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Home Inhaltsverzeichnis : Umgang mit der Demokratie

Liberale Demokratie

Inhaltsverzeichnis:

01 Voraussetzungen eines liberalen Staates
02 Die liberale Demokratie von heute
03 Über die Demokratie in Amerika 1831/32
04 Die liberale Illusion
05 Die liberale Wirklichkeit
06 Die liberale Partei in Deutschland (FDP)
07 Grenzen liberaler Freiheit?
08 Der technische Mensch – Endziel des Liberalismus
09 Der kapitalistische und der technische Mensch
10 Schlusssätze
11 Quellen

01 Voraussetzungen eines liberalen Staates

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Ein liberaler Staat setzt, nach der heute vorherrschenden Auffassung, eine Demokratie voraus, denn ein totalitärer Staat, der den Menschen keine Freiheiten lässt, außer denen, die das System erlaubt, kann kein liberaler Staat sein. Warum? Der liberale Staat versteht sich als eine Gesellschaft, in der freidenkerisch, freigeistig, freiheitlich und repressionsfrei auch im Hinblick auf abweichende Mehrheitsmeinungen sowie tolerant und vorurteilsfrei, nicht nur gedacht, sondern auch gesprochen und geschrieben werden darf.

Bei einem liberalen Staat handelt es sich aber nicht um einen libertären Staat, der durch Gesetzlosigkeit, Anarchie und Herrschaftslosigkeit gekennzeichnet ist.

Die im 19. Jahrhundert entstandene Vorstellung über einen liberalen Staat lässt sich auch als eine Weltanschauung beschreiben, in dessen Mittelpunkt die Freiheit des Individuums steht, dessen freie Entfaltung und dessen Autonomie den Staat dazu verpflichtet, die Rechte des Individuums zu schützen, was zur Folge hat, dass staatliche Eingriffe auf ein Minimum zu beschränken sind und nur auf der Grundlage von Gesetzen in Betracht kommen.

John Locke (1632 bis 1704) gilt als geistiger Vater des Liberalismus. In seinem Werk „Two Treatises of Government“ postulierte er Freiheit, Leben und Eigentum als unveräußerliche Rechte eines jeden Bürgers.

Philosophenlexikon.de: [John Locke] propagierte die Gewaltenteilung und sah die Regierung in der Pflicht, Eigentum, Freiheit und Leben aller Bürger zu schützen. Lockes Werk beeinflusste im Grunde die Verfassungen nahezu aller liberalen Staaten, darunter auch die des revolutionären Frankreichs sowie die der USA [En01].

02 Die liberale Demokratie von heute

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Diesbezüglich heißt es bei Veith Selk wie folgt:

Veith Selk: Die liberale Theorie der Demokratie [...] tritt in unterschiedlichen Formen auf. In ihren einflussreichsten Varianten erwartet sie von demokratischen Regimen eine effektive Elitenkontrolle, responisives und problemorientiertes Regieren, Sozialstaatlichkeit und private Freiheitsspielräume für die Bürgerschaft [En02].

Responsiv: Mit responsivem Regieren, einem Begriff, der in der Politikwissenschaft noch relativ neu ist, ist gemeint, das von der Politik viel „Aufnahmefähigkeit“ erwartet wird. Darunter ist die Fähigkeit von Repräsentanten, und vor allen Dingen von Parlamentsabgeordneten zu verstehen, gegenüber den Wünschen, Erwartungen oder Interessen ihrer Wählerschaft aufgeschlossen zu sein, diese nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch in die politischen Entscheidungen einfließen zu lassen.

Ob sowohl die gewählten Eliten als auch die im Hintergrund agierenden Wirtschaftseliten diesen Ansprüchen heute noch genügen, lässt sich mit einem Satz nicht beantworten, zumal, was die Parteien und die von ihnen getragenen Regierungen anbelangt, zunehmend sowohl Bürger-, als auch Wählerferne vorgehalten wird.

Festzustellen ist, dass das liberale Modell, das von Eliten für Eliten gemacht wurde, wohl einer Neuinterpretation bedarf, so auch die Sichtweise von Veith Selk, wenn er schreibt:

Veith Selk: Indes werden die Voraussetzungen dieses liberalen Modells von Demokratie [....] devolutionär zersetzt. Der demokratische Liberalismus hält [dennoch] an einen nunmehr historisch gewordenen Set liberaler Institutionen fest, welches er der Phase der erstarkenden Demokratie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts abgelesen hatte. Er kann die zeitgenössische Politik nur noch in einer rückwärtsgewandten, anachronistischen Form auf den Begriff bringen [En03].

Anders ausgedrückt: Die Gestalt der liberalen Demokratie ist, in der Theorie wie in der Praxis, alt geworden. Diese Sprachfigur wird heute, in Anlehnung an Sheldon S. Wolin benutzt, um nostalgische Gefühle an die Stelle der Realität treten zu lassen.

Mit anderen Worten: Wolin geht davon aus, dass die liberale Demokratie nur in der Vorstellungswelt, nicht aber wirklich existiert, zumindest nicht im Hinblick auf den Einfluss des Volkes (des Souveräns) auf die Entscheidungen der Eliten, was diese aber dazu ermuntert, zur Aufrechterhaltung ihrer Macht die Realität zu verdecken und alles zu tun, um das Fantasieprojekt der liberalen Demokratie zu erhalten [En04].

Wie dem auch immer sei. An dieser Stelle noch ein kurzer Nachtrag zum Demokratiemodell von Veith Seik, das nach dessen Überzeugung zurzeit devolutionär zersetzt wird.

Devolution: Diese Sprachfigur wird in der Politikwissenschaft verwendet, um einen Prozess der Übertragung administrativer Funktionen des Staates an regionale Körperschaften zu beschreiben. Gemeint ist eine Dezentralisierung von Aufgaben und Befugnissen von der Zentralregierung eines souveränen Staates an subnationalen Ebene, beispielsweise an regionale oder lokale Ebenen. Es handelt sich somit um eine Form der administrativen Dezentralisierung. Zurzeit zumindest hält es die Bundesregierung immer noch für angemessen, die Probleme, die sich mit der Unterbringung von Flüchtlingen und Asylanten ergeben, auf die Kommunen abzuwälzen. Der sich daraus ergebende Konflikt zwischen Regierung, Kommunen und Bürgern, kann insoweit durchaus als ein devolutionärer Zersetzungsprozess der Demokratie bezeichnet werden, der darin besteht, sich vor Verantwortung zu drücken und diese sozusagen an nachgeordnete Stellen und Institutionen weiterzureichen.

