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Home Inhaltsverzeichnis : Umgang mit der Demokratie

Vom Wachsen und Werden der offenen Gesellschaft

Inhaltsverzeichnis:

01.0 Der Staat, das sind wir
02.0 Der Staatsapparat
03.0 Die Software einer offenen Gesellschaft
04.0 Die Software vergangener Zeiten
05.0 Griechische Staatsphilosophie
05.1 Heraklit (520 - um 480 v.
Chr.)
05.2 Protagoras (490 bis 411 v.
Chr.)
05.3
Anything goes - Paul Feyerabend - 2020
05.4 Platon (428/427 bis 348/347 v. Chr.)
05.5 Freiheitsbegriff der christlichen Ethik
06.0 Die Stimme des Volkes
06.1 Georg Boas – Vox-populi-Studie
06.2 Ortega y Gasset - Aufstand der Massen
06.3 Kollektives Wissen
06.4 Die Bienendemokratie
06.5 Individuelles und kollektives Gedächtnis
07.0 Zusammenfassung und Ausblick
08.0 Quellen

01.0 Der Staat, das sind wir

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Kein Staat kann sich auf Dauer dem Willen des Volkes entziehen. Das gilt auch für den demokratischen Rechtsstaat. Auch diese Staatsform kann im Rahmen des menschlich Möglichen nur dann gegründet, erhalten und vor dem Verfall bewahrt werden, wenn er nicht nur den Erwartungen des Volkes entspricht, sondern auch von dazu befugten Stellen gepflegt, gesichert, bewacht und natürlich bei Bedarf auch instandgesetzt bzw. an die sich ändernden Lebensgewohnheiten angepasst wird, weil alles Lebendige, was auch bei einer Gesellschaft wohl unstrittigerweise der Fall sein dürfte, dem Wandel und der Veränderung unterliegt.

Das gilt natürlich auch für das Regelwerk, das sozusagen als verpflichtende Leitlinie einer solchen Gesellschaft den Ordnungsrahmen vorgibt. Diesen Ordnungsrahmen hat, so lange er nicht modifiziert wird, jeder einzuhalten, der in dieser Gesellschaft leben möchte. Wem das nicht behagt, weil ihm oder ihr die Gesetze nicht gefallen, dem ist es in einer offenen Gesellschaft natürlich möglich, sich eine andere Gesellschaft auszusuchen, in der andere Regeln gelten.

In geschlossenen Gesellschaften wird sie oder er - im Gegensatz zu den Gepflogenheiten in offenen Gesellschaften - dazu gezwungen, sich akribisch an die Regeln zu halten, weil ihm sonst Böses widerfährt.

Natürlich kann auch eine offene Gesellschaft nur dann von dauerhaftem Bestand sein, wenn die dort geltende Regeln eingehalten werden. Eingriffe in die Rechte von Personen setzen aber voraus, dass die nicht nur gesetzlich zugelassen, sondern auch verhältnismäßig sind. 

Bedauerlicherweise leidet die offene Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland schon seit Jahren daran, die im Inland geltenden Regeln nicht mehr mit der gebotenen Gründlichkeit durchsetzen zu können, die zum Schutz dieser Gesellschaft einzuhalten sind, wie das zum Beispiel in so genannten rechtsfreien Räumen der Fall ist, die sogar von der Polizei im Einsatzfall nur mit der dafür erforderlichen  Einsatzstärke betreten werden.

02.0 Der Staatsapparat

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Zuerst einmal gilt es herauszuarbeiten, in welch einem Rahmen offene Gesellschaften überhaupt denkbar sind.

Bei diesem Rahmen hat Louis Althusser (1918 bis 1990), dem wohl bedeutendsten marxistischen Philosophen des 20. Jahrhunderts, der marxistischen Tradition folgend, als einen repressiven Staatsapparat, also als eine Unterdrückungsmaschine der herrschenden Klasse beschrieben hat, die nur funktionieren kann, wenn Polizei, Gerichte, Gefängnisse, die Armee und natürlich auch der Staatschef, die Regierung und die Verwaltung, kurzum der gesamte funktionale Rahmen - bestehend aus staatlichen Organen, Behörden und Institutionen – den Staat durch ihre repressive Ausführungs- und Interventionsmacht zu erhalten vermögen, was im Konfliktfall auch immer die Anwendung von Gewalt voraussetzt.

Im Gegensatz zu diesen technisch funktionalen Anforderungen, die einen Staat ausmachen, bezeichnet Althusser den „ideologischen Staatsapparat“ als ein Vorhandensein von religiösen, schulischen, familiären, politischen, medialen, kulturellen zivilgesellschaftlichen und teilweise auch juristischen und politischen Institutionen. Diese Funktionalitäten dienen dazu, den regressiven Staatsapparat zu legitimieren und ihn natürlich auch im Rahmen geltenden Rechts die Hoheitsbefugnisse einzuräumen, die der Staat benötigt, den von ihr gewünschten „ideologischen Staatsapparat“ Wirklichkeit werden zu lassen [En01].

Anders ausgedrückt: Bei dem ideologischen Staatsapparat handelt es sich sozusagen um die Software des technisch funktionalen Staatsapparates, die, je nach vorgenommenen Upgrade, mal so und auch mal anders funktionierten kann.

03.0 Die Software einer offenen Gesellschaft

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Die magischen Kräfte einer offenen Gesellschaft bestehen darin, die kritischen Fähigkeiten des Menschen so ausleben lassen zu können, dass auf der Grundlage des Verständnisses miteinander konkurrierender Ideen Kompromisse gefunden, und die miteinander im Wettbewerb sich befindlichen Ideen friedlich gelöst werden können.

Eine offene Gesellschaft ist dennoch gut beraten, anzunehmen, dass die Demokratie keine dauernde Einrichtung bleiben muss, denn die Geschichte lehrt uns, dass Regierungsformen kommen und gehen. Gleiches gilt natürlich auch für den Glauben an die menschliche Vernunft innerhalb der Staatsform der Demokratie, denn gerade diese Staatsform ist es, die ihre Gegner sozusagen dazu auffordert, den Aufstand gegen die jeweils bestehende Zivilisation zu unterstützen.

