trotzdem glaubte Platon auch daran, dass es Menschen
unter Aufbietung all ihrer Kräfte dennoch dazu in der Lage sind, wie
Karl R. Popper das ausdrückt, „den verhängnisvollen historischen Ablauf
zu durchbrechen und dem Verfallsprozess ein Ende zu bereiten."
Karl
R. Popper:
Platon glaubte, das Gesetz des historischen Schicksals, des
Verfalls, durch den von der Macht des Verstandes unterstützten
moralischen Willen des Menschen durchbrochen werden könnten.
[...]. Wie dem auch sei, Platon glaubte sicher an beides – an
eine allgemeine historische Tendenz zum Verfall, wie auch an die
Möglichkeit, dass wir den weiteren Verfall auf dem Gebiet der
Politik vermeiden können, wenn wir nur der politischen
Veränderung Einhalt gebieten. [...]. Er versuchte [dieses Ziel]
durch die Gründung eines Staates zu verwirklichen, der nicht
verfällt, der sich nicht verändert, und der eben deshalb von
allen Übeln aller anderen Staaten frei ist. Der Staat, der frei
ist von den Übeln der Veränderung und des
Verfallls,
ist der beste, der vollkommene Staat. Er ist der Staat des
Goldenen Zeitalters, das keine Veränderung kannte. Er ist der
zum Stillstand gebrachte, der versteinerte Staat
[En08].
Kurzum:
Platon wünschte sich alles andere, bloß keine offene
Gesellschaft, denn die setzt ja einen sich ständig verändernden
Staat voraus. Und da es in seiner Welt den idealen Staat nicht
gab, nahm er im Hinblick auf die Qualität möglicher Staatsformen
folgende Abstufung vor.
-
Aristokratie
-
Oligarchie
-
Demokratie
-
Tyrannei.
Als ein
Demokratiefreund kann Platon wirklich nicht bezeichnet werden.
Im Gegenteil: Die Demokratie war ihm ein Gräuel, denn sie führte
zwangsläufig in die Tyrannei.
Karl
R. Popper:
Statt dessen benutzte er Schmähungen, identifiziert die Freiheit
[der Demokratie] mit der Gesetzlosigkeit, die persönliche
Freiheit mit Zügellosigkeit und die Gleichheit vor dem Gesetz
mit der Unordnung. Die Demokraten werden als liederlich, geizig,
unverschämt, gesetzlos, schamlos, als wilde und schreckliche
Raubtiere hingestellt, die jeder Laune folgen und die nur dem
Vergnügen sowie unnötigen und unreinen Wünschen leben. Sie
füllen sich den Wanst wie das Vieh – so hat sich Heraklit
ausgedrückt [En09].
Nun muss
man wissen, dass auch Platon nicht nur ein „Kind seiner Zeit“,
sondern auch einer aristokratischen Familie angehörte. Insoweit
gilt auch für Platon wie für die meisten von uns der Satz, dass
wir eine starke Neigung dazu haben, die Besonderheiten unserer
sozialen Umgebung nicht nur hinzunehmen, sondern sie sozusagen
als naturgegebene Selbstverständlichkeiten anzuerkennen.
Für
Platon war es somit unvorstellbar, an die Klugheit des Volkes zu
glauben, denn um klug zu sein, bedurfte es nicht nur einer aristokratischen Abstammung,
sondern auch
einer umfassenden Bildung, die nur diesem Kreis von Auserwählten
zukommen würde, die er in seinem Weltbild als Herrenrasse, also
„zur Herrschaft bestimmt“, wahrnahm.
Platon
und der Faschismus: Auch wenn der Faschismus als eine politische
Macht erst im 20. Jahrhundert in Italien entstand, entsprechen
Platons Vorstellungen vom Herrenmenschen durchaus den
Vorstellungen, die sowohl von Benito Mussolini als auch von
Adolf Hitler gedacht und gelebt wurden.
Karl
R. Popper:
Die Geschichte, ausgehend vom ersten vollkommenen Staat [so wie
ihn Platon sich vorstellte] ist nichts anderes, als die
Geschichte der biologischen Degeneration der Menschenrasse.