Mit anderen Worten: Zumindest in der Theorie ist die liberale Demokratie eine anspruchsvolle und zerbrechliche Regierungsform, weil sie nur in den Köpfen und durch die Köpfe ihrer Bürger verwirklicht werden kann.

Bedauerlicherweise existiert solch eine liberale Demokratie zurzeit nicht, denn mehr als wählen und demonstrieren steht den Bürgerinnen und Bürger nicht zu. Und auch wenn sie zu Hunderttausenden gegen Rechts demonstrieren, werden ihre Forderungen, zum Beispiel die AfD zu verbieten oder gar Björn Höcke die Grundrechte abzuerkennen, wohl kaum umgesetzt werden, weil es den Eliten völlig ausreicht, ihrem politischen Gegner durch die von ihnen erzeugten Massenproteste, Schaden zugefügt zu haben. Ob ihnen das gelungen ist, bleibt jedoch abzuwarten.

Wie dem auch immer sei: Immerhin hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den Hunderttausenden Demonstranten, die gegen Rechtsextremismus demonstriert haben, für ihren Einsatz für die Demokratie gedankt. „Diese Menschen machen uns allen Mut. Sie verteidigen unsere Republik und unser Grundgesetz gegen seine Feinde. Sie verteidigen unsere Menschlichkeit“, sagte er am Sonntag, den 21. Januar 2024 in Berlin in einer Videobotschaft [En05].

Dass er damit die Wählerinnen und Wähler der AfD, und das sind, man mag das bedauern, mehrere Millionen Wählerinnen und Wähler, zu Feinden erklärt hat, scheint ihm dabei wohl entgangen zu sein, denn einem Bundespräsidenten, dessen Aufgabe es ist, alle Bürgerinnen und Bürger und auch alle anderen in Deutschland lebenden Menschen zu repräsentieren, hat politisch neutral zu sein. Es steht ihm nicht zu, Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland zu Feinden zu erklären.

03 Über die Demokratie in Amerika 1831/32

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Der französische Politiker und Historiker Alexis de Tocqueville (1805 bis 1859) beschrieb in seinem Klassiker „Democracy in America“ (Demokratie in Amerika) die von ihm bei seinem etwa 1 Jahr währenden Aufenthalt in den USA (März 1831 bis Februar 1832) untersucht wurde, Elemente, die auch heute noch in liberalen Demokratien anzutreffen sind.

Alexis de Tocqueville stellte zum Beispiel fest, dass der Liberalismus die Tendenz enthält, eine sozial atomisierte und damit radikal entpolitisierte Gesellschaft zu erzeugen, die Menschen egoistisch werden lässt, weil für die nur ihre Privatinteressen wichtig wären, eine Tendenz, die im Liberalismus von heute schöngeredet wird.

Diesbezüglich heißt es dennoch bei Rainer Mausfeld:

Rainer Mausfeld: Dieser atomisierende Individualismus, der die politische Bedeutung von Ideen der Gemeinschaft und Kollektivität leugnet und der das allgemeine Interesse auf das freie Spiel von konkurrierenden Privatinteressen reduziert, drohe letztlich den Menschen „in die Einsamkeit seines eigenen Herzens einzuschließen“. Er mündet in eine politische Apathie, eine Erstarrung des politischen Lebens und eine Entleerung des politischen Raums [En06].

Alexis de Tocqueville hat dafür andere Worte benutzt:

Jeder steht in seiner Vereinzelung dem Schicksal aller anderen fremd gegenüber.

Warum?

Die im Liberalismus wesenhaft angelegte Entpolitisierung der Bürger dürfte dafür ursächlich sein. Begünstigt und gefördert wird das durch die Bereitstellung von Konsum als Ersatz für die verweigerte Beteiligung am politischen Leben.

Mit anderen Worten: Wenn es den Bürgern gut geht, haben sie keine Probleme damit, sich, zumindest bis zum nächsten Wahltag, den von ihnen gewählten Eliten freiwillig zu unterwerfen, obwohl in ihren Herzen der Wunsch nach Mitbestimmung weiterhin vorhanden ist.

Tocqueville: Unsere Zeitgenossen sind ständig von zwei widerstreitenden Leidenschaften geplagt: Sie fühlen das Bedürfnis, geführt zu werden, und dabei die Lust, frei zu bleiben. Da sie weder die eine noch die andere dieser entgegengesetzten Neigungen niederkämpfen können, bemühen sie sich, sie beide zugleich zu befriedigen. Sie stellen sich eine einzige, allmächtige, aber von den Bürgern gewählte Vormundschaftsgewalt vor. Das beruhigt sie etwas. Sie trösten sich selbst, ihren Vormund gewählt zu haben. Jeder Einzelne lässt sich willig fesseln, weil er sieht, weder ein Mann noch eine Klasse, sondern das Volk selbst hält das Ende der Kette. In diesem System verlassen die Bürger für einen Augenblick [am Wahltag] ihre Abhängigkeit, um ihren Herrn zu bezeichnen [zu wählen] und fallen danach wieder in sie [die gewählte Vormundschaftsgewalt] zurück [En07].

Diese Einsichten von Tocqueville über den Zustand der „Demokratie in Amerika“ im Jahr 1831/32 dürfte auch heute noch Gültigkeit für sich in Anspruch nehmen, obwohl im Deutschland von heute sich wieder ein Protestpotential formiert, das, so zumindest sehe ich den politischen Zustand im Deutschland von heute, die herrschenden Eliten in Angst geraten, nicht nur an Macht und an Einfluss zu verlieren, sondern sogar abgewählt zu werden.

