Der deutsche Rechtsstaat gegen
Martin Sellner
Inhaltsverzeichnis:
01
Rechtsstaatliches Grundverständnis
02 Das Einreiseverbot, verfügt gegen Martin
Sellner 03
Inanspruchnahme von Rechtsmitteln durch Martin Sellner
04 Ein paar Tage später an der
deutsch-österreichischen
Grenze
05 Aufenthaltsverbot in Neulingen
bei Pforzheim 06 Polizeiliches Einschreiten
aus rechtlicher Sicht
07 Das Betreten des Raumes, in dem Martin Sellner
den Vortrag
hält
08 Dringende Gefahr der
Betretungsbefugnis 09
Eröffnung des Aufenthaltsverbots durch die Polizei 10
Tatsachen rechtfertigen die Annahme, dass ...
11 Gefahrenverdacht für abschließende Maßnahmen
nicht
ausreichend
12 Martin Sellner zitiert aus dem polizeilichen
Aufenthaltsverbot 13
Schlusssätze 14 Quellen
01
Rechtsstaatliches Grundverständnis
TOP
Ein Rechtsstaat zeichnet
sich dadurch aus, dass die Exekutive sich an geltendes Recht
hält und, wenn davon Betroffene das anders sehen, diese auf Antrag unabhängige Richter darüber entscheiden
lassen können,
was Recht bzw. was Unrecht ist. Im Zusammenhang mit Maßnahmen,
die sich gegen Martin Sellner, der Leitfigur der so genannten
"Identitären in Österreich" richteten, ist festzustellen,
dass alle diesbezüglich von der Exekutive verfügten Maßnahmen
gegen Martin Sellner geltendem Recht entweder nicht entsprachen, oder,
im Hinblick auf das von der Gemeinde Neulingen bei Pforzheim in Baden-Württemberg
noch darüber zu entscheiden haben werden, ob auch dieses
"rechtsstaatliche Vorgehen" das gleiche Schicksal ereilen wird,
wie die zuvor eingestellten Verfahren gegen Martin Sellner.
In
einer Meldung des Deutschlandfunks vom 5.8.2024 heißt es:
Österreichischer Rechtsextremist: Polizei beendet Lesung
von Martin Sellner.
Die Polizei hat in der Gemeinde Neulingen in Baden-Württemberg
eine Lesung des rechtsextremen Autors Martin Sellner gestoppt –
und ein Aufenthaltsverbot für ihn ausgesprochen [En01].
Bekanntermaßen gehört es zum Selbstverständnis von Martin
Sellner, gegen ihn veranlasste und seine grundrechtlichen
Freiheiten beeinträchtigenden Maßnahmen, gerichtlich überprüfen
zu lassen, bisher mit großem Erfolg, auch in Deutschland.
Nur zur Erinnerung:
Der Hype gegen Martin Sellner wurde durch die
„Geheimplan“-Reportage des Nachrichtenmagazins
Correctiv,
das sich selbst als ein „gemeinwohlorientiertes Medienhaus
versteht" ausgelöst und, darauf vertrauend, dass die Recherche
zutrifft, auch in den Leitmedien
kritisiert wird. Übrigens, das Nachrichtenmagazin Correctiv
wurde noch vor Kurzem, im Juli 2024, mit dem so genannten Leuchtturmpreis
für guten investigativen Journalismus ausgezeichnet.
Auf der
Website von
Corrective
heißt es mit Datum vom 20. Juli 2024, also am Tag des Widerstandes
gegen den Nationalsozialismus, den
Verteidigungsminister Boris Pistorius zum Anlass nahm, im
Gedenken an den Widerstand vom 20. Juli 1944 einen Kranz im
Bendlerblock in Berlin niederzulegen – wie folgt zu dieser Preisverleihung:
CORRECTIV
erhält den Leuchtturm für besondere publizistische Leistungen
2024. Für die „Geheimplan“-Recherche wurde CORRECTIV mit dem
Leuchtturm für besondere publizistische Leistungen
ausgezeichnet. „Die Arbeit von Correctiv steht exemplarisch für
den Wert und die Notwendigkeit von investigativem Journalismus“,
begründete das Netzwerk Recherche die Entscheidung. Die
Laudatorin
Özge Inan
bezeichnete den Text als „unschätzbar wertvoll“ und richtete
einen Appell an die Anwesenden. 20. Juli 2024
Özge
Inan:
Weil sie [gemeint ist die Recherche] in ihrer ganzen Klarheit
dokumentiert, wie günstig die Zeiten für die Faschisten um
Martin Sellner sind. Weil sie ihre Strategien offenlegt. Weil
sie uns darüber in Kenntnis setzt, wie die extreme Rechte
diskutiert, welche Hürden sie noch sieht, wie sie sie zu
überwinden und diesen historisch günstigen Moment fruchtbar zu
machen gedenkt [En02].
Özge
Inan:
Özge
İnan,
geboren 1997 in Berlin, studierte Jura und arbeitete danach als
Journalistin und Kolumnistin. Nach Stationen beim ZDF Magazin
Royale
und der Süddeutschen Zeitung schreibt sie inzwischen vor allem
für den Freitag.
Zum Lauf der Ereignisse in aller Kürze:
Viele Medien griffen die
Correctiv-Recherche zum „Potsdamer Geheimtreffen“ auf,
entnahmen
ihr aber oft mehr, als dort tatsächlich behauptet wurde.
Nun wehrte sich ein Teilnehmer der „Geheimkonferenz“ erfolgreich
vor dem OLG Hamburg gegen einen Tagesschau-Bericht.
Legal Tribune
Online (LTO)
vom 26.7.2024: Am 10.
Januar veröffentlichte die Investigativ-Plattform Correctiv den
Artikel „Geheimplan gegen Deutschland“. Darin geht es um ein
Treffen von rechten Politikern und Rechtsextremen in Potsdam
Ende November 2023. Die umstrittene Recherche sorgte bundesweit
und international für Aufsehen.
[Auch]
die Tageschau hatte die Correctiv-Recherche wie viele andere
Medien aufgegriffen. Offenbar hatte sie den Correctiv-Bericht
dabei so verstanden, dass dort über Ausweisung von deutschen
Staatsbürgern diskutiert wurde, und entsprechend berichtet.
Das
Hanseatische
Oberlandesgericht (OLG) untersagte dem Norddeutschen Rundfunk
(NDR), der für die Tagesschau verantwortlich ist, „in Bezug auf“
Vosgerau
[der geklagt hatte = AR] zu berichten, dass auf dem Potsdamer
Treffen auch eine Ausweisung von Staatsbürgern diskutiert worden
sei (Beschl.
v.
23.07.2024, Az. 7 W 78/24).
Damit änderte das Gericht die Entscheidung des Hamburger
Landgerichts (LG) ab, welches dem NDR noch Recht gegeben und
Vosgeraus
Unterlassungsantrag abgelehnt hatte (Beschl.
v. 30.05.2024, Az. 324 O 169/24). Beide Beschlüsse liegen LTO
vor [En03].
Auf der
Website der Anwälte, die Dr. Ulrich
Vosgerau
vor Gericht wegen der Falschmeldungen in der Tagesschau
vertreten hatten, heißt es auf der Website der Anwaltskanzlei,
die Dr. Ulrich
Vosgerau
vertreten hat, wie folgt:
Kanzlei Höcker:
Correctiv-Bericht verboten: Keine Pläne zur Ausweisung deutscher
Staatsbürger in Potsdam diskutiert. „Prozessual ist von der
Unwahrheit der Behauptung der Antragsgegnerin, es sei bei dem
Treffen in Potsdam die Ausweisung deutscher Staatsangehöriger
diskutiert worden, auszugehen.“ [En04]
Diese
Niederlage betrifft auch den NDR, der für die Berichterstattung
der Tagesschau verantwortlich ist.
Nur zur Erinnerung:
Am 10. Januar 2024 veröffentlichte
die Investigativ-Plattform Correctiv den Artikel „Geheimplan
gegen Deutschland“. Darin geht es um ein Treffen von rechten
Politikern und Rechtsextremen in Potsdam, zu dem es bereits Ende November 2023
gekommen war. Die
umstrittene Recherche sorgte bundesweit und international für
Aufsehen, insbesondere auch deshalb, weil Martin Sellner dort
einen Vortrag zum Thema „Remigration von Migranten“ gehalten
hatte, einem Wort – gemeint ist
Remigration
– das nichts anderes ist als das Gegenteil von Emigration
bedeutet. Beiden Sprachfiguren haftet zudem die Freiwilligkeit
an, die Personen dazu bringt, Deutschland zu verlassen (Remigration)
oder in Deutschland eine neue Heimat zu suchen (Emigration).
Gedeutet
wurde diese Sprachfigur aber in den Medien als Deportation,
einer Sprachfigur, die an die dunkelsten Zeiten in der deutschen
Geschichte des 20. Jahrhunderts erinnert und die sozusagen als
Reflexverhalten, Hunderttausende zum Anlass nahmen, gegen diese
Geheimkonferenz von Rechtsextremisten und deren Pläne auf die Straße zu gehen.