04.0 Die Software vergangener Zeiten

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Die Vorstellungen über den Sinn und den Zweck von Staaten verfügen über eine lange Geschichte. Nach neuesten Erkenntnissen hat es bereits vor sehr langer Zeit an unterschiedlichen Stellen auf der Erde Gesellschaften gegeben, die in großen Städten zusammenlebten, ohne dafür die funktionalen Elemente eines Staates zu benötigen.

In diesen Gesellschaften gab es keine herrschende Klasse, sondern in ihr lebten Menschen, die sich selbst verwalteten. Solche Gesellschaften hat es sowohl im heutigen Irak, in China, in der Ukraine und auch in Nordamerika gegeben. Es würde zu weit führen, solche Staaten, die sicherlich demokratischer waren als die Demokratien von heute, hier näher zu skizzieren. Festzustellen ist aber, dass in diesen „Staaten“ allein das Volk über die Geschicke der Stadt entschied, dann jedoch für lange Zeit in Vergessenheit gerieten, weil sie von Staatssystemen abgelöst wurden, die sich als Zwangssysteme verstanden.

Wer sich für diese „Neue Geschichte der Menschheit“ interessiert, wird erstaunt sein, wie viel auch der moderne Mensch von heute von längst vergangenen Kulturen noch lernen könnte, insbesondere im Hinblick auf: Selbstverantwortung, persönliche Freiheit, Gleichheit und Zusammenhaltsgefühl. Anzumerken ist noch, dass diese Kulturen über Jahrhunderte Bestand hatten, länger als das bei der Geschichte der Demokratie der Fall gewesen ist, deren Anfänge bekanntermaßen im antiken Griechenland zu finden sind, dann lange Zeit in Vergessehheit gerieten, um dann erst im ausgehenden 18. Jahrhundert sozusagen ihre Renaissance zu erleben.

05.0 Griechische Staatsphilosophie

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Vorstellungen darüber, was ein Staat ist, bzw. zu sein hat, wurden bereits Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung von den Philosophen im antiken Griechenland durchdacht, analysiert und gelehrt. Es würde zu weit führen, an dieser Stelle näher darauf einzugehen. Um das Thema eingrenzen zu können, werden deshalb nur solche Sichtweisen vorgestellt, die auch heute noch in den Köpfen moderner Menschen existent sind und folglich nicht hinweggedacht werden können, wenn es darum geht, die Kraft von Denkgewohnheiten darzustellen, die mehr als bloße Lebensweisheiten sind.

Beginnen möchte ich mit dem Weltbild des Heraklit, das von einem „Geschichtsbild“ des steten Wandels gekennzeichnet ist, auf das Menschen nur einen geringen Einfluss haben.

05.1 Heraklit (520 - um 480 v. Chr.)

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Heraklit (520 bis 480 v. Chr.) lehrte, dass die Welt nicht als ein Bauwerk, sondern als ein Prozess, also als die Gesamtheit aller Ereignisse, Veränderungen und Tatsachen anzusehen ist. „Alles ist in Fluss und nichts ist in Ruhe“, das ist der Leitspruch seiner Philosophie. Dennoch war Heraklit kein Demokrat, denn er lehrte auch, dass Gesetz auch das sein kann, sich dem Willen eines Mannes zu unterwerfen, auch wenn ein anderer seiner Lehrsätze lautet: „Für die Gesetze der Stadt soll ein Volk kämpfen, wie für ihre Mauern.“ In diese Denkweise passt auch seine nachfolgend aufgelisteten Vorstellungen, dass:

  • Gegensätze zueinander passen (Krieg zu Frieden)

  • Aus Disharmonie im Lauf der Zeit Harmonie entsteht

  • Alles auf dem Weg des Streites zu lösen ist

  • Der Weg abwärts der gleiche ist wie der Weg aufwärts

  • Das Gute und das Böse dasselbe sind.

Kurzum: Heraklits Lehre vermittelt die Vorstellung eines Dahintreibens im Dunklen, verbunden mit dem Prozess des Auflösens bestehender Lebensformen, aus denen dann - bis zum Ende aller Zeiten – sozusagen Neues entsteht.

Zum Gottesbild des Heraklit ist anzumerken, dass es sich bei dem Gott des Heraklit um ein abstraktes Wesen handelte, das über eine unbeschränkte Macht verfügt, denn das Göttliche „herrscht, soviel es nur will“. Dieses Göttliche ist charakterisiert durch Erkenntnis, Handlungsfähigkeit, Willen und Durchsetzungskraft. Insoweit trägt dieses Göttliche durchaus personale Züge.

Diesbezüglich heißt es in einem Buch von Heirnich Reinhardt über die Götterwelt des Heraklit wie folgt:

Heinrich Reinhardt: Selbst der weiseste Mensch muss vor Gott wie ein Affe erscheinen“, und zwar durch und durch: „an Weisheit, Schönheit und allem übrigen“. Gott ist und bleibt vom Menschen her unberührbar, insofern also „transzendent“; aber etwas in ihm ist mit dem Menschen vergleichbar  [En02].

Und im Hinblick auf die Götterwelt im antiken Griechenland heißt es in den Fragmenten des Heraklit, die Götterwelt der Griechen hinterfragend, wie folgt:

Heinrich Reinhardt: Diese Welt hier […] hat keiner der Götter und keiner der Menschen geschaffen“. Die Göttergestalten der griechischen Mythologie mit ihren jeweils beschränkten Eingriffsmöglichkeiten in die Welt (und erst recht natürlich die Menschen, wie sie sind mit ihren Fehlern und Dummheiten) sind in Heraklits Augen viel zu klein, um eine ganze, reich differenzierte Welt schaffen zu können [En03].

Und was die Möglichkeiten des Menschen anbelangt, Zugang sowohl zur Wahrheit als auch zur Zukunft sich verschaffen zu können, umgibt uns Menschen, ganz im Sinne von Heraklit, sozusagen eine Dunkelheit, die an eine gewisse Blindheit unseres Denkens und Wahrnehmens, sozusagen an eine Ohnmacht, eine Geistesverwirrung, sogar an ein Todesdunkel erinnert, was den Menschen sozusagen mit einem Schicksal konfrontiert, das die Götter für uns vorsehen.

Irgendwie erinnern zumindest mich diese Vorstellungen an den Satz christlichen Selbstverständnisses, der da lautet: Der Mensch denkt, Gott lenkt.