Wie dem auch immer sei:

Tocqueville: So haben die demokratischen Völker weder die Muße noch die Neigung, sich auf die Suche nach neuen Anschauungen zu begeben. Sogar wenn sie an denen [gemeint sind die gewählten Vertreter], die sie haben, zu zweifeln beginnen, behalten sie diese gleichwohl bei, weil deren Änderung sie zu viel Zeit und Nachprüfung kosten würde; sie bewahren sie [die gewählten Eliten], nicht weil diese sicher sind, sondern weil sie bestehen [En08].

Und:

Tocqueville: Je mehr sich die gesellschaftlichen Bedingungen in einem Volk einander angleichen, umso kleiner erscheinen die Individuen und umso größer erscheint der Staat, oder vielmehr: Jeder Bürger verliert sich – allen anderen gleich geworden – in der Menge [En09].

Auch das, was Tocqueville über diejenigen schrieb, die in einer liberalen Demokratie die politischen Entscheidungen treffen, lässt sich leicht auf die Verhältnisse des Jahres 2024 in Deutschland übertragen.

Tocqueville: Hat man das Vertrauen eines demokratischen Volkes erworben, so ist noch eine große Bemühung nötig, um seine Aufmerksamkeit zu erringen. Es ist sehr schwierig, sich bei den Menschen, die in einer Demokratie leben, Gehör zu verschaffen, sobald man mit ihnen nicht über sie selbst spricht. Sie hören nicht auf das, was man ihnen sagt, weil sie immer sehr mit dem beschäftigt sind, was sie tun. In der Tat trifft man bei den demokratischen Nationen wenig Müßiggänger an. Das Dasein spielt sich in Unruhe und Betrieb ab, und die Menschen sind da so sehr vom Tun in Anspruch genommen, dass ihnen wenig Zeit zum Denken bleibt [En10].

Dennoch: Der Liberalismus von heute lässt sich natürlich nicht eins zu eine mit dem Liberalismus von vor gut 190 Jahren in Amerika vergleichen, denn der Liberalismus hat sich, dem Laufe der Zeit folgend, verändert. Heute ist der Bürger, als der entscheidende Akteur in der Theorie der Demokratie, sozusagen mit dem Homo oeconomicus verschmolzen. Seine Freiheit lässt sich somit durchaus auf das vorrangige Recht, besser gesagt auf die ihm obliegende erste Bürgerpflicht reduzieren, die von ihm erwartet, zu konsumieren.

Dieser ebenfalls von Tocqueville vorausgesagte Verfall der demokratischen Idee, die darin besteht, partizipativ an der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens teilzunehmen, dürfte heute bereits Wirklichkeit geworden sein, denn der Bürger von heute muss sich wohl damit abfinden, lediglich ein Zuschauer zu sein, zumal die staatlichen Institutionen immer noch beharrlich zu verhindern versuchen, ihren Bürgern einen politischen Partizipationsanspruch einzuräumen.

Das bisschen Bürgerrat von heute dürfte wohl kaum als die Beteiligung anzusehen sein, die in einer liberalen Demokratie dem Partizipationsanspruch der Bürgerinnen und Bürger von heute entsprechen dürfte. Dieses Thema wird zu einem späteren Zeitpunkt aufgegriffen, wenn es darum geht, die Sprachfigur der „deliberativen Demokratie“ mit Leben zu füllen.

04 Die liberale Illusion

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Warum diese Überschrift? Ganz einfach: Liberalismus ist schwer zu definieren, zumal dieser Begriff erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts verwendet wurde. Natürlich sind die dem Liberalismus zugrunde liegenden Ideen älter, denn Wörter werden nicht von jetzt auf gleich erfunden, sondern vorbereitet. Deshalb finden sich liberale Positionen bereits schon John Locke (1632 bis 1704), Adam Smith (1723 bis 1790) und John Stuart Mill (1806 bis 1873). Ausformuliert im Sinne eines heute noch gültigen Liberalismusverständnisses wurden sie aber wohl erst von John Maynard Keynes (1883 bis 1946) und Friedrich August von Hayek (1899 bis 1992) und danach von vielen anderen Sozialwissenschaftlern.

Wie dem auch immer sei: Der Liberalismus definierte sich zuerst im Kontrast zu Werten und Begriffen des alten Regimes.

Anders ausgedrückt: Liberalismus war etwas völlig Neues im Vergleich zu dem überholten Alten, deren Denker sich ausschließlich an der Vergangenheit und an der bestehenden göttlichen Ordnung orientierten, in der für individuelle Freiheit kein Platz zur Verfügung stand.

Und nun? An die Stelle einer sich auflösenden alten gottgewollten Ordnung entstand eine auf wissenschaftlicher Grundlage beruhenden Weltanschauung. Ein weiterer wichtiger Ausgangspunkt war und ist immer noch der Individualismus in seinen unterschiedlichesten Formen.

Am Anfang stand die Erkenntnis, dass der Mensch im fundamentalen Sinne allein ist, gefangen im Hier und im Jetzt und ohne Aussicht auf ein besseres Leben im Jenseits, dem göttlichen Ort ausgleichender Gerechtigkeit für die im realen Leben erlittenen Ungerechtigkeiten. Diese Form der Bestimmung des menschlichen Seins wurde aufgegeben.

Um den sich daraus ergebenden psychisch nur schwer zu akzeptierenden Zustand ertragen zu können, war und ist es das Ziel des Liberalismus, sozusagen den Himmel auf Erden zu schaffen, was aber bekannterweise bis heute noch nicht gelungen ist, obwohl überzeugte Liberale davon immer noch träumen. Nicht einmal eine perfekte Verfassung konnte bisher von Menschen geschaffen werden.

Wer daran glaubt, dass dies den Vätern des Grundgesetzes gelungen ist, der muss erklären können, warum mehr als 155 Bände Verfassungsgerichtsentscheidungen gefüllt werden mussten und auch in Zukunft neue Entscheidungen getroffen werden müssen, um herauszufinden, was das Grundgesetz tatsächlich meint. Sogar die Grundrechte blieben von Änderungen nicht verschont. In einem Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages aus dem Jahr 2009 heißt es:

WD 2009: Von den insgesamt 54 verfassungsändernden Gesetzen beinhalten lediglich sieben eine Änderung des Grundrechtsabschnitts. Von den insgesamt 199 Einzeländerungen betrafen nur 16 die Grundrechte [En11].

