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Home Inhaltsverzeichnis : Umgang mit der Demokratie

Durchsuchungen nach Politikerbeleidigungen

Inhaltsverzeichnis:

01 Der übergriffig werdende Staat
02 Kleine Geschichte der Hass-Gesetzgebung
03 Rechtssprechung des BVerfG zu Wohnungsdurchsuchungen
04 Verhältnismäßigkeitsprinzip ist ein Grundprinzip des Grundgesetzes
05 Stärke des Tatverdachts ist nachzuweisen
06 Neue Linie des Bundesverfassungsgerichts
07 Pimmelgate Durchsuchung in Hamburg
08 Häufigkeit von Wohnungsdurchsuchungen
09 Hassreden und der EuGH
10 Abweichende Meinungen dieser Empfehlung
11 Quellen

01 Der übergriffig werdende Staat

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Ein übergriffig werdender Staat in einer offenen Gesellschaft ist daran zu erkennen, dass er sich anmaßt, die Bevölkerung erziehen, gängeln und vor allen Dingen auf den richtigen Weg bringen zu wollen, erforderlichenfalls mit den Mitteln des Strafrechts. Das gilt sowohl für ihr Denken und erst recht für das, was sie sagen, schreiben oder öffentlich kommunizieren.

Nur zur Erinnerung: Karl Poppers offene Gesellschaft steht für die Tradition des Liberalismus, deren Ziel es ist, „die kritischen Fähigkeiten des Menschen“ freizusetzen, einschließlich der Äußerungen, die andere nicht hören wollen.

Die Gewalt des Staates soll dabei so weit wie möglich reduziert werden, um Machtmissbrauch zu verhindern und Freiheit zu erhalten. Hinzu kommt, dass die „offene“ Gesellschaft in Poppers Sinn sich ständig verändert und somit nie fertig ist und in der es, was die Meinungen der in ihr lebenden Menschen anbelangt, keine verbindliche Wahrheit gibt, denn eine offene Gesellschaft lebt sozusagen von der Kritik in ihr.

Anders ausgedrückt: Eine offene Gesellschaft lässt sich nicht erziehen und sie darf auch nicht erzogen werden, vor allen Dingen nicht mit den Mitteln des Strafrechts. Wir müssen uns vielmehr darüber im Klaren sein, dass wir andere Menschen zur Entdeckung und Korrektur von Fehlern brauchen – und sie uns. Insbesondere auch Menschen, die mit anderen Ideen, in einer anderen Atmosphäre aufgewachsen sind und denen es auch erlaubt sein muss, ihre Emotionen mit in ihre Meinungsäußerungen einfließen zu lassen, soweit sie nicht zu Gewalt aufrufen, oder die Regeln missachten, die wirklich ehrverletzend sind, was aber nicht, in Anlehnung an die ständige Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts ausschließt das auch scharfe und heftige Kritik zulässig ist, soweit es sich dabei nicht um Schmähkritik handelt, bei der es sich um herabsetzende Äußerungen handeln muss, "bei der nicht die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht", siehe BVerfG, Beschluss vom 21.03.2022 - 1 BvR 2650/19.

Die drei nachfolgend kurz skizzierten „Meinungsäußerungen“ lassen erkennen, dass die Grenze dessen, was die Demokratie von heute noch ungestraft zu akzeptieren bereit ist, bereits eine Grenze erreicht hat, die kaum noch unterschritten werden kann, es sei denn, dass nur noch mit Wohlwollen und lieben Huldigungen gegenüber Politikern formuliert werden darf, um strafrechtliche Sanktionen von sich abwenden zu können.

November 2024
Hass im Netz
Warum durchsucht die Polizei in die Wohnung eines Mannes, der Robert Habeck einen Schwachkopf genannt hat? Ein Rentner hatte im November 2024 auf X den Vizekanzler Robert Habeck als Schwachkopf bezeichnet, was der Bundesinnenminister zum Anlass nahm, Strafanzeige zu erstatten. Die Staatsanwaltschaft erwirkte daraufhin einen Durchsuchungsbeschluss und ließ ein Tablet beschlagnahmen. Die Erregung darüber war groß.

Dezember 2024
Hass im Netz

Ein
TikTok-Post hatte für einen 14-Jährigen in Bayern ernste Konsequenzen: Am Nikolaustag durchsuchte die Polizei das Zuhause seiner Familie. Der Jugendliche soll den Hashtag „Alles für Deutschland“ genutzt haben. Der Vorwurf lautete: Der Jugendliche habe möglicherweise Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen verwendet – ein Verstoß gegen den Paragrafen 86a des Strafgesetzbuchs.

Dezember 2024
Hass im Netz

In Düsseldorf wurde eine 74-jährige Rentnerin wegen eines
migrationkritischen Facebook-Kommentars zu einer Geldstrafe von 7950 Euro verurteilt. In ihrem Post hatte die Frau im Oktober 2024 eine Abbildung von Bundeswirtschaftsminister Habeck (Grüne) geteilt, zusammen mit seiner Aussage: „Deutschland ist auf Zuwanderung angewiesen, um den Arbeitskräftebedarf zu decken.“

Ihre täglichen Erfahrungen brachten die Rentnerin aber dazu, dass Habeck-Zitat mit den Worten zu kommentieren, dass „Vergewaltiger“ und „Messerkünstler“ nicht in Deutschland gebraucht würden. Wörtlich: „Wir brauchen Fachkräfte und keine Asylanten, die sich hier nur ein schönes Leben machen wollen, ohne unsere Werte und Kultur zu respektieren. Schickt die, die hier sind, mal zum Arbeiten. Wir sind nicht auf Faulenzer und Schmarotzer angewiesen und schon gar nicht auf Messerkünstler und Vergewaltiger.“

Es waren aber nicht nur diese drei Fälle, die für Aufregung, Unverständnis und Ablehnung in den sozialen Medien sorgte weil für jeden, der sehen will bzw. sehen wollte, sichtbar wurde, dass der gesunde Menschenverstand solch einen Staat ablehnt, der nicht davor zurückscheut, mit den Mitteln des Strafrechts sowohl die freie Meinungsäußerung als auch die "Bagatelle einer Parole" zu sanktionieren.

Während: Alles für Frankreich, alles für Italien, alles für Spanien, alles für Entland und natürlich auch alles für die Vereinigten Staaten von Amerika gesagt und geschrieben werden darf, ist das bei "Alles für Deutschland!" nicht der Fall, denn bei den drei zuletzt genannten Worten handelt es sich um eine Parole aus der Nazizeit, obwohl die auch dort nur selten verwendet wurde. Auf jeden Fall wiegen diese drei Worte auch noch gut 80 Jahre nach dem Ende der Nazidiktatur als so verwerflich, dass sie mit den Mitteln des Strafrechts bekämpft werden muss.

Ob dieses Aufbegehren des „gesunden Menschenverstandes“ in Zukunft verhindern wird, dass die Polizei weiterhin Wohnungen durchsucht, deren Inhaber Meinungen vertreten, die im Rechtsstaat Deutschland von heute nicht oder nicht mehr hingenommen werden können, weil es ja heute darum geht, die Demokratie zu schützen, das ist eine Frage, auf die es keine Antwort gibt, denn es ist nicht bekannt, wie oft die Polizei bereits in Deutschland Wohnungen durchsucht hat, deren Inhabern „Hass im Netz“ vorgeworfen wird. Vielleicht hilft zur Suche nach Anhaltspunkten ein kurzer Rückblich in den letzten Bundestagswahlkampf.