Auf jeden Fall lässt sich dieses Weltbild nicht mit dem Weltbild der Technik von heute vereinbaren, dass - fast schon an religiösen Glauben erinnernd - davon ausgeht, dass es für alles eine Technische Lösung gibt, heute, morgen und auch in der Zukunft.

05.2 Protagoras (490 bis 411 v. Chr.)

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Während bei Protagoras der Mensch das Maß aller Dinge ist, nimmt diese Funktion bei Platon Gott.

Während Platon das Bild eines Menschen entwarf, der, sich in einer Höhle befindend, lediglich Schatten an den Wänden wahrnehmen konnten, bei denen es sich um Trugbilder handelte, befinden sich die Menschen des Protagoras sozusagen in der Höhle und wollen auch gar nicht aus ihr heraus, weil es außerhalb dieser Höhle schlichtweg nichts gibt, was für sie von Interesse sein könnte.

Anders ausgedrückt: Protagoras lehrte, dass man nichts über die Götter weiß und folglich auch nichts über die Götter wissen muss.

Florian Roth: Eigentlich, so die Sichtweise von Protagoras, hat jeder seine eigene Höhle mit seinen eigenen Trugbildern – mit denen man aber prima leben kann! (Die moderne Hirnforschung sagt uns: Jedes Hirn hat seine eigene Welt, die es aus dem Chaos der Sinneswahrnehmungen, aus recht dünnem Datenmaterial durch Modelle, Vergleiche, Konstruktionen etc. sich schafft.)

Bei Protagoras und den Sophisten wird Wissen gleichsam demokratisiert. Wissen ist nicht Geheimnis der Mächtigen und/oder der Weisen. Nein, es ist lehrbar [...]. Protagoras zeigt auch, dass alles zwei Seiten hat. Und die Anerkennung dieses Tatbestandes ist vielleicht die Voraussetzung von Offenheit, Toleranz, von Akzeptanz und Anerkennung des Anderen in seiner Meinung [En04].

Anders ausgedrückt: Protagoras Denken wandte sich gegen jegliche Form von Einheitsdenken. In der Sprache von heute ließe sich das auch wie folgt ausdrücken:

Protagoras trat sozusagen für die „Pluralität des anything goes“ ein.

05.3 Anything goes - Paul Feyerabend - 2020

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In Anlehnung an Paul Feyerabend ist in einer offenen Gesellschaft sozusagen alle möglich. Dennoch seien, so Feyerabend, die in einer offenen Gesellschaft vorhandenen vielfältigen Kulturen und Identitäten in ihrer Existenz bedroht, bedingt durch die unheilige Allianz von Demokratie, Kapitalismus und Rationalismus. Aus diesem Grunde fordert Paul Feyerabend nicht nur eine strikte Trennung von Kirche und Staat, sondern auch „die Trennung von Wissenschaft und Staat“.

Das, was dem Staat obliegt, ist, den demokratischen Relativismus nicht nur zu ermöglichen, sondern ihn auch nicht zu behindern, soweit diese Vielheit sich im Rahmen der Grundordnung hält, die von allen eingehalten werden muss, um diese Vielfalt überhaupt zu ermöglichen.

Die Frage, von welchen Maßstäben in einer offenen Gesellschaft lebenden Menschen dominiert werden, beantwortet Feyerabend wie folgt:

In einer freien Gesellschaft verwendet der Bürger die Maßstäbe der Tradition, der er angehört. Anders ausgedrückt: In einer offenen Gesellschaft haben die Menschen das Recht, so zu leben, wie es ihnen passt.

Anders ausgedrückt:

Paul Feyerabend: Man gibt im Allgemeinen zu, dass eine demokratische Gesellschaft nicht den Institutionen überlassen werden darf, die sie enthält; sie muss diese Institutionen überwachen und kontrollieren. Die Bürger und Gruppen von Bürgern, die die Kontrolle ausüben, müssen ständig die Errungenschaften und die Auswirkungen der mächtigsten Institutionen untersuchen, beurteilen und, wenn nötig, korrigieren  [En05].

An anderer Stelle heißt es:

In einer freien Gesellschaft liegt das private sowie das öffentliche Leben in den Händen der Bürger und nicht in den Händen von Spezialisten. Spezialisten, Philosophen eingeschlossen, können natürlich befragt werden, man studiert ihre Vorschläge, aber man überlegt sich genau, ob diese Vorschläge und die sie leitenden Regeln und Maßstäbe erwünscht und brauchbar sind [En06].

Daraus leitet Paul Feyerabend Folgendes ab:

Im Leben entscheidet eben der Wettstreit vieler Werte, nicht ein einzelner Wert – und dieser Wettstreit ist immer das Ergebnis (individueller und damit auch kollektiver) Entschlüsse. Damit werden Traditionen zu Grundelementen der Gesellschaft [En07].

Wie dieser Wettstreit unterschiedlichster politischer Anschauungen, die in einer offenen Gesellschaft miteinander konkurrieren, ausgetragen wird, ist für den Bestand einer offenen Gesellschaft von existenzieller Bedeutung, denn Denkgewohnheiten, die verboten werden, weil „einem nichts besseres einfällt, oder sie einem nicht behagen“ zerstören nämlich das, was erhalten bleiben soll: der freie Mensch und dessen Würde.

Dazu gehört unbestreitbar, dass in einer freien Gesellschaft davon auszugehen ist, dass der jeweils entscheidende und handelnde Bürger die Maßstäbe anwenden wird, die seiner Tradition entsprechen, denn Traditionen sind äußerst wirkmächtig. Sie prägen nicht nur die Identität von Einzelpersonen, sie prägen auch das Verständnis von Menschen, die – ihrer Tradition entsprechend – ihr gesellschaftliches Leben führen wollen, und das sieht in einem Gottesstaat bekanntermaßen völlig anders aus, als das in der offenen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland der Fall ist.

Traditionen wirken aber nicht nur im religiösen Bereich. Gleichermaßen wirkmächtig können auch politische Traditionen sein.