Zwischenzeitlich dürften weitere Änderungen hinzugekommen sein, die in einer liberalen Demokratie mit den gleichen beschwichtigenden Worten der Öffentlichkeit zur Kenntnis gegeben werden, wie das 2009 in dem o.g. Gutachten der Fall ist.

Wie dem auch immer sei.

Molander: Unter den liberalen Denkern, die dennoch die perfekte Konstitution anstreben, dürfte die Annahme normal sein, dass irgendwo zwischen dem ursprünglichen egalitären Gleichgewicht und der ungehinderten Ausbeutung des Einen durch einen Anderen, zivilisierte gesellschaftliche Kräfte des Ausgleichs existieren [En12].

Das aber kann nicht gelingen, solange die Erfolgreichen nicht dazu bereit sind, den Verlust des Selbstwertgefühls bei jenen zu verhindern, denen Macht oder Vermögen fehlt, und das ist bedauerlicherweise die Mehrheit.

Michael J. Sandel: In Leistungsgesellschaften ziehen natürliche Fähigkeiten, so unverdient sie auch sein mögen, Lob nach sich. Teilweise liegt das daran, dass sie um ihrer selbst willen bewundert werden. Doch es hat auch damit zu tun, dass man sie als Erklärung für die riesigen Gewinne der erfolgreichen heranzieht. Wenn eine Leistungsgesellschaft die Menschen befähigt, so weit aufzusteigen, wie ihre gottgegebenen Talente sie tragen, ist man versucht anzunehmen, dass die Erfolgreichsten auch die Begabtesten sind. Doch das ist ein Fehler. Erfolgreich Geld zu scheffeln zu können hat wenig mit angeborener Intelligenz zu tun – falls es so etwas überhaupt gibt. Indem die egalitären Liberalen sich auf natürliche Begabung als vorrangige Quelle der Einkommensungleichheit festlegen, übertreiben sie deren Rolle und erhöhen – unabsichtlich – ihr Prestige [En13].

Liberalismus setzt somit, um erfolgreich sein zu können, voraus, die diesem System immanente individuelle Freiheit nicht zu missbrauchen. Geschieht das dennoch, dann läuft der Liberalismus Gefahr, sich selbst zu zerstören, weil die durch ihn erzeugten Ungleichheiten letztendlich selbstzerstörend wirken.

Veith Selk: Erschwert wird eine Diskussion der liberalen Perspektive auf Demokratie schließlich dadurch, dass aus der Sicht eines entsprechend breiten Verständnisses von „liberal“ viele Demokratietheorien als liberal klassifiziert werden könnten, soweit sie Demokratie mit Grundrechten, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit verbinden [En14].

Hinsichtlich der einzufordernden institutionellen Strukturen, in denen Liberalismus funktioniert, heißt es bei Veith Selk ein paar Sätze weiter, die liberalen Strukturen betreffend, in denen Ungleichheit entstehen kann sinngemäß, dass die Struktur, in der eine liberale Demokratie funktionieren kann, die Trennung von Staat und Gesellschaft sozusagen zum Kern des liberalen Staatsverständnisses voraussetzt.

Anders ausgedrückt: So wenig Staat wie möglich und nur so viel Staat wie nötig. Der Rest sollte dem freien Spiel der Kräfte überlassen werden, womit nicht nur der Markt, die zunehmende Ungleichheit, sondern auch die Umweltschäden gemeint sind. Mit anderen Worten: Der liberale Mensch von heute hat sich mit der Sinnlosigkeit des Lebens von heute abzufinden, wenn es ihm nicht gelingt, aufzusteigen. Um das ertragen zu können, fordert ihn der Liberalismus dazu auf, sein Leben im Rahmen seiner Möglichkeiten zu feiern, denn er hat nur eines, was der Liberalismus aber zu ändern gedenkt, denn seine Hoffnung besteht natürlich auch darin, eine technische Lösung dafür zu finden, dass nicht nur die Natur, sondern auch der Tod bezwungen werden kann, und wenn die Masse gleichförmig lebt, dann wird es ihr nicht mehr unangenehm auffallen, dass ihre Art zu leben fremdbestimmt ist. Im Gegenteil, die Masse wird dieses Leben lieben.

05 Die liberale Wirklichkeit

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Wie bereits erörtert, markiert das Aufkommen des Liberalismus sozusagen das Ende eines umnachteten Zeitalters, gemeint ist das Zeitalter des Mittelalters. Die Befreiung des Menschen aus der Dunkelheit, die Überwindung von Unterdrückung und Ungleichheit, den Niedergang von Monarchie und Aristokratie, das Aufblühen von Wohlstand und Technik und der Beginn eines Zeitalters des nahezu ungebrochenen Fortschritts versprachen ein Leben in Selbstbestimmung bei der Suche nach Glück.

Patrick J. Deneen: [Liberalismus] erfordert [aber] ein immer rascheres Wirtschaftswachstum und einen erhöhten Ressourcenverbrauch. Die liberale Gesellschaft kann die Verlangsamung eines solchen Wachstums kaum überleben, ja sie würde zusammenbrechen, wenn das Wirtschaftswachstum eine Zeit lang stagniert oder rückläufig ist [En15].

Das hat - wie wir heute alle wissen – unweigerlich negative Folgen für den Lebensraum des Menschen. Was damit gemeint ist, lässt sich heute mit einem Wort sozusagen umfassend beschreiben: Klimawandel.

Patrick J. Deneen: Im materiellen und wirtschaftlichen Bereich hat der Liberalismus, bei dem Unterfangen, die Natur zu erobern, auf uralte Ressourcen zugegriffen. Unabhängig vom politischen Programm der heutigen Führungskräfte lautet die unangefochtene Devise: Mehr. Der Liberalismus kann nur unter der Voraussetzung einer ständigen Zunahme der verfügbaren und konsumierbaren materiellen Güter und damit auch einer ständig fortschreitenden Eroberung und Beherrschung der Natur funktionieren [En16].