[...]. Denn die Entartung der Rassen erklärt den Ursprung der
Zwietracht innerhalb der herrschenden Klasse und damit den
Ursprung aller historischen Entwicklung. [...]. Platons
idealistischer Historizismus ruht also, wie wir sehen, letztlich
nicht auf einer geistigen, sondern auf einer biologischen Basis;
er beruht auf einer Art Metabiologie der Rasse der Menschen.
Platon war nicht nur ein Naturalist mit einer biologischen
Staatstheorie. Er war auch der erste Vertreter einer
biologischen Rassentheorie der Sozialdynamik und der politischen
Geschichte [En10].
In dem Staatsmodell, das
Platon in seiner
Politeia
entwirft, erkannte Karl R. Popper sozusagen das
Urmuster
des totalitären Denkens schlechthin, insoweit ist Poppers
Angriff auf Platon gewaltig.
Seine
Platonanalyse lautet:
Platon war Rassist, der Konzentrationslager und Rassentrennung
vorgeschlagen, das Führerprinzip begründet und die Lüge zum
Staatsprinzip erhoben habe. Darüber hinausgehend habe Platon die
Liquidierung unerwünschter Elemente aus der Gesellschaft
befürwortet und mit eugenischer Akribie die Züchtung einer neuen
Herrenrasse befürwortet.
Wie
dem auch immer sei:
Poppers Totalitarismusvorwurf wurde in der Literatur mehrfach
intensiver diskutiert, mit zu erwartenden unterschiedlichen
Ergebnissen. Grund dafür ist, dass bei der Analyse von Platons
Werken die Denkweise des Analysierenden nicht hinweggedacht
werden kann, denn im Gesamtwerk von Platon lässt sich alles
finden, was der Analysende für seine Expertise benötigt.
Hinweis:
Unbestreitbar dürfte sein, dass Platons Werk einen
tiefgreifenden Einfluss auf das Denken in den Zeiten ausübte,
die nach ihm kamen. Gleiches gilt natürlich auch für
Aristoteles, dem bekanntesten Schüler von Platon. Die
Denkgewohnheiten dieser großen Geister der griechischen Antike
sind so nachhaltig, dass sie auch heute noch wirken. Und wer im
christlichen Glauben nach platonischen und aristotelischen
Werten Ausschau hält, der wird sie dort finden.
Kurzum: Diese Denktraditionen
lassen sich heute durch auch
wokes
Denken nicht beseitigen. Im Gegenteil: Je „woker“ der Zeitgeist,
umso stärker werden diese traditionellen Denkmuster.
05.5 Freiheitsbegriff der christlichen Ethik
TOP
Es
vergeht kaum eine politische Debatte, in der, bei der Suche nach
der Wahrheit, nicht auf die Wertegemeinschaft Bezug genommen wird,
die aus Europa das gemacht hat, was Europa heute ist.
Karl
R. Popper:
Wer die christliche Ethik der
Gleichheit, der Duldung und der Gewissensfreiheit nur deshalb
akzeptiert, weil sie beansprucht, auf göttlicher Autorität zu
beruhen, der baut auf schwachem Grund. Nur zu oft wurde
behauptet, dass die Ungleichheit gottgewollt sei, oder dass wir
mit den Ungläubigen keine Nachsicht üben dürfen. Wenn du jedoch
die christliche Ethik akzeptierst, nicht deshalb, weil es dir
befohlen wurde, sondern weil du überzeugt bist, dass diese
Entscheidung richtig ist, dann bist du es, der entschieden hat
[En11].
Wie
dem auch immer sei:
Zu den Grundprinzipien der christlichen Sozialethik gehört nun
einmal die Last der persönlichen Verantwortung, die einem
niemand abnehmen kann. Wir dürfen uns auch nicht vor ihr
drücken, obwohl wir das durchaus gern tun, denn wir sind es, die
sozusagen zur Entlastung der eigenen Verantwortung eine Autorität anerkennen, ganz gleich, um welche Autorität es
sich dabei auch handeln mag.
Anders ausgedrückt:
Wir widerstreben, uns einzugestehen, dass wir allein die
Verantwortung für unsere ethischen Entscheidungen tragen und
kein anderer uns von dieser Last befreien kann.