05.4 Platon (428/427 bis 348/347 v. Chr.)

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Genauso wie Heraklit fühlte auch Platon, dass in der Geschichte Kräfte am Werk sind, die ein kosmisches Ausmaß haben. Platon ging davon aus, dass jegliche von Menschen vorgenommene soziale Veränderung zur Verderbnis, zum Verfall bzw. zur Degeneration führen werde. Lediglich in einem idealen Staat, der von einem Philosophen geführt würde, und der folglich so gut sei, dass in ihm keine Veränderungen mehr erforderlich sein würden, wären die oben genannten negativen Veränderungen nicht zu erwarten. Das sei aber in Staaten unvermeidbar, in denen „normale“ Menschen zu entscheiden hätten. Trotzdem glaubte Platon auch daran, dass es Menschen unter Aufbietung all ihrer Kräfte dennoch dazu in der Lage sind, wie Karl R. Popper das ausdrückt, „den verhängnisvollen historischen Ablauf zu durchbrechen und dem Verfallsprozess ein Ende zu bereiten."

Karl R. Popper: Platon glaubte, das Gesetz des historischen Schicksals, des Verfalls, durch den von der Macht des Verstandes unterstützten moralischen Willen des Menschen durchbrochen werden könnten. [...]. Wie dem auch sei, Platon glaubte sicher an beides – an eine allgemeine historische Tendenz zum Verfall, wie auch an die Möglichkeit, dass wir den weiteren Verfall auf dem Gebiet der Politik vermeiden können, wenn wir nur der politischen Veränderung Einhalt gebieten. [...]. Er versuchte [dieses Ziel] durch die Gründung eines Staates zu verwirklichen, der nicht verfällt, der sich nicht verändert, und der eben deshalb von allen Übeln aller anderen Staaten frei ist. Der Staat, der frei ist von den Übeln der Veränderung und des Verfallls, ist der beste, der vollkommene Staat. Er ist der Staat des Goldenen Zeitalters, das keine Veränderung kannte. Er ist der zum Stillstand gebrachte, der versteinerte Staat [En08].

Kurzum: Platon wünschte sich alles andere, bloß keine offene Gesellschaft, denn die setzt ja einen sich ständig verändernden Staat voraus. Und da es in seiner Welt den idealen Staat nicht gab, nahm er im Hinblick auf die Qualität möglicher Staatsformen folgende Abstufung vor.

  • Aristokratie

  • Oligarchie

  • Demokratie

  • Tyrannei.

Als ein Demokratiefreund kann Platon wirklich nicht bezeichnet werden. Im Gegenteil: Die Demokratie war ihm ein Gräuel, denn sie führte zwangsläufig in die Tyrannei.

Karl R. Popper: Statt dessen benutzte er Schmähungen, identifiziert die Freiheit [der Demokratie] mit der Gesetzlosigkeit, die persönliche Freiheit mit Zügellosigkeit und die Gleichheit vor dem Gesetz mit der Unordnung. Die Demokraten werden als liederlich, geizig, unverschämt, gesetzlos, schamlos, als wilde und schreckliche Raubtiere hingestellt, die jeder Laune folgen und die nur dem Vergnügen sowie unnötigen und unreinen Wünschen leben. Sie füllen sich den Wanst wie das Vieh – so hat sich Heraklit ausgedrückt  [En09].

Nun muss man wissen, dass auch Platon nicht nur ein „Kind seiner Zeit“, sondern auch einer aristokratischen Familie angehörte. Insoweit gilt auch für Platon wie für die meisten von uns der Satz, dass wir eine starke Neigung dazu haben, die Besonderheiten unserer sozialen Umgebung nicht nur hinzunehmen, sondern sie sozusagen als naturgegebene Selbstverständlichkeiten anzuerkennen.

Für Platon war es somit unvorstellbar, an die Klugheit des Volkes zu glauben, denn um klug zu sein, bedurfte es nicht nur einer aristokratischen Abstammung, sondern auch einer umfassenden Bildung, die nur diesem Kreis von Auserwählten zukommen würde, die er in seinem Weltbild als Herrenrasse, also „zur Herrschaft bestimmt“, wahrnahm.

Platon und der Faschismus: Auch wenn der Faschismus als eine politische Macht erst im 20. Jahrhundert in Italien entstand, entsprechen Platons Vorstellungen vom Herrenmenschen durchaus den Vorstellungen, die sowohl von Benito Mussolini als auch von Adolf Hitler gedacht und gelebt wurden.

Karl R. Popper: Die Geschichte, ausgehend vom ersten vollkommenen Staat [so wie ihn Platon sich vorstellte] ist nichts anderes, als die Geschichte der biologischen Degeneration der Menschenrasse. [...]. Denn die Entartung der Rassen erklärt den Ursprung der Zwietracht innerhalb der herrschenden Klasse und damit den Ursprung aller historischen Entwicklung. [...]. Platons idealistischer Historizismus ruht also, wie wir sehen, letztlich nicht auf einer geistigen, sondern auf einer biologischen Basis; er beruht auf einer Art Metabiologie der Rasse der Menschen. Platon war nicht nur ein Naturalist mit einer biologischen Staatstheorie. Er war auch der erste Vertreter einer biologischen Rassentheorie der Sozialdynamik und der politischen Geschichte  [En10].

In dem Staatsmodell, das Platon in seiner Politeia entwirft, erkannte Karl R. Popper sozusagen das Urmuster des totalitären Denkens schlechthin, insoweit ist Poppers Angriff auf Platon gewaltig.

Seine Platonanalyse lautet: Platon war Rassist, der Konzentrationslager und Rassentrennung vorgeschlagen, das Führerprinzip begründet und die Lüge zum Staatsprinzip erhoben habe. Darüber hinausgehend habe Platon die Liquidierung unerwünschter Elemente aus der Gesellschaft befürwortet und mit eugenischer Akribie die Züchtung einer neuen Herrenrasse befürwortet.

Wie dem auch immer sei: Poppers Totalitarismusvorwurf wurde in der Literatur mehrfach intensiver diskutiert, mit zu erwartenden unterschiedlichen Ergebnissen. Grund dafür ist, dass bei der Analyse von Platons Werken die Denkweise des Analysierenden nicht hinweggedacht werden kann, denn im Gesamtwerk von Platon lässt sich alles finden, was der Analysende für seine Expertise benötigt.

Hinweis: Unbestreitbar dürfte sein, dass Platons Werk einen tiefgreifenden Einfluss auf das Denken in den Zeiten ausübte, die nach ihm kamen. Gleiches gilt natürlich auch für Aristoteles, dem bekanntesten Schüler von Platon. Die Denkgewohnheiten dieser großen Geister der griechischen Antike sind so nachhaltig, dass sie auch heute noch wirken. Und wer im christlichen Glauben nach platonischen und aristotelischen Werten Ausschau hält, der wird sie dort finden.