Ob Alexis de Tocqueville die Ursache für diese dem Menschsein immanente Eigenschaft, die Natur in dem Maße, wie wir das heute tun, auszubeuten, bewusst war, als er folgende Zeilen schrieb, ist nicht anzunehmen, dennoch aber vermögen die folgenden Sätze aus einer vergangenen Zeit auch heute noch vieles erklären.

Alexis de Tocqueville: Haben sie sich [gemeint sind die Staatsbürger] einmal daran gewöhnt, sich nicht mehr mit dem Geschehen nach dem Tode zu befassen, so sieht man sie leicht in jene vollständige und rücksichtslose Gleichgültigkeit gegenüber der Natur zurückfallen, die bestimmten Trieben des Menschengeschlechts nur zu sehr entspricht. Sobald die nicht mehr gewohnt sind, ihre Haupthoffnungen auf weite Sicht zu bauen, treibt sie natürlich nach sofortiger Verwirklichung ihrer geringsten Wünsche. Man muss daher stets befürchten, dass die Menschen sich fortwährend ihren zufälligen Tageslüsten überlassen und dass sie bei ihrem völligen Verzicht auf jegliches, das nicht ohne lange Mühen zu erringen ist, nichts Großes, Friedliches und Dauerndes schaffen [En17].

Diese bereits von Tocqueville 1835 (dem Erscheinungsjahr seines Buches) beschriebene Gefahr wird – man mag das bedauern – auch heute noch von vielen Liberalen in der Hoffnung für hinnehmbar gehalten, dass es für die negativen Folgen, die durch konsequente Ausbeutung und konsequente Anwendung von Technik verursacht wurden und werden, zur gegebenen Zeit auch durch Technik beseitigt werden können, zum Beispiel indem die Atmosphäre wieder repariert wird.

Weitaus gefährlicher für den Bestand einer Demokratie halten die Verfechter des Liberalismus hingegen die Gefahr, dass Freiheit für viele zur Last bzw. zu einer bloßen Pflicht wird und für manche sogar die Dimension einer Bedrohung einnimmt, denn das, was unsere Art des liberalen Lebens im Kern ausmacht, erzeugt nicht mehr vor allem Optimismus, nicht mehr vor allem Zukunftszugewandtheit, sondern immer stärker Angst und Wut.

Unter der Überschrift: „Freiheit für die, die schon frei sind“, heißt es in einem Artikel der Onlineausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 30. November 2020 wie folgt:

Sueddeutsche.de: Liberale wollen oft nichts davon wissen, dass die Freiheit zur persönlichen Entfaltung meist nur die genießen können, die schon frei sind. Der Liberalismus ist heute auch ein Machterhaltungsmittel für die Mächtigen. Privileg schlägt in Herrschaft um. Und statt größerer Chancengleichheit entsteht eine neue Plutokratie. Die Reichen, Jungen und Beweglichen dienen als Auslage und Selbstbestätigung des Systems. Zurück bleiben keine befreiten Individuen, sondern viele einsame Ohnmächtige. Da ist es nicht nur eine Randnotiz, dass beispielsweise 22 Prozent der Millennials in den USA sagen, sie hätten „keine Freunde“. Schlimmer wirkt das Märchen der Chancengleichheit: Jeder kann es schaffen, jeder kann oben treiben, der nur heftig genug strampelt. Dieses Leistungsdenken übersieht, wie ungleich und ungerecht die Ausgangsbedingungen sind, dass Fett von selbst oben schwimmt. Dass es die Privilegien der einen sind, die die anderen nach unten drücken [En18].

06 Die liberale Partei in Deutschland (FDP)

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Der nachfolgende Text stammt aus dem Beschluss des 63. Ordentlichen Bundesparteitages der FDP in Karlsruhe vom 22. April 2012, dem folgende Überschrift vorangestellt ist.

Verantwortung für die Freiheit.

Die Freiheit des Einzelnen ist Grund und Grenze liberaler Politik. Frei zu sein heißt, das eigene Leben ohne fremden Zwang selbst bestimmen zu können. Dafür schafft liberale Politik die Voraussetzungen: Chancen für jeden einzelnen Menschen und Freiheitsordnungen für die offene Bürgergesellschaft.

Jeder Mensch soll faire Chancen haben, sich gemäß der eigenen Talente und Ideen zu entfalten, von eigener Arbeit zu leben und nach eigener Façon glücklich zu werden. Das ist das Ziel liberaler Chancenpolitik:

Bildung und Befähigung von Menschen zu selbstbestimmtem Leben und zur selbstbestimmten verantwortungsbewussten Teilhabe in Wirtschaft, Politik und Bürgergesellschaft.

In unserer Demokratie bilden der liberale Rechtsstaat und die Soziale Marktwirtschaft gemeinsam die liberale Grundordnung. Sie bestimmen die Voraussetzungen und setzen zugleich die Grenzen für das freie Spiel der Kräfte in Politik, Markt und Gesellschaft. Es ist das Ziel liberaler Ordnungspolitik, Grundrechte und Freiräume zu sichern, Zwang abzuwehren und Bedrohungen der Freiheit durch Machtmonopole zu verhindern und zu brechen. So gewährleistet liberale Ordnungspolitik eine ausgewogene Balance zwischen der Freiheit des Einzelnen und der Freiheit der Vielen.

Freiheit braucht Fairness und Verantwortung und Verantwortung.

Die Voraussetzung der Freiheit des einzelnen Menschen sind faire gemeinsame Regeln und faire individuelle Chancen. Gleichzeitig erwarten wir, dass jeder Einzelne seine Freiheit in Verantwortung für das eigene Leben und gegenüber der Mitwelt, der Umwelt sowie der Nachwelt gebraucht. Freiheit, Fairness und Verantwortung sind deshalb die Grundwerte der offenen Bürgergesellschaft, denen liberale Politik verpflichtet ist [En19].

Gut 10 Jahre später verliert sich die FDP in ihrem Wahlprogramm 2021, hinsichtlich ihrer Vorstellungen, was sie unter liberal versteht, in eine Vielzahl von Einzelteilen, was die nachfolgend im Wahlprogramm verwendeten Sprachfiguren verdeutlichen:

  • Liberale Außenpolitik

  • Liberales Bürgergeld

  • Liberale Gesundheitsversorgung

  • Liberales Sterbehilfegesetz

  • Liberales Pflegebudget

  • Liberale Datenpolitik

  • Liberale und offene demokratischen Gesellschaft

  • Liberale Demokratie

  • Liberaler Feminismus.