02 Das Einreiseverbot, verfügt gegen Martin
Sellner
TOP
Gegen
Martin Sellner verfügte die Stadt Potsdam auf der Grundlage der
oben skizzierten Ereignisse im März 2024, also gut
drei Monate nach dem bekanntgewordenen „Geheimtreffen in
Potsdam“, Martin Sellnerein Einreiseverbot in die Bundesrepublik Deutschland
an,
womit die Selbstüberschätzung einer dem Recht verpflichteten
Exekutive in Sachen Martin Sellner ihren Anfang nahm.
Weshalb?
Art.
1 Abs. 3 GG (3) Die nachfolgenden Grundrechte binden
Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als
unmittelbar geltendes Recht.
Art.
20 Abs. 3 GG (3) Die Gesetzgebung ist an die
verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die
Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
Art.
103 Abs. 1 GG (1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf
rechtliches Gehör.
Insbesondere der sich aus Art. 103 Abs. 1 GG ergebende Anspruch
bedeutet in seinem Kern, dass Aussagen der streitenden Parteien
nicht bloß gehört, sondern auch inhaltlich gewürdigt werden müssen.
Das gilt auch für die Betroffenen hoheitlicher Maßnahmen, wenn
die vor Gericht geltend machen, dass gegen sie Maßnahmen verfügt
wurden, die ihre Grundrechte verletzen, was bei einem
Einreiseverbot gegen einen EU-Bürger offensichtlich der Fall
gewesen ist, denn EU-Bürger genießen Freizügigkeit innerhalb der
EU, also auch in Deutschland.
03 Inanspruchnahme von Rechtsmitteln durch
Martin Sellner
TOP
Wer sich
auch nur oberflächlich mit der Klagefreudigkeit von Martin
Sellner auseinandergesetzt hat wird wissen, dass dieser Mann
jede sich bietende Gelegenheit nutzt, vor Gericht staatliches
Handeln bisher mit großem Erfolg auf Rechtmäßigkeit
überprüfen lässt. Insoweit vermag es nicht zu verwundern,
dass der von Martin Sellner beauftragte Rechtsanwalt sich an das
Verwaltungsgericht Potsdam gewendet hat, um das von der Stadt
Potsdam erlassene „Einreiseverbot in die Bundesrepublik
Deutschland“ prüfen zu lassen.
Das Ergebnis vorweg:
Das angerufene
Verwaltungsgericht entschied im Mai 2024, dass das erlassene
Einreiseverbot in die Bundesrepublik rechtswidrig verfügt wurde.
Da die
Ausländerbehörde der Stadt Potsdam, die das Einreiseverbot
verfügt hat, sich darauf berief, dass von Martin Sellner sowohl
Gefahren für die öffentliche Ordnung als auch Gefahren für die
öffentliche Sicherheit in solch einem Maße ausgingen, die ein
Einreiseverbot rechtfertigen würden, werden im Folgenden
die Passagen aus dem Beschluss des
VG
Potsdam zitiert, die diese beiden Sprachfiguren betreffen und
verwerfen und die die Annahmen der Amtswalter der Stadt Potsdam
widerlegen, die ihr Einschreiten als mit geltendem Recht
übereinstimmend bewertet hatten.
VG Potsdam,
Beschluss vom 31. Mai 2024:
Hinsichtlich der öffentlichen Ordnung setzt die rechtmäßige
Verlustfeststellung eines freizügigkeitsberechtigten
Unionsbürgers danach auf Tatbestandsebene voraus, dass aufgrund
des persönlichen Verhaltens des Betroffenen außer der Störung
der öffentlichen Ordnung, die jede Gesetzesverletzung darstellt,
eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt,
die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. (...).
Dieser
Maßstab verweist - anders als der Begriff der Gefahr für die
öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizeirecht -
nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern auf einen
spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich ein Grundinteresse der
Gesellschaft, das berührt sein muss. Zu den Grundinteressen der
Gesellschaft gehört dabei die Sicherung des friedlichen
Zusammenlebens der Einwohner eines Staates unter Beachtung der
geltenden Rechtsordnung, insbesondere in ihrer strafrechtlichen
Ausprägung (...).
Hinsichtlich der öffentlichen Sicherheit ist zu beachten, dass
unionsrechtlich eine Unterscheidung zur öffentlichen Ordnung
nicht immer trennscharf vorgenommen werden kann (...). Die
öffentliche Sicherheit umfasst nach der Rechtsprechung des EuGH
sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit, „sodass die
Beeinträchtigung des Funktionierens der Einrichtungen des
Staates und seiner wichtigen öffentlichen Dienste sowie das
Überleben der Bevölkerung ebenso wie die Gefahr einer
erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen oder des
friedlichen Zusammenlebens der Völker oder eine Beeinträchtigung
der militärischen Interessen die öffentliche Sicherheit berühren
können“ (...).
Das
Erfordernis einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung bzw.
Sicherheit besagt dabei nicht, dass eine „gegenwärtige Gefahr“
im Sinne des deutschen Polizeirechts vorliegen müsste, die
voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu
mit Gewissheit zu erwarten ist. Es verlangt vielmehr eine
hinreichende - unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit
nach dem Ausmaß des möglichen Schadens und dem Grad der
Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts differenzierende
Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche
Ordnung im Sinne des Art. 45 Abs. 3
AEUV
beeinträchtigen wird.
Es gilt ein
differenzierender, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens
abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts.
Auch der Gerichtshof der Europäischen Union geht davon aus, dass
die für Einschränkungen von Aufenthaltsrechten erforderliche
erhebliche Gefahr keine statische Wahrscheinlichkeit bedeutet,
sondern dass in jedem Einzelfall auch der Grad der aktuellen
Gefährlichkeit des Betroffenen zu ermitteln ist (...). Für die
Annahme einer Wahrscheinlichkeit, der Antragsteller werde ein
Grundinteresse der Gesellschaft bzw. die öffentliche Sicherheit
berühren, genügt indes nicht, dass lediglich der durch bestimmte
Tatsachen begründete Verdacht für das Vorliegen einer Gefahr
besteht. Denn § 6 Abs. 1 bis 3
FreizügG/EU
setzt tatbestandlich nicht nur - wie etwa § 7 Abs. 1 Nr. 1
PassG
- voraus, dass „bestimmte Tatsachen die Annahme begründen“, dass
eine Gefahr besteht. Erforderlich ist vielmehr, dass eine
tatsächliche gegenwärtige Gefahr besteht. Dafür muss der - in
Hauptsacheverfahren gemäß § 108 Abs. 1 S. 1
VwGO
zur Überzeugung des Gerichts feststehende - Sachverhalt mit
hinreichender Wahrscheinlichkeit den Schadenseintritt erwarten
lassen (...). Unter Beachtung dieses Maßstabs hat der
Antragsteller eine erforderliche Gefährdung der öffentlichen
Sicherheit oder Ordnung nicht hinreichenddargelegt.
Soweit der
Antragsgegner eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und
Sicherheit damit zu begründen versucht, dass der Antragsteller
durch das beschriebene Agieren die „unverrückbaren staatlichen
Grundlagen der Bundesrepublik verändern woll[e]u, „mit [seinen]
Aktivitäten zugrundeliegenden Ethnopluralismus die Garantie der
Menschenwürde und das Staatsvolkverständnis des Grundgesetz
verletz[t“], „Prinzipien verfolge], die undemokratisch und damit
rechtsstaatswidrig sind“, „die historische Verpflichtung
Deutschlands für den Holocaust als Grundlage unserer
Staatsanwesen negier[t]“ und „das friedliche Zusammenleben der
Völker durch die von [ihm] praktizierte und von [ihm]
angestrebte Zusammenarbeit extremistischer Netzwerke
gefährde[t]“, vermag er die Kammer nicht vom Vorliegen der
Tatbestandsvoraussetzungen des § 6 Abs. 1 Satz 1
FreizügG/EU
zu überzeugen.
An anderer Stelle:
Allerdings
ist nach Ansicht der Literatur, der sich die Kammer anschließt,
bei Verhaltensweisen, die nicht zu einer strafrechtlichen
Verurteilung führen, ein besonders strenger Maßstab anzuwenden,
da gerade über die strafrechtliche Ausprägung der geltenden
Rechtsordnung der Mitgliedstaat bestimmt, welche
Verhaltensweisen einem Unwerturteil ausgesetzt sind. Fehlt es an
einem solchen Unwerturteil, kann schwerlich ein Grundinteresse
der Gesellschaft berührt sein. Überdies ist nicht hinreichend
belegt, dass der Antragsteller wegen der vom Antragsgegner
angeführten Umstände mit hinreichender Wahrscheinlichkeit
tatsächlich mit strafrechtlichen Verurteilungen rechnen müsste.