Bundestagswahlkampf 2021: Auch damals ging es um die Verfolgung so genannter Hass-Postings. Allein in Bayern gab es 17 Beschuldigte. Auf dem Nachrichtenportal Pfaffenhofen-Today.de hieß es damals wie folgt:

Pfaffenhofen-Today.de vom 22.3.2022: Ab dem heutigen Morgen haben deutschlandweit unter Koordinierung des Bundeskriminalamts zahlreiche Durchsuchungen wegen so genannter Hass-Postings im Internet stattgefunden, die in Zusammenhang mit der Bundestagswahl 2021 standen. Dabei seien zahlreiche Datenträger und Beweismittel sichergestellt worden. Bayerische Ermittler vollzogen dabei heute 14 Durchsuchungs-Beschlüsse in fast allen Regierungsbezirken. Wie ein Sprecher des in Ingolstadt ansässigen Polizeipräsidiums Oberbayern-Nord gegenüber unserer Zeitung erklärte, gab es Razzien auch in Neuburg an der Donau und in Freising. Insgesamt richten sich die Ermittlungen im Freistaat nach Angaben des bayerischen Innenministeriums gegen 17 Beschuldigte – dabei handle es sich um 13 Männer und vier Frauen im Alter zwischen 33 und 69 Jahren. „Durch die akribische Auswertung der Beweismittel erhoffen wir uns auch neue Ermittlungs-Ansätze zu weiteren Taten und Tätern“, so der bayerische Innenminister Joachim Herrmann. „Unsere Ermittler gehen hochengagiert jedem Hinweis auf strafbare Hetze nach.“ Er kündigte an: „Als Vorsitzender der Innenminister-Konferenz mache ich den verstärkten Kampf gegen Hass im Netz zu einem Schwerpunkt der diesjährigen Sitzungen.“

Wie Herrmann deutlich machte, könnten Hass-Postings die Vorstufe für weitere Eskalationen sein. Das könne bis hin zu Handgreiflichkeiten oder Tötungs-Delikten reichen. „Hass-Postings sind keine Kavaliersdelikte“, betonte Herrmann. „Mit unseren verstärkten Durchsuchungs-Aktionen wollen wir auch potentielle Hetzer abschrecken.“ Ein Problem ist seinen Worten zufolge das nach wie vor große Dunkelfeld. Er appelliert deshalb an alle von Hass und Hetze Betroffenen, sich umgehend an die Polizei zu wenden, um den Urhebern und Hintermännern auf die Schliche zu kommen [En01].

Diese Sicht der Dinge - nämlich böses, gefährliches und demokratieschädigendes Verhalten gegen alle Unbilden schützen zu müssen - wird auch heute noch als Rechtfertigung dafür benutzt, Wohnungsdurchsuchungen zu rechtfertigen, um Verbotenes sozusagen mit der Wurzel ausreißen zu können: Den Hass im Netz. Und natürlich reicht das auch aus, um Smartphones, Laptops und Datenträger zu beschlagnahmen, denn dort könnten ja möglicherweise weitere staatsgeführdenden Meinungen gespeichert sein.

Was heute als „normal“ angesehen wird: Laut Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der AfD hat allein der Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck 805 (zweiter Platz) Strafanträge bis zum Eintreffen der Antwort der Bundesregierung gestellt. Außenministerin Annalena Baerbock landete mit über 500 Strafanträgen auf dem dritten Platz. Spitzenpolitiker unter den Anzeigenerstattern war aber Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) Mitglied im Europaparlament mit mehr als 1000 Strafanzeigen. Aber auch Friedrich Merz (Kanzlerkandidat der CDU) hat Strafanzeigen erstattet.

02 Kleine Geschichte der Hass-Gesetzgebung

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Die Frage, inwieweit durch „Hass-Gesetzgebung“ die freie Meinungsäußerung geschützt werden kann - eine Frage die widersprüchlicher nicht sein kann - stellt sich nicht erst seit heute. Über diese Frage wurde sogar bereits 1948 im Vorfeld der Verabschiedung der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) gestritten. Damals waren es die kommunistischen Staaten, die Wert darauf legten, sich vor dem Missbrauch der Meinungsfreiheit schützen zu müssen. Die Delegation der Sowjetunion schlug damals vor, folgende Regelung aufzunehmen:

Jegliches Eintreten für nationale, rassische und religiöse Feindseligkeit oder für nationale Exklusivität, für Hass oder Verachtung, ebenso wie jegliche Handlung, die eine Bevorzugung oder eine Diskriminierung darstellt, welche auf der Unterscheidung von Rasse, Nationalität oder Religion gründet, stellt ein Verbrechen dar und soll von Staats wegen eine strafbare Handlung sein [En02].

Diese und andere Vorschläge der Sowjetunion wurden 1948 jedoch von den Verhandlungsführern aus den demokratischen Staaten abgelehnt, obwohl sie selbst noch am eigenen Leib erlebt hatten, was es bedeutet, so denken zu müssen, wie die Staatsräson das einforderte.

Anders ausgedrückt: Die Delegationsmitglieder aus den demokratischen Staaten entscheiden sich bewusst und gewollt gegen eine Erziehung der Bürger durch den Staat durch die Einengung der Meinungsfreiheit, denn sie wussten noch, wie das funktioniert, wenn mit den Mitteln des Strafrechts Bürger erzogen, besser noch mundtot gemacht bzw. auf Linie gebracht wurden. Diese ablehnende Haltung dauerte in den westlichen Demokratien bis in die 1970er Jahre an, denn erst im Zusammenhang mit der Verabschiedung des ICCPR (Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte), der am 23. März 1976 in Kraft trat, hielten es nunmehr auch die Vertreter der demokratischen Staaten für erforderlich, sich sozusagen mit den kommunistischen Vordenkern zu solidarisieren.

Im Bundesgesetzblatt trägt diese Vereinbarung, die in nationales Recht umgewandelt wurde, folgende Überschrift: "Gesetz zu dem Internationalen Pakt vom 19. Dezember 1966 über bürgerliche und politische Rechte" vom 15. November 1973

Art. 18 Abs. 3
(3) Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekunden, darf nur den gesetzlich vorgesehenen Einschränkungen unterworfen werden, die zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, Ordnung, Gesundheit, Sittlichkeit oder der Grundrechte und -freiheiten anderer erforderlich sind  [En03].

Anders ausgedrückt: Es hat gut 25 Jahre gedauert, bis selbst demokratische Staaten es für erforderlich hielten, sich ihren kommunistischen Vordenkern anzuschließen.

Welche Folgen die restriktive Einschränkung der Meinungsfreiheit in den so genannten Ostblockstaaten hatten, dürfte bekannt sein, denn viele Menschen in der ehemaligen DDR haben darunter leiden müssen. Als das Volk in der DDR aber rief: „Wir sind das Volk!“, wurde deutlich, dass nicht nur mehr Freiheiten gewollt, sondern auch die Sammelwut der Stasi beendet werden musste.

Wie dem auch immer sei: Hassgesetze gibt es zwischenzeitlich überall in Europa. Zu welchen Auswucherungen das geführt hat, das soll nur an einem Beispiel aufgezeigt werden. Auf Pi-News.net vom 27. November 2010 heißt es unter der Überschrift: Jodler zu 800 Euro Strafe verurteilt, wie folgt:

Pi-News.net: Helmut G. (Bild) war an einem Freitagnachmittag damit beschäftigt, auf seinem Grundstück in Graz den Rasen zu mähen. „Und weil ich halt so gut gelaunt war, hab ich dazu gejodelt und ein paar Lieder angestimmt“, so der Pensionist im Gespräch mit der „Steirerkrone“. Das passte seinen Nachbarn, gläubigen Moslems, allerdings gar nicht. Die waren nämlich in ihrem Haus zur Betstunde zusammengekommen, die auch per Lautsprecher in den Hof übertragen wurde.

Wollte nicht wie Muezzin klingen“

Einige fühlten sich von dem rasenmähenden 63-Jährigen daraufhin in ihrer Religionsausübung gestört – und zeigten ihn prompt bei der Polizei an. „In der Begründung hieß es, mein Jodler habe wie der Ruf eines Muezzins geklungen“, schüttelt Helmut G. fassungslos den Kopf. „Dabei war es ja überhaupt nicht meine Absicht, ihn nachzumachen“, beteuert der Grazer.

Das Gericht glaubte ihm aber nicht und verurteilte ihn zu der saftigen Geldbuße – am Freitag trudelte die entsprechende Bestätigung ein. Helmut G.: „Die Moslems halten sich an keine Vorschriften, wir Nachbarn haben leider immer wieder Probleme" [En04].

Ich denke, dass solch eine Entwicklung nur von "Schwachköpfen" für erstrebenswert gehalten werden kann. Zurück zu der Frage, die ebenfalls der Klärung bedarf: Ist es hinnehmbar, dass Amtswalter der Strafverfolgungsbehörden anlässlich von Bagatellen Wohnungen durchsuchen und Sachen wie Smartphones, Laptops und PC beschlagnahmen, um dort nach weiteren Bagatellen suchen zu können?