Mit
anderen Worten:
Jeder von uns ist verantwortlich dafür, welcher Partei er seine
Stimme gibt, welche politische Grundeinstellung für richtig
gehalten wird und was zum Beispiel nicht nur erforderlich,
sondern auch wünschenswert wäre, die „Migrationsfrage“
von heute sozialverträglich lösen zu können.
06.0 Die Stimme des Volkes
TOP
Schon im alten Rom hieß es:
Vox populi vox dei.
Übersetzt in die deutsche Sprache heißt das: Die Stimme des
Volkes ist die Stimme Gottes. Auch wenn es sich bei dieser
Weisheit um die Einsicht von Cäsaren handelte, die sich der
Macht des Volkes durchaus bewusst waren, wenn ihren Wünschen
nach „Brot und Spiele“ nicht erfüllt wurden, spricht nichts
dagegen, diese Einsicht auch auf das Wesen der politischen Elite in der bundesdeutschen Demokratie von heute
anzuwenden, denn wie sonst ist die Angst der so genannten
Volksparteien im Deutschland von heute zu erklären, die keine
Mühen und keinen Anlass scheuen, vor dem zunehmenden Einfluss
der AfD zu warnen, deren Mitglieder sie sozusagen zu Feinden
der Demokratie erklärt haben und von denen sich deshalb jeder
vernünftig denkende Mensch abzuwenden habe.
Anders
ausgedrückt:
Es scheinen im „Volk“ Kräfte zu walten, die in den Köpfen vieler
Menschen sozusagen zur gleichen Zeit wirken und die diese
Menschen dazu bewegt, sozusagen ihr „Heil“ in den Versprechungen
der AfD zu suchen, einer Partei, die verspricht, das bestehende
System zukunftstauglich machen zu wollen, was das auch immer
sei.
Kurzum:
Von demokratischen Bürgerinnen und Bürgern wird deshalb eingefordert,
sich von der Stimme des (verirrten) Volkes abzuwenden, die
Demagogen durch ihre Art der Agitation für sich gewinnen wollen.
Diese Sicht der Dinge verkennt aber, dass es nicht nur die
Demagogen, sondern auch die für Populismus anfälligen Menschen
gibt, denn wenn es die nicht gäbe,
dann könnten Populisten so viel
reden und agieren wie sie wollen, denn ohne die Rezeptoren für
„einfache Lösungen anlässlich einer Vielzahl bestehender
Probleme“ in den menschlichen Gehirnen, wäre die AfD
bedeutungslos.
Mit anderen Worten: Auch heute
noch kann der Satz (Vox populi Vox dei) als eine existierende
Tatsache angesehen werden, denn die Geschichte hat gezeigt, dass
gegen den Willen des Volkes die Staatsmacht nicht dauerhaft
erhalten bleiben kann. Das war bereits dem griechischen
Geschichtsschreiber Polybios (200 v. Chr. bis 120 v. Chr.)
bekannt.
Diesbezüglich heißt bei Mary Beard wie folgt:
Mary
Beard:
Neben den formalen Vorrechten des Volkes, wie Polybios betonte,
finden wir [im antiken Rom] klare Indizien für eine
weitverbreitete politische Kultur, in der des Volkes Stimme ein
wichtiges Element darstellte. [...]. Die Armen zu ignorieren
oder zu demütigen, das war riskant. Ein typisches Merkmal der
politischen Landschaft während der römischen Republik waren die
halboffiziellen Veranstaltungen, die häufig unmittelbar vor den
Wahlversammlungen stattfanden. Wie oft sie stattfanden und wie
gut sie besucht waren, wissen wir nicht genau. Es gibt jedoch
einige Hinweise auf hitzige politische Debatten,
Begeisterungsstürme und einen hohen Lärmpegel.
An
anderer Stelle heißt es:
Der Erfolg der Reichen war,
wie der junge Scipio Nasica scherzhaft erfahren musste, ein
Geschenk der Armen. Daher mussten die Vermögenden lernen, dass
sie vom Volk als Ganzem abhängig waren
[En12].