Für die Vergangenheit führt der Bescheid selbst aus, dass
diverse Strafverfahren gegen den Antragsteller eingeleitet
wurden u. a. wegen des Vorwurfs des Verwendens von Kennzeichen
verfassungswidriger
Organisationen
(§ 86a StGB), Volksverhetzung (§ 130 StGB), Körperverletzung (§
223 StGB), Geldwäsche (§ 261 StGB), Verstoßes gegen das
Versammlungsgesetz (§ 26
VersammlG),
wegen Gewaltdarstellung (§ 131 StGB) und Nötigung (§ 240 StGB).
Die Ermittlungsverfahren sind alle indes eingestellt worden.
Auch in Österreich resultierten die Ermittlungs- bzw.
Strafverfahren in Einstellungen bzw. Freisprächen. Der Bescheid
verhält sich nicht dazu, weshalb sich dies nun anders darstellen
sollte.
Beschluss im Volltext
Hinweis:
Die weiteren Gründe, die auch aus unionsbürgerlicher Sicht nicht
ausgereicht hätten, ein Einreiseverbot zu rechtfertigen, wurden
von den Richtern des Verwaltungsgerichts Potsdam ebenfalls
gerügt.
Kurzum:
Die erlassene Einreiseverfügung gegen Martin Sellner entsprach
nicht geltendem Recht. Sie war und ist rechtswidrig.
Von
einem am Rechtsstaat orientierten Willen
verantwortlicher staatlicher Stellen wäre nach der hier
vertretenen Rechtsauffassung zu erwarten gewesen, erkennen zu
können, dass die beabsichtigte Maßnahme vor einem
Verwaltungsgericht keinen Bestand haben wird, zumal
jede Ausländerbehörde über ausreichend juristisch geschultes
Personal verfügt, um die vom Verwaltungsgericht Potsdam
aufgeführten Gründe sozusangen "vorhersehen" zu können, die zu dem oben
genannten Ergebnis führten.
Bekanntermaßen aber sind die
Amtswalter
von Behörden weisungsgebunden, mit allen sich daraus für die
Glaubwürdigkeit eines Rechtsstaates ergebenden negativen
Folgen, wenn diese Weisungen - geltendes Recht bis an die Grenze
des noch Erträglichen nicht nur ausnutzen, sondern diese
"Brandmauer" sogar noch überschreiten, um damit politische Ziele
erreichen zu können, obwohl eigentlich bekannt sein sollten,
dass rechtliche Grenzüberschreitungen auch in eine ganz andere
Richtung wirken können.
Wie dem
auch immer sei: Geschadet hat dieser Rechtsstreit Martin Sellner
nicht, wohl aber der Bundesrepublik Deutschland.
04 Ein paar Tage später an der
deutsch-österreichischen Grenze
TOP
Am
27.01.2024, also nur 17 Tage nach der Berichterstattung des
Nachrichtenmagazins Correctiv über das Potsdamer Geheimtreffen,
heißt es auf
Spiegel.de
wie folgt:
Spiegel.de:
Geplante Einreisesperre
gegen Rechtsextremisten. Darf Martin Sellner bald nicht mehr in
Deutschland hetzen? Der österreichische Rechtsextremist Martin
Sellner hat mit Plänen zur massenhaften Abschiebung oder
Verdrängung von Einwanderern für Proteste gesorgt. Nun könnte
eine Potsdamer Behörde ihm künftige Abstecher nach Deutschland
verbieten [En05].
Wozu es
dann ja auch gekommen ist. Es kann davon ausgegangen werden,
dass Martin Sellner von dem Vorhaben der
Stadt Potsdam, gegen ihn ein "Einreiseverbot in die
Bundesrepublik Deutschland" zu verfügen, in Kenntnis gesetzt
wurde, denn die Anwendung in Deutschland geltendes
Verwaltungsrecht setzt bei Maßnahmen, die erst in der Zukunft
wirksam werden sollen, voraus, dass vor der Verfügung einer
belastenden Maßnahme der davon Betroffene anzuhören ist.
Insoweit
war das, was dann am 29.01.2024 sich anlässlich einer
Grenzkontrolle bei Passau ereignete, aus der Sicht von Martin
Sellner, ein lohnender Versuch, erneut Aufmerksamkeit in der
Presse auf sich zu lenken, zumal dort ja schon von den dem
geplanten Einreiseverbot der Stadt Potsdam berichtet worden war.
Was sich im
Rahmen dieser Kontrolle ereignete, zeigt erneut, wie dehnbar das
Wort Rechtsstaat ist. In einer Meldung auf der Website der
Passauer
Neuen
Presse (PNP)
vom 29.01.2024 heißt es:
PNP.de vom 29.01.2024:
Grenzkontrolle bei Passau. Hickhack um Sellner: Polizei lässt
Rechtsextremisten nach Kontrolle einreisen.
Für Wirbel
gesorgt hat am Montag der Plan des österreichischen
Rechtsextremisten Martin Sellner, Referent bei der umstrittenen
Remigrations-Konferenz
in Potsdam, sich an der deutsch-österreichischen Grenze
festnehmen zu lassen.
Gegen 18
Uhr traf Sellner in Begleitung einer Gruppe in einem schwarzen
Mini am Grenzübergang ein und wurde von den Beamten einer
Kontrolle unterzogen. Polizeihauptkommissar (...)
von
der Bundespolizei Passau erklärte gegenüber der Mediengruppe
Bayern, es wurde kontrolliert, ob bei Martin Sellner eine
Gefährdung für die öffentliche Sicherheit und Ordnung vorliege.
Die Entscheidung, ob er einreisen dürfe, lag bei der
Bundespolizei in Potsdam.
Deswegen
durfte Sellner einreisen.
Gegen 18.45
Uhr stand dann fest: Sellner darf einreisen. [Der
Polizeisprecher der Bundespolizei] berichtet gegenüber der
Mediengruppe Bayern: „Wir haben die Gründe hinterfragt, warum er
einreist, und wir haben keine Gründe gefunden, die darauf
hindeuten, dass er eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit
und Ordnung darstellt – und deswegen darf er einreisen“
[En06].
In
Anbetracht der Tatsache, dass medial bereits bundesweit über ein
zu erwartendes Einreiseverbot berichtet worden war, ist es –
zumindest nach der hier vertretenen Sicht der Dinge – zumindest
bemerkenswert, dass es Polizeibeamten der Bundespolizei,
denen Martin Sellner kein Unbekannter war, es gelang, innerhalb von 45 Minuten eine weitere unrechtmäßige
Maßnahme zu unterlassen, indem sie Martin Sellner in die
Bundesrepublik Deutschland einreisen ließen.
05 Aufenthaltsverbot in Neulingen bei Pforzheim
TOP
Als sich
Martin Sellner im August erneut in Deutschland aufhielt, um dort
in verschiedenen Städten Vorträge über sein Buch „Remigration –
Ein Vorschlag“ zu halten, nahm dies die Stadt Neulingen bei Pforzheim
in Baden-Württemberg zum Anlass, ein sofort vollziehbares
Aufenthaltsverbot gegenüber Martin Sellner anzuordnen.
Auf Achgut.com
vom 09.08.2024 heißt es, unter der Überschrift "Ausgestoßene der
Woche" wie folgt:
In der Verfügung behauptet der
Neulinger
Bürgermeister Michael Schmidt (parteilos) sehr vage, „dass die
von Sellner verbreiteten verschwörungsideologischen Narrative
grundsätzlich dazu geneigt sind, als Grundlage für die Begehung
von Gewalttaten zu dienen“. Der Betroffene behält sich
rechtliche Schritte vor. Auch an anderen Stationen der Lesetour
hatte es Probleme gegeben. Beim Abschluss in Passau erhielt
Sellner einen Platzverweis, in Marburg kam es zu einer
Gegendemonstration mit Gewalttätigkeiten gegenüber einem
Youtuber, und von deren Bühne aus wurden Polizisten als „Nazis
in Uniform“ bezeichnet. Nachdem sich Sellner in Saarbrücken kurz
den Gegenprotestierern gestellt hatte, wurde er angezeigt, da er
angeblich den Hitlergruß angedeutet hätte; er bestreitet dies
vehement, zumindest in einem Video der Situation ist davon auch
nichts zu erkennen. In Neulingen distanzierte sich der Wirt der
Veranstaltungsstätte nach Druck aus Antifa-Kreisen von dem
Termin. Sellner gab seinen dort abgebrochenen Vortrag später in
einem Stream wieder [En07].
In den
Leitmedien wurden nicht nur andere Überschriften sondern auch andere Inhalte
bevorzugt. Hier nur einige Beispiele:
-
FAZ -
Frankfurter Allgemeine Zeitung: Polizei beendet Lesung von
Martin Sellner in Neulingen.
Im baden-württembergischen
Neulingen
hat die Polizei eine Lesung des österreichischen
Rechtsextremisten gestoppt und ein Aufenthaltsverbot
erteilt. Sellner klagt, sein Vortrag sei „gesprengt“ worden.