Um Antworten auf diese Fragen finden zu können ist es erforderlich, sich mit der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts - Wohnungsdurchsuchungen betreffend - auseinanderzusetzen.

03 Rechtssprechung des BVerfG zu Wohnungsdurchsuchungen

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Tenor der Verfassungsrichter: Wohnungsdurchsuchungen anlässlich von Bagatellstraftaten sind unverhältnismäßig und somit rechtswidrig.

Im hier zu erörternden Sachzusammenhang werden, in Anlehnung an die Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts im Zusammenhang mit Wohnungsdurchsuchungen, unter Bagatellstraftaten die Straftaten verstanden, die eine Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder mit Geldstrafe geahndet werden können. Werden diese Voraussetzungen missachtet, leiten daraus die Richter des Bundesverfassungsgerichts die Unverhältnismäßigkeit von Wohnungsdurchsuchungen ab, die anlässlich von Delikten vorgenommen werden, deren Strafmaß darunter liegt.

BVerfG 2015 – Rn. 19: Im Einzelfall können die Geringfügigkeit der zu ermittelnden Straftat, eine geringe Beweisbedeutung der zu beschlagnahmenden Gegenstände sowie die Vagheit des Auffindeverdachts der Durchsuchung entgegenstehen. Für die Geringfügigkeit der zu ermittelnden Straftat spricht, wenn sie nicht von erheblicher Bedeutung ist. Straftaten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe unter fünf Jahren bedroht sind, können nicht mehr ohne Weiteres dem Bereich der Straftaten von erheblicher Bedeutung zugerechnet werden [En05].

Im Übrigen ist die Sprachfigur „Straftaten von erheblicher Bedeutung“ sowohl von der Rechtssprechung als auch in der Literatur weitgehend präzisiert worden. Als Kriterien werden sowohl von der Rechtsprechung als auch von der Lehre folgende Merkmale eingefordert:

  • Straftat ist mindestens dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzurechnen

  • Sie muss den Rechtsfrieden empfindlich stören und dazu geeignet sein, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen.

  • Bei allen Straftaten, die in § 100a StPO (Telekommunikationsüberwachung) aufgeführt sind, handelt es um Straftaten von erheblicher Bedeutung

  • Die §§ 188 StGB (Gegen Personen des politischen Lebensts gerichtete Beleidigung, üble Nachrede und Verleumdung) und § 86a StGB (Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen) sind dort nicht genannt.

Zu den Straftaten von erheblicher Bedeutung gehören natürlich auch Straftaten, für die der Gesetzgeber andere Bezeichnungen verwendet, zum Beispiel:

  • Straftaten, die im Einzelfall von erheblicher Bedeutung sind

  • Besonders schwere Straftaten.

Diese Grundvoraussetzungen für Wohnungsdurchsuchen können aber nur als eine Voraussetzung nachzuweisender Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen angesehen werden. Die zweite Ebene, die im Zusammenhang mit Wohnungsdurchsuchungen zu beachten ist, ist die Verhältnismäßigkeit. Gemeint ist das Verhältnis zwischen der Intensität des Eingriffs und dem Grad des bestehenden Tatverdachts.

Dies ist das eigentliche Korrektiv zu dem niedrigen Verdachtsgrad, der nach dem Wortlaut des § 102 StPO (Durchsuchung bei Beschuldigten) eine Durchsuchung auslösen kann.

§ 102 StPO (Durchsuchung beim Beschuldigten)

In ständiger Rechtsprechung stellt das BVerfG zu dieser Problematik ausdrücklich klar, dass die Durchsuchung vor allem in einem angemessenen Verhältnis zu der Schwere der Straftat und der Stärke des Tatverdachts zu stehen hat.

BVerfG 2014 – Rn. 23: Dem erheblichen Eingriff in die grundrechtlich geschützte Lebenssphäre des Betroffenen entspricht ein besonderes Rechtfertigungsbedürfnis nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Durchsuchung muss nicht nur mit Blick auf den bei der Anordnung verfolgten Zweck erfolgversprechend sein. Es muss gerade diese Zwangsmaßnahme zur Ermittlung und Verfolgung der Straftat erforderlich sein; dies ist nicht der Fall, wenn andere, weniger einschneidende Mittel zur Verfügung stehen. Die Durchsuchung muss schließlich vor allem in angemessenem Verhältnis zu der Schwere der Straftat und der Stärke des Tatverdachts stehen [En06].

04 Verhältnismäßigkeit - Grundprinzip des Grundgesetzes

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Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der zwar nicht im Grundgesetz enthalten, wohl aber für die gesamte Rechtsordnung in der Bundesrepublik Deutschland bestimmend ist, gilt für alle staatlichen Maßnahmen.

Seine Wirkung entfaltet dieses Verfassungsprinzip auf drei Ebenen, die insbesondere auch für Wohnungsdurchsuchungen nachzuweisen sind, weil es sich bei solchen Maßnahmen um schwerwiegende Eingriffe in Grundrechte handelt. Folglich ist sowohl die Geeignetheit als auch die Erforderlichkeit und insbesondere die Verhältnismäßigkeit einer solchen Maßnahme nachvollziehbar zu begründen.

Verhältnismäßigkeit: Dem Verhältnismäßigkeitsprinzip liegt der Gedanke zugrunde, das alle Staatsorgane und somit auch alle Behörden dafür Sorge tragen müssen, dass stets ein angemessenes Verhältnis zwischen dem angestrebten Zweck und der zur Zweckerreichung für erforderlich gehaltenen Maßnahmen herbeizuführen ist.

Mit anderen Worten: Belange des Allgemeinwohls müssen überwiegen, um Eingriffe in Grundrechte rechtfertigen zu können. Das bedeutet, dass im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung immer eine Abwägung zwischen dem „Interesse an der Erfüllung einer polizeilichen Aufgabe“ und der „Schwere des Eingriffs, die ein Adressat einer polizeilichen Maßnahme zu dulden hat“, vorzunehmen ist. Diese Einzelfallprüfung muss zu dem nachvollziehbaren Ergebnis kommen, dass das polizeilich zu verfolgende Ziel höher zu bewerten ist, als der zu duldende Grundrechtseingriff. Ist die Verhältnismäßigkeit im Einzelfall nicht gegeben, führt das zur Rechtswidrigkeit der Maßnahme.

BVerfG 1965: In der Bundesrepublik Deutschland hat der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verfassungsrechtlichen Rang. Er ergibt sich aus dem Rechtsstaatsprinzip, im Grunde bereits aus dem Wesen der Grundrechte selbst, die als Ausdruck des allgemeinen Freiheitsanspruchs des Bürgers gegenüber dem Staat von der öffentlichen Gewalt jeweils nur so weit beschränkt werden dürfe [En07].

05 Stärke des Tatverdachts ist nachzuweisen

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Im Zusammenhang mit der Durchsuchung von Wohnungen reicht ein vager Anfangsverdacht weder für den Erlass eines Durchsuchungsbeschlusses als auch für die Durchsetzung desselben durch die Polizei aus.

BVerfG 2023: Bei einem nur vagen Anfangsverdacht ist die Verhältnismäßigkeit der Durchsuchung im Durchsuchungsbeschluss eingehend zu begründen. [...]. Zwar sind umfangreiche Ausführungen zur Verhältnismäßigkeit weder im Durchsuchungsbeschluss noch in der Beschwerdeentscheidung grundsätzlich und stets von Verfassungswegen geboten. Insbesondere bei einem nur vagen Auffindeverdacht ist allerdings die Verhältnismäßigkeit einer Durchsuchung wegen der Schwere des Eingriffs eingehend zu begründen [En08].