Bei so viel Liberalismus stellt sich zumindest mir die Frage, was mit Liberalismus überhaupt noch gemeint ist. Ob Ihnen das beim Lesen dieser Liberalismusvielfalt genauso ergeht, das vermag ich nicht zu beurteilen, zumal auch der Relativismus zum Liberalismus gehört, der dadurch gekennzeichnet ist, dass es keine Wahrheiten mehr gibt und somit alles relativ ist, Liberalismus und Demokratie eingeschlossen.

07 Grenzen liberaler Freiheit?

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Gibt es die überhaupt? Diese Frage lässt sich sowohl mit Ja als auch mit Nein beantworten. Mit Nein deshalb, weil es eine Zukunft geben wird, in denen Menschen erneut die Erfahrung machen werden, dass es möglich ist, gemeinsam friedlich und ressourcenschonend auf dem Planeten Erde zu leben. Anders gefragt: Warum soll in Zukunft nicht möglich sein, unter Verzicht auf inakzeptable Ungleichheiten zusammenzuleben, was in vergangenen Kulturen über Jahrhunderte hinweg möglich gewesen ist.

Graeber/Wengrow: Heute wissen wir, dass es in manchen Gebieten Städte gab, die sich jahrhundertelang selbst verwalteten, ohne das geringste Anzeichen für Tempel und Paläste, die erst viel später gebaut wurden. In vielen frühen Städten findet sich schlicht keinerlei Hinweis auf eine Administration oder eine herrschende Schicht. In anderen hat es den Anschein, als sei eine zentrale Macht entstanden und dann wieder verschwunden [En20].

Dass damit, in Anlehnung an die neuen Erkenntnisse der Forschung, nicht nur das Leben in kleinen Dorfgemeinschaften oder kleinen Ansiedlungen gemeint ist, heißt es bei den beiden Autoren, bei denen es sich um an Universitäten lehrende Anthropologen handelt, wie folgt.

Graeber/Wengrow: Siedlungen mit mehreren Zehntausend Einwohnern tauchen in der Menschheitsgeschichte erstmals vor etwa 6000 Jahren auf, auf beinahe allen Kontinenten und zunächst isoliert. Dann vermehren sie sich. Unser heutiges Wissen über sie in ein altmodisches Evolutionsschema einzupassen, in welchem Städte, Staaten, Bürokratien und soziale Schichten zusammengehören, gestaltet sich zum Teil so schwierig, weil diese Städte ganz anders waren [...] da es in manchen dieser frühen Städte keine Klassenunterschiede, Wohlstandsmonopole oder Verwaltungshierarchien gab [En21].

Daraus schließe ich, dass die Freiheit des modernen, heute lebenden Menschen nicht nur die alternativlose Fortschrittsrichtung des „Weiterso“ zur Verfügung steht, sondern Freiheit auch ganz anders definiert werden kann.

Das aber wird es erforderlich machen, erneut ein menschliches Verhalten zu kultivieren, dass bestehende Ungleichheiten nicht nur auf ein erträgliches Maß reduziert, sondern auch allen Menschen ein menschenwürdiges Leben auf dem Planeten Erde ermöglicht. Das aber wird nur realisierbar sein, wenn wir akzeptieren, dass die Grenzen unserer Freiheit – so wie wir Freiheit über 250 Jahre hinweg für normal gehalten haben – nicht nur erreicht, sondern bereits überschritten worden sind. Das gilt sowohl für den Lebensstil eines jeden Einzelnen als auch für den Lebensstil einer ganzen Gesellschaft zumindest in den Staaten, die sich als Industrienationen bezeichnen.

Hinsichtlich der Grenzen der Leistungsfähigkeit, die Menschen erreicht haben, aber nicht zu akzeptieren bereit sind, wurde 2017 eine groß angelegte Studie durchgeführt, aus der ich abschließend zitieren möchte.

Meines Wissens nach handelt es sich bei dieser Studie um die bisher größte Metastudie, in der Daten gesammelt und miteinander verglichen wurden, die hinsichtlich der menschlichen Leistungsfähigkeit zur Verfügung stehen.

Stoßen wir an die Grenzen des Homo sapiens?
Are we reaching the limits of homo sapiens

In der Studie heißt es, in der Übersetzung von mir:

In Kenntnis der Grenzen der menschlichen Spezies sollte jede Nation und jeder Staat darum bemüht sein, sowohl die Lebenserwartung als auch die Gesundheit und die körperliche Leistungsfähigkeit ihrer Bevölkerung zu verwirklichen.

Aber:

Wenn Plateaus erreicht sind, dann sollte darauf geachtet werden, dass es zu einer Regression kommt, die eintreten wird, wenn Grenzen der menschlichen Leistungsfähigkeit überschritten werden. In der Nähe der Obergrenzen kann das sehr teurer werden. Das zu vermeiden wird insbesondere in diesem Jahrhundert eine der intensivsten Herausforderungen sein, um dem zunehmenden Druck anthropozäner Aktivitäten begegnen zu können, die verantwortlich für schädliche Auswirkungen auf Mensch, Umwelt und Gesundheit sind [En22].

Menschen und Gesellschaften, in denen sie leben, sind nicht grenzenlos optimierbar. Das gilt auch für die technisch fortgeschrittensten Gesellschaften.

08 Der technische Mensch – Endziel des Liberalismus

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Die Frage, die sich im hier zu erörternden Sachzusammenhang stellt lautet: Ist der technische Mensch das Endziel des Liberalismus?

In dem Manifest des Futurismus, das Filippo Tommaso Marinetti (1876 bis 1944), einem damals über die Landesgrenzen Italiens hinausgehend bekanntem Schriftsteller, der den Faschismus glorifizierte und Begründer des Futurismus war, heißt es:

Marinetti: Heute verfügen wir über ein [neues] Gefühl für die Welt, wir müssen nicht mehr wissen, was unsere Vorfahren taten, aber wir müssen wissen was unsere Zeitgenossen in allen Teilen der Welt treiben (Seite 64).

