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Der deutsche Rechtsstaat gegen Martin Sellner

Inhaltsverzeichnis:

01 Rechtsstaatliches Grundverständnis
02 Das Einreiseverbot, verfügt gegen Martin
Sellner
03 Inanspruchnahme von Rechtsmitteln durch Martin Sellner
04 Ein paar Tage später an der deutsch-österreichischen
Grenze
05 Aufenthaltsverbot in Neulingen bei Pforzheim
06 Polizeiliches Einschreiten aus rechtlicher Sicht
07 Das Betreten des Raumes, in dem Martin Sellner den Vortrag
hält
08 Dringende Gefahr der
Betretungsbefugnis
09 Eröffnung des Aufenthaltsverbots durch die Polizei
10 Tatsachen rechtfertigen die Annahme, dass ...
11 Gefahrenverdacht für abschließende Maßnahmen nicht
ausreichend
12 Martin Sellner zitiert aus dem polizeilichen
Aufenthaltsverbot
13 Schlusssätze
14 Quellen

01 Rechtsstaatliches Grundverständnis

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Ein Rechtsstaat zeichnet sich dadurch aus, dass die Exekutive sich an geltendes Recht hält und, wenn davon Betroffene das anders sehen, diese auf Antrag  unabhängige Richter darüber entscheiden lassen können, was Recht bzw. was Unrecht ist. Im Zusammenhang mit Maßnahmen, die sich gegen Martin Sellner, der Leitfigur der so genannten "Identitären in Österreich" richteten, ist festzustellen, dass alle diesbezüglich von der Exekutive verfügten Maßnahmen gegen Martin Sellner geltendem Recht entweder nicht entsprachen, oder, im Hinblick auf das von der Gemeinde Neulingen bei Pforzheim in Baden-Württemberg noch darüber zu entscheiden haben werden, ob auch dieses "rechtsstaatliche Vorgehen" das gleiche Schicksal ereilen wird, wie die zuvor eingestellten Verfahren gegen Martin Sellner.

In einer Meldung des Deutschlandfunks vom 5.8.2024 heißt es:
Österreichischer Rechtsextremist:
Polizei beendet Lesung von Martin Sellner.
Die Polizei hat in der Gemeinde Neulingen in Baden-Württemberg eine Lesung des rechtsextremen Autors Martin Sellner gestoppt – und ein Aufenthaltsverbot für ihn ausgesprochen [En01].

Bekanntermaßen gehört es zum Selbstverständnis von Martin Sellner, gegen ihn veranlasste und seine grundrechtlichen Freiheiten beeinträchtigenden Maßnahmen, gerichtlich überprüfen zu lassen, bisher mit großem Erfolg, auch in Deutschland.

Nur zur Erinnerung: Der Hype gegen Martin Sellner wurde durch die „Geheimplan“-Reportage des Nachrichtenmagazins Correctiv, das sich selbst als ein „gemeinwohlorientiertes Medienhaus versteht" ausgelöst und, darauf vertrauend, dass die Recherche zutrifft, auch in den Leitmedien kritisiert wird. Übrigens, das Nachrichtenmagazin Correctiv wurde noch vor Kurzem, im Juli 2024, mit dem so genannten Leuchtturmpreis für guten investigativen Journalismus ausgezeichnet.

Auf der Website von Corrective heißt es mit Datum vom 20. Juli 2024, also am Tag des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus, den Verteidigungsminister Boris Pistorius zum Anlass nahm, im Gedenken an den Widerstand vom 20. Juli 1944 einen Kranz im Bendlerblock in Berlin niederzulegen – wie folgt zu dieser Preisverleihung:

CORRECTIV erhält den Leuchtturm für besondere publizistische Leistungen 2024. Für die „Geheimplan“-Recherche wurde CORRECTIV mit dem Leuchtturm für besondere publizistische Leistungen ausgezeichnet. „Die Arbeit von Correctiv steht exemplarisch für den Wert und die Notwendigkeit von investigativem Journalismus“, begründete das Netzwerk Recherche die Entscheidung. Die Laudatorin Özge Inan bezeichnete den Text als „unschätzbar wertvoll“ und richtete einen Appell an die Anwesenden. 20. Juli 2024

Özge Inan: Weil sie [gemeint ist die Recherche] in ihrer ganzen Klarheit dokumentiert, wie günstig die Zeiten für die Faschisten um Martin Sellner sind. Weil sie ihre Strategien offenlegt. Weil sie uns darüber in Kenntnis setzt, wie die extreme Rechte diskutiert, welche Hürden sie noch sieht, wie sie sie zu überwinden und diesen historisch günstigen Moment fruchtbar zu machen gedenkt [En02].

Özge Inan: Özge İnan, geboren 1997 in Berlin, studierte Jura und arbeitete danach als Journalistin und Kolumnistin. Nach Stationen beim ZDF Magazin Royale und der Süddeutschen Zeitung schreibt sie inzwischen vor allem für den Freitag.

Zum Lauf der Ereignisse in aller Kürze: Viele Medien griffen die Correctiv-Recherche zum „Potsdamer Geheimtreffen“ auf, entnahmen ihr aber oft mehr, als dort tatsächlich behauptet wurde. Nun wehrte sich ein Teilnehmer der „Geheimkonferenz“ erfolgreich vor dem OLG Hamburg gegen einen Tagesschau-Bericht.