In diesem Sachzusammenhang gesehen ist auch eine Entscheidung der Richter des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2023 bedeutsam:

BVerfG 2023: Eine Durchsuchung greift in die durch Art. 13 Abs. 1 GG grundrechtlich geschützte persönliche Lebenssphäre schwerwiegend ein. Dem erheblichen Eingriff entspricht ein besonderes Rechtfertigungsbedürfnis nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Durchsuchung muss mit Blick auf den bei der Anordnung verfolgten gesetzlichen Zweck erfolgversprechend sein. Ferner muss gerade diese Zwangsmaßnahme zur Ermittlung und Verfolgung der Straftat erforderlich sein, was nicht der Fall ist, wenn andere, weniger einschneidende Mittel zur Verfügung stehen. Schließlich muss der jeweilige Eingriff in angemessenem Verhältnis zu der Schwere der Straftat und der Stärke des Tatverdachts stehen. Dabei ist es grundsätzlich Sache der ermittelnden Behörden, über die Zweckmäßigkeit und die Reihenfolge vorzunehmender Ermittlungshandlungen zu befinden. Ein Grundrechtseingriff ist aber jedenfalls dann unverhältnismäßig, wenn naheliegende grundrechtsschonende Ermittlungsmaßnahmen ohne greifbare Gründe unterbleiben oder zurückgestellt werden und die vorgenommene Maßnahme außer Verhältnis zur Stärke des in diesem Verfahrensabschnitt vorliegenden Tatverdachts oder zur Schwere der Straftat steht.

Unverhältnismäßig und somit rechtswidrig ist eine Wohnungsdurchsuchung dann, wenn sie unangemessen ist.

BVerfG 2023: Die Anordnung der Durchsuchung war [...] unangemessen. Den Ermittlungsbehörden standen naheliegende und grundrechtsschonende Ermittlungsmaßnahmen zur Verfügung, die ohne greifbare Gründe unterblieben sind. Ob diese hier ebenso wirksam gewesen wären wie eine Wohnungsdurchsuchung, also mildere Mittel im technischen Sinne dargestellt hätten, kann im Streitfall dahinstehen. Denn angesichts grundrechtsschonender, alternativer Ermittlungshandlungen stand eine Durchsuchung beim Beschwerdeführer jedenfalls außer Verhältnis zur Schwere der hier verfolgten Straftat [En09].

Im Hinblick auf die Erforderlichkeit polizeilicher Ermittlungsarbeit, die ja bekanntermaßen einem Durchsuchungsbeschluss vorauszugehen hat, denn wie sonst sollte ein Richter über die Rechtmäßigkeit eines Durchsuchungsbeschlusses entscheiden können?, heißt es (einen anderen Anlass betreffend aber dennoch übertragbar auf die drei oben genannten Beispiele) wie folgt:

BVerfG 2023: Naheliegend und grundrechtsschonend wäre es gewesen, zunächst den Beschwerdeführer [...] zu befragen. Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer [gemeint ist die Person, deren Wohnung durchsucht wurde] bei der eine insoweit freiwillige Angaben verweigert hätte und seine Befragung daher aussichtslos gewesen wäre, lagen nicht vor. Zwar hatte sich der Beschwerdeführer im Rahmen der ihm von der Staatsanwaltschaft nach § 163a Abs. 1 Satz 2 StPO eingeräumten Möglichkeit, sich zu dem Tatvorwurf schriftlich zu äußern, darauf beschränkt, das Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts zu bestreiten. Allein daraus konnte jedoch nicht geschlossen werden, dass er auf konkrete Nachfrage hin freiwillige Angaben zu [den Motiven seiner Tat] verweigert hätte. [...]. Auch die Gefahr eines Beweismittelverlusts, die nur durch eine Wohnungsdurchsuchung hätte abgewendet werden können, bestand nicht. [...]. Im Hinblick auf diese insofern naheliegende und gegenüber einer Wohnungsdurchsuchung grundrechtsschonende Ermittlungsmaßnahme stellt sich die Durchsuchungsanordnung daher jedenfalls angesichts der geringen Schwere der vorgeworfenen Straftat als unangemessen dar [En10].

Hinsichtlich der Suche nach Beweismitteln stellt sich zudem in den hier zu erörternden Fällen die Frage, wozu eine Wohnungsddurchsuchung überhaupt erforderlich ist, zumal aus bekannten und gesicherten Posts ja eindeutig und unstrittig sein dürfte, worauf sich der Tatvorwurf stützt. Außerdem dürfte zumindest im Kreis von sachkundigen Personen bekannt sein, dass Wohnungsdurchsuchungen zum Zweck der Verdachtsgewinnung nicht rechtmäßig sein können.

Kurzum: Im bundesdeutschen Rechtsstaat von heute wird die Rechtmäßigkeit eines richterlichen Durchsuchungsbeschlusses schöngeredet, obwohl sich durchaus berechtigterweise die Frage stellt, ob es sich dabei nicht auch um Rechtsbeugung handeln könnte.

§ 339 StGB (Rechtsbeugung)
Ein Richter, ein anderer Amtsträger oder ein Schiedsrichter, welcher sich bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache zugunsten oder zum Nachteil einer Partei einer Beugung des Rechts schuldig macht, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren bestraft.

Aber nicht nur gegen Richter, auch gegen die Staatsanwaltschaft und auch gegen die Polizei richtet sich Vorwürfe, denn ohne deren Beteiligung wäre es erst gar kein richterlicher Beschluss erwirkt worden.

Und was die Strafandrohung anbelangt, die aus höchstrichterlicher Sicht bedeutsam zu sein hat, um eine Wohnungsdurchsuchung überhaupt rechtfertigen zu können, ist im Hinblick auf das Strafmaß von § 188 StGB (Gegen Personen des politischen Lebens gerichtete Beleidigung, üble Nachrede und Verleumdung) anzumerken, dass das Gesetz lediglich eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren vorsieht. Dies entspricht der Strafandrohung für eine Sachbeschädigung (Freiheitsstrafe bis zu 2 Jahren oder Geldstrafe) oder für eine tätliche Beleidigung (Freiheitsstrafe bis zu 2 Jahren oder Geldstrafe), die allgemein als Bagatelldelikte betrachtet werden.

Und was den Vorwurf anbelangt, der sich gegen den 14-jährigen Jungen richtet, der eine verbotene Parole gepostet hat, ist festzustellen, dass für solch ein strafbares Fehlverhalten der in Betracht kommende § 86a StGB (Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen) ein Strafmaß von „bis zu drei Jahren oder Geldstrafe“ vorsieht, was bei einem Jugendlichen, der im Normalfall dazu führt, der, wenn überhaupt, für sein rechtswiddriges Handeln höchstens ein paar Sozialstunden zu leisten haben wird, denn bei Jugendlichen ist das Jugendgerichtsgesetz (JGG) maßgeblich und das dort zur Anwendung kommende Derelektionsverfahren, siehe §§ 45 und 47 des JGG, erlauben es der Staatsanwaltschaft im so genannten Jugendstrafverfahren das eingeleitete Strafverfahren sogar einzustellen. Damit ist zu rechnen, wenn der Jugendliche bisher strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten ist.

Derelektionsverfahren

Wie dem auch immer sei: Würde es sich bei den hier zu bewertenden Posts nicht um Straftaten handeln, die die ganze Härte des Gesetzes einfordern, dann wäre es sicherlich nicht notwendig, sich überGrenzüberscheitungen einer Staatsgewalt zu sorgen, die sozusagen mit Kanonen auf Spatzen schießt.

06 Neue Linie des Bundesverfassungsgerichts

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Möglicherweise hat sich bei den Strafverfolgungsbehörden aber noch nicht die neue Linie der Rechtssprechung der Richter des Bundesverfassungsgerichtes durchgesetzt, wie das das folgende Beispiel verdeutlicht.