Die
Zeiten ändern sich, nicht aber die Kraft der Stimme des Volkes,
auch wenn sie heute nicht mehr, wie das noch im antiken Rom der
Fall gewesen ist, anlässlich von Volksabstimmungen und
Volksversammlungen wahrgenommen wurde, sondern sich heute mehr oder
weniger auf Wahlakte begrenzt, die dem Volk nach Ablauf von
Legislaturperioden erneut die Möglichkeit geben, ihrem Willen
Geltung zu verschaffen.
Die
lateinische Sentenz vox populi vox Dei (wörtlich: ‚Volkes Stimme
[ist] Gottes Stimme‘) bedeutet somit heute wohl eher „die
öffentliche Meinung hat großes Gewicht“, woraus sich ableiten
lässt, dass heute jede Partei, jede Bewegung, jede Gruppe und
sogar jedes Individuum den Anspruch darauf erheben kann, mit
Volkes Stimme zu reden.
Und wenn
dann im Rahmen von Politbarometern und von Wählerbefragungen
Ergebnisse generiert werden, die zeigen, dass der Zulauf zur AfD
bisher nicht gestoppt werden konnte, dann nimmt der Druck im Kessel derjenigen
Parteien zu, von denen sich sozusagen die enttäuschten
Wählerinnen und Wähler abwenden.
Die Folge davon ist, dass zum
Erhalt der Macht im Staate alles getan wird, um den Zuwachs zu
den Systemveränderern am besten zu kriminalisieren, was aber
eher ein Zeichen der Schwäche und weniger ein Zeichen von Stärke
ist, denn eine wehrhafte Demokratie lässt sich am besten dadurch
verteidigen, indem überzeugende und mehrheitsfähige Lösungen für
nicht hinwegzuredende Krisen gefunden und umgesetzt werden.
06.1 Georg Boas –
Vox-populi-Studie
TOP
Bereits
1969 hat der US-amerikanische Historiker George Boas eine Studie
veröffentlicht, in der er nachweist, dass die Stimme des Volkes
in zweifacher Hinsicht wirkt.
Einerseits fungiert das Volk als ein Ausgangspunkt, sozusagen
als ein Nullpunkt des gesellschaftlichen Zusammenlebens und
andererseits versteht er die Stimme des Volkes als einen
imaginären Akteur des ästhetischen, politischen und
künstlerischen Prozesses innerhalb von Gesellschaften.
George
Boas wies nach, dass „das Volk“ keine leicht zu identifizierende
Gruppe ist, denn das Volk war viele Jahrhunderte lang kaum mehr als
die Zielscheibe von Witzen. Erinnert sei hier nur an einen
Zwischenruf von Franz Josef Strauß im Deutschen Bundestag, der
sozusagen zum geflügelten Wort wurde.
Suedkurier.de
2016:
„Vox Populi, Vox Rindvieh“. Lang ist’s her, dass ein Politiker
so etwas Abschätziges über seine Wähler sagen konnte, ohne an
Popularität einzubüßen. Es war – Ironie der Geschichte – die
Zeit, als demokratisch gewählte Abgeordnete und
Regierende
noch hohe Reputation in der Bevölkerung besaßen. Denn die Bürger
waren doch meist sehr einverstanden mit der Vertretung durch die
von ihnen Gewählten
[En13].
Heute
ist das nicht mehr der Fall, denn das Vertrauen der Bevölkerung
in die Kompetenz der von ihnen gewählten politischen Elite kann
kaum noch tiefer sinken, was den Ergebnissen einer Umfrage im
Hinblick auf das Vertrauen in die politischen Parteien entnommen
werden kann.
Statista.com
vom 19.1.2024:
Laut dem
Standard Eurobarometer
der Europäischen Kommission
hatten im Frühjahr 2023 rund 27 Prozent der Bevölkerung
Vertrauen in die politischen Parteien in Deutschland.
Währenddessen äußerten rund 69 Prozent, dass sie den politischen
Parteien eher nicht vertrauen. Damit befindet sich das Vertrauen
gegenüber den politischen Parteien auf einem Tiefpunkt
[En14].