Legal Tribune Online (LTO) vom 26.7.2024: Am 10. Januar veröffentlichte die Investigativ-Plattform Correctiv den Artikel „Geheimplan gegen Deutschland“. Darin geht es um ein Treffen von rechten Politikern und Rechtsextremen in Potsdam Ende November 2023. Die umstrittene Recherche sorgte bundesweit und international für Aufsehen.

[Auch] die Tageschau hatte die Correctiv-Recherche wie viele andere Medien aufgegriffen. Offenbar hatte sie den Correctiv-Bericht dabei so verstanden, dass dort über Ausweisung von deutschen Staatsbürgern diskutiert wurde, und entsprechend berichtet.

Das Hanseatische Oberlandesgericht (OLG) untersagte dem Norddeutschen Rundfunk (NDR), der für die Tagesschau verantwortlich ist, „in Bezug auf“ Vosgerau [der geklagt hatte = AR] zu berichten, dass auf dem Potsdamer Treffen auch eine Ausweisung von Staatsbürgern diskutiert worden sei (Beschl. v. 23.07.2024, Az. 7 W 78/24). Damit änderte das Gericht die Entscheidung des Hamburger Landgerichts (LG) ab, welches dem NDR noch Recht gegeben und Vosgeraus Unterlassungsantrag abgelehnt hatte (Beschl. v. 30.05.2024, Az. 324 O 169/24). Beide Beschlüsse liegen LTO vor [En03].

Auf der Website der Anwälte, die Dr. Ulrich Vosgerau vor Gericht wegen der Falschmeldungen in der Tagesschau vertreten hatten, heißt es auf der Website der Anwaltskanzlei, die Dr. Ulrich Vosgerau vertreten hat, wie folgt:

Kanzlei Höcker: Correctiv-Bericht verboten: Keine Pläne zur Ausweisung deutscher Staatsbürger in Potsdam diskutiert. „Prozessual ist von der Unwahrheit der Behauptung der Antragsgegnerin, es sei bei dem Treffen in Potsdam die Ausweisung deutscher Staatsangehöriger diskutiert worden, auszugehen.“ [En04]

Diese Niederlage betrifft auch den NDR, der für die Berichterstattung der Tagesschau verantwortlich ist.

Nur zur Erinnerung: Am 10. Januar 2024 veröffentlichte die Investigativ-Plattform Correctiv den Artikel „Geheimplan gegen Deutschland“. Darin geht es um ein Treffen von rechten Politikern und Rechtsextremen in Potsdam, zu dem es bereits Ende November 2023 gekommen war. Die umstrittene Recherche sorgte bundesweit und international für Aufsehen, insbesondere auch deshalb, weil Martin Sellner dort einen Vortrag zum Thema „Remigration von Migranten“ gehalten hatte, einem Wort – gemeint ist Remigration – das nichts anderes ist als das Gegenteil von Emigration bedeutet. Beiden Sprachfiguren haftet zudem die Freiwilligkeit an, die Personen dazu bringt, Deutschland zu verlassen (Remigration) oder in Deutschland eine neue Heimat zu suchen (Emigration).

Gedeutet wurde diese Sprachfigur aber in den Medien als Deportation, einer Sprachfigur, die an die dunkelsten Zeiten in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts erinnert und die sozusagen als Reflexverhalten, Hunderttausende zum Anlass nahmen, gegen diese Geheimkonferenz von Rechtsextremisten und deren Pläne auf die Straße zu gehen.

02 Das Einreiseverbot, verfügt gegen Martin Sellner

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Gegen Martin Sellner verfügte die Stadt Potsdam auf der Grundlage der oben skizzierten Ereignisse im März 2024, also gut drei Monate nach dem bekanntgewordenen „Geheimtreffen in Potsdam“, Martin Sellnerein Einreiseverbot in die Bundesrepublik Deutschland an, womit die Selbstüberschätzung einer dem Recht verpflichteten Exekutive in Sachen Martin Sellner ihren Anfang nahm.

Weshalb?

Art. 1 Abs. 3 GG
(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.

Art. 20 Abs. 3 GG
(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.

Art. 103 Abs. 1 GG
(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.

Insbesondere der sich aus Art. 103 Abs. 1 GG ergebende Anspruch bedeutet in seinem Kern, dass Aussagen der streitenden Parteien nicht bloß gehört, sondern auch inhaltlich gewürdigt werden müssen. Das gilt auch für die Betroffenen hoheitlicher Maßnahmen, wenn die vor Gericht geltend machen, dass gegen sie Maßnahmen verfügt wurden, die ihre Grundrechte verletzen, was bei einem Einreiseverbot gegen einen EU-Bürger offensichtlich der Fall gewesen ist, denn EU-Bürger genießen Freizügigkeit innerhalb der EU, also auch in Deutschland.

03 Inanspruchnahme von Rechtsmitteln durch Martin Sellner

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Wer sich auch nur oberflächlich mit der Klagefreudigkeit von Martin Sellner auseinandergesetzt hat wird wissen, dass dieser Mann jede sich bietende Gelegenheit nutzt, vor Gericht staatliches Handeln bisher mit großem Erfolg auf Rechtmäßigkeit überprüfen lässt. Insoweit vermag es nicht zu verwundern, dass der von Martin Sellner beauftragte Rechtsanwalt sich an das Verwaltungsgericht Potsdam gewendet hat, um das von der Stadt Potsdam erlassene „Einreiseverbot in die Bundesrepublik Deutschland“ prüfen zu lassen.

Das Ergebnis vorweg: Das angerufene Verwaltungsgericht entschied im Mai 2024, dass das erlassene Einreiseverbot in die Bundesrepublik rechtswidrig verfügt wurde.