Anlass: Von zwei Polizeibeamten wurden zwei Personen auf frischer Tat gestellt, als sie einen Schaukasten an einer Bushaltestelle öffneten, um das dortige Werbeplakat der Bundeswehr abzuhängen und durch ein optisch sehr ähnliches, aber verfälschtes Plakat zu ersetzen. Mit Beschluss vom 17. Juli 2019 ordnete das Amtsgericht Tiergarten die Durchsuchung der Wohnung der Beschwerdeführerin an. Die Beschwerdeführerin sei unter anderem des besonders schweren Falles des Diebstahls verdächtig. Sie habe nach derzeitigem Stand der Ermittlungen gemeinsam mit der Mitbeschuldigten am 13. Mai 2019, gegen 18:00 Uhr, an der Bushaltestelle „Herrfurthstraße“, Berlin, einen Werbeschaukasten mittels eines nicht offiziell erhältlichen Sechskant-Steckschlüssels geöffnet, um das darin befindliche Plakat zu entnehmen und um dieses für sich oder eine andere Person zu verwenden. Die Beschwerdeführerin sei im Begriff gewesen, ein neues, selbstgestaltetes Plakat aufzuhängen, bei dem die Werbeaufschrift unbefugt verändert worden sei. Die Anordnung der Durchsuchung sei verhältnismäßig. Mildere Maßnahmen seien nicht ersichtlich. Die Durchsuchung werde vermutlich zur Auffindung von Beweismitteln - soweit sie Bezug zu den Tatvorwürfen hätten -, insbesondere von aus Schaukästen einer im Beschluss bezeichneten Firma entwendeten Werbeplakaten sowie von Tatmitteln (Werkzeuge zum Öffnen der Schaukästen, Schablonen und sonstige Materialien zur Umgestaltung der Plakate) sowie von Mobiltelefonen oder Tablets zur fotografischen Dokumentation führen.

Dieser Rechtsauffassung folgten die Richter des Bundesverfassungsgerichts nicht.

Im Beschluss der Richter des BVerfG aus dem Jahr 2023 heißt es wie folgt:

BVerfG 2023: Die Voraussetzungen für eine Wohnungsdurchsuchung wegen des Verdachts einer Straftat [...] sind in einer Verfassungsrecht verletzenden Weise nicht erfüllt, wenn sich aufdrängende mildere Ermittlungsmaßnahmen unterblieben sind, die im Einzelfall geeignet gewesen wären, den (Anfangs-)Verdacht zu zerstreuen.

An anderer Stelle:

Eine - mit einem schwerwiegenden Eingriff in die durch Art. 13 Abs. 1 GG geschützte räumliche Lebenssphäre verbundene - Wohnungsdurchsuchung ist unverhältnismäßig, wenn naheliegende grundrechtsschonendere Ermittlungsmaßnahmen ohne greifbare Gründe unterbleiben oder zurückgestellt werden und die Maßnahme außer Verhältnis zur Stärke des im jeweiligen Verfahrensabschnitt bestehenden Tatverdachts steht [En11].

07 Pimmelgate Durchsuchung in Hamburg

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Auch diese Wohnungsdurchsuchung war absolut rechtswidrig.

Nachdem der Tweet „Du bist 1 Pimmel“ veröffentlicht worden war, stellte Andy Grote (SPD), amtierender Innensenator in Hamburg, im Juni 2021 einen Strafantrag wegen Beleidigung. Zur weiteren Sachverhaltsaufklärung hatte die Staatsanwaltschaft daraufhin am 25. August 2021 den Erlass eines Durchsuchungsbeschlusses beim Amtsgericht Hamburg beantragt. Sechs Beamte vollzogen den Durchsuchungsbeschluss morgens um 06.00 Uhr.

LG Hamburg 2022: Auf die Beschwerde der Betroffenen [...] wird festgestellt, dass die mit Beschluss des Amtsgerichts Hamburg [...] angeordnete Durchsuchung der Wohn- und Geschäftsräume des Beschuldigten P. rechtswidrig war.

Die vom ehemals Beschuldigten verfasste Formulierung „Du bist so 1 Pimmel“ vom 4. Juni 2021 als Kommentar eines Posts des Innensenators A. G. vom 30. Mai 2021 auf der Plattform Twitter, stellt eine Formalbeleidigung und somit eine Straftat nach § 185 StGB dar.

Hinweis: Obwohl der § 188 StGB bereits seit dem 3.4.2021 in Kraft war, sahen die Richter des LG Hamburg diesen Tatbestand nicht einmal tatbestandlich erfüllt, oder aber kannten ihn vielleicht noch gar nicht, obwohl die beleidigende Äußerung „Du bist 1 Pimmel“ sicherlich ehrverletzender ist als das Wort „Schwachkopf“, das heute ausreicht, um eine Wohnungsdurchsuchung (nicht in Absurdistan, sondern in Deutschland) rechtfertigen zu können.

Wie dem auch immer sei, jeder hat da so sein eigenes Wortverständnis und seine eigenen Überzeugungen.

In der Begründung der Richter des Landgerichts Hamburg heißt es:

LG Hamburg 2022: Insbesondere findet keinerlei inhaltliche Auseinandersetzung mit dem kommentierten Tweet des Innensenators statt, mit dem dieser eine in der Schanze unter Missachtung der geltenden Corona-Regeln feiernde Menschenmenge kritisierte und der Hamburger Polizei für deren Einsatz gegen die Feiernden dankte. Der vom Amtsgericht insoweit zutreffend angenommene Anfangsverdacht gründet insbesondere auf den telefonischen Angaben der Betroffenen am 4. August 2021 gegenüber der Polizei, wonach der Beschuldigte ihr gegenüber eingeräumt habe, den Tweed verfasst zu haben, was er im Anschluss an die Durchsuchung auch gegenüber der Staatsanwaltschaft eingeräumt hat, sowie dem Screenshot des entsprechenden Tweets vom 4. Juli 2021 samt Kommentar.

Neben diesen Voraussetzungen der §§ 102, 105 Abs. 1 S. 1 StPO ist bei jeder Anordnung einer Durchsuchung indessen aufgrund der Erheblichkeit des Eingriffs der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besonders zu berücksichtigen. Die Durchsuchung muss den Erfolg versprechen, geeignete Beweismittel zu erbringen. Ferner muss gerade diese Zwangsmaßnahme zur Ermittlung und Verfolgung der Straftat erforderlich sein; dies ist nicht der Fall, wenn andere, weniger einschneidende Mittel zur Verfügung stehen. Schließlich muss der jeweilige Eingriff in angemessenem Verhältnis zu der Schwere der Straftat und der Stärke des bestehenden Tatverdachts stehen.

Zu alledem enthält der angefochtene Beschluss neben der Vermutung, die Durchsuchung werde zum Auffinden von Beweismitteln, insbesondere Speichermedien führen, keine weiteren Ausführungen. Den vorgenannten Maßstab zugrunde gelegt, hätte sich dem Amtsgericht bei seiner Entscheidung jedoch aufdrängen müssen, dass bereits Zweifel an der Erforderlichkeit der Maßnahme bestehen - welchen durch Aufnehmen einer Abwendungsbefugnis hätte begegnet werden können -, sie aber in jedem Fall unangemessen ist und somit im vorliegenden Fall das Schutzinteresse aus Art. 13 GG gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse des Staates überwiegt. Denn bereits im Zeitpunkt der Durchsuchungsanordnung kam im konkreten Fall nur die Verhängung einer geringen Sanktion gegen den (vormals) Beschuldigten in Betracht, was der Annahme der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme im konkreten Fall entgegenstand.

Gegenstand des (ehemaligen) Ermittlungsverfahrens war (lediglich) der Vorwurf der Beleidigung, die durch Verbreiten eines Inhalts (§ 11 Abs. 3 StGB) begangen wurde, wofür § 185 StGB Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren vorsieht. Der vormals Beschuldigte war zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung zwar bereits vorbestraft, jedoch weder einschlägig noch schwer; das Amtsgericht Hamburg hatte gegen ihn Anfang 2020 wegen Sachbeschädigung und vorsätzlicher Körperverletzung eine Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 10 Euro verhängt. Zudem ist der Kommentar des ehemals Beschuldigten im Gesamtkontext zum Vorverhalten des Innensenators zu betrachten. Dieser hatte am 10. Juni 2020 selbst gegen geltende Corona-Auflagen verstoßen, indem er anlässlich seiner Wiederernennung als Senator 30 Personen in eine Bar in H. eingeladen hatte, weswegen gegen ihn ein Bußgeld in Höhe von 1000 Euro verhängt und von ihm akzeptiert wurde. Vor diesem Hintergrund war die Wortwahl des Senators in seinem Post vom 30. Mai 2021, in dem er Feiernde in der Schanze, die (ebenfalls) gegen Corona-Auflagen verstießen, als „dämlich“ und ihr Verhalten als „ignorant“ bezeichnete, bei der Beurteilung der Schwere der Beleidigung durch den Beschuldigten zu berücksichtigen und diese eher am unteren Rand der Erheblichkeitsschwelle einzustufen. Nach alledem drohte dem (vormals) Beschuldigten allenfalls eine geringfügige Geldstrafe. Die Anordnung der Durchsuchung war vor diesem Hintergrund unangemessen [En12].

