Liberale Demokratie
Inhaltsverzeichnis:
01 Voraussetzungen eines
liberalen Staates 02 Die liberale Demokratie von heute 03
Über die Demokratie in Amerika 1831/32 04
Die liberale
Illusion 05 Die liberale Wirklichkeit 06
Die liberale
Partei in Deutschland (FDP) 07 Grenzen liberaler Freiheit?
08 Der technische Mensch – Endziel des Liberalismus 09
Der
kapitalistische und der technische Mensch 10
Schlusssätze
11 Quellen
01 Voraussetzungen
eines liberalen Staates
TOP
Ein liberaler Staat
setzt, nach der heute vorherrschenden Auffassung, eine
Demokratie voraus, denn ein totalitärer Staat, der den Menschen
keine Freiheiten lässt, außer denen, die das System erlaubt,
kann kein liberaler Staat sein. Warum? Der liberale Staat
versteht sich als eine Gesellschaft, in der freidenkerisch,
freigeistig, freiheitlich und repressionsfrei auch im Hinblick
auf abweichende Mehrheitsmeinungen sowie tolerant und
vorurteilsfrei, nicht nur gedacht, sondern auch gesprochen und
geschrieben werden darf.
Bei einem liberalen
Staat handelt es sich aber nicht um einen libertären Staat, der
durch Gesetzlosigkeit, Anarchie und Herrschaftslosigkeit
gekennzeichnet ist.
Die im 19. Jahrhundert
entstandene Vorstellung über einen liberalen Staat lässt sich
auch als eine Weltanschauung beschreiben, in dessen Mittelpunkt
die Freiheit des Individuums steht, dessen freie Entfaltung und
dessen Autonomie den Staat dazu verpflichtet, die Rechte des
Individuums zu schützen, was zur Folge hat, dass staatliche
Eingriffe auf ein Minimum zu beschränken sind und nur auf der
Grundlage von Gesetzen in Betracht kommen.
John Locke (1632 bis
1704) gilt als geistiger Vater des Liberalismus. In seinem Werk
„Two Treatises of Government“ postulierte er Freiheit, Leben und
Eigentum als unveräußerliche Rechte eines jeden Bürgers.
Philosophenlexikon.de:
[John Locke] propagierte die Gewaltenteilung und sah die
Regierung in der Pflicht, Eigentum, Freiheit und Leben aller
Bürger zu schützen.
Lockes
Werk beeinflusste im Grunde die Verfassungen nahezu aller
liberalen Staaten, darunter auch die des revolutionären
Frankreichs sowie die der USA
[En01].
02
Die liberale Demokratie von heute
TOP
Diesbezüglich heißt es bei Veith
Selk
wie folgt:
Veith
Selk:
Die
liberale Theorie der Demokratie [...]
tritt
in unterschiedlichen Formen auf. In ihren einflussreichsten
Varianten erwartet sie von demokratischen Regimen eine effektive
Elitenkontrolle,
responisives
und problemorientiertes Regieren, Sozialstaatlichkeit und
private Freiheitsspielräume für die Bürgerschaft
[En02].
Responsiv:
Mit responsivem Regieren, einem Begriff, der in der
Politikwissenschaft noch relativ neu ist, ist gemeint, das von
der Politik viel „Aufnahmefähigkeit“ erwartet wird. Darunter ist
die Fähigkeit von Repräsentanten, und vor allen Dingen von
Parlamentsabgeordneten zu verstehen, gegenüber den Wünschen,
Erwartungen oder Interessen ihrer Wählerschaft aufgeschlossen zu
sein, diese nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch in
die politischen Entscheidungen einfließen zu lassen.
Ob
sowohl die gewählten Eliten als auch die im Hintergrund
agierenden Wirtschaftseliten diesen Ansprüchen heute noch
genügen, lässt sich mit einem Satz nicht beantworten, zumal, was
die Parteien und die von ihnen getragenen Regierungen anbelangt,
zunehmend sowohl Bürger-, als auch Wählerferne vorgehalten wird.
Festzustellen ist, dass das liberale Modell, das von Eliten für
Eliten gemacht wurde, wohl einer Neuinterpretation bedarf, so
auch die Sichtweise von Veith Selk, wenn er schreibt:
Veith Selk:
Indes werden die Voraussetzungen dieses liberalen Modells von
Demokratie [....]
devolutionär
zersetzt. Der demokratische Liberalismus hält [dennoch] an einen
nunmehr historisch gewordenen Set liberaler Institutionen fest,
welches er der Phase der erstarkenden Demokratie in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts abgelesen hatte. Er kann die
zeitgenössische Politik nur noch in einer rückwärtsgewandten,
anachronistischen Form auf den Begriff bringen
[En03].
Anders ausgedrückt:
Die Gestalt der liberalen Demokratie ist, in der Theorie wie in
der Praxis, alt geworden. Diese Sprachfigur wird heute, in
Anlehnung an Sheldon S.
Wolin
benutzt, um nostalgische Gefühle an die Stelle der Realität
treten zu lassen.
Mit anderen Worten:
Wolin
geht davon aus, dass die liberale Demokratie nur in der
Vorstellungswelt, nicht aber wirklich existiert, zumindest nicht
im Hinblick auf den Einfluss des Volkes (des Souveräns) auf die
Entscheidungen der Eliten, was diese aber dazu ermuntert, zur
Aufrechterhaltung ihrer Macht die Realität zu verdecken und
alles zu tun, um das Fantasieprojekt der liberalen Demokratie zu
erhalten
[En04].
Wie dem
auch immer sei. An dieser Stelle noch ein kurzer Nachtrag zum
Demokratiemodell von Veith
Seik,
das nach dessen Überzeugung zurzeit
devolutionär
zersetzt wird.
Devolution:
Diese Sprachfigur wird in der Politikwissenschaft verwendet, um
einen Prozess der Übertragung administrativer Funktionen des
Staates an regionale Körperschaften zu beschreiben. Gemeint ist
eine Dezentralisierung von Aufgaben und Befugnissen von der
Zentralregierung eines souveränen Staates an subnationalen
Ebene, beispielsweise an regionale oder lokale Ebenen. Es
handelt sich somit um eine Form der administrativen
Dezentralisierung. Zurzeit zumindest hält es die Bundesregierung
immer noch für angemessen, die Probleme, die sich mit der
Unterbringung von Flüchtlingen und Asylanten ergeben, auf die
Kommunen abzuwälzen. Der sich daraus ergebende Konflikt zwischen
Regierung, Kommunen und Bürgern, kann insoweit durchaus als ein
devolutionärer
Zersetzungsprozess der Demokratie bezeichnet werden, der darin
besteht, sich vor Verantwortung zu drücken und diese sozusagen
an nachgeordnete Stellen und Institutionen weiterzureichen.