Da die Ausländerbehörde der Stadt Potsdam, die das Einreiseverbot verfügt hat, sich darauf berief, dass von Martin Sellner sowohl Gefahren für die öffentliche Ordnung als auch Gefahren für die öffentliche Sicherheit in solch einem Maße ausgingen, die ein Einreiseverbot rechtfertigen würden, werden im Folgenden die Passagen aus dem Beschluss des VG Potsdam zitiert, die diese beiden Sprachfiguren betreffen und verwerfen und die die Annahmen der Amtswalter der Stadt Potsdam widerlegen, die ihr Einschreiten als mit geltendem Recht übereinstimmend bewertet hatten.

VG Potsdam, Beschluss vom 31. Mai 2024: Hinsichtlich der öffentlichen Ordnung setzt die rechtmäßige Verlustfeststellung eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers danach auf Tatbestandsebene voraus, dass aufgrund des persönlichen Verhaltens des Betroffenen außer der Störung der öffentlichen Ordnung, die jede Gesetzesverletzung darstellt, eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. (...).

Dieser Maßstab verweist - anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizeirecht - nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich ein Grundinteresse der Gesellschaft, das berührt sein muss. Zu den Grundinteressen der Gesellschaft gehört dabei die Sicherung des friedlichen Zusammenlebens der Einwohner eines Staates unter Beachtung der geltenden Rechtsordnung, insbesondere in ihrer strafrechtlichen Ausprägung (...).

Hinsichtlich der öffentlichen Sicherheit ist zu beachten, dass unionsrechtlich eine Unterscheidung zur öffentlichen Ordnung nicht immer trennscharf vorgenommen werden kann (...). Die öffentliche Sicherheit umfasst nach der Rechtsprechung des EuGH sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit, „sodass die Beeinträchtigung des Funktionierens der Einrichtungen des Staates und seiner wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung ebenso wie die Gefahr einer erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder eine Beeinträchtigung der militärischen Interessen die öffentliche Sicherheit berühren können“ (...).

Das Erfordernis einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung bzw. Sicherheit besagt dabei nicht, dass eine „gegenwärtige Gefahr“ im Sinne des deutschen Polizeirechts vorliegen müsste, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist. Es verlangt vielmehr eine hinreichende - unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts differenzierende Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung im Sinne des Art. 45 Abs. 3 AEUV beeinträchtigen wird.

Es gilt ein differenzierender, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts. Auch der Gerichtshof der Europäischen Union geht davon aus, dass die für Einschränkungen von Aufenthaltsrechten erforderliche erhebliche Gefahr keine statische Wahrscheinlichkeit bedeutet, sondern dass in jedem Einzelfall auch der Grad der aktuellen Gefährlichkeit des Betroffenen zu ermitteln ist (...). Für die Annahme einer Wahrscheinlichkeit, der Antragsteller werde ein Grundinteresse der Gesellschaft bzw. die öffentliche Sicherheit berühren, genügt indes nicht, dass lediglich der durch bestimmte Tatsachen begründete Verdacht für das Vorliegen einer Gefahr besteht. Denn § 6 Abs. 1 bis 3 FreizügG/EU setzt tatbestandlich nicht nur - wie etwa § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG - voraus, dass „bestimmte Tatsachen die Annahme begründen“, dass eine Gefahr besteht. Erforderlich ist vielmehr, dass eine tatsächliche gegenwärtige Gefahr besteht. Dafür muss der - in Hauptsacheverfahren gemäß § 108 Abs. 1 S. 1 VwGO zur Überzeugung des Gerichts feststehende - Sachverhalt mit hinreichender Wahrscheinlichkeit den Schadenseintritt erwarten lassen (...). Unter Beachtung dieses Maßstabs hat der Antragsteller eine erforderliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung nicht hinreichenddargelegt.

Soweit der Antragsgegner eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit damit zu begründen versucht, dass der Antragsteller durch das beschriebene Agieren die „unverrückbaren staatlichen Grundlagen der Bundesrepublik verändern woll[e]u, „mit [seinen] Aktivitäten zugrundeliegenden Ethnopluralismus die Garantie der Menschenwürde und das Staatsvolkverständnis des Grundgesetz verletz[t“], „Prinzipien verfolge], die undemokratisch und damit rechtsstaatswidrig sind“, „die historische Verpflichtung Deutschlands für den Holocaust als Grundlage unserer Staatsanwesen negier[t]“ und „das friedliche Zusammenleben der Völker durch die von [ihm] praktizierte und von [ihm] angestrebte Zusammenarbeit extremistischer Netzwerke gefährde[t]“, vermag er die Kammer nicht vom Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU zu überzeugen.

An anderer Stelle:

Allerdings ist nach Ansicht der Literatur, der sich die Kammer anschließt, bei Verhaltensweisen, die nicht zu einer strafrechtlichen Verurteilung führen, ein besonders strenger Maßstab anzuwenden, da gerade über die strafrechtliche Ausprägung der geltenden Rechtsordnung der Mitgliedstaat bestimmt, welche Verhaltensweisen einem Unwerturteil ausgesetzt sind. Fehlt es an einem solchen Unwerturteil, kann schwerlich ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt sein. Überdies ist nicht hinreichend belegt, dass der Antragsteller wegen der vom Antragsgegner angeführten Umstände mit hinreichender Wahrscheinlichkeit tatsächlich mit strafrechtlichen Verurteilungen rechnen müsste. Für die Vergangenheit führt der Bescheid selbst aus, dass diverse Strafverfahren gegen den Antragsteller eingeleitet wurden u. a. wegen des Vorwurfs des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (§ 86a StGB), Volksverhetzung (§ 130 StGB), Körperverletzung (§ 223 StGB), Geldwäsche (§ 261 StGB), Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz (§ 26 VersammlG), wegen Gewaltdarstellung (§ 131 StGB) und Nötigung (§ 240 StGB). Die Ermittlungsverfahren sind alle indes eingestellt worden. Auch in Österreich resultierten die Ermittlungs- bzw. Strafverfahren in Einstellungen bzw. Freisprächen. Der Bescheid verhält sich nicht dazu, weshalb sich dies nun anders darstellen sollte.