Diese so genannte „Pimmelaffäre“ nahm der Abgeordnete Deniz Celik (DIE LINKE) zum Anlass, sich mit einer Kleinen Anfrage an den Senat der Freien und Hansestadt Hamburg zu wenden. Die Antwort des Senats auf diese Kleine Anfrage ist lesenswert, denn sie macht deutlich, welch einen Stellenwert die „Bekämpfung von Hass im Netz“ heute bereits einnimmt, Tendenz steigend, denn heute wird bereits unter dem Einsatz von KI im Netz nach „Hass im Netz“ gesucht und auch die Förderung von Portalen, in denen Denunzianten alles anzeigen können, was sie als Hass oder Diskriminierung ansehen, macht deutlich, wohin die Reise gehen soll.

Schriftliche Kleine Anfrage des Abgeordneten Deniz Celik (DIE LINKE) vom 09.09.21 und die Antwort des Senats

08 Häufigkeit von Wohnungsdurchsuchungen

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Gemeint sind Durchsuchungen der Polizei auf der Grundlage von Durchsuchungsbeschlüssen, obwohl diesen geringfügige Straftaten zugrundeliegen. Die Behördenpraxis von heute lässt zumindest den Schluss zu, dass bei jedem Verdacht auf eine Straftat eine Hausdurchsuchung droht. Das betrifft schon den Vorwurf einer Beleidigung im Internet, Fahren ohne Führerschein oder ein vermeintlicher Betrug bei eBay. Das ist besorgniserregend, denn in Artikel 13 des Grundgesetzes ist das Recht auf die Unverletzlichkeit der Wohnung besonders geschützt.

Auch bei Jugendlichen und Kindern werden die Wohnungen der Eltern durchsucht. Manchmal wird auch die Wohnung der Partnerin oder von anderen Verwandten gleichzeitig, obwohl sich gegen diese kein Verdacht richtet. Erfreulicherweise hat das Bundesverfassungsgericht in den vergangenen zwei Jahren drei Entscheidungen getroffen, aus denen abzuleiten ist, dass nicht wegen jeder beliebigen Straftat eine Hausdurchsuchung beim Beschuldigten und anderen Personen durchgeführt werden dürfen, zumal es sich bei strafffällig gewordenen Kindern weder um Beschuldigte noch um Tatverdächtige handeln kann, denn Kinder sind nicht strafmündig.

Zurzeit scheint es aber so zu sein, dass der Schutz des Bundesverfassungsgerichtes vor einer Infiltrierung von rechts mehr Aufmerksamkeit verdient als die Beschlüsse und Urteile der Richter dieses höchsten deutschen Gerichtes, die Durchsuchung von Wohnungen betreffend:

BVerfG: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts binden die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden (vgl. § 31 Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz) [En13].

Dort heißt es:

(1) Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts binden die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden.

09 Hassreden und der EuGH

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Diesbezüglich heißt es in der Empfehlung CM/Rec(2022)161 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten über die Bekämpfung von Hassreden wie folgt:

Empfehlung CM/Rec(2022)161: Die Empfehlung geht von der Prämisse aus, dass Hassreden ein tiefverwurzeltes, komplexes und vielschichtiges Phänomen sind. Sie stellt eine direkte Bedrohung für Demokratie und Menschenrechte dar. Die zunehmend online und offline auftretende Hassrede untergräbt nicht nur die wesentlichen Rechte und Grundfreiheiten des Einzelnen, sondern erniedrigt und marginalisiert auch die betroffenen Personen und Gruppen. Die Empfehlung enthält eine Arbeitsdefinition des Begriffs „Haßrede“, in der je nach Schweregrad zwischen verschiedenen Stufen unterschieden wird, und ruft dazu auf, angemessen abgestimmte und verhältnismäßige Maßnahmen zu ergreifen. Die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, einen wirksamen rechtlichen und politischen Rahmen zu schaffen, der das Straf-, Zivil- und Verwaltungsrecht abdeckt, und alternative Maßnahmen einzuführen und umzusetzen, wie Sensibilisierungs- und Bildungsmaßnahmen sowie den Einsatz von Gegen- und Alternativreden. Die Staaten werden außerdem aufgefordert, Unterstützungsmechanismen einzurichten, um denjenigen zu helfen, die von Hassreden betroffen sind, Kontrollen durchzuführen und sich an der internationalen Zusammenarbeit und nationalen Koordinierung zu beteiligen.

An anderer Stelle heißt es:

3. Da Hassrede eine Reihe von hasserfüllten Äußerungen Ausdrucksformen abdeckt, die sich in ihre Schwere, den durch sie verursachten Schaden und in ihren Auswirkungen für die Mitglieder bestimmter Gruppen in unterschiedlichen Kontexten unterscheiden, sollten die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass eine Reihe ordnungsgemäß abgestimmter Maßnahmen zur wirksamen Verhinderung und Bekämpfung von Hassrede zur Verfügung steht. Ein derartiger umfassender Ansatz sollte im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention und der relevanten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) stehen und zwischen den folgenden Aspekten unterscheiden:

a. i. Hassrede, die laut Strafgesetzbuch verboten ist; und

ii. Hassrede, die nicht den Schweregrad erreicht, der für eine strafrechtliche Verantwortung ausreichend ist, aber dessen ungeachtet dem Zivil- oder Verwaltungsrecht unterliegt; und Beleidigenden oder schädlichen Arten von Äußerungen, die nicht schwerwiegend genug sind, um legitimerweise durch die Europäische Menschenrechtskonvention eingeschränkt zu werden, dessen ungeachtet aber alternative Reaktionen erfordern, u. a.: Gegenrede und andere Gegenmaßnahmen; Maßnahmen, zur Förderung des interkulturellen Dialogs und des Verständnis, einschließlich über die Medien und sozialen Medien; und relevante Bildungs-, Informationsaustausch- und Aufklärungskampagnen.

Und was den Bereich Strafrecht anbelangt heißt es dort:

Strafrecht
11. Die Mitgliedstaaten sollten in ihrem nationalen Strafrecht festlegen, welche Äußerungen von Hassredestrafrechtliche Verantwortung nach sich ziehen, z. B.:

  • öffentlicher Aufruf, zur Begehung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder

  • Kriegsverbrechen;

  • öffentlicher Aufruf zu Hass, Gewalt oder Diskriminierung;

  • rassistische, fremdenfeindliche, sexistische und LGBTI-feindliche Drohungen;

  • rassistische, fremdenfeindliche, sexistische und LGBTI-feindliche öffentliche Beleidigungen unter

  • Bedingungen wie jene, die für Beleidigungen im Internet im Zusatzprotokoll zum Übereinkommen

  • über Computerkriminalität betreffend die Kriminalisierung mittels Computersysteme begangener

  • Handlungen rassistischer und fremdenfeindlicher Art (SEV Nr. 189) aufgeführt sind;

  • die öffentliche Leugnung, Verharmlosung und Billigung von Völkermord, Verbrechen gegen die

  • Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen; und

  • die vorsätzliche Verbreitung von Material, das solche Äußerungen von Hassrede enthält, einschließlich Ideen, die auf rassischer Überlegenheit oder Hass basieren.

  • Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass in Fällen, in denen ein begründeter Verdacht besteht, dass ein strafbarer Fall von Hassrede vorliegt, wirksame Ermittlungen durchgeführt werden [En14].