-
Deutschlandfunk Kultur: Polizei beendet Lesung von
Rechtsextremist Sellner
-
Welt: Lesung abgebrochen – Martin Sellner erhält
Aufenthaltsverbot in Neulingen
-
Spiegel: Polizei beendet Lesung von Martin Sellner in
Baden-Württemberg
-
T-online:
Rechtsextremist Martin Sellner gibt nicht öffentliche Lesung
– Polizei muss einschreiten
-
Badische Neueste Nachrichten:
Neulinger
Lokalbesitzer über Sellner-Auftritt: „Wir wussten nicht, wer
hier liest“
Es gab
sogar Pressestimmen, die Martin Sellner in die Nähe des
Propagandaministers Joseph Goebbels (1897 bis 1945) stellten.
06 Polizeiliches Einschreiten aus rechtlicher
Sicht
TOP
Zuerst
einmal ist festzustellen, dass es sich bei dem polizeilichen
Einschreiten um zwei Maßnahmen handelt, die im Folgenden zuerst
einmal nur aufgelistet werden, bevor deren Rechtmäßigkeit
geprüft wird.
-
Betreten
eines „der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Raums“ durch die
Polizei
-
Aufforderung an Martin Sellner, sowohl den Veranstaltungsraum
als auch das Gemeindegebiet für eine vorgegebene Zeit zu
verlassen und während dieser Zeit das Gemeindegebiet nicht mehr
zu betreten, was als ein Aufenthaltsverbot zu qualifizieren ist.
Dass es
sich bei diesen Maßnahmen – in ihrem Zusammenhang gesehen –
nicht um polizeiliche Sofortmaßnahmen, sondern um vorbereitete
Maßnahmen gehandelt hat, liegt in der Natur der Sache, denn eine
mehrseitige schriftliche Verfügung, die Martin Sellner zum
Zeitpunkt des Einschreitens der Polizei im Veranstaltungsraum
ausgehändigt wurde, und aus der Martin Sellner später in einem
Video über seinen „nicht gehaltenen Vortrag“ zitiert, lässt
keinen anderen Schluss zu.
Im Übrigen
bedürfen Aufenthaltsverbote immer der Schriftform, was sie von
Platzverweisungen unterscheidet, bei denen es sich im Normalfall
um unaufschiebbare Maßnahmen der Polizei im Sinne von § 80 Abs.
2
VwGO
handelt, woraus zu schließen ist, dass es sich bei
Platzverweisungen um polizeiliche Sofortmaßnahmen handelt, die jetzt und sofort getroffen
werden müssen, weil sonst eine gerade bekannt gewordene
Gefahrenlage nicht beseitigt werden kann.
Um das
Aufenthaltsverbot von der Polizei sofort durchsetzen zu können,
wurde deshalb in der Aufenthaltsverbotsverfügung der sofortige
Vollzug angeordnet, was bedeutet, dass Martin Sellner
erforderlichenfalls auch unter Zwang aus dem Gemeindegebiet
hätte entfernt werden können/dürfen/müssen.
07 Das Betreten des Raumes, in dem Martin
Sellner den Vortrag hält
TOP
Zuerst
einmal ist festzustellen, dass es sich bei dem Raum,
in dem
Martin Sellner seinen Vortrag halten wollte, um eine
Räumlichkeit gehandelt hat, der zur Zeit des polizeilichen
Einschreitens der Öffentlichkeit
nicht zugänglich war, denn in dem Raum befanden sich nur geladene
Gäste bzw. auch ungeladene Personen, deren Anwesenheit vom
Veranstalter aber geduldet wurde.
Anders ausgedrückt:
Bei diesem Vortragsraum handelte es sich nicht um eine
Räumlichkeit, die zum Zeitpunkt der Veranstaltung einem
jedermann zugänglich gewesen ist und somit die Regelung im § 36
Abs. 6 PolG
BW
nicht greifen konnte, in der es heißt:
§ 36
Abs. 6 PolG BW (6) Arbeits-, Betriebs- und Geschäftsräume
dürfen zur Erfüllung einer polizeilichen Aufgabe während der
Arbeits-, Betriebs- oder Geschäftszeit betreten werden.
Wie dem auch immer sei:
Um den Vortragsraum betreten zu dürfen, bedurfte es einer
Ermächtigung. Als Befugnis kommt § 36 Abs. 1 PolG BW (Betreten
und Durchsuchung von Wohnungen) in Betracht.
§ 36
Abs. 1 PolG BW (1) Die Polizei kann eine Wohnung gegen
den Willen des Inhabers nur betreten, wenn dies zum Schutz eines
Einzelnen oder des Gemeinwesens gegen dringende Gefahren für die
öffentliche Sicherheit oder Ordnung erforderlich ist. Während
der Nachtzeit ist das Betreten nur zur Abwehr einer gemeinen
Gefahr oder einer Lebensgefahr oder schweren Gesundheitsgefahr
für einzelne Personen zulässig.
Es ist
unbestritten, dass zur Wohnung im Sinne polizeilicher
Betretungsverbote/Aufenthaltsverbote
etc. auch Geschäftsräume gehören.
Gegen den Willen des
Verfügungsberechtigten, und das war zum Zeitpunkt der
Veranstalter nicht der Gastwirt, dem das Lokal gehörte, sondern die
Person, die zum Zeitpunkt des polizeilichen Einsatzes das
alleinige Hausrecht im Versammlungsraum ausüben konnte, also der
Veranstalter. Folglich
durfte die Polizei den Vortragsraum nur dann gegen den Willen
des Veranstalters betreten, wenn das zur Abwehr einer „dringenden
Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung“ erforderlich
gewesen ist. Soweit es dem Veranstalter nicht möglich war,
seinen gegenteiligen Willen geltend zu machen, ist generell vom
entgegenstehenden Willen des Veranstalters auszugehen.
08 Dringende Gefahr der Betretungsbefugnis
TOP
Der
unbestimmte Rechtsbegriff »dringende Gefahr« wird im PolG BW in
vier Befugnissen verwendet, die im Folgenden aufgelistet werden:
-
§ 36
Abs. 1 PolG BW (Betreten und Durchsuchung von Wohnungen)
-
§ 44
Abs. 5 und 8 PolG BW (Offener Einsatz technischer Mittel zur
Bild- und Tonaufzeichnung
-
§ 50
Abs. 1 PolG BW (Besondere Bestimmungen über den Einsatz
technischer Mittel zur Datenerhebung in oder aus Wohnungen)
-
§ 54
Abs. 1 Nr. 1 PolG BW (Überwachung der Telekommunikation)
Link zum Polizeigesetz Baden-Württemberg
In allen
Fällen steht die Sprachfigur „dringende Gefahr“ im Zusammenhang
mit dem Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung. Grund
dafür ist, dass es sich bei der „dringende Gefahr“ um eine
Gefahrenart handelt, die bereits seit 1949 im Art. 13 GG
(Unverletzlichkeit der Wohnung) verwendet wird.
In Anlehnung an
die Rechtsprechung des BVerfG braucht eine dringende Gefahr für
die öffentliche Sicherheit und Ordnung (dazu gehören auch
Gefahren für Leib oder Leben) nicht bereits eingetreten zu sein;
es genügt, dass die Beschränkung des Grundrechts dem Zweck
dient, einen Zustand nicht eintreten zu lassen, der seinerseits
eine dringende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung
darstellen würde.
Eine dringende Gefahr setzt aber eine
Bedrohungslage für bedeutsame Rechtsgüter voraus, so dass
Schäden von erheblichem Ausmaß drohen müssen.
Eine
zeitliche Dringlichkeit im Sinne eines unmittelbar
bevorstehenden Schadenereignisses fordert die "dringende Gefahr
des Artikels 13 GG" grundsätzlich nicht.
In einem namhaften Kommentar zum GG heißt
es: Eine dringende Gefahr
ist dann zu bejahen, wenn eine Gefahr für ein wichtiges
Rechtsgut, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in allernächster
Zukunft eintreten wird.
Auf Grund der häufig eingeschränkten Einschätzbarkeit der
Gesamtumstände kommt dem zeitlichen Aspekt [in Abweichung zur
Rechtsauffassung des BVerfG = AR] ein besonderes Gewicht zu.
Gornig
in: Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, 6. Auflage
2010, Artikel 13 Absatz 7, Rdn. 159
In einem
namhaften Kommentar zum Polizeirecht NRW, in dem die Sprachfigur
der dringenden Gefahr ebenfalls beschrieben, heißt es sinngemäß:
Lisken/Denninger:
Der in Art. 13 VII GG verwendete Begriff der „dringende Gefahr“
auf den sich das PolG NRW bezieht, ist nicht ganz klar, sein
Inhalt ist umstritten. Teilweise wird das Qualifizierungsmerkmal
„dringend“ lediglich als Steigerungsform hinsichtlich Nähe und
Wahrscheinlichkeit des Schadensereignisses verstanden.