Kurzum: Diese Denktraditionen lassen sich heute durch auch wokes Denken nicht beseitigen. Im Gegenteil: Je „woker“ der Zeitgeist, umso stärker werden diese traditionellen Denkmuster.

05.5 Freiheitsbegriff der christlichen Ethik

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Es vergeht kaum eine politische Debatte, in der, bei der Suche nach der Wahrheit, nicht auf die Wertegemeinschaft Bezug genommen wird, die aus Europa das gemacht hat, was Europa heute ist.

Karl R. Popper: Wer die christliche Ethik der Gleichheit, der Duldung und der Gewissensfreiheit nur deshalb akzeptiert, weil sie beansprucht, auf göttlicher Autorität zu beruhen, der baut auf schwachem Grund. Nur zu oft wurde behauptet, dass die Ungleichheit gottgewollt sei, oder dass wir mit den Ungläubigen keine Nachsicht üben dürfen. Wenn du jedoch die christliche Ethik akzeptierst, nicht deshalb, weil es dir befohlen wurde, sondern weil du überzeugt bist, dass diese Entscheidung richtig ist, dann bist du es, der entschieden hat [En11].

Wie dem auch immer sei: Zu den Grundprinzipien der christlichen Sozialethik gehört nun einmal die Last der persönlichen Verantwortung, die einem niemand abnehmen kann. Wir dürfen uns auch nicht vor ihr drücken, obwohl wir das durchaus gern tun, denn wir sind es, die sozusagen zur Entlastung der eigenen Verantwortung eine Autorität anerkennen, ganz gleich, um welche Autorität es sich dabei auch handeln mag.

Anders ausgedrückt: Wir widerstreben, uns einzugestehen, dass wir allein die Verantwortung für unsere ethischen Entscheidungen tragen und kein anderer uns von dieser Last befreien kann.

Mit anderen Worten: Jeder von uns ist verantwortlich dafür, welcher Partei er seine Stimme gibt, welche politische Grundeinstellung für richtig gehalten wird und was zum Beispiel nicht nur erforderlich, sondern auch wünschenswert wäre, die „Migrationsfrage“ von heute sozialverträglich lösen zu können.

06.0 Die Stimme des Volkes

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Schon im alten Rom hieß es: Vox populi vox dei. Übersetzt in die deutsche Sprache heißt das: Die Stimme des Volkes ist die Stimme Gottes. Auch wenn es sich bei dieser Weisheit um die Einsicht von Cäsaren handelte, die sich der Macht des Volkes durchaus bewusst waren, wenn ihren Wünschen nach „Brot und Spiele“ nicht erfüllt wurden, spricht nichts dagegen, diese Einsicht auch auf das Wesen der politischen Elite in der bundesdeutschen Demokratie von heute anzuwenden, denn wie sonst ist die Angst der so genannten Volksparteien im Deutschland von heute zu erklären, die keine Mühen und keinen Anlass scheuen, vor dem zunehmenden Einfluss der AfD zu warnen, deren Mitglieder sie sozusagen zu Feinden der Demokratie erklärt haben und von denen sich deshalb jeder vernünftig denkende Mensch abzuwenden habe.

 

Anders ausgedrückt: Es scheinen im „Volk“ Kräfte zu walten, die in den Köpfen vieler Menschen sozusagen zur gleichen Zeit wirken und die diese Menschen dazu bewegt, sozusagen ihr „Heil“ in den Versprechungen der AfD zu suchen, einer Partei, die verspricht, das bestehende System zukunftstauglich machen zu wollen, was das auch immer sei.

Kurzum: Von demokratischen Bürgerinnen und Bürgern wird deshalb eingefordert, sich von der Stimme des (verirrten) Volkes abzuwenden, die Demagogen durch ihre Art der Agitation für sich gewinnen wollen.

Diese Sicht der Dinge verkennt aber, dass es nicht nur die Demagogen, sondern auch die für Populismus anfälligen Menschen gibt, denn wenn es die nicht gäbe, dann könnten Populisten so viel reden und agieren wie sie wollen, denn ohne die Rezeptoren für „einfache Lösungen anlässlich einer Vielzahl bestehender Probleme“ in den menschlichen Gehirnen, wäre die AfD bedeutungslos.

Mit anderen Worten: Auch heute noch kann der Satz (Vox populi Vox dei) als eine existierende Tatsache angesehen werden, denn die Geschichte hat gezeigt, dass gegen den Willen des Volkes die Staatsmacht nicht dauerhaft erhalten bleiben kann. Das war bereits dem griechischen Geschichtsschreiber Polybios (200 v. Chr. bis 120 v. Chr.) bekannt. Diesbezüglich heißt bei Mary Beard wie folgt:

Mary Beard: Neben den formalen Vorrechten des Volkes, wie Polybios betonte, finden wir [im antiken Rom] klare Indizien für eine weitverbreitete politische Kultur, in der des Volkes Stimme ein wichtiges Element darstellte. [...]. Die Armen zu ignorieren oder zu demütigen, das war riskant. Ein typisches Merkmal der politischen Landschaft während der römischen Republik waren die halboffiziellen Veranstaltungen, die häufig unmittelbar vor den Wahlversammlungen stattfanden. Wie oft sie stattfanden und wie gut sie besucht waren, wissen wir nicht genau. Es gibt jedoch einige Hinweise auf hitzige politische Debatten, Begeisterungsstürme und einen hohen Lärmpegel.

An anderer Stelle heißt es:

Der Erfolg der Reichen war, wie der junge Scipio Nasica scherzhaft erfahren musste, ein Geschenk der Armen. Daher mussten die Vermögenden lernen, dass sie vom Volk als Ganzem abhängig waren [En12].

Die Zeiten ändern sich, nicht aber die Kraft der Stimme des Volkes, auch wenn sie heute nicht mehr, wie das noch im antiken Rom der Fall gewesen ist, anlässlich von Volksabstimmungen und Volksversammlungen wahrgenommen wurde, sondern sich heute mehr oder weniger auf Wahlakte begrenzt, die dem Volk nach Ablauf von Legislaturperioden erneut die Möglichkeit geben, ihrem Willen Geltung zu verschaffen.