Wie dem auch immer sei: Der
Ursprung dieses geflügelten Wortes stammt wohl aus
Hesoids
(740 bis 670 v. Chr.) „Werke und Tage“, und zwar in der
Bedeutung: „Nie wird ganz ein Gerücht sich verlieren, das
vielerlei Volk häufig im Munde geführt, denn ein Gott ist auch
das Gerücht selbst.“
Im Gegensatz dazu vertrat
Alkuin (735 bis 804), der Lehrer Karls des
Großen,
folgenden Standpunkt zur Stimme des Volkes.
Alkuin:
Auf diejenigen muss man nicht
hören, die zu sagen pflegen: Volkes Stimme, Gottes Stimme, da
die Lärmsucht des Pöbels immer dem Wahnsinn sehr nahekommt
[En15].
Heute bildet die Sprachfigur „Vox populi, vox Dei“
sozusagen die Grundlage des modernen Demokratieverständnisses,
denn es wird heute wohl niemand bezweifeln, dass das
Ergebnis einer Wahl in seiner Gesamtheit als Niederschlag der
Stimme des Volkes anzusehen ist.
06.2 Ortega y Gasset – Aufstand der Massen
TOP
Dennoch
ist es sinnvoll, in diesem Sachzusammenhang gesehen auch Ortega
y Gasset (1883 bis 1955) kurz zu Wort kommen zu lassen:
Aufstand der Massen:
Der Massenmensch hätte niemals
an etwas außerhalb seiner selbst appelliert, wenn ihn die Umstände
nicht mit Gewalt dazu gezwungen hätten. Da die Umstände ihn
heute nicht zwingen, verzichtet er, in Einklang mit seiner
Anlage, auf jede Befragung und fühlt sich als Herr seines
Lebens.
An
anderer Stelle heißt es:
Ich weiß, dass manche, die
mich lesen, anders denken als ich. Auch das ist sehr natürlich
und bestätigt die Theorie. Denn würde sich meine Ansicht am Ende
selbst als irrig erweisen, so bleibt doch immer die Tatsache,
dass viele dieser
Andersmeiner
keine fünf Minuten über eine so verwickelte Frage nachgedacht
haben. Wie sollten sie also mit mir übereinstimmen? Aber indem
sie sich eine Meinung über einen Gegenstand anmaßen, ohne dass
sie sich vorher die Mühe genommen hätten, sich eine zu bilden,
verraten sie ihre Zugehörigkeit zu jener absonderlichen Spielart
von Menschen, die ich die aufständische Masse nannte. Genau das
meinte ich, wenn ich von verstockten, verrammelten Seelen
sprach. In diesem Fall würde es sich um intellektuelle
Verstocktheit handeln. Der Mensch hat einen gewissen Ideenvorrat
in sich; er findet, es sei daran genug und er geistig vollkommen
ausgestattet. Da er nichts vermisst, was über seinen Horizont
geht, richtet er sich endgültig mit diesem Vorrat ein.
Das ist der Mechanismus der
Verstockung
[En16].
Daraus
schließt Ortega y Gasset Folgendes:
Anderssein ist unanständig.
06.3 Kollektives Wissen
TOP
Wer
ernsthaft daran zweifelt, dass es in einer Gesellschaft ein
kollektives Gedächtnis gibt, das sowohl als die Summe gemachter
geschichtlicher Erfahrungen, hier vorrangig zu verstehen als die
Summe von Traditionen und Denkgewohnheiten, die in
einer Gesellschaft vorherrschen, den vermögen auch die
Erkenntnisse der Genetikforschung nicht zu überzeugen, dass
sogar Charaktergewohnheiten vererbt werden, die, in Verbindung
mit frühkindlicher Erziehung, für einen Großteil des Verhaltens
von Menschen prägend sein werden. Dazu gehören natürlich auch
die Menschen, die über eine ausgeprägte Autoritätsaffinität
verfügen. Adorno spricht in diesem Zusammenhang von einem
angeborenen autoritären Charakter, der, so seine Analyse den
Faschismus und natürlich auch den Nazismus des 20. Jahrhunderts
ermöglichten. In seinem Buch "Studien zum autoritären Charakter"
heißt es auf Seite 12, Bezug nehmend auf die Frage: Warum lassen
sich Menschen so leicht täuschen?, wie folgt:
Theodor W. Adorno: Weil es, so ist anzunehmen,
ihrer Charakterstruktur entspricht; weil sie lange bestehende
Sehnsüchte und Erwartungen, Ängste und Unruhen die Menschen für
bestimmte Überzeugungen empfänglich und anderen gegenüber
resistent machen. Je größer das in der Masse des Volkes bereits
vorhandene antidemokratische Potential ist, um so leichteres
Spiel hat die faschistische Propaganda.