Beschluss im Volltext

Hinweis: Die weiteren Gründe, die auch aus unionsbürgerlicher Sicht nicht ausgereicht hätten, ein Einreiseverbot zu rechtfertigen, wurden von den Richtern des Verwaltungsgerichts Potsdam ebenfalls gerügt.

Kurzum: Die erlassene Einreiseverfügung gegen Martin Sellner entsprach nicht geltendem Recht. Sie war und ist rechtswidrig.

Von einem am Rechtsstaat orientierten Willen verantwortlicher staatlicher Stellen wäre nach der hier vertretenen Rechtsauffassung zu erwarten gewesen, erkennen zu können, dass die beabsichtigte Maßnahme vor einem Verwaltungsgericht keinen Bestand haben wird, zumal jede Ausländerbehörde über ausreichend juristisch geschultes Personal verfügt, um die vom Verwaltungsgericht Potsdam aufgeführten Gründe sozusangen "vorhersehen" zu können, die zu dem oben genannten Ergebnis führten.

Bekanntermaßen aber sind die Amtswalter von Behörden weisungsgebunden, mit allen sich daraus für die Glaubwürdigkeit eines Rechtsstaates ergebenden negativen Folgen, wenn diese Weisungen - geltendes Recht bis an die Grenze des noch Erträglichen nicht nur ausnutzen, sondern diese "Brandmauer" sogar noch überschreiten, um damit politische Ziele erreichen zu können, obwohl eigentlich bekannt sein sollten, dass rechtliche Grenzüberschreitungen auch in eine ganz andere Richtung wirken können.

Wie dem auch immer sei: Geschadet hat dieser Rechtsstreit Martin Sellner nicht, wohl aber der Bundesrepublik Deutschland.

04 Ein paar Tage später an der deutsch-österreichischen Grenze

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Am 27.01.2024, also nur 17 Tage nach der Berichterstattung des Nachrichtenmagazins Correctiv über das Potsdamer Geheimtreffen, heißt es auf Spiegel.de wie folgt:

Spiegel.de: Geplante Einreisesperre gegen Rechtsextremisten. Darf Martin Sellner bald nicht mehr in Deutschland hetzen? Der österreichische Rechtsextremist Martin Sellner hat mit Plänen zur massenhaften Abschiebung oder Verdrängung von Einwanderern für Proteste gesorgt. Nun könnte eine Potsdamer Behörde ihm künftige Abstecher nach Deutschland verbieten [En05].

Wozu es dann ja auch gekommen ist. Es kann davon ausgegangen werden, dass Martin Sellner von dem Vorhaben der Stadt Potsdam, gegen ihn ein "Einreiseverbot in die Bundesrepublik Deutschland" zu verfügen, in Kenntnis gesetzt wurde,  denn die Anwendung in Deutschland geltendes Verwaltungsrecht setzt bei Maßnahmen, die erst in der Zukunft wirksam werden sollen, voraus, dass vor der Verfügung einer belastenden Maßnahme der davon Betroffene anzuhören ist.

Insoweit war das, was dann am 29.01.2024 sich anlässlich einer Grenzkontrolle bei Passau ereignete, aus der Sicht von Martin Sellner, ein lohnender Versuch, erneut Aufmerksamkeit in der Presse auf sich zu lenken, zumal dort ja schon von den dem geplanten Einreiseverbot der Stadt Potsdam berichtet worden war.

Was sich im Rahmen dieser Kontrolle ereignete, zeigt erneut, wie dehnbar das Wort Rechtsstaat ist. In einer Meldung auf der Website der Passauer Neuen Presse (PNP) vom 29.01.2024 heißt es:

PNP.de vom 29.01.2024: Grenzkontrolle bei Passau. Hickhack um Sellner: Polizei lässt Rechtsextremisten nach Kontrolle einreisen.

Für Wirbel gesorgt hat am Montag der Plan des österreichischen Rechtsextremisten Martin Sellner, Referent bei der umstrittenen Remigrations-Konferenz in Potsdam, sich an der deutsch-österreichischen Grenze festnehmen zu lassen.

Gegen 18 Uhr traf Sellner in Begleitung einer Gruppe in einem schwarzen Mini am Grenzübergang ein und wurde von den Beamten einer Kontrolle unterzogen. Polizeihauptkommissar (...) von der Bundespolizei Passau erklärte gegenüber der Mediengruppe Bayern, es wurde kontrolliert, ob bei Martin Sellner eine Gefährdung für die öffentliche Sicherheit und Ordnung vorliege. Die Entscheidung, ob er einreisen dürfe, lag bei der Bundespolizei in Potsdam.

Deswegen durfte Sellner einreisen.

Gegen 18.45 Uhr stand dann fest: Sellner darf einreisen. [Der Polizeisprecher der Bundespolizei] berichtet gegenüber der Mediengruppe Bayern: „Wir haben die Gründe hinterfragt, warum er einreist, und wir haben keine Gründe gefunden, die darauf hindeuten, dass er eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt – und deswegen darf er einreisen“ [En06].