Mit anderen Worten:
Zumindest in der Theorie ist die liberale Demokratie eine
anspruchsvolle und zerbrechliche Regierungsform, weil sie nur in
den Köpfen und durch die Köpfe ihrer Bürger verwirklicht werden
kann.
Bedauerlicherweise existiert solch eine liberale Demokratie
zurzeit nicht, denn mehr als wählen und demonstrieren steht den
Bürgerinnen und Bürger nicht zu. Und auch wenn sie zu
Hunderttausenden gegen Rechts demonstrieren, werden ihre
Forderungen, zum Beispiel die AfD zu verbieten oder gar Björn
Höcke die Grundrechte abzuerkennen, wohl kaum umgesetzt werden,
weil es den Eliten völlig ausreicht, ihrem politischen Gegner
durch die von ihnen erzeugten Massenproteste, Schaden zugefügt
zu haben. Ob ihnen das gelungen ist, bleibt jedoch abzuwarten.
Wie dem auch immer sei:
Immerhin hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den
Hunderttausenden Demonstranten, die gegen Rechtsextremismus
demonstriert haben, für ihren Einsatz für die Demokratie
gedankt. „Diese Menschen machen uns allen Mut. Sie verteidigen
unsere Republik und unser Grundgesetz gegen seine Feinde. Sie
verteidigen unsere Menschlichkeit“, sagte er am Sonntag, den 21.
Januar 2024 in Berlin in einer Videobotschaft
[En05].
Dass er
damit die Wählerinnen und Wähler der AfD, und das sind, man mag
das bedauern, mehrere Millionen Wählerinnen und Wähler, zu
Feinden erklärt hat, scheint ihm dabei wohl entgangen zu sein,
denn einem Bundespräsidenten, dessen Aufgabe es ist, alle
Bürgerinnen und Bürger und auch alle anderen in Deutschland
lebenden Menschen zu repräsentieren, hat politisch neutral zu
sein. Es steht ihm nicht zu, Bürgerinnen und Bürger der
Bundesrepublik Deutschland zu Feinden zu erklären.
03
Über die Demokratie in Amerika 1831/32
TOP
Der
französische Politiker und Historiker Alexis de Tocqueville
(1805 bis 1859) beschrieb in seinem Klassiker „Democracy
in America“
(Demokratie
in Amerika) die von ihm bei seinem etwa 1 Jahr währenden
Aufenthalt in den USA (März 1831 bis Februar 1832) untersucht
wurde, Elemente, die auch heute noch in liberalen Demokratien
anzutreffen sind.
Alexis
de Tocqueville stellte zum Beispiel fest, dass der Liberalismus
die Tendenz enthält, eine sozial atomisierte und damit radikal
entpolitisierte Gesellschaft zu erzeugen, die Menschen
egoistisch werden lässt, weil für die nur ihre Privatinteressen
wichtig wären, eine Tendenz, die im Liberalismus von heute
schöngeredet wird.
Diesbezüglich heißt es dennoch bei Rainer
Mausfeld:
Rainer
Mausfeld:
Dieser atomisierende Individualismus, der die politische
Bedeutung von Ideen der Gemeinschaft und Kollektivität leugnet
und der das allgemeine Interesse auf das freie Spiel von
konkurrierenden Privatinteressen reduziert, drohe letztlich den
Menschen „in die Einsamkeit seines eigenen Herzens
einzuschließen“. Er mündet in eine politische Apathie, eine
Erstarrung des politischen Lebens und eine Entleerung des
politischen Raums [En06].
Alexis
de Tocqueville hat dafür andere Worte benutzt:
Jeder
steht in seiner Vereinzelung dem Schicksal aller anderen fremd
gegenüber.
Warum?
Die im
Liberalismus wesenhaft angelegte Entpolitisierung der Bürger
dürfte dafür ursächlich sein. Begünstigt und gefördert wird das
durch die Bereitstellung von Konsum als Ersatz für die
verweigerte Beteiligung am politischen Leben.
Mit anderen Worten:
Wenn es den Bürgern gut geht, haben sie keine Probleme damit,
sich, zumindest bis zum nächsten Wahltag, den von ihnen
gewählten Eliten freiwillig zu unterwerfen, obwohl in ihren
Herzen der Wunsch nach Mitbestimmung weiterhin vorhanden ist.
Tocqueville:
Unsere Zeitgenossen sind ständig von zwei widerstreitenden
Leidenschaften geplagt: Sie fühlen das Bedürfnis, geführt zu
werden, und dabei die Lust, frei zu bleiben. Da sie weder die
eine noch die andere dieser entgegengesetzten Neigungen
niederkämpfen können, bemühen sie sich, sie beide zugleich zu
befriedigen. Sie stellen sich eine einzige, allmächtige, aber
von den Bürgern gewählte Vormundschaftsgewalt vor. Das beruhigt
sie etwas. Sie trösten sich selbst, ihren Vormund gewählt zu
haben. Jeder Einzelne lässt sich willig fesseln, weil er sieht,
weder ein Mann noch eine Klasse, sondern das Volk selbst hält
das Ende der Kette. In diesem System verlassen die Bürger für
einen Augenblick
[am
Wahltag]
ihre
Abhängigkeit, um ihren Herrn zu bezeichnen
[zu wählen]
und fallen danach wieder in sie
[die gewählte Vormundschaftsgewalt]
zurück [En07].
Diese
Einsichten von Tocqueville über den Zustand der „Demokratie in
Amerika“ im Jahr 1831/32 dürfte auch heute noch Gültigkeit für
sich in Anspruch nehmen, obwohl im Deutschland von heute sich
wieder ein Protestpotential formiert, das, so zumindest sehe ich
den politischen Zustand im Deutschland von heute, die
herrschenden Eliten in Angst geraten, nicht nur an Macht und an
Einfluss zu verlieren, sondern sogar abgewählt zu werden.
Wie dem
auch immer sei:
Tocqueville:
So haben die demokratischen Völker weder die Muße noch die
Neigung, sich auf die Suche nach neuen Anschauungen zu begeben.