10 Abweichende Meinungen zu dieser Empfehlung

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In einer Warnung an den Gerichtshof vor Subjektivität bei dem Versuch, zwischen akzeptabler und inakzeptabler Redeweise zu unterscheiden, schrieben die Richter Andreas Sajo, Vladimiro Zagrebelsky und Nona Tsotsoria in ihrer abweichenden Meinung zu dem bekannten „Hassreden“-Fall „Féret gegen Belgien“ Folgendes:

Abweichende Meinung: Inhaltliche Regulierungen und inhaltliche Beschränkungen der Rede basieren auf der Annahme, dass bestimmte Äußerungen „gegen den Geist“ der Konvention gerichtet sind. Doch der Begriff „Geist“ bietet keine eindeutigen Standards und ist offen für Missbrauch. Menschen, auch Richter, neigen dazu, Positionen, mit denen sie nicht übereinstimmen, als offenkundig inakzeptabel zu kennzeichnen und daher jenseits des Bereichs geschützter Meinungsäußerungen. Jedoch ist genau dies der Bereich, in dem wir Vorstellungen begegnen, die wir verabscheuen oder verachten, wo wir bei unserem Urteil am allervorsichtigsten sein müssen, da unsere persönlichen Überzeugungen und unsere Vorstellungen darüber, was wirklich gefährlich ist, beeinflussen können [En15].

Übrigens: Es ist weder dem Gesetzgeber noch dem Verordnungsgeber und auch (noch) nicht dem Verfassungsschutz gelungen, zu definieren, was eine Hassrede tatsächlich ausmacht. Zumindest liegt die Vermutung nahe, jegliche Form der sprachlichen Delegitimierung des Staates bereits dem Bereich der Hassrede zuzuordnen.

Wie dem auch immer sei: Festzustellen ist, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sich mehrfach zur „Hassgesetzgebung“ deshalb geäußert hat, weil  die im letzten Jahrhundert gemachten Erfahrungen zeigen, dass rassistische und extremistische Meinungen in einer Menschheitskatastrophe endeten.

Die Verfasser der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) waren 1948 anderer Meinung.

Wie dem auch immer sei: Der EuGH geht davon aus, dass vorhandene Statistiken über Hassverbrechen zeigen, dass Hasspropaganda immer Schaden anrichtet, sei es unmittelbar oder potenziell. Es ist, so wohl die vorherrschende Meinung des Mainstreams heute, folglich nicht notwendig, zu warten, bis Hassreden zu einer realen und unmittelbaren Gefahr für die demokratische Gesellschaft geworden sind.

Das aber setzt voraus, dass Einigkeit darüber besteht, was unter Hass tatsächlich zu verstehen ist, denn die Identifizierung von Äußerungen, die als „Hassrede“ qualifiziert werden können/sollen, ist oftmals schwierig, weil die Art der Rede oder die des Schreibens von Hassbotschaften selbst nicht notwendigerweise durch die Äußerung von Hass oder durch Emotionen zum Ausdruck gebracht werden.

Hass kann auch in Stellungnahmen verborgen sein, die auf den ersten Blick rational oder normal erscheinen. Das bedeutet, dass, um der Sache Objektivität verleihen zu können, bei der Klassifizierung von Äußerungen unter dem Sammelbegriff „Hass im Netz“ hohe Hürden überwunden werden müssen, wenn eine Rede, ein Post oder ein Tweet tatsächlich Personen kränkt, beleidigt oder verletzt.

Als Maßstab dafür sollte nach der hier vertretenen Auffassung „die Aufstachelung zu unmittelbarer Gewalt“ angesehen werden.

Wenn allein schon die Zahl 444 in einem Post ausreicht, von einer rechtsextremistischen Geisteshaltung der Person ausgehen zu können, die diese drei Vieren verbreitet hat, dann ist das zwar dumm, nicht aber strafbar, denn diese drei in Zahlen bedeuten:

Deutschland den Deutschen!

Wenn das ausreicht, eine Person dafür bestrafen zu müssen, dann sollte das nachdenklich stimmen. Wohin aber soll solch eine Bestrafungssucht führen, die in einer Demokratie nichts zu suchen hat?

Die Antwort darauf lautet: Ein Staat kann nur dann ein freiheitlicher Staat sein, wenn er als eine konstitutionelle Verwirklichung der Idee der Kritik erlebbar ist, denn nur durch kritische, auch boshafte, verachtende und sogar verhöhnende Kritik können Überzeugungen ihre Glaubwürdigkeit unter Beweis stellen.

Und wenn dann ein Bundesminister als Schwachkopf bezeichnet wird, dann hat er sich damit abzufinden. Und wenn dann auch noch jemand den Schutz vor Messerstechern und Vergewaltigern einfordert, dann rechtfertigt sich diese Kritik dadurch, dass ein Blick in die Kriminalstatistik ausreicht, um den Wahrheitsgehalt solcher Worte zu rechtfertigen.

Ach ja, da ist ja auch noch ein 14-Jähriger, der sich erdreist hat, „Alles für Deutschland!“, zu posten und dessen Familie als Folge davon, morgens um 06.00 Uhr es auf der Grundlage eines richterlichen Durchsuchungsbeschlusses dulden mussten, dass das Haus durchsucht und Smartphones, Laptops und andere Datenträger beschlagnahmt wurden. Alles mit dem Ziel, einen 14-Jährigen die Strafe zukommen zu lassen, die das Gesetz vorsieht: In diesem Fall dürfte es dazu aber gar nicht kommen, wenn der Jugendliche noch nicht vorbestraft ist, denn gegen Jugendliche wird auf der Grundlage des Jugendgerichtsgesetzes das so genannte Derelektionsverfahren eingeleitet, das meist mit einem Verweis oder mit einer Einstellung des Verfahrens endet.

Wie dem auch immer sei: In München wird beim Posten nationalsozialistischer Parolen wohl mit zweierlei Maß gemessen, denn von der dortigen Staatsanwaltschaft wurden Cathy Hummels, ihres Zeichens Ex-Frau des gleichnamigen Fußballers ein Verfahren in gleicher Sache eingestellt. Auch sie hatte im Mai 2024, sozusagen aus Vorfreude auf die Fußball-EM in Deutschland, im Internet „Alles für Deutschland“ gepostet. Weil sie aber beteuerte, nicht gewusst zu haben, dass der Spruch verboten sei, und sie das Posting sofort löschte, wurden die Voruntersuchungen rasch eingestellt. Hausdurchsuchung gab es bei ihr selbstverständlich keine.

Für 14-jährige Schüler scheinen in Bayern hingegen andere Gesetze zu gelten.

Und wenn es um die Bestrafung der Verbreitung verfassungsfeindlicher Kennzeichnungen im Sinne von § 86a StGB (Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen) geht, dann sei nur an ein Urteil eines Richters des Amtsgerichts Köln aus dem Jahr 2015 erinnert, der sogar Hitlergrüße legitimiert hat.

Übrigens: Auch Personen, die auf Versammlungen, also öffentlich, den Hitlergruß zelebrieren, werden dafür ja auch nur dann bestraft, wenn ihnen Vorsatz nachgewiesen werden kann.

LG Würzburg 2023: Das Landgericht Würzburg hat den Redner einer „Querdenkerdemonstration“ von dem Vorwurf freigesprochen, verfassungswidrige Kennzeichen verwendet zu haben. Wie bereits das Würzburger Amtsgericht von einem Jahr, entschieden die Richter in zweiter Instanz, dass der Beschuldigte zwar eindeutig einen Hitlergruß gezeigt habe, ihm jedoch kein Vorsatz nachzuweisen sei [En16].

Und auch ein Künstler, der öffentlich den Hitlergruß gezeigt hatte, wurde freigesprochen.

FAZ vom 14.08.2013: Freispruch für Künstler nach Hitlergruß. Im Prozess um den verbotenen Hitlergruß hat das Amtsgericht Kassel zugunsten der Kunstfreiheit entschieden. „Es ist klar, dass der Angeklagte sich nicht mit nationalsozialistischen Symbolen oder Hitler identifiziert, sondern das Ganze eher verspottet“, sagte die Vorsitzende Richterin. Meese war das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen vorgeworfen worden. Er hatte in einem „Spiegel“-Gespräch zum Thema „Größenwahn in der Kunst“ im Juni 2012 in Kassel die „Diktatur der Kunst“ gefordert und den Arm zweimal zu dem verbotenen Gruß gehoben [En17].

So viel Verständnis für Dummheit kann im besten Deutschland aller Zeiten von heute ein 14-jähriger Junge nicht mehr aufgebracht werden, denn sein „Alles für Deutschland“ macht es erforderlich, am Nikolaustag die Polizei im Haus seiner Eltern nach Beweismitteln suchen zu lassen, die gar nicht benötigt wurden, weil der Post ja ausreicht, etwas zu beweisen, denn „Alles für Deutschland“ ist eine verbotene Naziparole im Sinne von § 86a StGB. Wie dem auch immer sei: Es mag ja noch vertretbar sein, Björn Höcke (AfD) zum zweiten Mal wegen dieser Parole zu verurteilen.