Zum vervielfachten Menschen, der seinen Machtzuwachs den Maschinen verdankt, heißt es bei Marinetti an anderer Stelle:

Aus diesem Grunde entwickeln und verkünden wir eine große neue Idee und verbreiten sie im heutigen Leben: Die oder der mechanischen Schönheit; wir verherrlichen also die Liebe zur Maschine (Seite 115).

Moral, was soll das sein? Die Antwort von Marinetti darauf lautet:

Die futuristische Moral wird den Menschen vor der Zersetzung bewahren, die von der Langsamkeit, der Erinnerung, der Analyse, der Ruhe und der Gewohnheit herrühren. Die [durch Maschinen] verhundertfachte Energie der Geschwindigkeit wird Zeit und Raum beherrschen (Seite 122).

Und was soll mit den Feinden des Futurismus geschehen?

All diejenigen, die sich gegen die Geschwindigkeit versündigen, müssen verfolgt, ausgepeitscht und gefoltert werden (Seite 124).

Die neue Religion.

Die Trunkenheit der großen Geschwindigkeiten [....] ist nichts anderes als die Freude, mit dem einzigen göttlichen Wesen zu verschmelzen (Seite 126).

Ewiges Leben.

Der vervielfältigte Mensch, den wir erträumen, wird die Tragödie des Alters nicht mehr kennen (Seite 120)  [En23].

Ich überlasse es Ihnen, die futuristischen Vorstellungen von Marinetti auf die Lebenswirklichkeit von heute sowie auf die der Zukunft zu übertragen. Marinetti schrieb seine Futurismen in der Zeit von 1909 bis 1944. Die hier verwendeten Zitate stammen aus Manifesten, die in der Zeit von 1909 bis 1915 geschrieben wurden.

Übrigens: Filippo Tommaso Marinetti war ein glühender Vertreter des italienischen Faschismus. Das erste Treffen von Marinetti und Mussolini fand bereits im Jahr 1914 statt.

09 Der kapitalistische und der technische Mensch

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Sozusagen als eine Fortsetzung futuristischer Zukunftsvorstellungen, wie sie Marinetti beschrieben hatte, gab es nach dem Ende des Ersten Weltkrieges auch im deutschsprachigen Raum. Dort entstand ebenfalls eine Bewegung, in der Technik als dominierender Teil der Zukunftsgestaltung angesehen wurde. Heinrich Hardensett (1899-1947), der Begründer der Technokratiebewegung, entwickelte daraus sogar eine „Philosophie der Technik“. Die von ihm gegründete Technokratiebewegung setzte sich länderübergreifend für die Nutzung von mehr Technologie und wissenschaftlichen Verfahren ein. Er war der Meinung, dass Staaten nicht von Politikern, sondern mehr und mehr von Technokraten und Experten regiert werden sollten, denn nur so könnte der Wohlstand verbessert werden. Seine 1932 veröffentlichte Dissertation, „Der kapitalistische und der technische Mensch“, kann auch heute noch als die „wohl weitestgehendste und fundierteste Theorie zur sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Standortbestimmung des technischen Menschen“ angesehen werden.

Unter Verweis auf Arthur Schopenhauer ging Hardensett davon aus, dass das Wunderbare im Menschen darin zu sehen sei, dass dieser den Willen der Natur in sich selbst erkennt. Noch wunderbarer erschien es Schopenhauer aber, dass der Mensch es verstanden habe, diesen Willen zu bändigen und für sich nutzbar zu machen. Technik ist somit, auch nach der Sichtweise von Hardensett, als ein göttlicher Auftrag zur Fortsetzung und Vollendung des göttlichen Schöpfungswerkes zu verstehen.

Anders ausgedrückt: Hardensett war davon überzeugt, dass die Technik als ein Feind des natürlichen Lebens anzusehen sei.

Hardensett: Die technische Welt kann als eine Fortbildung der Natur oder als zweite Natur empfunden werden. Sie kann aber auch als Feind der Natur, als widernatürlich verstanden werden. Alle Technik muss in die Natur eingreifen, ihres eigenen Sinnes wegen und nicht aus einem Vernichtungsdrang heraus. Sie greift demgemäß von sich aus nur so weit ein, als ihr dies das Gesetz erlaubt [En24].

Während der kapitalistische Mensch, der sich der Technik bedient, Profite machen will, der den Ertrag seines Aufwands übersteigt, kommt es dem technischen Menschen eher auf die Beschleunigung, Schnelligkeit und Intensivierung der Produktion von Sachwerten an. „Er produziert“, so Hardensett, Sachwerte und nicht Geisteswerte, er schafft in weitester Bedeutung „Gerät“ und nicht „Sprache“. Den Wesenskern seiner Philosophie der Technik beschreibt Hardensett wie folgt:

Hardensett: Der technische Mensch muss demnach die vollkommene Maschine anstreben, er nähert sich asymptotisch einer idealen Endlösung, er strebt nach Vollendung. Der technische Mensch sieht mindestens in der naturalen Seite seines Schaffens eine exakte, angebbare Grenze. Aber auch die Möglichkeit neuer Lösungsideen ist nicht unbegrenzt, auch hier nähert man sich immer mehr der idealtypischen Lösung und damit der Grenze, zumindest aber liegt dem technisch erfinderischen und konstruktiven Schaffen die Idee der vollkommenen Lösung zugrunde. Und die Idee ist entscheidend für die seelische Analyse [des technischen Menschen] [En25].

Mit anderen Worten: Wenn das Ziel erreicht ist, und die Maschine mehr kann, als der Mensch jemals zu leisten in der Lage ist, dann ist das Ziel des liberalen Fortschrittsglaubens erreicht. Dem Menschen ist es dann gelungen, sich überflüssig zu machen. Alle Macht den Maschinen. Zu hoffen bleibt, dass dieser Albtraum niemals Wirklichkeit werden wird.

Liberalismus so verstanden mündet somit in Unfreiheit. Anders ausgedrückt, was am Anfang unter Freiheit verstanden wurde, wird, wenn der Höhepunkt der Freiheit erreicht ist, sich in Unfreiheit umkehren.