Vg.
Lisken/Denninger,
Handbuch des Polizeirechts, 4. Auflage, Seite 710
Zusammenfassung:
Die Art und Weise des polizeilichen Einschreitens in das
Hausrecht des „Veranstalters einer nicht öffentlichen
Veranstaltung“ lässt sich auch im Hinblick auf die damit
verbundene Wirkung staatlichen Handelns, natürlich weitaus besser in Bildern,
als in Worten beschreiben, um deutlich zu machen, dass bereits
ein bloßes Betreten tatsächlich als ein schwerer Eingriff in
Grundrechte anzusehen ist. Das folgende Bild wurde - Stand
10.08.2024 bereits 53 2008 Mal aufgerufen.
Wenn Sie
den folgenden Link öffnen, sehen Sie ein Foto, das etwa 10
Minuten nach der Eröffnung des Vortrags im Vortragsraum gemacht
wurde, als der, den Einsatz leitende Polizeibeamte, Martin
Sellner im Beisein mehrerer SEK-Beamter nicht nur das
Aufenthaltsverbot eröffnete, sondern ihn auch davon in Kenntnis
setzte, dass das Aufenthaltsverbot erforderlichenfalls mit Zwang
durchgesetzt werden könne, weil der sofortige Vollzug des
Aufenthaltsverbotes ebenfalls verfügt worden sei.
Die Polizei betritt den Vortragsraum.
09 Eröffnung des Aufenthaltsverbots durch die
Polizei
TOP
Zurück zur
rechtlichen Bewertung des gesamten polizeilichen Einsatzes, der
ja dem Zweck diente, gegenüber Martin Sellner
ein Aufenthaltsverbot zu verfügen, das erforderlichenfalls auch
durch die Anwendung von Zwang durchgesetzt werden konnte/sollte/durfte/musste.
Das aber setzt voraus – gemeint ist das Aufenthaltsverbot,
dass die
abzuwehrende Gefahr, die ein solches Aufenthaltsverbot zu
rechtfertigen vermag, mindestens von gleicher Qualität sein muss
wie die, die die
Betretungsbefugnis
einfordert, denn wenn die im Folgenden näher zu erörternde
Gefahr des § 30 Abs. 2 PolG BW geringer zu bewerten ist, als die
Gefahr, die zum Betreten des Veranstaltungsraumes nachzuweisen
war, dann würde es dem Zweck des gesamten polizeilichen
Einsatzes nach der hier vertretenen Rechtsauffassung mindestens
an der Verhältnismäßigkeit mangeln.
Wie dem auch immer sei:
Zu prüfen ist somit, ob die Gefahr des § 30 Abs. 2 PolG BW, die
der Gesetzgeber wie folgt definiert „wenn
Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass diese Person dort eine
Straftat begehen oder zu ihrer Begehung beitragen wird“,
diesem
Anspruch genügt.
Zuvor ein Blick in die Befugnis des Polizeigesetzes des Landes
Baden-Württemberg, auf die ein Aufenthaltsverbot gestützt werden
kann:
§ 30
Abs. 2 PolG BW (Platzverweis, Aufenthaltsverbot,
Wohnungsverweis, Rückkehrverbot, Annäherungsverbot)
(2) Die Polizei kann einer Person verbieten, einen bestimmten
Ort, ein bestimmtes Gebiet innerhalb einer Gemeinde oder ein
Gemeindegebiet zu betreten oder sich dort aufzuhalten, wenn
Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass diese Person
dort eine Straftat begehen oder zu ihrer Begehung beitragen wird
(Aufenthaltsverbot).
Das Aufenthaltsverbot ist zeitlich und örtlich auf den
zur Verhütung der Straftat erforderlichen Umfang zu beschränken
und darf räumlich nicht den Zugang zur Wohnung der betroffenen
Person umfassen. Es darf die Dauer von drei Monaten nicht
überschreiten. Ein sich anschließendes Aufenthaltsverbot ist nur
aufgrund einer neuen Gefahrenprognose zulässig.
Was unter
dem unbestimmten Rechtsbegriff
„Tatsachen
die Annahme rechtfertigen, dass diese Person dort eine Straftat
begehen oder zu ihrer Begehung beitragen wird“
zu
verstehen ist, wird im Folgenden erörtert:
10 Tatsachen rechtfertigen die Annahme, dass
...
TOP
Diese
Sprachfigur setzt eine Gefahrenanalyse voraus, die zu einer Zeit
vorgenommen wird, in der die Polizei noch nicht
gefahrenabwehrend tätig geworden ist, sondern sich zuvor darüber
Rechenschaft ablegen muss, ob es möglich ist, nachvollziehbar
begründen zu können, dass ein polizeiliches Einschreiten zur
Abwehr zukünftiger Straftaten geeignet, erforderlich und
natürlich auch verhältnismäßig ist.
Das
folgende Zitat stammt aus einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts,
bei der es um die Zulässigkeit der Anordnung einer
Telekommunikationsüberwachung (TKÜ)
ging und in dem, weil die dafür nachzuweisende Befugnis die oben
genannte Sprachfigur enthilt, zu klären war, was unter dem unbestimmten Rechtsbegriff „Tatsachen
rechtfertigen die Annahme“ zu verstehen ist.
Es liegt in der Logig der Rechtsanwendung, auf diese
Ausführungen auch dann zurückzugreifen, wenn die oben genannte
Sprachfigur auch in anderen Befugnissen enthalten ist.
Wie dem auch immer sei:
BVerfG 2005:
Bei der Vorverlagerung des
Eingriffs in einer Phase, in der sich die Konturen eines
Straftatbestandes noch nicht abzeichnen, besteht das Risiko,
dass der Eingriff an ein nur durch relativ diffuse Anhaltspunkte
für mögliche Straftaten gekennzeichnetes, in der Bedeutung der
beobachteten Einzelheiten noch schwer fassbares und
unterschiedlich deutbares Geschehen anknüpft.
Sachverhaltsfeststellung und Prognose sind mit vorgreiflichen
Einschätzungen über das weitere Geschehen, ebenso wie über die
erst noch bevorstehende strafrechtliche Relevanz der
festgestellten Tatsachen verknüpft (...). Da der Eingriff sich
auf mögliche zukünftige Aktivitäten bezieht, kann er sich häufig
nur auf Tatsachen stützen, bei denen noch offen ist, ob sie sich
zu einer Rechtsgutverletzung weiterentwickeln (...). Die
Situation der Vorfeldermittlung ist insofern durch eine hohe
Ambivalenz der potenziellen Bedeutung einzelner
Verhaltensumstände geprägt. Die Indizien oder einzelne
beobachtete Tätigkeiten können in harmlosen, strafrechtlich
unerheblichen Zusammenhängen verbleiben; sie können aber auch
der Beginn eines Vorgangs sein, der zur Straftat führt.
Sieht
der Gesetzgeber in solchen Situationen Grundrechtseingriffe vor,
so hat er die den Anlass bildenden Straftaten sowie die
Anforderungen an Tatsachen, die auf die künftige Begehung
hindeuten, so bestimmt zu umschreiben, dass das im Bereich der
Vorfeldermittlung besonders hohe Risiko einer Fehlprognose
gleichwohl verfassungsrechtlich noch hinnehmbar ist. Die Norm
muss handlungsbegrenzende Tatbestandselemente enthalten, die
einen Standard an Vorhersehbarkeit und Kontrollierbarkeit
vergleichbar dem schaffen, der für die überkommenen Aufgaben der
Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung rechtsstaatlich geboten
ist (...).
An anderer Stelle:
Es
genügt die auf Tatsachen gegründete, nicht näher konkretisierte
Möglichkeit, dass jemand irgendwann in Zukunft Straftaten von
erheblicher Bedeutung begehen wird.
Aber:
Eine
derart weite Ermächtigung wird dem Bestimmtheitsgebot nicht
gerecht. Dies betrifft sowohl die Anknüpfung an Tatsachen, die
die Annahme der Begehung von Straftaten erheblicher Bedeutung
rechtfertigen [...].
Der in
[...]
verwendete
Begriff der „Tatsache“ ist isoliert betrachtet allerdings
hinreichend bestimmt (...). Er nimmt eine Abgrenzung zu bloßen
Vermutungen und allgemeinen Erfahrungssätzen vor, die für sich
allein gerade nicht ausreichen sollen. Dennoch genügt das
Tatbestandsmerkmal in seiner Bezugnahme auf eine künftige
Straftatenbegehung den Bestimmtheitsanforderungen nicht.