Sogar wenn sie an denen
[gemeint sind die gewählten Vertreter],
die sie haben, zu zweifeln beginnen, behalten sie diese
gleichwohl bei, weil deren Änderung sie zu viel Zeit und
Nachprüfung kosten würde; sie bewahren sie
[die
gewählten Eliten],
nicht weil diese sicher sind, sondern weil sie bestehen
[En08].
Und:
Tocqueville:
Je mehr sich die gesellschaftlichen Bedingungen in einem Volk
einander angleichen, umso kleiner erscheinen die Individuen und
umso größer erscheint der Staat, oder vielmehr: Jeder Bürger
verliert sich – allen anderen gleich geworden – in der Menge
[En09].
Auch
das, was Tocqueville über diejenigen schrieb, die in einer
liberalen Demokratie die politischen Entscheidungen treffen,
lässt sich leicht auf die Verhältnisse des Jahres 2024 in
Deutschland übertragen.
Tocqueville:
Hat man das Vertrauen eines demokratischen Volkes erworben, so
ist noch eine große Bemühung nötig, um seine Aufmerksamkeit zu
erringen. Es ist sehr schwierig, sich bei den Menschen, die in
einer Demokratie leben, Gehör zu verschaffen, sobald man mit
ihnen nicht über sie selbst spricht. Sie hören nicht auf das,
was man ihnen sagt, weil sie immer sehr mit dem beschäftigt
sind, was sie tun. In der Tat trifft man bei den demokratischen
Nationen wenig Müßiggänger an. Das Dasein spielt sich in Unruhe
und Betrieb ab, und die Menschen sind da so sehr vom Tun in
Anspruch genommen, dass ihnen wenig Zeit zum Denken bleibt
[En10].
Dennoch:
Der
Liberalismus von heute lässt sich natürlich nicht eins zu eine
mit dem Liberalismus von vor gut 190 Jahren in Amerika
vergleichen, denn der Liberalismus hat sich, dem Laufe der Zeit
folgend, verändert. Heute ist der Bürger, als der entscheidende
Akteur in der Theorie der Demokratie, sozusagen mit dem Homo
oeconomicus verschmolzen. Seine Freiheit lässt sich somit
durchaus auf das vorrangige Recht, besser gesagt auf die ihm
obliegende erste Bürgerpflicht reduzieren, die von ihm erwartet,
zu konsumieren.
Dieser
ebenfalls von Tocqueville vorausgesagte Verfall der
demokratischen Idee, die darin besteht, partizipativ an der
Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens teilzunehmen, dürfte
heute bereits Wirklichkeit geworden sein, denn der Bürger von
heute muss sich wohl damit abfinden, lediglich ein Zuschauer zu
sein, zumal die staatlichen Institutionen immer noch beharrlich
zu verhindern versuchen, ihren Bürgern einen politischen
Partizipationsanspruch einzuräumen.
Das
bisschen Bürgerrat von heute dürfte wohl kaum als die
Beteiligung anzusehen sein, die in einer liberalen Demokratie
dem Partizipationsanspruch der Bürgerinnen und Bürger von heute
entsprechen dürfte. Dieses Thema wird zu einem späteren
Zeitpunkt aufgegriffen, wenn es darum geht, die Sprachfigur der
„deliberativen Demokratie“ mit Leben zu füllen.
04
Die liberale Illusion
TOP
Warum diese
Überschrift? Ganz einfach: Liberalismus ist schwer zu
definieren, zumal dieser Begriff erst zu Beginn des 19.
Jahrhunderts verwendet wurde. Natürlich sind die dem
Liberalismus zugrunde liegenden Ideen älter, denn Wörter werden
nicht von jetzt auf gleich erfunden, sondern vorbereitet.
Deshalb finden sich liberale Positionen bereits schon John Locke
(1632 bis 1704), Adam Smith (1723 bis 1790) und John Stuart
Mill
(1806 bis 1873). Ausformuliert im Sinne eines heute noch
gültigen Liberalismusverständnisses wurden sie aber wohl erst
von John Maynard Keynes (1883 bis 1946) und Friedrich August von
Hayek (1899 bis 1992) und danach von vielen anderen
Sozialwissenschaftlern.
Wie dem auch immer sei:
Der Liberalismus definierte sich zuerst im Kontrast zu Werten
und Begriffen des alten Regimes.
Anders ausgedrückt:
Liberalismus war etwas völlig Neues im Vergleich zu dem
überholten Alten, deren Denker sich ausschließlich an der
Vergangenheit und an der bestehenden göttlichen Ordnung
orientierten, in der für individuelle Freiheit kein Platz zur
Verfügung stand.
Und nun?
An die Stelle einer sich auflösenden alten gottgewollten Ordnung
entstand eine auf wissenschaftlicher Grundlage beruhenden
Weltanschauung. Ein weiterer wichtiger Ausgangspunkt war und ist
immer noch der Individualismus in seinen unterschiedlichesten
Formen.
Am
Anfang stand die Erkenntnis, dass der Mensch im fundamentalen
Sinne allein ist, gefangen im Hier und im Jetzt und ohne
Aussicht auf ein besseres Leben im Jenseits, dem göttlichen Ort
ausgleichender Gerechtigkeit für die im realen Leben erlittenen
Ungerechtigkeiten. Diese Form der Bestimmung des menschlichen
Seins wurde aufgegeben.
Um den
sich daraus ergebenden psychisch nur schwer zu akzeptierenden
Zustand ertragen zu können, war und ist es das Ziel des
Liberalismus, sozusagen den Himmel auf Erden zu schaffen, was
aber bekannterweise bis heute noch nicht gelungen ist, obwohl
überzeugte Liberale davon immer noch träumen. Nicht einmal eine
perfekte Verfassung konnte bisher von Menschen geschaffen
werden.
Wer daran
glaubt, dass dies den Vätern des Grundgesetzes gelungen ist, der
muss erklären können, warum mehr als 155 Bände
Verfassungsgerichtsentscheidungen gefüllt werden mussten und
auch in Zukunft neue Entscheidungen getroffen werden müssen, um
herauszufinden, was das Grundgesetz tatsächlich meint. Sogar die
Grundrechte blieben von Änderungen nicht verschont. In einem
Gutachten der
Wissenschaftlichen
Dienste des Deutschen Bundestages aus dem Jahr 2009 heißt es:
WD 2009:
Von den insgesamt 54 verfassungsändernden Gesetzen beinhalten
lediglich sieben eine Änderung des Grundrechtsabschnitts. Von
den insgesamt 199 Einzeländerungen betrafen nur 16 die
Grundrechte [En11].