Wie
dem auch immer sei:
Man sollte mehr als eine
Handvoll Meinungen im Topf haben, um sich in die Komplexität des
Funktionierens einer offenen Gesellschaft auch nur annähernd
vorstellen zu können.
Nun gut,
eine Demokratie, bei der es sich ja bekanntermaßen um eine
offene Gesellschaft handeln muss, denn sonst wäre sie keine,
handelt es sich nicht um eine „Bienendemokratie“, die Thomas
Seeley nicht nur bis ins Detail beschrieben, sondern erfolgreich
im Rahmen seiner Studien an der Universität auch getestet hat.
06.4 Die Bienendemokratie
TOP
Thomas
D. Seeley beschreibt in seinem Buch „Bienendemokratie - Wie
Bienen kollektiv entscheiden und was wir davon lernen können“,
wie auch in einem von einer Königin angeführten Bienenvolk
intelligentes und kooperatives Verhalten für alle Bienen
sinnvoll ist.
In
seinen Studien stellte Thomas D. Seeley fest, dass es sich bei
einer Bienenkönigin keinesfalls um eine absolute Herrscherin
handelt, sondern im Gegenteil: Bienen alles gemeinsam als
Schwarm entscheiden, zum Beispiel auch den Ort ihres
Bienenstocks. Um den gemeinsam festzulegen, erforschen sie die
Umgebung, um letztendlich lebhaft darüber zu debattieren,
welcher Ort am geeignetsten erscheint. In der Einleitung seines
Buches heißt es unter anderem:
Thomas
D. Seeley:
Im Mittelpunkt des vorliegenden Buches steht das in meinen Augen
erstaunlichste Beispiel dafür, wie die vielen Bienen in einem
Bienenvolk ganz ähnlich wie die vielen Zellen eines Organismus
ohne Aufseher kooperieren und eine Funktionseinheit bilden,
deren Fähigkeiten weit über die ihrer Einzelteile hinausgehen
[En17].
Kurzum:
Honigbienen sind wahre Demokratinnen. Ihr Nistplatz, also ihr
Bienenstock, ist das Ergebnis eines komplexen, wahrhaft
demokratischen Prozesses, dem ein hoch entwickeltes Modell
zugrunde liegt, von dem Menschen eine Menge lernen könnten – von
systematischer Informationssuche bis hin zur
quasi-demokratischen Entscheidungsfindung.
06.5 Individuelles und kollektives Gedächtnis
TOP
Dass
Bienen über ein kollektives Gedächtnis verfügen müssen, liegt in
der Natur ihres instinktiven Handelns, das keine andere
Alternative zulässt, als der „Tradition“ blindlings zu folgen.
Über solch ein Gedächtnis verfügen Menschen schon seit langem
nicht mehr.
Dennoch existiert auch in menschlichen
Gesellschaften sowohl ein individuelles, als auch ein kollektives
Gedächtnis, das Maurice Halbwachs, ein französischer Soziologe
und Philosoph (1877 bis zu seinem Tod im März 1945 im KZ
Buchenwald) maßgeblich mitgeprägt hat.
Bezugnehmend auf Maurice
Halbwachs heißt es bei Jan Assmann wie folgt:
Jan
Assmann:
Die zentrale These, die Halbwachs in all seinen Werken
durchgehalten hat, ist die von der sozialen Bedingtheit des
Gedächtnisses. Er sieht vollkommen ab von der körperlichen, d.
h. neuronalen und hirnphysiologischen Basis des Gedächtnisses
und stellt stattdessen die sozialen Bezugsrahmen heraus, ohne
die kein individuelles Gedächtnis sich konstituieren und
erhalten könnte. „Es gibt kein mögliches Gedächtnis außerhalb
derjenigen Bezugsrahmen, deren sich die in der Gesellschaft
lebenden Menschen bedienen, um ihre Erinnerungen zu fisieren und
wiederzufinden“. Ein in völliger Einsamkeit aufwachsendes
Individuum – so seine allerdings nirgends in solcher
Deutlichkeit formulierten These – hätte kein Gedächtnis.