Die lateinische Sentenz vox populi vox Dei (wörtlich: ‚Volkes Stimme [ist] Gottes Stimme‘) bedeutet somit heute wohl eher „die öffentliche Meinung hat großes Gewicht“, woraus sich ableiten lässt, dass heute jede Partei, jede Bewegung, jede Gruppe und sogar jedes Individuum den Anspruch darauf erheben kann, mit Volkes Stimme zu reden.

Und wenn dann im Rahmen von Politbarometern und von Wählerbefragungen Ergebnisse generiert werden, die zeigen, dass der Zulauf zur AfD bisher nicht gestoppt werden konnte, dann nimmt der Druck im Kessel derjenigen Parteien zu, von denen sich sozusagen die enttäuschten Wählerinnen und Wähler abwenden.

Die Folge davon ist, dass zum Erhalt der Macht im Staate alles getan wird, um den Zuwachs zu den Systemveränderern am besten zu kriminalisieren, was aber eher ein Zeichen der Schwäche und weniger ein Zeichen von Stärke ist, denn eine wehrhafte Demokratie lässt sich am besten dadurch verteidigen, indem überzeugende und mehrheitsfähige Lösungen für nicht hinwegzuredende Krisen gefunden und umgesetzt werden.

06.1 Georg Boas – Vox-populi-Studie

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Bereits 1969 hat der US-amerikanische Historiker George Boas eine Studie veröffentlicht, in der er nachweist, dass die Stimme des Volkes in zweifacher Hinsicht wirkt.

Einerseits fungiert das Volk als ein Ausgangspunkt, sozusagen als ein Nullpunkt des gesellschaftlichen Zusammenlebens und andererseits versteht er die Stimme des Volkes als einen imaginären Akteur des ästhetischen, politischen und künstlerischen Prozesses innerhalb von Gesellschaften.

George Boas wies nach, dass „das Volk“ keine leicht zu identifizierende Gruppe ist, denn das Volk war viele Jahrhunderte lang kaum mehr als die Zielscheibe von Witzen. Erinnert sei hier nur an einen Zwischenruf von Franz Josef Strauß im Deutschen Bundestag, der sozusagen zum geflügelten Wort wurde.

Suedkurier.de 2016: „Vox Populi, Vox Rindvieh“. Lang ist’s her, dass ein Politiker so etwas Abschätziges über seine Wähler sagen konnte, ohne an Popularität einzubüßen. Es war – Ironie der Geschichte – die Zeit, als demokratisch gewählte Abgeordnete und Regierende noch hohe Reputation in der Bevölkerung besaßen. Denn die Bürger waren doch meist sehr einverstanden mit der Vertretung durch die von ihnen Gewählten [En13].

Heute ist das nicht mehr der Fall, denn das Vertrauen der Bevölkerung in die Kompetenz der von ihnen gewählten politischen Elite kann kaum noch tiefer sinken, was den Ergebnissen einer Umfrage im Hinblick auf das Vertrauen in die politischen Parteien entnommen werden kann.

Statista.com vom 19.1.2024: Laut dem Standard Eurobarometer der Europäischen Kommission hatten im Frühjahr 2023 rund 27 Prozent der Bevölkerung Vertrauen in die politischen Parteien in Deutschland. Währenddessen äußerten rund 69 Prozent, dass sie den politischen Parteien eher nicht vertrauen. Damit befindet sich das Vertrauen gegenüber den politischen Parteien auf einem Tiefpunkt [En14].

Wie dem auch immer sei: Der Ursprung dieses geflügelten Wortes stammt wohl aus Hesoids (740 bis 670 v. Chr.) „Werke und Tage“, und zwar in der Bedeutung: „Nie wird ganz ein Gerücht sich verlieren, das vielerlei Volk häufig im Munde geführt, denn ein Gott ist auch das Gerücht selbst.“

Im Gegensatz dazu vertrat Alkuin (735 bis 804), der Lehrer Karls des Großen, folgenden Standpunkt zur Stimme des Volkes.

Alkuin: Auf diejenigen muss man nicht hören, die zu sagen pflegen: Volkes Stimme, Gottes Stimme, da die Lärmsucht des Pöbels immer dem Wahnsinn sehr nahekommt [En15].

Heute bildet die Sprachfigur „Vox populi, vox Dei“ sozusagen die Grundlage des modernen Demokratieverständnisses, denn es wird heute wohl niemand bezweifeln, dass das Ergebnis einer Wahl in seiner Gesamtheit als Niederschlag der Stimme des Volkes anzusehen ist.

06.2 Ortega y Gasset – Aufstand der Massen

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Dennoch ist es sinnvoll, in diesem Sachzusammenhang gesehen auch Ortega y Gasset (1883 bis 1955) kurz zu Wort kommen zu lassen:

Aufstand der Massen: Der Massenmensch hätte niemals an etwas außerhalb seiner selbst appelliert, wenn ihn die Umstände nicht mit Gewalt dazu gezwungen hätten. Da die Umstände ihn heute nicht zwingen, verzichtet er, in Einklang mit seiner Anlage, auf jede Befragung und fühlt sich als Herr seines Lebens.

An anderer Stelle heißt es:

Ich weiß, dass manche, die mich lesen, anders denken als ich. Auch das ist sehr natürlich und bestätigt die Theorie. Denn würde sich meine Ansicht am Ende selbst als irrig erweisen, so bleibt doch immer die Tatsache, dass viele dieser Andersmeiner keine fünf Minuten über eine so verwickelte Frage nachgedacht haben. Wie sollten sie also mit mir übereinstimmen? Aber indem sie sich eine Meinung über einen Gegenstand anmaßen, ohne dass sie sich vorher die Mühe genommen hätten, sich eine zu bilden, verraten sie ihre Zugehörigkeit zu jener absonderlichen Spielart von Menschen, die ich die aufständische Masse nannte. Genau das meinte ich, wenn ich von verstockten, verrammelten Seelen sprach. In diesem Fall würde es sich um intellektuelle Verstocktheit handeln. Der Mensch hat einen gewissen Ideenvorrat in sich; er findet, es sei daran genug und er geistig vollkommen ausgestattet. Da er nichts vermisst, was über seinen Horizont geht, richtet er sich endgültig mit diesem Vorrat ein.

Das ist der Mechanismus der Verstockung [En16].

Daraus schließt Ortega y Gasset Folgendes:

Anderssein ist unanständig.