Zwischenzeitlich dürften weitere Änderungen hinzugekommen sein,
die in einer liberalen Demokratie mit den gleichen
beschwichtigenden Worten der Öffentlichkeit zur Kenntnis
gegeben werden, wie das 2009 in dem o.g. Gutachten der Fall
ist.
Wie dem
auch immer sei.
Molander:
Unter den liberalen Denkern, die dennoch die perfekte
Konstitution anstreben, dürfte die Annahme normal sein, dass
irgendwo zwischen dem ursprünglichen egalitären Gleichgewicht
und der ungehinderten Ausbeutung des Einen durch einen
Anderen,
zivilisierte gesellschaftliche Kräfte des Ausgleichs existieren
[En12].
Das aber
kann nicht gelingen, solange die Erfolgreichen nicht dazu bereit
sind, den Verlust des Selbstwertgefühls bei jenen zu verhindern,
denen Macht oder Vermögen fehlt, und das ist bedauerlicherweise
die Mehrheit.
Michael J. Sandel:
In Leistungsgesellschaften ziehen natürliche Fähigkeiten, so
unverdient sie auch sein mögen, Lob nach sich. Teilweise liegt
das daran, dass sie um ihrer selbst willen bewundert werden.
Doch es hat auch damit zu tun, dass man sie als Erklärung für
die riesigen Gewinne der erfolgreichen heranzieht. Wenn eine
Leistungsgesellschaft die Menschen befähigt, so weit
aufzusteigen, wie ihre gottgegebenen Talente sie tragen, ist man
versucht anzunehmen, dass die Erfolgreichsten auch die
Begabtesten sind. Doch das ist ein Fehler. Erfolgreich Geld zu
scheffeln zu können hat wenig mit angeborener Intelligenz zu tun
– falls es so etwas überhaupt gibt. Indem die egalitären
Liberalen sich auf natürliche Begabung als vorrangige Quelle der
Einkommensungleichheit festlegen, übertreiben sie deren Rolle
und erhöhen – unabsichtlich – ihr Prestige
[En13].
Liberalismus setzt somit, um erfolgreich sein zu können, voraus,
die diesem System immanente individuelle Freiheit nicht zu
missbrauchen. Geschieht das dennoch, dann läuft der Liberalismus
Gefahr, sich selbst zu zerstören, weil die durch ihn erzeugten
Ungleichheiten letztendlich selbstzerstörend wirken.
Veith Selk:
Erschwert wird eine Diskussion der liberalen Perspektive auf
Demokratie schließlich dadurch, dass aus der Sicht eines
entsprechend
breiten Verständnisses
von „liberal“ viele Demokratietheorien als liberal klassifiziert
werden könnten, soweit sie Demokratie mit Grundrechten,
Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit verbinden
[En14].
Hinsichtlich der einzufordernden institutionellen Strukturen, in
denen Liberalismus funktioniert, heißt es bei Veith Selk ein
paar Sätze weiter, die liberalen Strukturen betreffend, in denen
Ungleichheit entstehen kann sinngemäß, dass die Struktur, in der
eine liberale Demokratie funktionieren kann, die Trennung von
Staat und Gesellschaft sozusagen zum Kern des liberalen
Staatsverständnisses voraussetzt.
Anders ausgedrückt:
So
wenig Staat wie möglich und nur so viel Staat wie nötig. Der
Rest sollte dem freien Spiel der Kräfte überlassen werden, womit
nicht nur der Markt, die zunehmende Ungleichheit, sondern auch
die Umweltschäden gemeint sind. Mit anderen Worten: Der liberale
Mensch von heute hat sich mit der Sinnlosigkeit des Lebens von
heute abzufinden, wenn es ihm nicht gelingt, aufzusteigen. Um
das ertragen zu können, fordert ihn der Liberalismus dazu auf,
sein Leben im Rahmen seiner Möglichkeiten zu feiern, denn er hat
nur eines, was der Liberalismus aber zu ändern gedenkt, denn
seine Hoffnung besteht natürlich auch darin, eine technische
Lösung dafür zu finden, dass nicht nur die Natur, sondern auch
der Tod bezwungen werden kann, und wenn die Masse gleichförmig
lebt, dann wird es ihr nicht mehr unangenehm auffallen, dass
ihre Art zu leben fremdbestimmt ist. Im Gegenteil, die Masse
wird dieses Leben lieben.
05
Die liberale Wirklichkeit
TOP
Wie
bereits erörtert, markiert das Aufkommen des Liberalismus
sozusagen das Ende eines umnachteten Zeitalters, gemeint ist das
Zeitalter des Mittelalters. Die Befreiung des Menschen aus der
Dunkelheit, die Überwindung von Unterdrückung und Ungleichheit,
den Niedergang von Monarchie und Aristokratie, das Aufblühen von
Wohlstand und Technik und der Beginn eines Zeitalters des nahezu
ungebrochenen Fortschritts versprachen ein Leben in
Selbstbestimmung bei der Suche nach Glück.
Patrick J. Deneen:
[Liberalismus] erfordert
[aber]
ein immer rascheres Wirtschaftswachstum und einen erhöhten
Ressourcenverbrauch. Die liberale Gesellschaft kann die
Verlangsamung eines solchen Wachstums kaum überleben, ja sie
würde zusammenbrechen, wenn das Wirtschaftswachstum eine Zeit
lang stagniert oder rückläufig ist
[En15].
Das hat
- wie wir heute alle wissen – unweigerlich negative Folgen für
den Lebensraum des Menschen. Was damit gemeint ist, lässt sich
heute mit einem Wort sozusagen umfassend beschreiben:
Klimawandel.
Patrick J. Deneen:
Im
materiellen und wirtschaftlichen Bereich hat der Liberalismus,
bei dem Unterfangen, die Natur zu erobern, auf uralte Ressourcen
zugegriffen. Unabhängig vom politischen Programm der heutigen
Führungskräfte lautet die unangefochtene Devise:
Mehr.
Der Liberalismus kann nur unter der Voraussetzung einer
ständigen Zunahme der verfügbaren und konsumierbaren materiellen
Güter und damit auch einer ständig fortschreitenden Eroberung
und Beherrschung der Natur funktionieren
[En16].
Ob
Alexis de Tocqueville die Ursache für diese dem Menschsein
immanente Eigenschaft, die Natur in dem Maße, wie wir das heute
tun, auszubeuten, bewusst war, als er folgende Zeilen schrieb,
ist nicht anzunehmen, dennoch aber vermögen die folgenden Sätze
aus einer vergangenen Zeit auch heute noch vieles erklären.