Es sind
vielfältige Anknüpfungen denkbar, die nach hypothetischem
Kausalverlauf in der Straftatenbegehung eines potenziellen
Täters (...)
münden
können. Weder hinsichtlich möglicher Indikatoren und des Grads
der Wahrscheinlichkeit eines solchen Ablaufs noch in zeitlicher
Hinsicht sieht das Gesetz Beschränkungen vor. Die im Vorfeld
künftiger Straftaten bestehenden Schwierigkeiten
der Abgrenzung eines harmlosen von dem in eine
Straftatenbegehung mündenden Verhaltens werden in der
Ermächtigung nicht durch einschränkende Tatbestandsmerkmale
bewältigt. Die Bestimmung der Voraussetzungen und
Grenzen des Eingriffs obliegt vielmehr der Polizei. Sie
entscheidet ohne nähere gesetzliche Vorgaben über die Grenzen
der Freiheit des Bürgers und muss sich die Maßstäbe dafür selbst
zurechtlegen. Sie wird insoweit gewissermaßen
tatbestandsergänzend tätig. Die Schaffung
eingriffsbeschränkender Maßstäbe ist aber Aufgabe des
Gesetzgebers.
BVerfG,
Urteil vom 27. Juli 2005 - 1 BvR 668/04
Auch
wenn die Richter des Bundesverfassungsgerichts die oben
zitierten Ausführungen in einem anderen zu prüfenden Einzelfall
gemacht haben als in dem, der hier zu erörtern ist, lassen sich
die Aussagen der Verfassungsrichter durchaus vollumfänglich auf
die Sprachfigur übertragen, die im § 30 Abs. 2 PolG BW
„Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass diese Person dort
eine Straftat begehen oder zu ihrer Begehung beitragen wird“
enthalten ist.
Im
Hinblick auf das hier rechtlich zu erörternde Aufenthaltsverbot
ist noch Folgendes anzumerken:
Ein
Aufenthaltsverbot ist mehr als eine Platzverweisung, deshalb ist
zuerst einmal zu klären, wodurch sich Aufenthaltsverbote von
normalen Platzverweisungen unterscheiden, denn auch bei
Aufenthaltsverboten handelt es sich ja um ein
Betretungsverbot,
also um eine Weisung, die darin besteht, einen „bestimmten
Bereich“ für eine festgelegte Zeit/Dauer nicht zu betreten,
besser gesagt, sich dort nicht aufhalten zu dürfen, bzw. ihn
vorübergehend verlassen zu müssen.
Aufenthaltsverbote unterscheiden sich von Platzverweisungen
nicht nur dadurch, dass sie einen weitaus größeren
Aufenthaltsbereich betreffen, in dem sich eine Person nicht mehr
aufhalten darf, sondern auch dadurch, dass sie zeitlich
wesentlich langfristiger sind bzw. sein können, als das bei
normale „vorübergehenden“ Platzverweisungen der Fall ist.
Aufenthaltsverbote können in Baden-Württemberg im Übrigen auch
nur von der Polizei verfügt werden, und auch nur dann, wenn
„Tatsachen die Annahme rechtfertigen“, dass die Person, gegen
die sich das Aufenthaltsverbot richtet, in den örtlichen
Bereichen, in denen das Aufenthaltsverbot gelten soll, eine
Straftat begehen oder zu ihrer Begehung beitragen wird.
was in der zu erstellenden Gefahrenprognose nicht
nachvollziehbar konkretisiert und begründet werden muss.
Gefahrenprognose:
Die zu erstellende Gefahrenprognose muss somit nachvollziehbar
sein und auf Fakten beruhen. Vermutungen reichen nicht aus.
Insoweit stellt sich im hier zu erörternden Sachzusammenhang
zwangsläufig die Frage, ob ein Gefahrenverdacht mehr ist als
eine bloße Vermutung.
Dass es sich bei dem Nachweis der abzuwendenden Gefahr auch
nicht nur um einen bloßen Gefahrenverdacht handeln sollte, wird
im Polizeirecht von heute zunehmend in Frage gestellt, was aber
nicht heißt, dass diese Sichtweise zutreffend ist.
11 Gefahrenverdacht für abschließende Maßnahmen
nicht ausreichend
TOP
In der
Rechtslehre ist umstritten, ob aufgrund eines bloßen
Gefahrenverdachts gefahrenabwehrende Maßnahmen überhaupt
getroffen werden dürfen. In Anlehnung an eine Entscheidung des
Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 2003 wird hier die
Auffassung vertreten, dass ein Gefahrenverdacht nicht ausreicht,
um polizeiliche Maßnahmen treffen zu können, durch die auf
gravierende Art und Weise abschließend in Rechtspositionen eingegriffen wird,
was bei einem Aufenthaltsverbot wohl unstrittigerweise der Fall
sein dürfte.
Dafür
spricht auch, dass die Polizeigesetze die Sprachfigur des
"Gefahrenverdachts" gar nicht
kennen, bei dem es sich somit nur um ein Konstrukt der
Rechtslehre handeln kann.
In der Rechtslehre wird folgende Position
vertreten: Von einem
Gefahrenverdacht ist auszugehen, wenn aus Sicht eines
verständigen objektiven Betrachters Anhaltspunkte für eine
Gefahr vorliegen. Der Gefahrenverdacht ermächtigt die Behörde
zum Beispiel aufgrund der Generalklausel dazu, Maßnahmen zur
Gefahrenerforschung zu ergreifen. Diese werden auch dann nicht
rechtswidrig, wenn sich der Verdacht später als unbegründet
herausstellt. Die Maßnahmen dürfen aber aufgrund des
Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes grundsätzlich nur von
vorläufiger Natur sein.
Position der Richter des
Bundesverwaltungsgerichts:
Dieser Sichtweise steht aber die Position des
Bundesverwaltungsgerichts entgegen, das 2003 in einem Urteil zu
dem unbestimmten Rechtsbegriff des „Gefahrenverdachts“ wie folgt
Stellung bezogen hat:
BVerwG 2003:
Schadensmöglichkeiten, die sich deshalb nicht ausschließen
lassen, weil nach dem derzeitigen Wissensstand bestimmte
Ursachenzusammenhänge weder bejaht noch verneint werden können,
begründen keine Gefahr, sondern lediglich einen Gefahrenverdacht
oder ein „Besorgnispotenzial“. Das allgemeine
Gefahrenabwehrrecht bietet keine Handhabe, derartigen
Schadensmöglichkeiten im Wege der Vorsorge zu begegnen. Ist die
Behörde mangels genügender Erkenntnisse über die Einzelheiten
der zu regelnden Sachverhalte und/oder über die maßgeblichen
Kausalverläufe zu der erforderlichen Gefahrenprognose nicht im
Stande, so liegt keine Gefahr, sondern - allenfalls - eine
mögliche Gefahr oder ein Gefahrenverdacht vor. Zwar kann auch in
derartigen Situationen ein Bedürfnis bestehen, zum Schutz der
etwa gefährdeten Rechtsgüter, namentlich höchstrangiger
Rechtsgüter wie Leben und körperlicher Unversehrtheit von
Menschen, Freiheitseinschränkungen anzuordnen. Doch beruht ein
solches Einschreiten nicht auf der Feststellung einer Gefahr;
vielmehr werden dann Risiken bekämpft, die jenseits des Bereichs
feststellbarer Gefahren verbleiben. Das setzt eine
Risikobewertung voraus, die - im Gegensatz zur Feststellung
einer Gefahr - über einen Rechtsanwendungsvorgang weit
hinausgeht und mehr oder weniger zwangsläufig neben der
Beurteilung der Intensität der bestehenden Verdachtsmomente eine
Abschätzung der Hinnehmbarkeit der Risiken sowie der Akzeptanz
oder Nichtakzeptanz der in Betracht kommenden
Freiheitseinschränkungen in der Öffentlichkeit einschließt,
mithin - in diesem Sinne - „politisch“ geprägt oder mitgeprägt
ist (...). Eine derart weit reichende Bewertungs- und
Entscheidungskompetenz steht den Polizei- und Ordnungsbehörden
aufgrund der Verordnungsermächtigungen, (...)
nicht
zu.
BVerwG,
Urteil v. 20.08.2003 - 6
CN
2.02
Hinweis:
In der Rechtssprechung gibt es dennoch viele Belege dafür, dass
Richter zu der Feststellung neigen, dass polizeiliche Maßnahmen
durchaus auch dazu dienen können, einem Gefahrenverdacht in der
Absicht nachzugehen, um konkrete Anhaltspunkte für das Bestehen
einer Gefahr finden zu können.
Wolff/Bachof/Stober/Kluth:
Nach herrschender Meinung ist die Polizei auf der Grundlage der
Generalklausel zur Anordnung vorläufiger Maßnahmen befugt, wenn
ein Gefahrenverdacht vorliegt oder wenn eine Gefahrenerforschung
nahe liegt. [...]. Vorläufige Maßnahmen unterscheiden sich von
endgültigen
Regelungen im Wesentlichen durch ihre Vorläufigkeit [En08].