Aber auch dagegen lassen sich durchaus überzeugende Gründe vorbringen.

LTO.de vom 1.7.2024: Der renommierte Politikwissenschaftler Prof. Dr. Jochen Falter stellt die Bekanntheit der Parole infrage: „Ich selber beschäftige mich seit mehr als drei Jahrzehnten wissenschaftlich mit der Massenbasis des Nationalsozialismus und wusste doch nicht, dass dieser so harmlos klingende Ausruf ‚Alles für Deutschland‘ ein Motto der SA war“, kommentierte Falter das erste Höcke-Urteil im Fokus. Dem Historiker Dr. Dr. Rainer Zitelmann, der über Adolf Hitler promovierte, war vor den Strafverfahren ebenfalls nicht bekannt, dass der Ausdruck von der SA verwendet wurde. Schließlich vermutet auch der Jurist Dr. Christian Rath in einem Kommentar für die taz, dass „99,9 Prozent der Deutschen“ vor dem Strafverfahren gegen Höcke nicht wussten, dass die Parole von der SA genutzt wurde. Vor diesem Hintergrund erscheint es durchaus fraglich, ob die erforderliche Hinweisfunktion gegeben ist [En18].

Ein 14-jähriger Junge aber muss das wissen.

Auf der Website der CDU heißt es:
Friedrich Merz:

Für ein Deutschland, auf das wir wieder stolz sein können [En19].

Ob sich das linker, mittiger oder etwa gleichermaßen rechts anhört, wie "Deutschland den Deutschen" oder "Alles für Deutschland", das wird jeder für sich selbst eintscheiden müssen.

NZZ.ch vom 21.11.2024: Immer öfter wollen deutsche Politiker die Demokratie mit Strafanzeigen retten. Das muss scheitern [En20].

Dem ist zuzustimmen, denn auch das Motto von Mao „Bestrafe einen, erziehe hundert“, führte in die Katastrophe.

Was zur Volksverhetzung noch zu sagen ist:

Im Bundestagswahlkamp 2002 wurde im Spiegel Detmar Karpinski, Geschäftsführer der Hamburger Agentur KNSK, einer Werbeagentur, die für die SPD die Kampagne entwickelt hatte, wie folgt zitiert:

Spiegel.de vom 9.8.2002: „Die Menschen erwarten von der SPD als Regierungspartei nicht stumpfen Wahlkampf, sondern dass sie regiert“, so Karpinski. Deshalb zeige man den Kanzler in der Kampagne mit Reportagefotos bei der Arbeit, immer im Dienst, einer für alle, alles für Deutschland. „Da ist nichts gestellt“, behauptet Karpinski. Auf den Kanzler kommt es an. (Hervorhebung von mir) [En21].

Ach ja:
Und dann gibt es ja auch noch den Spiegel.
Am 8.9.2023 heißt es im Spiegel, Ausgabe 37/2023 wie folgt:

So gesehen
Alles für Deutschland

Eine Kolumne von Stefan
Kurzmany
Der „Deutschland-Pakt“ ist erst der Anfang: Olaf Scholz plant zahlreiche weitere Initiativen zur Verbesserung des Landes [En22].

Die Grafik spricht eine noch deutlichere Sprache

Der Spiegel erreichte im Jahr 2023 eine verkaufte Auflage von rund 695.000 Exemplaren, ein Rückgang von knapp 30.000 Exemplaren gegenüber dem Vorjahr. Der Verbreitungsgrad des Posts eines 14-Jährigen dürfte den Verbreitungsgrad des Spiegels deshalb übertroffen haben, weil die Strafverfolgungsbehörden alles getan haben, für eine flächendeckende Verbreitung der verbotenen Parole „Alles für Deutschland!“, zu sorgen.

Anders ausgedrückt: Wer mit den Mitteln des Strafrechts für „Ordnung im Staat“ sorgen will und meint, verbotene Parolen oder Politikerbeleidigungen (manche reden von Majestätsbeleidigung) dadurch ausmerzen zu können, indem in Wohnungen nach noch mehr Verbotenem gesucht wird, sorgt in der Internetkultur von heute dafür, dass verbotene Parolen in einer Dimension verbreitet werden, die sogar manchen Influencer vor Neid erblassen lässt: Millionenfach.

Man könnte sagen, solch ein staatliches Vorgehen ist ein effektiver Beitrag gegen das Vergessen.

11 Quellen

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Endnote_01
Pfaffenhofen-Today.de vom 22.03.2022: Heute bundesweit Durchsuchungen: Razzien auch in Neuburg und Freising.
https://pfaffenhofen-today.de/68692-durchsuchungen-220322
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Endnote_02
Paul Coleman. Zensiert – Wie europäische Hassrede-Gesetze die Meinungsfreiheit bedrohen. Fontis Verlag Basel 2020, Seite 57
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Endnote_03
https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_
BGBl&jumpTo=bgbl273s1533.pdf#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_
id%3D%27bgbl273s1533.pdf%27%5D__1734097791397
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Endnote_04
Pi-News.com vom 27.11.2020: Jodler zu 800 Euro Strafe verurteilt,
https://www.pi-news.net/2010/11/steiermark-jodler-zu-800-euro-strafe-verurteilt/
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Endnote_05
BVerfG, Beschluss vom 29. Januar 2015 - 2 BvR 497/12
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Endnote_06
BVerfG, Beschluss vom 16.12.2014 – 2 BvR 2393/12
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Endnote_07
BVerfG, Beschluss vom 15.12.1965 - 1 BvR 513/65
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Endnote_08
BVerfG, Beschluss vom 16.12.2014 – 2 BvR 2393/12
Zurück

Endnote_09
BVerfG, Beschluss vom 15. November 2023 - 1 BvR 52/23
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Endnote_10
BVerfG, Beschluss vom 15. November 2023 - 1 BvR 52/23
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Endnote_11
BVerfG, Beschluss vom 19.04.2023 - 2 BvR 1844/21
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Endnote_12
LG Hamburg, Beschluss vom 26.07.2022 - 631 Qs 17/22
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Endnote_13
https://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Entscheidungen/
WirkungDerEntscheidungen/wirkungDerEntscheidungen_node.html
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Endnote_14
Empfehlung CM/Rec(2022)161:
https://rm.coe.int/combating-hate-speech-de-
v2-2770-0913-3832-1/1680ad6161
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Endnote_15
Zitiert nach: Paul Coleman. Zensiert – Wie europäische Hassrede-Gesetze die Meinungsfreiheit bedrohen. Fontis Verlag Basel 2020, Seite 144
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Endnote_16
Mainpost.de vom 20.07.2023: Erneut Freispruch im Hitlergruß-Verfahren: Vorsatz laut Landgericht Würzburg nicht nachweisbar. Die Geste auf einer „Querdenker“-Demonstration in Würzburg war eindeutig, Vorsatz jedoch nicht nachweisbar. Warum ein Redner vor Gericht erneut klar freigesprochen wurde.
https://www.mainpost.de/regional/wuerzburg/erneut-freispruch-im-
hitlergruss-verfahren-vorsatz-laut-landgericht-wuerzburg-
nicht-nachweisbar-art-11190558
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Endnote_17
https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/jonathan-meese-
freispruch-fuer-kuenstler-nach-hitlergruss-12532250.html
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Endnote_18
https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/bjoern-hoecke-zweites-
mal-verurteilt-lg-halle-alles-fuer-deutschland-sa-parole
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Endnote_19
https://www.cdu.de/
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Endnote_20
https://www.nzz.ch/der-andere-blick/immer-oefter-wollen-
deutsche-politiker-die-demokratie-mit-strafanzeigen-
retten-das-muss-scheitern-ld.1858418
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Endnote_21
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/spd-wahlkampf-
schroeder-auf-seinem-deutschen-sonderweg-a-208793.html
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Endnote_22
https://www.spiegelkritik.de/wp-content/uploads/
2023/09/Alles-fuer-Deutschland-2.png
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