Alexis de Tocqueville:
Haben sie sich
[gemeint
sind die Staatsbürger]
einmal
daran gewöhnt, sich nicht mehr mit dem Geschehen nach dem Tode
zu befassen, so sieht man sie leicht in jene vollständige und
rücksichtslose Gleichgültigkeit gegenüber der Natur
zurückfallen, die bestimmten Trieben des Menschengeschlechts nur
zu sehr entspricht. Sobald die nicht mehr gewohnt sind, ihre
Haupthoffnungen auf weite Sicht zu bauen, treibt sie natürlich
nach sofortiger Verwirklichung ihrer geringsten Wünsche.
Man
muss daher stets befürchten, dass die Menschen sich fortwährend
ihren zufälligen Tageslüsten überlassen und dass sie bei ihrem
völligen Verzicht auf jegliches, das nicht ohne lange Mühen zu
erringen ist, nichts Großes, Friedliches und Dauerndes schaffen
[En17].
Diese
bereits von Tocqueville 1835 (dem Erscheinungsjahr seines
Buches) beschriebene Gefahr wird – man mag das bedauern – auch
heute noch von vielen Liberalen in der Hoffnung für hinnehmbar
gehalten, dass es für die negativen Folgen, die durch
konsequente Ausbeutung und konsequente Anwendung von Technik
verursacht wurden und werden, zur gegebenen Zeit auch durch
Technik beseitigt werden können, zum Beispiel indem die
Atmosphäre wieder repariert wird.
Weitaus
gefährlicher für den Bestand einer Demokratie halten die
Verfechter des Liberalismus hingegen die Gefahr, dass Freiheit
für viele zur Last bzw. zu einer bloßen Pflicht wird und für
manche sogar die Dimension einer Bedrohung einnimmt, denn das,
was unsere Art des liberalen Lebens im Kern ausmacht, erzeugt
nicht mehr vor allem Optimismus, nicht mehr vor allem
Zukunftszugewandtheit, sondern immer stärker Angst und Wut.
Unter
der Überschrift: „Freiheit für die, die schon frei sind“, heißt
es in einem Artikel der Onlineausgabe der Süddeutschen Zeitung
vom 30. November 2020 wie folgt:
Sueddeutsche.de:
Liberale wollen oft nichts davon wissen, dass die Freiheit zur
persönlichen Entfaltung meist nur die genießen können, die schon
frei sind. Der Liberalismus ist heute auch ein
Machterhaltungsmittel für die Mächtigen. Privileg schlägt in
Herrschaft um. Und statt größerer Chancengleichheit entsteht
eine neue Plutokratie. Die Reichen, Jungen und Beweglichen
dienen als Auslage und Selbstbestätigung des Systems. Zurück
bleiben keine befreiten Individuen, sondern viele einsame
Ohnmächtige. Da ist es nicht nur eine Randnotiz, dass
beispielsweise 22 Prozent der
Millennials
in den USA sagen, sie hätten „keine Freunde“. Schlimmer wirkt
das Märchen der Chancengleichheit: Jeder kann es schaffen, jeder
kann oben treiben, der nur heftig genug strampelt. Dieses
Leistungsdenken übersieht, wie ungleich und ungerecht die
Ausgangsbedingungen sind, dass Fett von selbst oben schwimmt.
Dass es die Privilegien der einen sind, die die anderen nach
unten drücken [En18].
06
Die liberale Partei in Deutschland (FDP)
TOP
Der
nachfolgende Text stammt aus dem Beschluss des 63. Ordentlichen
Bundesparteitages der FDP in Karlsruhe vom 22. April 2012, dem
folgende Überschrift vorangestellt ist.
Verantwortung für die Freiheit.
Die
Freiheit des Einzelnen ist Grund und Grenze liberaler Politik.
Frei zu sein heißt, das eigene Leben ohne fremden Zwang selbst
bestimmen zu können. Dafür schafft liberale Politik die
Voraussetzungen: Chancen für jeden einzelnen Menschen und
Freiheitsordnungen für die offene Bürgergesellschaft.
Jeder
Mensch soll faire Chancen haben, sich gemäß der eigenen Talente
und Ideen zu entfalten, von eigener Arbeit zu leben und nach
eigener Façon glücklich zu werden. Das ist das Ziel liberaler
Chancenpolitik:
Bildung
und Befähigung von Menschen zu selbstbestimmtem Leben und zur
selbstbestimmten verantwortungsbewussten Teilhabe in Wirtschaft,
Politik und Bürgergesellschaft.
In
unserer Demokratie bilden der liberale Rechtsstaat und die
Soziale Marktwirtschaft gemeinsam die liberale Grundordnung. Sie
bestimmen die Voraussetzungen und setzen zugleich die Grenzen
für das freie Spiel der Kräfte in Politik, Markt und
Gesellschaft. Es ist das Ziel liberaler Ordnungspolitik,
Grundrechte und Freiräume zu sichern, Zwang abzuwehren und
Bedrohungen der Freiheit durch Machtmonopole zu verhindern und
zu brechen. So gewährleistet liberale Ordnungspolitik eine
ausgewogene Balance zwischen der Freiheit des Einzelnen und der
Freiheit der Vielen.
Freiheit braucht Fairness und Verantwortung und Verantwortung.
Die
Voraussetzung der Freiheit des einzelnen Menschen sind faire
gemeinsame Regeln und faire individuelle Chancen. Gleichzeitig
erwarten wir, dass jeder Einzelne seine Freiheit in
Verantwortung für das eigene Leben und gegenüber der Mitwelt,
der Umwelt sowie der Nachwelt gebraucht. Freiheit, Fairness und
Verantwortung sind deshalb die Grundwerte der offenen
Bürgergesellschaft, denen liberale Politik verpflichtet ist
[En19].
Gut 10
Jahre später verliert sich die FDP in ihrem Wahlprogramm 2021,
hinsichtlich ihrer Vorstellungen, was sie unter liberal
versteht, in eine Vielzahl von Einzelteilen, was die nachfolgend
im Wahlprogramm verwendeten Sprachfiguren verdeutlichen:
-
Liberale
Außenpolitik
-
Liberales Bürgergeld
-
Liberale
Gesundheitsversorgung
-
Liberales Sterbehilfegesetz
-
Liberales Pflegebudget
-
Liberale
Datenpolitik
-
Liberale
und offene demokratischen Gesellschaft
-
Liberale
Demokratie
-
Liberaler Feminismus.