10 Schlusssätze

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Liberales Denken, so zumindest meine Wahrnehmung, ist in der bundesdeutschen Demokratie von heute sowohl rückwärts, als auch vorwärtsgewandt, denn Liberale sind davon überzeugt, dass Fortschritt, Wachstum, Wohlstand und Freiheit, so wie wir sie heute noch für normal halten, erhalten bleiben muss, weil sie unbegrenzt erscheint und deshalb auch unverzichtbar ist, denn sie ist untrennbar mit den Werten verbunden, die sich aus 250 Jahren liberalen Fortschrittsglaubens haben ableiten lassen.

Dieses rückwärtsgewandte anarchronische Denken, dem ein neues futuristisches Denken hinzugefügt  wurde und immer noch wird, vermag aber nicht mehr den Ansprüchen zu genügen, denen heute eine liberale Demokratie entsprechen müsste. Grund dafür ist, dass die Gestalt der liberalen Demokratie sowohl in der Theorie als auch in der Praxis alt geworden ist, und die neuen Vorstellungen einer soften und komplett digitalisierten Welt eher Ängste, als Hoffnung zu erzeugen vermögen.

Ich denke, dass es an der Zeit ist, sich wieder an die Worte des Parteivorsitzenden der SPD, Willi Brand (1913 bis 1992) zu erinnern, der anlässlich des außerordentlichen Parteitags der SPD in der Bonner Beethovenhalle am 14. Juni 1987 Folgendes gesagt hat:

Willy Brandt: Wenn ich sagen soll, was mir neben Frieden wichtiger sei als alles andere, dann lautet meine Antwort ohne Wenn und Aber: Freiheit. Die Freiheit für viele, nicht nur für die wenigen. Freiheit des Gewissens und der Meinung. Auch Freiheit von Not und von Furcht [En26].

Die Vorstellung, durch technische Mittel den Tod überwinden zu können, um so unendliche Freiheit zu erlangen, ist nichts anderes als eine Vorstellungswelt von Ignoranten, die nicht akzeptieren können, dass die Freiheit des Menschen nicht grenzenlos ist.

11 Quellen

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Endnote_01
John Locke. Philosophenlexikon.
http://www.philosophenlexikon.de/john-locke/
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Endnote_02
Veith Selk. Demokratiedämmerung. Eine Kritik der Demokratietheorie. Suhrkamp-Verlag 2023, Seite 27
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Endnote_03
Ebd. Veith Selk, Seite 27
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Endnote_04
Vgl. Sheldon S. Wolin. Umgekehrter Totalitarismus. Faktische Machtverhältnisse und ihre zerstörerischen Auswirkungen auf unsere Demokratie. Westend-Verlag. 2. Auflage 2023, Seite 86
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Endnote_05
Sie verteidigen unsere Republik und unser Grundgesetz gegen seine Feinde.
https://www.youtube.com/watch?v=eaIx4bdoprU
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Endnote_06
Rainer Mausfeld. Hybris und Nemesis. Wie uns die Entzivilisierung von Macht in den Abgrund führt. Westend-Verlag 2023, Seite 428
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Endnote_07
Alexis de Tocqueville. Über die Demokratie in Amerika. Reclam-Verlag 2021, Seite 413
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Endnote_08
Ebd. Tocqueville, Seite 353
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Endnote_09
Ebd. Tocqueville, Seite 370
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Endnote_10
Ebd. Tocqueville, Seite 352
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Endnote_11
Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages. 60 Jahre Grundgesetz – Zahlen und Fakten.
https://www.bundestag.de/resource/blob/414590/
7c0ab6898529d2e6d7b123a894dbeb8f/wd-3-181-09-pdf-data.pdf
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Endnote_12
Per Molander. Die Anatomie der Ungleichheit. Woher sie kommt und wie wir sie beherrschen können. Westend-Verlag 2o17, Seite 126
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Endnote_13
Michael J. Sandel. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratie zerreißt. Vom Ende des Gemeinwohls, Seite 244
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Endnote_14
Veith Selk. Demokratiedämmerung. Eine Kritik der Demokratietheorie. Suhrkamp 2023, Seite 218
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Endnote_15
Patrick J. Deneen. Warum der Liberalismus gescheitert ist. Müry Salzmann-Verlag 2019 Wien, Seite 65
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Endnote_16
Ebd. Patrick J. Deneen, Seite 66
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Endnote_17
Tocqueville, Demokratie in Amerikea, Reclam-Verlag 2021 – Teil 2 Seite 222
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Endnote_18
Sueddeutsche.de vom 30. 11. 2020. Wenn Freiheit sich selbst zerstört.
https://www.sueddeutsche.de/politik/freiheit-
liberalismus-marktliberalismus-1.5129772
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Endnote_19
Beschluss des 63. Ordentlichen Bundesparteitages der FDP in Karlsruhe vom 22. April 2012.
https://www.fdp.de/sites/default/files/import/
2016-01/378-karlsruherfreiheitsthesen.pdf
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Endnote_20
David Gräber/David Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit. Klett-Cotta-Verlag, 5. Auflage 2022. Seite 304/05
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Endnote_21
Ebd. David Gräber/David Wengrow. Seite 310
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Endnote_22
Are we reaching the limits of homo sapiens. Studie. Adrien Marck et. Al. „Are we reaching the limits of homo sapiens?“ Frontiers in Physiology, 24. Oktober 2017. Volltext. https://www.researchgate.net/publication/
320591974_Are_We_Reaching_the_Limits_of_Homo_sapiens
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Endnote_23
Filippo Tommaso Marinetti. Manifeste des Futurismus. Mathes & Seits-Verlag 2018
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Endnote_24
Heinrich Hardensett: Der kapitalistische und der technische Mensch. Metropolis-Verlag 2016 - Seite 47 und 50
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Endnote_25
Ebd. Hardensett, Seiten 97 und 113
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Endnote_26
Willy Brand.
https://www.willy-brandt-biografie.de/wp-content/
uploads/2017/08/Abschiedsrede_Willy_Brandt_Parteitag_1987.pdf
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