Gedächtnis wächst dem Menschen erst im Prozess seiner
Sozialisation zu. Es ist zwar immer nur der Einzelne, der ein
Gedächtnis hat, aber dieses Gedächtnis ist kollektiv geprägt.
Daher ist die Rede vom „kollektiven Gedächtnis“ nicht
metaphorisch zu verstehen. Zwar „haben“ Kollektive kein
Gedächtnis, aber sie bestimmen das Gedächtnis ihrer Glieder
[En18].
07.0 Zusammenfassung und Ausblick
TOP
Die
bisherigen Ausführungen dürften deutlich gemacht haben, dass
individuelle Verhaltensmerkmale einer Person sowohl genetisch
bedingt (Temperament, Charakter etc.) als auch durch Einflüsse
von außen nachhaltig geprägt werden. Durchaus vergleichbare
Prägungen lassen sich auch in Gesellschaften ausmachen, die sich
als offene Gesellschaften verstehen.
In
solchen Gesellschaften existieren politische Überzeugungen
unterschiedlichster Art, die – um das zu Sagende abzukürzen –
das gesamte Spektrum von links außen bis rechts außen umfassen.
Wie dem
auch immer sei: In Gesellschaften, in denen gemeinwohlorientierte
Politik gelebt wird, kann davon ausgegangen werden, dass die
bestimmenden politischen Kräfte der so genannten Mitte
angehören.
Erst gesellschaftliche Krisen
sorgen dafür, dass die durch Wohlstand verdrängten Kräfte sowohl
die von rechts als auch die von links, wieder an Bedeutung
gewinnen. In der Bundesrepublik Deutschland scheint es zurzeit
so zu sein, dass sich sozusagen die politischen Kräfte heute
wieder im
rechten Meinungsspektrum sozusagen im Aufwind befinden.
Um diese
Kräfte in ihre Schranken zu verweisen, wurde im Deutschen
Bundestag am Donnerstag, den 16. März 2023, der Gesetzentwurf
der Bundesregierung zur „Stärkung von Maßnahmen zur
Demokratieförderung, Vielfaltgestaltung, Extremismusprävention
und politischen Bildung“ eingebracht und dort auch beraten.
In dem
Entwurf heißt es:
Zur Stärkung der Demokratie, zur politischen Bildung, zur
Prävention jeglicher Form von Extremismus und gruppenbezogener
Menschenfeindlichkeit sowie zur Gestaltung von
gesellschaftlicher Vielfalt und Teilhabe wird der Bund zukünftig
auf Grundlage eines ausdrücklichen gesetzlichen Auftrags
bundeseigene Maßnahmen durchführen sowie Maßnahmen Dritter
fördern, sofern sie von überregionaler Bedeutung sind und in
erheblichem Bundesinteresse liegen
[En19].
Was aus
diesem Gesetz letztendlich wird, bleibt abzuwarten.
Festzustellen ist, dass es einer Demokratie, die ihren Bestand
als Demokratie durch Gesetze fördern und schützen will,
offensichtlich an Demokratinnen und Demokraten mangelt.
Anders
ausgedrückt: Eine offene Gesellschaft, die es für geboten hält,
sich vor Andersdenkenden schützen zu müssen, indem zum Beispiel
die Meinungsfreiheit eingeschränkt wird, eine demokratisch
gewählte Partei verboten und auch Bürgerinnen und Bürger bereits
unterhalb der Strafbarkeitsschwelle in den Fokus staatlicher
Überwachung geraten können sollen, sobald die dafür
erforderlichen Gesetze verabschiedet sind, verdient nur eines: Mitleid.
In den
folgenden Aufsätzen wird der Versuch unternommen, die Kräfte zu
beschreiben, die in der Demokratie der Bundesrepublik
Deutschland über den Verfall oder das Wachsen dieser Demokratie
mitentscheided sein werden:
Schlusssätze:
Eine freie und offene Gesellschaft ist eine relativistische
Gesellschaft.