Bei so
viel Liberalismus stellt sich zumindest mir die Frage, was mit
Liberalismus überhaupt noch gemeint ist. Ob Ihnen das beim Lesen
dieser Liberalismusvielfalt genauso ergeht, das vermag ich nicht
zu beurteilen, zumal auch der Relativismus zum Liberalismus
gehört, der dadurch gekennzeichnet ist, dass es keine Wahrheiten
mehr gibt und somit alles relativ ist, Liberalismus und
Demokratie eingeschlossen.
07
Grenzen liberaler Freiheit?
TOP
Gibt es
die überhaupt? Diese Frage lässt sich sowohl mit Ja als auch mit
Nein beantworten. Mit Nein deshalb, weil es eine Zukunft geben
wird, in denen Menschen erneut die Erfahrung machen werden, dass
es möglich ist, gemeinsam friedlich und ressourcenschonend auf
dem Planeten Erde zu leben. Anders gefragt: Warum soll in
Zukunft nicht möglich sein, unter Verzicht auf inakzeptable
Ungleichheiten zusammenzuleben, was in vergangenen
Kulturen über Jahrhunderte hinweg möglich gewesen ist.
Graeber/Wengrow:
Heute wissen wir, dass es in manchen Gebieten Städte gab, die
sich jahrhundertelang selbst verwalteten, ohne das geringste
Anzeichen für Tempel und Paläste, die erst viel später gebaut
wurden. In vielen frühen Städten findet sich schlicht keinerlei
Hinweis auf eine Administration oder eine herrschende Schicht.
In anderen hat es den Anschein, als sei eine zentrale Macht
entstanden und dann wieder verschwunden
[En20].
Dass
damit, in Anlehnung an die neuen Erkenntnisse der Forschung,
nicht nur das Leben in kleinen Dorfgemeinschaften oder kleinen
Ansiedlungen gemeint ist, heißt es bei den beiden Autoren, bei
denen es sich um an Universitäten lehrende Anthropologen
handelt, wie folgt.
Graeber/Wengrow:
Siedlungen mit mehreren
Zehntausend
Einwohnern tauchen in der Menschheitsgeschichte erstmals vor
etwa 6000 Jahren auf, auf beinahe allen Kontinenten und zunächst
isoliert. Dann vermehren sie sich. Unser heutiges Wissen über
sie in ein altmodisches Evolutionsschema einzupassen, in welchem
Städte, Staaten, Bürokratien und soziale Schichten
zusammengehören, gestaltet sich zum Teil so schwierig, weil
diese Städte ganz anders waren [...]
da
es in manchen dieser frühen Städte keine Klassenunterschiede,
Wohlstandsmonopole oder Verwaltungshierarchien gab
[En21].
Daraus
schließe ich, dass die Freiheit des modernen, heute lebenden
Menschen nicht nur die alternativlose Fortschrittsrichtung des
„Weiterso“ zur Verfügung steht, sondern Freiheit auch ganz
anders definiert werden kann.
Das aber
wird es erforderlich machen, erneut ein menschliches Verhalten
zu kultivieren, dass bestehende Ungleichheiten nicht nur auf ein
erträgliches Maß reduziert, sondern auch allen Menschen ein
menschenwürdiges Leben auf dem Planeten Erde ermöglicht. Das
aber wird nur realisierbar sein, wenn wir akzeptieren, dass die
Grenzen unserer Freiheit – so wie wir Freiheit über 250 Jahre
hinweg für normal gehalten haben – nicht nur erreicht, sondern
bereits überschritten worden sind. Das gilt sowohl für den
Lebensstil eines jeden Einzelnen als auch für den Lebensstil
einer ganzen Gesellschaft zumindest in den Staaten, die sich als
Industrienationen bezeichnen.
Hinsichtlich der Grenzen der Leistungsfähigkeit, die Menschen
erreicht haben, aber nicht zu akzeptieren bereit sind, wurde
2017 eine groß angelegte Studie durchgeführt, aus der ich
abschließend zitieren möchte.
Meines
Wissens nach handelt es sich bei dieser Studie um die bisher
größte Metastudie, in der Daten gesammelt und miteinander
verglichen wurden, die hinsichtlich der menschlichen
Leistungsfähigkeit zur Verfügung stehen.
Stoßen
wir an die Grenzen des Homo sapiens? Are we
reaching the limits of homo sapiens
In
der Studie heißt es, in der Übersetzung von mir:
In
Kenntnis der Grenzen der menschlichen Spezies sollte jede Nation
und jeder Staat darum bemüht sein, sowohl die Lebenserwartung
als auch die Gesundheit und die körperliche Leistungsfähigkeit
ihrer Bevölkerung zu verwirklichen.
Aber:
Wenn
Plateaus erreicht sind, dann sollte darauf geachtet werden, dass
es zu einer Regression kommt, die eintreten wird, wenn Grenzen
der menschlichen Leistungsfähigkeit überschritten werden. In der
Nähe der Obergrenzen kann das sehr teurer werden. Das zu
vermeiden wird insbesondere in diesem Jahrhundert eine der
intensivsten Herausforderungen sein, um dem zunehmenden Druck
anthropozäner
Aktivitäten begegnen zu können, die verantwortlich für
schädliche Auswirkungen auf Mensch, Umwelt und Gesundheit sind
[En22].
Menschen
und Gesellschaften, in denen sie leben, sind nicht grenzenlos
optimierbar. Das gilt auch für die technisch fortgeschrittensten
Gesellschaften.
08
Der technische Mensch – Endziel des Liberalismus
TOP
Die
Frage, die sich im hier zu erörternden Sachzusammenhang stellt
lautet: Ist der technische Mensch das Endziel des Liberalismus?
In dem
Manifest des Futurismus, das Filippo Tommaso
Marinetti
(1876 bis 1944), einem damals über die Landesgrenzen Italiens
hinausgehend bekanntem Schriftsteller, der den Faschismus
glorifizierte und Begründer des Futurismus war, heißt es:
Marinetti:
Heute verfügen wir über ein [neues] Gefühl für die Welt, wir
müssen nicht mehr wissen, was unsere Vorfahren taten, aber wir
müssen wissen was unsere Zeitgenossen in allen Teilen der Welt
treiben (Seite 64).