In Anbetracht der Tatsache, dass medial bereits bundesweit über ein zu erwartendes Einreiseverbot berichtet worden war, ist es – zumindest nach der hier vertretenen Sicht der Dinge – zumindest bemerkenswert, dass es Polizeibeamten der Bundespolizei, denen Martin Sellner kein Unbekannter war, es gelang, innerhalb von 45 Minuten eine weitere unrechtmäßige Maßnahme zu unterlassen, indem sie Martin Sellner in die Bundesrepublik Deutschland einreisen ließen.

05 Aufenthaltsverbot in Neulingen bei Pforzheim

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Als sich Martin Sellner im August erneut in Deutschland aufhielt, um dort in verschiedenen Städten Vorträge über sein Buch „Remigration – Ein Vorschlag“ zu halten, nahm dies die Stadt Neulingen bei Pforzheim in Baden-Württemberg zum Anlass, ein sofort vollziehbares Aufenthaltsverbot gegenüber Martin Sellner anzuordnen.

Auf Achgut.com vom 09.08.2024 heißt es, unter der Überschrift "Ausgestoßene der Woche" wie folgt: In der Verfügung behauptet der Neulinger Bürgermeister Michael Schmidt (parteilos) sehr vage, „dass die von Sellner verbreiteten verschwörungsideologischen Narrative grundsätzlich dazu geneigt sind, als Grundlage für die Begehung von Gewalttaten zu dienen“. Der Betroffene behält sich rechtliche Schritte vor. Auch an anderen Stationen der Lesetour hatte es Probleme gegeben. Beim Abschluss in Passau erhielt Sellner einen Platzverweis, in Marburg kam es zu einer Gegendemonstration mit Gewalttätigkeiten gegenüber einem Youtuber, und von deren Bühne aus wurden Polizisten als „Nazis in Uniform“ bezeichnet. Nachdem sich Sellner in Saarbrücken kurz den Gegenprotestierern gestellt hatte, wurde er angezeigt, da er angeblich den Hitlergruß angedeutet hätte; er bestreitet dies vehement, zumindest in einem Video der Situation ist davon auch nichts zu erkennen. In Neulingen distanzierte sich der Wirt der Veranstaltungsstätte nach Druck aus Antifa-Kreisen von dem Termin. Sellner gab seinen dort abgebrochenen Vortrag später in einem Stream wieder [En07].

In den Leitmedien wurden nicht nur andere Überschriften sondern auch andere Inhalte bevorzugt. Hier nur einige Beispiele:

  • FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung: Polizei beendet Lesung von Martin Sellner in Neulingen. Im baden-württembergischen Neulingen hat die Polizei eine Lesung des österreichischen Rechtsextremisten gestoppt und ein Aufenthaltsverbot erteilt. Sellner klagt, sein Vortrag sei „gesprengt“ worden.

  • Deutschlandfunk Kultur: Polizei beendet Lesung von Rechtsextremist Sellner

  • Welt: Lesung abgebrochen – Martin Sellner erhält Aufenthaltsverbot in Neulingen

  • Spiegel: Polizei beendet Lesung von Martin Sellner in Baden-Württemberg

  • T-online: Rechtsextremist Martin Sellner gibt nicht öffentliche Lesung – Polizei muss einschreiten

  • Badische Neueste Nachrichten: Neulinger Lokalbesitzer über Sellner-Auftritt: „Wir wussten nicht, wer hier liest“

Es gab sogar Pressestimmen, die Martin Sellner in die Nähe des Propagandaministers Joseph Goebbels (1897 bis 1945) stellten.

06 Polizeiliches Einschreiten aus rechtlicher Sicht

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Zuerst einmal ist festzustellen, dass es sich bei dem polizeilichen Einschreiten um zwei Maßnahmen handelt, die im Folgenden zuerst einmal nur aufgelistet werden, bevor deren Rechtmäßigkeit geprüft wird.

  • Betreten eines „der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Raums“ durch die Polizei

  • Aufforderung an Martin Sellner, sowohl den Veranstaltungsraum als auch das Gemeindegebiet für eine vorgegebene Zeit zu verlassen und während dieser Zeit das Gemeindegebiet nicht mehr zu betreten, was als ein Aufenthaltsverbot zu qualifizieren ist.

Dass es sich bei diesen Maßnahmen – in ihrem Zusammenhang gesehen – nicht um polizeiliche Sofortmaßnahmen, sondern um vorbereitete Maßnahmen gehandelt hat, liegt in der Natur der Sache, denn eine mehrseitige schriftliche Verfügung, die Martin Sellner zum Zeitpunkt des Einschreitens der Polizei im Veranstaltungsraum ausgehändigt wurde, und aus der Martin Sellner später in einem Video über seinen „nicht gehaltenen Vortrag“ zitiert, lässt keinen anderen Schluss zu.

Im Übrigen bedürfen Aufenthaltsverbote immer der Schriftform, was sie von Platzverweisungen unterscheidet, bei denen es sich im Normalfall um unaufschiebbare Maßnahmen der Polizei im Sinne von § 80 Abs. 2 VwGO handelt, woraus zu schließen ist, dass es sich bei Platzverweisungen um polizeiliche Sofortmaßnahmen handelt, die jetzt und sofort getroffen werden müssen, weil sonst eine gerade bekannt gewordene Gefahrenlage nicht beseitigt werden kann.