Bei
einem verfügten Aufenthaltsverbot kann jedoch von einer
vorläufigen Maßnahme, die dem Zweck dienen soll, Erkenntnisse zu
gewinnen, die weitere Folgemaßnahmen nach sich ziehen können, nicht gesprochen werden, denn eine solche
Maßnahme dient ja geradezu dem Zweck, eine für möglich gehaltene
Gefahr, abschließend zu beseitigen, so dass von dem
„abschließenden Charakter“ eines Aufenthaltsverbotes auszugehen
und somit ein Gefahrenverdacht zur Rechtfertigung einer
abschließenden Maßnahme wohl kaum in Betracht kommen kann.
12 Martin Sellner zitiert aus dem polizeilichen
Aufenthaltsverbot
TOP
Etwa
zehn Minuten nachdem Martin Sellner seinen Vortrag begonnen
hatte, betrat die Polizei den Veranstaltungsraum und eröffnete
dem Redner, dass er die Gemeinde aufgrund eines schriftlich
verfügten Aufenthaltsverbotes der Polizei, das dem sofortigen
Vollzug unterliegt, jetzt die Gemeinde Neulingen zu verlassen
hat.
Um sich einen Eindruck darüber verschaffen zu können, wie
erfreut Martin Sellner auf diesen polizeilichen Auftritt
reagierte, ist es sehr informativ, sich das über den folgenden
Link aufrufbare Video anzusehen, das belegt, wie Martin Sellner
sichtbar erfreut, fast schon erleichtert wirkt, weil sich seine
Erwartungen doch noch erfüllen, dem deutschen Staat eine weitere
Lektion in Sachen Rechtsstaatlichkeit erteilen zu können. Auf
jeden Fall aber reagiert Sellner erkennbar amüsiert und durchaus
begeistert auf diesen "Akt polizeilicher Realsatire".
Die ersten 10 Minuten
Das
letzte Bild des Videos zeigt, dass ein Polizeibeamter einen
mehrere Seiten umfassendes schriftlichen Beschluss in der Hand
hält, bei dem es sich um die Aufenthaltsverbotsverfügung
handelt.
Hinweis:
Während das 10 Minuten dauernde Video über den Beginn der
Veranstaltung – Stand 3. August 2024 – bereits 64.331 Mal
aufgerufen wurde, was belegt, dass die polizeiliche Maßnahme im
Hinblick auf die Verbreitung der Gedanken von Martin Sellner im Internet eine weitaus größere
Wirkung erzielt hat, als sein „nicht gehaltener Vortrag vor gut
60 bis 70 Personen in Baden-Württemberg“, dürfte damit wohl
außer Frage stehen. Man könnte sogar auf den Gedanken kommen,
dass es gerade das polizeiliche Einschreiten gewesen ist, dass
für ein weitaus größeres Gefahrenpotential sorgte, als der
verhinderte Vortrag von einer überschaubaren Anzahl von
Menschen.
Diesen Verbreitungsgrad erreichte der mehr
als 1 Stunde dauernder Videovortrag von Martin Sellner im
Internet nicht, dem er den Titel "Der nicht gehaltene Vortrag"
gab.
Wie dem auch immer sei:
Die nachfolgenden Zitate aus diesem Videovortrag erheben für
sich nicht den Anspruch, dass ich jedes gesprochene Wort der
ersten 15 Minuten exakt
protokolliert habe, obwohl ich mich um eine weitgehend
korrekte Wiedergabe des gesprochenen Wortes bemüht habe, die im
hier zu erörternden Sachzusammenhang von Bedeutung sind.
Martin Sellner:
Ich lese vor: Auch in der Verbotsverfügung der Gemeinde
Neulingen heißt es: Sehr geehrter Herr Sellner, gegen Sie ergeht
folgende Verfügung. Ihnen wird untersagt, sich vom Samstag, dem
03.08.2024 00.00 Uhr bis zum Sonntag, den 04.08.2024 in der
Gemeinde Neulingen inklusive aller Ortsteile aufzuhalten. Im
Falle der Zuwiderhandlung drohen wir Ihnen hiermit die
Durchsetzung mittels unmittelbaren Zwangs an.
Es folgen
nun 7 Seiten, ein Quader, abgeschrieben von der Potsdamer
Einreisesperre plus eines bloß darübergestreuten Kontaktverbotes
[das können sich meine Anwälte durchlesen]. Es wird behauptet,
dass meine Kritik an der Migration, und meine Kritik des
dogmatischen Volksbegriffs, der heute, von der ideologischen
Elite vorgegeben wird .... alles angeblich gegen das Grundgesetz
sei. [...]. Diese Interpretation des Grundgesetzes von Seiten
der [nicht mit der Sichtweise von Martin Sellner einverstanden]
kulturellen Eliten in diesem Land, ist nicht die einzig mögliche
Lektüre. Ich habe das Grundgesetz auch gelesen, Frau
Faeser,
und die Schlüsse - und nicht nur ich - die ich daraus ziehe,
sind ganz andere.
Ich will
ein paar Punkte aus der Verfügung herausgreifen, und zwar auf
Seite 4 von 7: Dort heißt es: Auch wenn Sellner in der
Vergangenheit nicht konkret zu Gewalttaten aufgerufen hat,
bedeutet dies, dass das von ihm mittelbar ausgehende
Gefahrenpotential aufgrund seiner hohen Reichweite, seines
ideologischen und politischen Einflusses und seiner Vernetzung
in Deutschland als hoch einzuschätzen ist.
Sellner
bezeichnet das als „Verleihung eines Ordens“, bevor er weiter
zitiert:
Ebenso
bezeichnet sind die von Sellner verbreiteten
verschwörungsidiologischen
Narrative, die grundsätzlich dazu geneigt sind, als Grundlage
für die Begehung von Gewalttaten zu dienen.
Hier unterbricht Martin
Sellner sein Zitieren und sagt:
Ich bin
gegen Gewalt. Ich schreibe mir die Finger wund gegen Militanz.
[Aber in der Aufenthaltsverfügung heißt es = AR], aufgrund
meiner Vernetzung könnten meine Thesen Legitimation als
Grundlage für die Legitimierung von Gewalttaten anzusehen sein.
Und das führte dann unter anderem zu dem Schluss, dass es
notwendig ist, mögliche Straftaten zu unterbinden und das auf
andere Art und Weise als durch Zwangsgewalt und Abschiebung aus
Neulingen das nicht möglich sei.
Hinweis:
Ab Minute 14:25 wird das Video
vorübergehend aufnahmetechnisch so schlecht, dass ich hier die
Auseinandersetzung mit der Gefahrenprognose, aus der Sellner
weiterhin zitiert, abgebrochen habe, zumal auf der Grundlage dessen,
was dem Wortprotokoll bereits entnommen werden kann, sich die
Gefahrenprognose der Polizei auf einem Niveau befindet, dessen
Bewertung einem Verwaltungsgericht vorbehalten sein wird, denn
Sellner hat bereits einen Anwalt damit beauftragt, die
Rechtmäßigkeit des Aufenthaltsverbotes verwaltungsgerichtlich
überprüfen zu lassen.
Dennoch:
Es spricht vieles dafür, dass es Martin Sellner wieder einmal
gelungen sein könnte, den Rechtsstaat Deutschland sozusagen
vorzuführen, indem er genau dort seine „Finger in die
Grundsubstanz des bundesdeutschen Rechtsstaates legt“, die darin
besteht, dass die politischen Machtinteressen der Exekutive nur
noch durch die Anrufung unabhängiger Richter eingehegt werden
können.
Die nicht gehaltene Rede im Volltext
Hinweis:
Es
dauert einige Sekunden, bis sich der Vortrag lädt. Er beginnt
dann bei Minute 7:05, denn so lange wird das Emblem von
Rumble
gezeigt, bevor der Vortrag startet.
13 Schlusssätze
TOP
Bereits
bei Max Weber (1864 bis 1920) kann nachgelesen werden, dass sich
die Exekutive und deren Bürokratie eigentlich dadurch
auszeichnen sollte, dass sie ihr Handeln nach allgemeinen,
berechenbaren Regeln frei von Willkür und durch ausgebildetes
hauptamtliches Personal unabhängig sowohl von persönlichen
Beziehungen als auch unabhängig von der eigenen politischen
Einstellung trifft.
An anderer Stelle heißt es bei Max Weber
aber auch: Verwaltung ist
nicht primär „Rechtsanwendung“, sondern „rationale Pflege von
Interessen“, oder: „Bürokratie“ ist die moderne Herrschaftsform
in Verwaltung und Wirtschaft.
Wie dem
auch immer sei: Mit den oben beschriebenen Mitteln, die in
Baden-Württemberg von der Polizei zur Anwendung kamen, wird
der Analyse von Max Weber durchaus entsprochen, zumal sich erzkonservativem Denken
durch das oben geschilderte Einschreiten der Polizei nicht
einhegen lässt, sondern eher eine gegenteilige Wirkung erzeugt.