Zum
vervielfachten Menschen, der seinen Machtzuwachs den Maschinen
verdankt, heißt es bei
Marinetti
an anderer Stelle:
Aus
diesem Grunde entwickeln und verkünden wir eine große neue Idee
und verbreiten sie im heutigen Leben: Die oder der mechanischen
Schönheit; wir verherrlichen also die Liebe zur Maschine (Seite
115).
Moral, was
soll das sein? Die Antwort von
Marinetti
darauf lautet:
Die
futuristische Moral wird den Menschen vor der Zersetzung
bewahren, die von der Langsamkeit, der Erinnerung, der Analyse,
der Ruhe und der Gewohnheit herrühren. Die [durch Maschinen]
verhundertfachte Energie der Geschwindigkeit wird Zeit und Raum
beherrschen (Seite 122).
Und was
soll mit den Feinden des Futurismus geschehen?
All
diejenigen, die sich gegen die Geschwindigkeit versündigen,
müssen verfolgt, ausgepeitscht und gefoltert werden (Seite 124).
Die neue
Religion.
Die
Trunkenheit der großen Geschwindigkeiten [....]
ist
nichts anderes als die Freude, mit dem einzigen göttlichen Wesen
zu verschmelzen (Seite 126).
Ewiges
Leben.
Der
vervielfältigte Mensch, den wir erträumen, wird die Tragödie des
Alters nicht mehr kennen (Seite 120)
[En23].
Ich
überlasse es Ihnen, die futuristischen Vorstellungen von
Marinetti
auf die Lebenswirklichkeit von heute sowie auf die der Zukunft zu übertragen.
Marinetti
schrieb seine Futurismen in der Zeit von 1909 bis 1944. Die
hier verwendeten Zitate stammen aus Manifesten, die in der Zeit von 1909 bis 1915
geschrieben wurden.
Übrigens:
Filippo
Tommaso
Marinetti
war ein glühender Vertreter des italienischen
Faschismus. Das
erste Treffen von Marinetti und Mussolini fand bereits im Jahr
1914 statt.
09
Der kapitalistische und der technische Mensch
TOP
Sozusagen als eine Fortsetzung futuristischer
Zukunftsvorstellungen, wie sie Marinetti beschrieben hatte, gab
es nach dem Ende des Ersten Weltkrieges auch im
deutschsprachigen Raum. Dort entstand ebenfalls eine Bewegung, in der Technik als
dominierender Teil der Zukunftsgestaltung angesehen wurde.
Heinrich Hardensett (1899-1947), der Begründer der
Technokratiebewegung, entwickelte daraus sogar eine „Philosophie
der Technik“. Die von ihm gegründete Technokratiebewegung setzte
sich länderübergreifend für die Nutzung von mehr Technologie und
wissenschaftlichen Verfahren ein. Er war der Meinung, dass
Staaten nicht von Politikern, sondern mehr und mehr von
Technokraten und Experten regiert werden sollten, denn nur so
könnte der Wohlstand verbessert werden. Seine 1932
veröffentlichte Dissertation, „Der kapitalistische und der
technische Mensch“, kann auch heute noch als die „wohl
weitestgehendste und fundierteste Theorie zur sozialen,
wirtschaftlichen und kulturellen Standortbestimmung des
technischen Menschen“ angesehen werden.
Unter
Verweis auf Arthur Schopenhauer ging Hardensett davon aus, dass
das Wunderbare im Menschen darin zu sehen sei, dass dieser den
Willen der Natur in sich selbst erkennt. Noch wunderbarer
erschien es Schopenhauer aber, dass der Mensch es verstanden
habe, diesen Willen zu bändigen und für sich nutzbar zu machen.
Technik ist somit, auch nach der Sichtweise von Hardensett, als
ein göttlicher Auftrag zur Fortsetzung und Vollendung des
göttlichen Schöpfungswerkes zu verstehen.
Anders ausgedrückt:
Hardensett war davon überzeugt, dass die Technik als ein Feind des
natürlichen Lebens anzusehen sei.
Hardensett:
Die technische Welt kann als eine Fortbildung der Natur oder als
zweite Natur empfunden werden. Sie kann aber auch als Feind der
Natur, als widernatürlich verstanden werden. Alle Technik muss
in die Natur eingreifen, ihres eigenen Sinnes wegen und nicht
aus einem Vernichtungsdrang heraus. Sie greift demgemäß von sich
aus nur so weit ein, als ihr dies das Gesetz erlaubt
[En24].
Während
der kapitalistische Mensch, der sich der Technik bedient,
Profite machen will, der den Ertrag seines Aufwands übersteigt,
kommt es dem technischen Menschen eher auf die Beschleunigung,
Schnelligkeit und Intensivierung der Produktion von Sachwerten
an. „Er produziert“, so Hardensett, Sachwerte und nicht
Geisteswerte, er schafft in weitester Bedeutung „Gerät“ und
nicht „Sprache“. Den Wesenskern seiner Philosophie der Technik
beschreibt Hardensett wie folgt:
Hardensett:
Der technische Mensch muss demnach die vollkommene Maschine
anstreben, er nähert sich asymptotisch einer idealen Endlösung,
er strebt nach Vollendung. Der technische Mensch sieht
mindestens in der naturalen Seite seines Schaffens eine exakte,
angebbare Grenze. Aber auch die Möglichkeit neuer Lösungsideen
ist nicht unbegrenzt, auch hier nähert man sich immer mehr der
idealtypischen Lösung und damit der Grenze, zumindest aber liegt
dem technisch erfinderischen und konstruktiven Schaffen die Idee
der vollkommenen Lösung zugrunde. Und die Idee ist entscheidend
für die seelische Analyse [des technischen Menschen]
[En25].
Mit anderen Worten:
Wenn das Ziel erreicht ist, und die Maschine mehr kann, als der
Mensch jemals zu leisten in der Lage ist, dann ist das Ziel des
liberalen Fortschrittsglaubens erreicht. Dem Menschen ist es
dann gelungen, sich überflüssig zu machen. Alle Macht den
Maschinen. Zu hoffen bleibt, dass dieser Albtraum niemals
Wirklichkeit werden wird.
Liberalismus so verstanden mündet somit in Unfreiheit. Anders
ausgedrückt, was am Anfang unter Freiheit verstanden wurde,
wird, wenn der Höhepunkt der Freiheit erreicht ist, sich in
Unfreiheit umkehren.