Um das Aufenthaltsverbot von der Polizei sofort durchsetzen zu können, wurde deshalb in der Aufenthaltsverbotsverfügung der sofortige Vollzug angeordnet, was bedeutet, dass Martin Sellner erforderlichenfalls auch unter Zwang aus dem Gemeindegebiet hätte entfernt werden können/dürfen/müssen.

07 Das Betreten des Raumes, in dem Martin Sellner den Vortrag hält

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Zuerst einmal ist festzustellen, dass es sich bei dem Raum, in dem Martin Sellner seinen Vortrag halten wollte, um eine Räumlichkeit gehandelt hat, der zur Zeit des polizeilichen Einschreitens der Öffentlichkeit nicht zugänglich war, denn in dem Raum befanden sich nur geladene Gäste bzw. auch ungeladene Personen, deren Anwesenheit vom Veranstalter aber geduldet wurde.

Anders ausgedrückt: Bei diesem Vortragsraum handelte es sich nicht um eine Räumlichkeit, die zum Zeitpunkt der Veranstaltung einem jedermann zugänglich gewesen ist und somit die Regelung im § 36 Abs. 6 PolG BW nicht greifen konnte, in der es heißt:

§ 36 Abs. 6 PolG BW
(6) Arbeits-, Betriebs- und Geschäftsräume dürfen zur Erfüllung einer polizeilichen Aufgabe während der Arbeits-, Betriebs- oder Geschäftszeit betreten werden.

Wie dem auch immer sei: Um den Vortragsraum betreten zu dürfen, bedurfte es einer Ermächtigung. Als Befugnis kommt § 36 Abs. 1 PolG BW (Betreten und Durchsuchung von Wohnungen) in Betracht.

§ 36 Abs. 1 PolG BW
(1) Die Polizei kann eine Wohnung gegen den Willen des Inhabers nur betreten, wenn dies zum Schutz eines Einzelnen oder des Gemeinwesens gegen dringende Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung erforderlich ist. Während der Nachtzeit ist das Betreten nur zur Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr oder schweren Gesundheitsgefahr für einzelne Personen zulässig.

Es ist unbestritten, dass zur Wohnung im Sinne polizeilicher Betretungsverbote/Aufenthaltsverbote etc. auch Geschäftsräume gehören.

Gegen den Willen des Verfügungsberechtigten, und das war zum Zeitpunkt der Veranstalter nicht der Gastwirt, dem das Lokal gehörte, sondern die Person, die zum Zeitpunkt des polizeilichen Einsatzes das alleinige Hausrecht im Versammlungsraum ausüben konnte, also der Veranstalter. Folglich durfte die Polizei den Vortragsraum nur dann gegen den Willen des Veranstalters betreten, wenn das zur Abwehr einer „dringenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung“ erforderlich gewesen ist. Soweit es dem Veranstalter nicht möglich war, seinen gegenteiligen Willen geltend zu machen, ist generell vom entgegenstehenden Willen des Veranstalters auszugehen.

08 Dringende Gefahr der Betretungsbefugnis

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Der unbestimmte Rechtsbegriff »dringende Gefahr« wird im PolG BW in vier Befugnissen verwendet, die im Folgenden aufgelistet werden:

  • § 36 Abs. 1 PolG BW (Betreten und Durchsuchung von Wohnungen)

  • § 44 Abs. 5 und 8 PolG BW (Offener Einsatz technischer Mittel zur Bild- und Tonaufzeichnung

  • § 50 Abs. 1 PolG BW (Besondere Bestimmungen über den Einsatz technischer Mittel zur Datenerhebung in oder aus Wohnungen)

  • § 54 Abs. 1 Nr. 1 PolG BW (Überwachung der Telekommunikation)

Link zum Polizeigesetz Baden-Württemberg

In allen Fällen steht die Sprachfigur „dringende Gefahr“ im Zusammenhang mit dem Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung. Grund dafür ist, dass es sich bei der „dringende Gefahr“ um eine Gefahrenart handelt, die bereits seit 1949 im Art. 13 GG (Unverletzlichkeit der Wohnung) verwendet wird.

In Anlehnung an die Rechtsprechung des BVerfG braucht eine dringende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung (dazu gehören auch Gefahren für Leib oder Leben) nicht bereits eingetreten zu sein; es genügt, dass die Beschränkung des Grundrechts dem Zweck dient, einen Zustand nicht eintreten zu lassen, der seinerseits eine dringende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellen würde.

Eine dringende Gefahr setzt aber eine Bedrohungslage für bedeutsame Rechtsgüter voraus, so dass Schäden von erheblichem Ausmaß drohen müssen.

Eine zeitliche Dringlichkeit im Sinne eines unmittelbar bevorstehenden Schadenereignisses fordert die "dringende Gefahr des Artikels 13 GG"  grundsätzlich nicht.

In einem namhaften Kommentar zum GG heißt es: Eine dringende Gefahr ist dann zu bejahen, wenn eine Gefahr für ein wichtiges Rechtsgut, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in allernächster Zukunft eintreten wird. Auf Grund der häufig eingeschränkten Einschätzbarkeit der Gesamtumstände kommt dem zeitlichen Aspekt [in Abweichung zur Rechtsauffassung des BVerfG = AR] ein besonderes Gewicht zu.