Das heißt: Der Weg zum Relativismus ist offen,
weil es keine Denkverbote gibt. Es liegt somit im Interesse
einer jeden Bürgerin und eines jeden Bürgers, diese offene
Gesellschaft auf eine Weise mitzugestalten, die dem eigenen
Werteverständnis weitgehend entspricht. In
welche Richtung sich dann diese Gesellschaft entwickelt, das
lässt sich zurzeit noch nicht absehen. Ausgehend von der
Existenz eines kollektiven Gedächtnisses dürfte die Hoffnung auf
eine menschengerechte Zukunft dennoch berechtigt sein, denn der
Wunsch, in Freiheit leben zu können, dürfte stärker ausgeprägt
sein, als ein Leben als Untertan unter Aufsicht führen zu
müssen.
Wir haben die Wahl.
TOP
08.0 Quellen
TOP
Endnote_01 Vgl.
Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate. VSA
Verlag Hamburg 2010, Band 1, Seite 115 ff.
Zurück
Endnote_02 Heinrich
Reinhardt. Der Gott Heraklits. Schriftenreihe der theologischen
Hochschule Chur. Adcademic Press Fribourg 2015, Seite 178
Zurück
Endnote_03
Ebd. Heinrich Reinhardt, Seite 179 Zurück
Endnote_04
Protagoras – Der Mensch ist das Maß aller Dinge * Vortrag v. Dr.
phil. Florian Roth an der Münchner Volkshochschule, 15.12.2003
Zurück
Endnote_05
Paul Feyerabend. Erkenntnis für freie Menschen. Suhrkamp-Verlag
13. Auflage 2020, Seite 9 Zurück
Endnote_06 Ebd. Paul Feyerabend, Seite
36 Zurück
Endnote_07
Ebd. Paul Feyerabend, Seite 19 Zurück
Endnote_08 Karl R.
Popper. Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band 1 – der
Zauber Platons, Seite 26 und 27 Zurück
Endnote_09 Ebd.
Karl R. Popper, Seite 52 Zurück
Endnote_10 Ebd. Karl R. Popper, Seite 96
bis 99 Zurück
Endnote_11
Ebd. Karl R. Popper, Seite 79 Zurück
Endnote_12 Mary
Beard. SPQR - Die tausendjährige Geschichte Roms. Fischer-Verlag
2015, Seite 202 Zurück
Endnote_13 Suedkurier.de vom 24.11.2016:
Populisten geben sich gerne als besonders basisnah. Stimmt aber
nicht.
https://www.suedkurier.de/ueberregional/politik/Populisten-geben-sich-
gerne-als-besonders-basisnah-Stimmt-aber-nicht;art410924,9015984
Zurück
Endnote_14
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/
153820/umfrage/allgemeines-vertrauen-in-die-parteien/
Zurück
Endnote_15
Wikipedia. Vox populi vox Dei.
https://de.wikipedia.org/wiki/Vox_populi_vox_Dei
Zurück
Endnote_16 José
Ortega y Gasset. Aufstand der Massen. Auszüge.
https://www.kleine-spirituelle-seite.de/files/template/pdf/
der_aufstand_der_massen_massenpsychologie-ortega.pdf
Zurück
Endnote_17
Thomas D. Seeley. Bienendemokratie - Wie Bienen kollektiv
entscheiden und was wir davon lernen können. Fischer-Verlag
2018, Seite 13 Zurück
Endnote_18 Jan Assmann. Das kulturelle
Gedächtnis. Verlag C.H. Beck. 7. Auflage 2013, Seite 35
Zurück
Endnote_19
Demokratiefördergesetz: BT-Drucks. 20/5823 vom 1.3.2024
Zurück
Fehler, Verbesserungsvorschläge und Fragen richten Sie bitte an:
info@rodorf.de
--------------------------------------------------------------
Die Pflege
und der Unterhalt dieser Webseite sind mit Kosten verbunden. Aus
diesem Grunde können die anderen Kurse, die das polizeiliche
Grundlagenwissen betreffen, nicht unentgeltlich zur Verfügung
gestellt werden.
Polizeiliches Grundlagenwissen Printausgaben und E-Books
www.polizeikurse.de
|