10
Schlusssätze
TOP
Liberales Denken, so zumindest meine Wahrnehmung, ist in der
bundesdeutschen Demokratie von heute sowohl rückwärts, als auch
vorwärtsgewandt, denn Liberale sind davon überzeugt, dass
Fortschritt, Wachstum, Wohlstand und Freiheit, so wie wir sie
heute noch für normal halten, erhalten bleiben muss, weil sie
unbegrenzt erscheint und deshalb auch unverzichtbar ist, denn
sie ist untrennbar mit den Werten verbunden, die sich aus 250
Jahren liberalen Fortschrittsglaubens haben ableiten lassen.
Dieses
rückwärtsgewandte anarchronische Denken, dem ein neues
futuristisches Denken hinzugefügt wurde und immer noch wird, vermag aber nicht mehr
den Ansprüchen zu genügen, denen heute eine liberale Demokratie
entsprechen müsste. Grund dafür ist, dass die Gestalt der
liberalen Demokratie sowohl in der Theorie als auch in der
Praxis alt geworden ist, und die neuen Vorstellungen einer
soften und komplett digitalisierten Welt eher Ängste, als
Hoffnung zu erzeugen vermögen.
Ich denke, dass es an der Zeit
ist, sich wieder an die Worte des Parteivorsitzenden der SPD,
Willi Brand (1913 bis 1992) zu erinnern, der anlässlich des außerordentlichen Parteitags der SPD in der
Bonner Beethovenhalle am 14. Juni 1987 Folgendes gesagt hat:
Willy Brandt:
Wenn ich sagen soll, was mir neben Frieden wichtiger sei als
alles andere, dann lautet meine Antwort ohne Wenn und Aber:
Freiheit. Die Freiheit für viele, nicht nur für die wenigen.
Freiheit des Gewissens und der Meinung. Auch Freiheit von Not
und von Furcht [En26].
Die Vorstellung, durch technische Mittel den Tod überwinden zu
können, um so unendliche Freiheit zu erlangen, ist nichts
anderes als eine Vorstellungswelt von Ignoranten, die nicht
akzeptieren können, dass die Freiheit des Menschen nicht
grenzenlos ist.
11
Quellen
TOP
Endnote_01 John Locke. Philosophenlexikon.
http://www.philosophenlexikon.de/john-locke/
Zurück
Endnote_02 Veith Selk. Demokratiedämmerung. Eine Kritik der
Demokratietheorie. Suhrkamp-Verlag 2023, Seite 27
Zurück
Endnote_03 Ebd. Veith Selk, Seite 27
Zurück
Endnote_04 Vgl. Sheldon S. Wolin. Umgekehrter Totalitarismus.
Faktische Machtverhältnisse und ihre zerstörerischen
Auswirkungen auf unsere Demokratie. Westend-Verlag. 2. Auflage
2023, Seite 86 Zurück
Endnote_05 Sie verteidigen
unsere Republik und unser Grundgesetz gegen seine Feinde.
https://www.youtube.com/watch?v=eaIx4bdoprU
Zurück
Endnote_06 Rainer Mausfeld. Hybris und Nemesis. Wie uns die
Entzivilisierung von Macht in den Abgrund führt. Westend-Verlag
2023, Seite 428 Zurück
Endnote_07 Alexis de
Tocqueville. Über die Demokratie in Amerika. Reclam-Verlag 2021,
Seite 413 Zurück
Endnote_08 Ebd. Tocqueville, Seite
353 Zurück
Endnote_09 Ebd. Tocqueville, Seite 370
Zurück
Endnote_10 Ebd. Tocqueville, Seite 352
Zurück
Endnote_11 Wissenschaftliche Dienste des
Deutschen Bundestages. 60 Jahre Grundgesetz – Zahlen und Fakten.
https://www.bundestag.de/resource/blob/414590/
7c0ab6898529d2e6d7b123a894dbeb8f/wd-3-181-09-pdf-data.pdf
Zurück
Endnote_12 Per Molander. Die Anatomie der
Ungleichheit. Woher sie kommt und wie wir sie beherrschen
können. Westend-Verlag 2o17, Seite 126
Zurück
Endnote_13 Michael J. Sandel. Wie die Leistungsgesellschaft
unsere Demokratie zerreißt. Vom Ende des Gemeinwohls, Seite 244
Zurück
Endnote_14 Veith Selk. Demokratiedämmerung.
Eine Kritik der Demokratietheorie. Suhrkamp 2023, Seite 218
Zurück
Endnote_15 Patrick J. Deneen. Warum der
Liberalismus gescheitert ist. Müry Salzmann-Verlag 2019 Wien,
Seite 65 Zurück
Endnote_16 Ebd. Patrick J. Deneen,
Seite 66 Zurück
Endnote_17 Tocqueville, Demokratie
in Amerikea, Reclam-Verlag 2021 – Teil 2 Seite 222
Zurück
Endnote_18 Sueddeutsche.de vom 30. 11. 2020. Wenn
Freiheit sich selbst zerstört.
https://www.sueddeutsche.de/politik/freiheit-
liberalismus-marktliberalismus-1.5129772
Zurück
Endnote_19 Beschluss des 63. Ordentlichen Bundesparteitages
der FDP in Karlsruhe vom 22. April 2012.
https://www.fdp.de/sites/default/files/import/
2016-01/378-karlsruherfreiheitsthesen.pdf
Zurück
Endnote_20 David Gräber/David Wengrow: Anfänge. Eine neue
Geschichte der Menschheit. Klett-Cotta-Verlag, 5. Auflage 2022.
Seite 304/05 Zurück
Endnote_21 Ebd. David
Gräber/David Wengrow. Seite 310 Zurück
Endnote_22
Are we reaching the limits of homo sapiens. Studie. Adrien Marck
et. Al. „Are we reaching the limits of homo sapiens?“ Frontiers
in Physiology, 24. Oktober 2017. Volltext.
https://www.researchgate.net/publication/
320591974_Are_We_Reaching_the_Limits_of_Homo_sapiens
Zurück
Endnote_23 Filippo Tommaso Marinetti. Manifeste des
Futurismus. Mathes & Seits-Verlag 2018
Zurück
Endnote_24 Heinrich Hardensett: Der kapitalistische und der
technische Mensch. Metropolis-Verlag 2016 - Seite 47 und 50
Zurück
Endnote_25 Ebd. Hardensett, Seiten 97 und 113
Zurück
Endnote_26 Willy Brand.
https://www.willy-brandt-biografie.de/wp-content/
uploads/2017/08/Abschiedsrede_Willy_Brandt_Parteitag_1987.pdf
Zurück
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