Gornig in: Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, 6. Auflage 2010, Artikel 13 Absatz 7, Rdn. 159

In einem namhaften Kommentar zum Polizeirecht NRW, in dem die Sprachfigur der dringenden Gefahr ebenfalls beschrieben, heißt es sinngemäß:

Lisken/Denninger: Der in Art. 13 VII GG verwendete Begriff der „dringende Gefahr“ auf den sich das PolG NRW bezieht, ist nicht ganz klar, sein Inhalt ist umstritten. Teilweise wird das Qualifizierungsmerkmal „dringend“ lediglich als Steigerungsform hinsichtlich Nähe und Wahrscheinlichkeit des Schadensereignisses verstanden.

Vg. Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 4. Auflage, Seite 710

Zusammenfassung: Die Art und Weise des polizeilichen Einschreitens in das Hausrecht des „Veranstalters einer nicht öffentlichen Veranstaltung“ lässt sich auch im Hinblick auf die damit verbundene Wirkung staatlichen Handelns, natürlich weitaus besser in Bildern, als in Worten beschreiben, um deutlich zu machen, dass bereits ein bloßes Betreten tatsächlich als ein schwerer Eingriff in Grundrechte anzusehen ist. Das folgende Bild wurde - Stand 10.08.2024 bereits 53 2008 Mal aufgerufen.

Wenn Sie den folgenden Link öffnen, sehen Sie ein Foto, das etwa 10 Minuten nach der Eröffnung des Vortrags im Vortragsraum gemacht wurde, als der, den Einsatz leitende Polizeibeamte, Martin Sellner im Beisein mehrerer SEK-Beamter nicht nur das Aufenthaltsverbot eröffnete, sondern ihn auch davon in Kenntnis setzte, dass das Aufenthaltsverbot erforderlichenfalls mit Zwang durchgesetzt werden könne, weil der sofortige Vollzug des Aufenthaltsverbotes ebenfalls verfügt worden sei.

Die Polizei betritt den Vortragsraum.

09 Eröffnung des Aufenthaltsverbots durch die Polizei

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Zurück zur rechtlichen Bewertung des gesamten polizeilichen Einsatzes, der ja dem Zweck diente, gegenüber Martin Sellner ein Aufenthaltsverbot zu verfügen, das erforderlichenfalls auch durch die Anwendung von Zwang durchgesetzt werden konnte/sollte/durfte/musste.

Das aber setzt voraus – gemeint ist das Aufenthaltsverbot, dass die abzuwehrende Gefahr, die ein solches Aufenthaltsverbot zu rechtfertigen vermag, mindestens von gleicher Qualität sein muss wie die, die die Betretungsbefugnis einfordert, denn wenn die im Folgenden näher zu erörternde Gefahr des § 30 Abs. 2 PolG BW geringer zu bewerten ist, als die Gefahr, die zum Betreten des Veranstaltungsraumes nachzuweisen war, dann würde es dem Zweck des gesamten polizeilichen Einsatzes nach der hier vertretenen Rechtsauffassung mindestens an der Verhältnismäßigkeit mangeln.

Wie dem auch immer sei: Zu prüfen ist somit, ob die Gefahr des § 30 Abs. 2 PolG BW, die der Gesetzgeber wie folgt definiert „wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass diese Person dort eine Straftat begehen oder zu ihrer Begehung beitragen wird“, diesem Anspruch genügt.

Zuvor ein Blick in die Befugnis des Polizeigesetzes des Landes Baden-Württemberg, auf die ein Aufenthaltsverbot gestützt werden kann:

§ 30 Abs. 2 PolG BW (Platzverweis, Aufenthaltsverbot, Wohnungsverweis, Rückkehrverbot, Annäherungsverbot)
(2) Die Polizei kann einer Person verbieten, einen bestimmten Ort, ein bestimmtes Gebiet innerhalb einer Gemeinde oder ein Gemeindegebiet zu betreten oder sich dort aufzuhalten, wenn
Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass diese Person dort eine Straftat begehen oder zu ihrer Begehung beitragen wird (Aufenthaltsverbot).
Das Aufenthaltsverbot ist zeitlich und örtlich auf den zur Verhütung der Straftat erforderlichen Umfang zu beschränken und darf räumlich nicht den Zugang zur Wohnung der betroffenen Person umfassen. Es darf die Dauer von drei Monaten nicht überschreiten. Ein sich anschließendes Aufenthaltsverbot ist nur aufgrund einer neuen Gefahrenprognose zulässig.

Was unter dem unbestimmten Rechtsbegriff „Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass diese Person dort eine Straftat begehen oder zu ihrer Begehung beitragen wird“ zu verstehen ist, wird im Folgenden erörtert:

10 Tatsachen rechtfertigen die Annahme, dass ...

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Diese Sprachfigur setzt eine Gefahrenanalyse voraus, die zu einer Zeit vorgenommen wird, in der die Polizei noch nicht gefahrenabwehrend tätig geworden ist, sondern sich zuvor darüber Rechenschaft ablegen muss, ob es möglich ist, nachvollziehbar begründen zu können, dass ein polizeiliches Einschreiten zur Abwehr zukünftiger Straftaten geeignet, erforderlich und natürlich auch verhältnismäßig ist.

Das folgende Zitat stammt aus einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, bei der es um die Zulässigkeit der Anordnung einer Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) ging und in dem, weil die dafür nachzuweisende Befugnis die oben genannte Sprachfigur enthilt, zu klären war, was unter dem unbestimmten Rechtsbegriff „Tatsachen rechtfertigen die Annahme“ zu verstehen ist.

Es liegt in der Logig der Rechtsanwendung, auf diese Ausführungen auch dann zurückzugreifen, wenn die oben genannte Sprachfigur auch in anderen Befugnissen enthalten ist.