06.3 Kollektives Wissen

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Wer ernsthaft daran zweifelt, dass es in einer Gesellschaft ein kollektives Gedächtnis gibt, das sowohl als die Summe gemachter geschichtlicher Erfahrungen, hier vorrangig zu verstehen als die Summe von Traditionen und Denkgewohnheiten, die in einer Gesellschaft vorherrschen, den vermögen auch die Erkenntnisse der Genetikforschung nicht zu überzeugen, dass sogar Charaktergewohnheiten vererbt werden, die, in Verbindung mit frühkindlicher Erziehung, für einen Großteil des Verhaltens von Menschen prägend sein werden. Dazu gehören natürlich auch die Menschen, die über eine ausgeprägte Autoritätsaffinität verfügen. Adorno spricht in diesem Zusammenhang von einem angeborenen autoritären Charakter, der, so seine Analyse den Faschismus und natürlich auch den Nazismus des 20. Jahrhunderts ermöglichten. In seinem Buch "Studien zum autoritären Charakter" heißt es auf Seite 12, Bezug nehmend auf die Frage: Warum lassen sich Menschen so leicht täuschen?, wie folgt:

Theodor W. Adorno: Weil es, so ist anzunehmen, ihrer Charakterstruktur entspricht; weil sie lange bestehende Sehnsüchte und Erwartungen, Ängste und Unruhen die Menschen für bestimmte Überzeugungen empfänglich und anderen gegenüber resistent machen. Je größer das in der Masse des Volkes bereits vorhandene antidemokratische Potential ist, um so leichteres Spiel hat die faschistische Propaganda.

Wie dem auch immer sei: Man sollte mehr als eine Handvoll Meinungen im Topf haben, um sich in die Komplexität des Funktionierens einer offenen Gesellschaft auch nur annähernd vorstellen zu können.

Nun gut, eine Demokratie, bei der es sich ja bekanntermaßen um eine offene Gesellschaft handeln muss, denn sonst wäre sie keine, handelt es sich nicht um eine „Bienendemokratie“, die Thomas Seeley nicht nur bis ins Detail beschrieben, sondern erfolgreich im Rahmen seiner Studien an der Universität auch getestet hat.

06.4 Die Bienendemokratie

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Thomas D. Seeley beschreibt in seinem Buch „Bienendemokratie - Wie Bienen kollektiv entscheiden und was wir davon lernen können“, wie auch in einem von einer Königin angeführten Bienenvolk intelligentes und kooperatives Verhalten für alle Bienen sinnvoll ist.

In seinen Studien stellte Thomas D. Seeley fest, dass es sich bei einer Bienenkönigin keinesfalls um eine absolute Herrscherin handelt, sondern im Gegenteil: Bienen alles gemeinsam als Schwarm entscheiden, zum Beispiel auch den Ort ihres Bienenstocks. Um den gemeinsam festzulegen, erforschen sie die Umgebung, um letztendlich lebhaft darüber zu debattieren, welcher Ort am geeignetsten erscheint. In der Einleitung seines Buches heißt es unter anderem:

Thomas D. Seeley: Im Mittelpunkt des vorliegenden Buches steht das in meinen Augen erstaunlichste Beispiel dafür, wie die vielen Bienen in einem Bienenvolk ganz ähnlich wie die vielen Zellen eines Organismus ohne Aufseher kooperieren und eine Funktionseinheit bilden, deren Fähigkeiten weit über die ihrer Einzelteile hinausgehen [En17].

Kurzum: Honigbienen sind wahre Demokratinnen. Ihr Nistplatz, also ihr Bienenstock, ist das Ergebnis eines komplexen, wahrhaft demokratischen Prozesses, dem ein hoch entwickeltes Modell zugrunde liegt, von dem Menschen eine Menge lernen könnten – von systematischer Informationssuche bis hin zur quasi-demokratischen Entscheidungsfindung.

06.5 Individuelles und kollektives Gedächtnis

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Dass Bienen über ein kollektives Gedächtnis verfügen müssen, liegt in der Natur ihres instinktiven Handelns, das keine andere Alternative zulässt, als der „Tradition“ blindlings zu folgen.

Über solch ein Gedächtnis verfügen Menschen schon seit langem nicht mehr.

Dennoch existiert auch in menschlichen Gesellschaften sowohl ein individuelles, als auch ein kollektives Gedächtnis, das Maurice Halbwachs, ein französischer Soziologe und Philosoph (1877 bis zu seinem Tod im März 1945 im KZ Buchenwald) maßgeblich mitgeprägt hat.

Bezugnehmend auf Maurice Halbwachs heißt es bei Jan Assmann wie folgt:

Jan Assmann: Die zentrale These, die Halbwachs in all seinen Werken durchgehalten hat, ist die von der sozialen Bedingtheit des Gedächtnisses. Er sieht vollkommen ab von der körperlichen, d. h. neuronalen und hirnphysiologischen Basis des Gedächtnisses und stellt stattdessen die sozialen Bezugsrahmen heraus, ohne die kein individuelles Gedächtnis sich konstituieren und erhalten könnte. „Es gibt kein mögliches Gedächtnis außerhalb derjenigen Bezugsrahmen, deren sich die in der Gesellschaft lebenden Menschen bedienen, um ihre Erinnerungen zu fisieren und wiederzufinden“. Ein in völliger Einsamkeit aufwachsendes Individuum – so seine allerdings nirgends in solcher Deutlichkeit formulierten These – hätte kein Gedächtnis. Gedächtnis wächst dem Menschen erst im Prozess seiner Sozialisation zu. Es ist zwar immer nur der Einzelne, der ein Gedächtnis hat, aber dieses Gedächtnis ist kollektiv geprägt. Daher ist die Rede vom „kollektiven Gedächtnis“ nicht metaphorisch zu verstehen. Zwar „haben“ Kollektive kein Gedächtnis, aber sie bestimmen das Gedächtnis ihrer Glieder [En18].

07.0 Zusammenfassung und Ausblick

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Die bisherigen Ausführungen dürften deutlich gemacht haben, dass individuelle Verhaltensmerkmale einer Person sowohl genetisch bedingt (Temperament, Charakter etc.) als auch durch Einflüsse von außen nachhaltig geprägt werden. Durchaus vergleichbare Prägungen lassen sich auch in Gesellschaften ausmachen, die sich als offene Gesellschaften verstehen.