Nun denn ... so ist das Leben:
Auch mit „Zucker und Salz“, einem Wahlkampfvideo der CDU in
Thüringen, wird es wohl auch einer Volkspartei kaum gelingen, der
in Thürignen ebenfalls zur Volkspartei mutierten AfD Paroli zu bieten,
denn auch der Versuch von Mario Voigt (CDU), seit 2009 Mitglied
im Thüringer Landtag, der im September 2024 in Thüringen gerne
Ministerpräsident werden möchte, gehört wohl ebenfalls eher in
die Rubrik „Realsatire“ als in den Bereich eines
ernstzunehmenden Statements eines Wahlkämpfers, der sich um das
höchste Amt im Bundesland Thüringen zur Wahl stellt, und der –
ebenso wie andere Parteien auch – erzkonservatives Denken am
liebsten ganz aus dem Bewusstsein des Thüringer Wahlvolkes
verdrängen möchte.
Aber
entscheiden Sie selbst:
Zucker oder Salz
Auch die
zum Video passend erstellte Website „Zuckerodersalz.de“
zeugt von einem Kampfeswillen, der eher Mitleid als Begeisterung
erzeugt.
Zuckerodersalz.de
Hinweis:
Schon jetzt darf man sich auf das nächste Wahlkampfvideo von
Mario Voigt (CDU) freuen, das auf
Zuckerodersalz.de
– nunmehr sogar in englischer Sprache – mit den Worten: „Coming
soon“ und unter Verwendung eines ebenfalls in englischer Sprache
verfassten Titels „Behind the Scenes“, was so viel bedeutet wie:
„Hinter den Kulissen“, angekündigt wird.
Wenn sich dann die in
diesem Video agierenden Akteure ebenfalls der englischen Sprache
bedienen, wird sich die CDU wohl damit abfinden müssen, weitere
Wählerinnen und Wähler, die jetzt noch die CDU wählen wollen,
zu verlieren.
Und auch
die Ankündigung der Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) ein
weiteres Messerverbot auszusprechen dürfte wohl kaum dazu
geeignet sein, mehr Sicherheit zu erzeugen, zumal dieses Verbot
nicht für Schraubenzieher gilt, die gleichermaßen wie Messer
gefährlich sein können, wenn sie zweckentfremdet eingesetzt
werden.
Im Übrigen: Um allein zu verhindern, dass
Schülerinnen und Schüler mit Messern bewaffnet am Unterricht
teilnehmen, wären Tausende von zusätzlichen Mitarbeitern
erforderlich und Tausende von Schulstunden müssten ausfallen, um
sicherstellen zu können, dass nur unbewaffnete Schülerinnen und
Schüler am Unterricht teilnehmen.
Und was die Messerverbotszonen anbelangt ist anzumerken, dass es
sicherlich nicht ausreichen wird, wenn es der Polizei erlaubt
ist, Personen zu fragen, ob sie Messer mit einer Länge von mehr
als 6 cm (das ist der Vorschlag des verschärften Messerverbotes
der Bundesinnenministerin) mit sich führen. Um danach suchen zu
dürfen, würde das voraussetzen, dass es sich bei den
Messerverbotszonen um einen "gefährlichen Ort" im Sinne aller
Polizeigesetze handelt, denn nur an "gefährlichen Orten" ist es
der Polizei erlaubt, Personen auch verdachtsunabhängig
durchsuchen zu können.
Anders ausgedrückt: Wenn die
Bundesinnenministerin plant, große Teile der Bundesrepublik
Deutschland zu "gefährlichen Orten" einstufen zu lassen,
spätestens dann kann davon ausgegangen werden, dass sich der
Rechtsstaat Deutschland sozusagen freiwillig der Wirklichkeit im
Hier und im Jetze beugt und damit politischen Kräften den Boden
bereitet, einen anderen Rechtsstaat aufzubauen.
Und dann auch das noch:
Das
Bundesverwaltungsgericht hat das im Juli 2024 von der
Bundesinnenministerin Nancy Faeser verfügte Verbot des
Compact-Magazins,
teilweise aufgehoben. Das teilte das Gericht auf seiner Website
am 14.08.2024 per Pressemitteilung mit.
Dort heißt es
unter anderem:
BVerwG -
Pressemitteilung Nr.
39/2024 vom 14.08.2024: Zweifel bestehen jedoch, ob
angesichts der mit Blick auf die Meinungs- und Pressefreiheit in
weiten Teilen nicht zu beanstandenden Beiträge in den Ausgaben
des „COMPACT-Magazin für Souveränität“ die Art. 1 Abs. 1 GG
verletzenden Passagen für die Ausrichtung der Vereinigung
insgesamt derart prägend sind, dass das Verbot unter
Verhältnismäßigkeitspunkten gerechtfertigt ist. Denn als
mögliche mildere Mittel sind presse- und medienrechtliche
Maßnahmen, Veranstaltungsverbote, orts- und
veranstaltungsbezogene Äußerungsverbote sowie Einschränkungen
und Verbote von Versammlungen in den Blick zu nehmen.
Link zur Pressemitteilung
Eine
größere Werbe-Aktion für „Compact“ als die, die
Bundesinnenministerin Nancy
Faeser
(SPD) mit ihrem Federstrich-Verbot ausgelöst hat, hätte die
beste Werbeagentur nicht ausdenken können.
In der
Tagesschau vom 14.08.2024 wird Wolfgang
Kubicki,
der stellvertretende Bundesvorsitzende der Freien Demokraten und
Vizepräsident des Deutschen Bundestageswie folgt zitiert:
Frau
Faeser
sollte jetzt in sich gehen und überlegen, ob sie weiter
Wahlkampf für die AfD machen will.
Man muss es bedauern, wie naiv heute
Politk gemacht wird:
Anders ausgedrückt: Wenn irgendjemand in diesem Land die
Demokratie delegitimiert, dann sind das Aktionen der Exekutive,
die an Selbstüberschätzung leidet und meint, Recht so anwenden
zu können, wie sie sich das vorstellt, um dann von der
Wirklichkeit eingeholt zu werden, die in einem Rechtsstaat darin
besteht, dass angeordnete hoheitliche Maßnahmen der Exekutive
vollumfänglich der richterlichen Kontrolle unterliegt, deren
Beschlüsse dann die Exekutive wieder auf den Boden der Tatsachen
zurückholt, der da Rechtsstaat heißt.
Die von der
Frankfurter Allgemeinen zu dem Beschluss der Richter des
Bundesverwaltungsgerichts am 14.08.2024 verwendete
Überschrift zur teilweisen Aufhebung des Compact-Verbotes macht
deutlich, woran es der Bundesregierung von heute mangelt: Die
Überschrift lautet: Die Regierung
sieht vor lauter Verboten das Grundgesetz nicht mehr.
14 Quellen
TOP
Endnote_01
Deutschlandfunk.de vom 05.08.2024: Österreichischer
Rechtsextremist: Baden-Württemberg: Polizei beendet Lesung von
Martin Sellner.
https://www.deutschlandfunk.de/baden-wuerttemberg-
polizei-beendet-lesung-von-martin-sellner-102.html
Zurück
Endnote_02 Laudatio
von Özge Inan zum Leuchtturm für besondere publizistische
Leistungen 2024.
https://correctiv.org/in-eigener-sache/2024/07/24/
laudatio-von-oezge-inan-zum-leuchtturm-fuer-besondere-
publizistische-leistungen-2024/
Zurück
Endnote_03 LTO vom 26.7.2024: OLG Hamburg gibt
Vosgerau Recht Niederlage für NDR nach Interpretation von
Correctiv-Recherche.
https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/
ulrich-vosgerau-siegt-vor-olg-hamburg
Zurück
Endnote_04 Anwaltskanzlei Höcker:
Correctiv-Bericht verboten: Keine Pläne zur Ausweisung deutscher
Staatsbürger in Potsdam diskutiert
https://www.hoecker.eu/news/falschbehauptung-der-tagesschau-
zu-correctiv-bericht-verboten-keine-pl%C3%A4ne-zur-
ausweisung-deutscher-staatsb%C3%BCrger-in-potsdam-diskutiert
Zurück
Endnote_05
Spiegel.de vom 27.01.2024: Geplante Einreisesperre gegen
Rechtsextremisten.
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/geplante-
einreisesperre-gegen-rechtsextremisten-darf-martin-
sellner-bald-nicht-mehr-nach-deutschland-a-
533a2948-498b-4414-bdf9-1f0749d225ab
Zurück
Endnote_06 PNP.de vom 29.01.2024: Grenzkontrolle
bei Passau. Hickhack um Sellner: Polizei lässt Rechtsextremisten
nach Kontrolle einreisen.
https://www.pnp.de/lokales/landkreis-passau/
hickhack-um-sellner-bundespolizei-kontrolliert-nach-
enreise-ankuendigung-jedes-fahrzeug-15322808
Zurück
Endnote_07 Achgut.com vom 09.08.2024: Hier kein
Aufenthalt:
https://www.achgut.com/artikel/ausgestossene_der_woche_eskimorolle
Zurück
Endnote_08
Wolff/Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht I, C.H.Beck, 12.
Auflage, S. 507 Zurück
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