In solchen Gesellschaften existieren politische Überzeugungen unterschiedlichster Art, die – um das zu Sagende abzukürzen – das gesamte Spektrum von links außen bis rechts außen umfassen.

Wie dem auch immer sei: In Gesellschaften, in denen gemeinwohlorientierte Politik gelebt wird, kann davon ausgegangen werden, dass die bestimmenden politischen Kräfte der so genannten Mitte angehören.

Erst gesellschaftliche Krisen sorgen dafür, dass die durch Wohlstand verdrängten Kräfte sowohl die von rechts als auch die von links, wieder an Bedeutung gewinnen. In der Bundesrepublik Deutschland scheint es zurzeit so zu sein, dass sich sozusagen die politischen Kräfte heute wieder im rechten Meinungsspektrum sozusagen im Aufwind befinden.

Um diese Kräfte in ihre Schranken zu verweisen, wurde im Deutschen Bundestag am Donnerstag, den 16. März 2023, der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur „Stärkung von Maßnahmen zur Demokratieförderung, Vielfaltgestaltung, Extremismusprävention und politischen Bildung“ eingebracht und dort auch beraten.

In dem Entwurf heißt es: Zur Stärkung der Demokratie, zur politischen Bildung, zur Prävention jeglicher Form von Extremismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sowie zur Gestaltung von gesellschaftlicher Vielfalt und Teilhabe wird der Bund zukünftig auf Grundlage eines ausdrücklichen gesetzlichen Auftrags bundeseigene Maßnahmen durchführen sowie Maßnahmen Dritter fördern, sofern sie von überregionaler Bedeutung sind und in erheblichem Bundesinteresse liegen [En19].

Was aus diesem Gesetz letztendlich wird, bleibt abzuwarten.

Festzustellen ist, dass es einer Demokratie, die ihren Bestand als Demokratie durch Gesetze fördern und schützen will, offensichtlich an Demokratinnen und Demokraten mangelt.

Anders ausgedrückt: Eine offene Gesellschaft, die es für geboten hält, sich vor Andersdenkenden schützen zu müssen, indem zum Beispiel die Meinungsfreiheit eingeschränkt wird, eine demokratisch gewählte Partei verboten und auch Bürgerinnen und Bürger bereits unterhalb der Strafbarkeitsschwelle in den Fokus staatlicher Überwachung geraten können sollen, sobald die dafür erforderlichen Gesetze verabschiedet sind, verdient nur eines: Mitleid.

In den folgenden Aufsätzen wird der Versuch unternommen, die Kräfte zu beschreiben, die in der Demokratie der Bundesrepublik Deutschland über den Verfall oder das Wachsen dieser Demokratie mitentscheided sein werden:

  • Der Wille des Volkes

  • Wachstum und Wohlstand

  • Gerechtigkeit und Gleichheit

  • Asylanten und Migranten

  • Grundwerte und Bildung

  • Die wehrhafte Demokratie

Schlusssätze: Eine freie und offene Gesellschaft ist eine relativistische Gesellschaft.

Das heißt: Der Weg zum Relativismus ist offen, weil es keine Denkverbote gibt. Es liegt somit im Interesse einer jeden Bürgerin und eines jeden Bürgers, diese offene Gesellschaft auf eine Weise mitzugestalten, die dem eigenen Werteverständnis weitgehend entspricht. In welche Richtung sich dann diese Gesellschaft entwickelt, das lässt sich zurzeit noch nicht absehen. Ausgehend von der Existenz eines kollektiven Gedächtnisses dürfte die Hoffnung auf eine menschengerechte Zukunft dennoch berechtigt sein, denn der Wunsch, in Freiheit leben zu können, dürfte stärker ausgeprägt sein, als ein Leben als Untertan unter Aufsicht führen zu müssen.

Wir haben die Wahl.

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08.0 Quellen

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Endnote_01
Vgl. Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate. VSA Verlag Hamburg 2010, Band 1, Seite 115 ff.
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Endnote_02
Heinrich Reinhardt. Der Gott Heraklits. Schriftenreihe der theologischen Hochschule Chur. Adcademic Press Fribourg 2015, Seite 178
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Endnote_03
Ebd. Heinrich Reinhardt, Seite 179
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Endnote_04
Protagoras – Der Mensch ist das Maß aller Dinge * Vortrag v. Dr. phil. Florian Roth an der Münchner Volkshochschule, 15.12.2003
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Endnote_05
Paul Feyerabend. Erkenntnis für freie Menschen. Suhrkamp-Verlag 13. Auflage 2020, Seite 9
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Endnote_06
Ebd. Paul Feyerabend, Seite 36
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Endnote_07
Ebd. Paul Feyerabend, Seite 19
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Endnote_08
Karl R. Popper. Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band 1 – der Zauber Platons, Seite 26 und 27
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Endnote_09
Ebd. Karl R. Popper, Seite 52
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Endnote_10
Ebd. Karl R. Popper, Seite 96 bis 99
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Endnote_11
Ebd. Karl R. Popper, Seite 79
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Endnote_12
Mary Beard. SPQR - Die tausendjährige Geschichte Roms. Fischer-Verlag 2015, Seite 202
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Endnote_13
Suedkurier.de vom 24.11.2016: Populisten geben sich gerne als besonders basisnah. Stimmt aber nicht.
https://www.suedkurier.de/ueberregional/politik/Populisten-geben-sich-
gerne-als-besonders-basisnah-Stimmt-aber-nicht;art410924,9015984
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Endnote_14
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/
153820/umfrage/allgemeines-vertrauen-in-die-parteien/
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Endnote_15
Wikipedia. Vox populi vox Dei.
https://de.wikipedia.org/wiki/Vox_populi_vox_Dei
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Endnote_16
José Ortega y Gasset. Aufstand der Massen. Auszüge.
https://www.kleine-spirituelle-seite.de/files/template/pdf/
der_aufstand_der_massen_massenpsychologie-ortega.pdf
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Endnote_17
Thomas D. Seeley. Bienendemokratie - Wie Bienen kollektiv entscheiden und was wir davon lernen können. Fischer-Verlag 2018, Seite 13
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Endnote_18
Jan Assmann. Das kulturelle Gedächtnis. Verlag C.H. Beck. 7. Auflage 2013, Seite 35
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Endnote_19
Demokratiefördergesetz: BT-Drucks. 20/5823 vom 1.3.2024
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