Wie dem auch immer sei:

BVerfG 2005: Bei der Vorverlagerung des Eingriffs in einer Phase, in der sich die Konturen eines Straftatbestandes noch nicht abzeichnen, besteht das Risiko, dass der Eingriff an ein nur durch relativ diffuse Anhaltspunkte für mögliche Straftaten gekennzeichnetes, in der Bedeutung der beobachteten Einzelheiten noch schwer fassbares und unterschiedlich deutbares Geschehen anknüpft. Sachverhaltsfeststellung und Prognose sind mit vorgreiflichen Einschätzungen über das weitere Geschehen, ebenso wie über die erst noch bevorstehende strafrechtliche Relevanz der festgestellten Tatsachen verknüpft (...). Da der Eingriff sich auf mögliche zukünftige Aktivitäten bezieht, kann er sich häufig nur auf Tatsachen stützen, bei denen noch offen ist, ob sie sich zu einer Rechtsgutverletzung weiterentwickeln (...). Die Situation der Vorfeldermittlung ist insofern durch eine hohe Ambivalenz der potenziellen Bedeutung einzelner Verhaltensumstände geprägt. Die Indizien oder einzelne beobachtete Tätigkeiten können in harmlosen, strafrechtlich unerheblichen Zusammenhängen verbleiben; sie können aber auch der Beginn eines Vorgangs sein, der zur Straftat führt.

Sieht der Gesetzgeber in solchen Situationen Grundrechtseingriffe vor, so hat er die den Anlass bildenden Straftaten sowie die Anforderungen an Tatsachen, die auf die künftige Begehung hindeuten, so bestimmt zu umschreiben, dass das im Bereich der Vorfeldermittlung besonders hohe Risiko einer Fehlprognose gleichwohl verfassungsrechtlich noch hinnehmbar ist. Die Norm muss handlungsbegrenzende Tatbestandselemente enthalten, die einen Standard an Vorhersehbarkeit und Kontrollierbarkeit vergleichbar dem schaffen, der für die überkommenen Aufgaben der Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung rechtsstaatlich geboten ist (...).

An anderer Stelle:

Es genügt die auf Tatsachen gegründete, nicht näher konkretisierte Möglichkeit, dass jemand irgendwann in Zukunft Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen wird.

Aber:

Eine derart weite Ermächtigung wird dem Bestimmtheitsgebot nicht gerecht. Dies betrifft sowohl die Anknüpfung an Tatsachen, die die Annahme der Begehung von Straftaten erheblicher Bedeutung rechtfertigen [...].

Der in [...] verwendete Begriff der „Tatsache“ ist isoliert betrachtet allerdings hinreichend bestimmt (...). Er nimmt eine Abgrenzung zu bloßen Vermutungen und allgemeinen Erfahrungssätzen vor, die für sich allein gerade nicht ausreichen sollen. Dennoch genügt das Tatbestandsmerkmal in seiner Bezugnahme auf eine künftige Straftatenbegehung den Bestimmtheitsanforderungen nicht.

Es sind vielfältige Anknüpfungen denkbar, die nach hypothetischem Kausalverlauf in der Straftatenbegehung eines potenziellen Täters (...) münden können. Weder hinsichtlich möglicher Indikatoren und des Grads der Wahrscheinlichkeit eines solchen Ablaufs noch in zeitlicher Hinsicht sieht das Gesetz Beschränkungen vor. Die im Vorfeld künftiger Straftaten bestehenden Schwierigkeiten der Abgrenzung eines harmlosen von dem in eine Straftatenbegehung mündenden Verhaltens werden in der Ermächtigung nicht durch einschränkende Tatbestandsmerkmale bewältigt. Die Bestimmung der Voraussetzungen und Grenzen des Eingriffs obliegt vielmehr der Polizei. Sie entscheidet ohne nähere gesetzliche Vorgaben über die Grenzen der Freiheit des Bürgers und muss sich die Maßstäbe dafür selbst zurechtlegen. Sie wird insoweit gewissermaßen tatbestandsergänzend tätig. Die Schaffung eingriffsbeschränkender Maßstäbe ist aber Aufgabe des Gesetzgebers.

BVerfG, Urteil vom 27. Juli 2005 - 1 BvR 668/04

Auch wenn die Richter des Bundesverfassungsgerichts die oben zitierten Ausführungen in einem anderen zu prüfenden Einzelfall gemacht haben als in dem, der hier zu erörtern ist, lassen sich die Aussagen der Verfassungsrichter durchaus vollumfänglich auf die Sprachfigur übertragen, die im § 30 Abs. 2 PolG BW „Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass diese Person dort eine Straftat begehen oder zu ihrer Begehung beitragen wird“ enthalten ist.

Im Hinblick auf das hier rechtlich zu erörternde Aufenthaltsverbot ist noch Folgendes anzumerken:

Ein Aufenthaltsverbot ist mehr als eine Platzverweisung, deshalb ist zuerst einmal zu klären, wodurch sich Aufenthaltsverbote von normalen Platzverweisungen unterscheiden, denn auch bei Aufenthaltsverboten handelt es sich ja um ein Betretungsverbot, also um eine Weisung, die darin besteht, einen „bestimmten Bereich“ für eine festgelegte Zeit/Dauer nicht zu betreten, besser gesagt, sich dort nicht aufhalten zu dürfen, bzw. ihn vorübergehend verlassen zu müssen.

Aufenthaltsverbote unterscheiden sich von Platzverweisungen nicht nur dadurch, dass sie einen weitaus größeren Aufenthaltsbereich betreffen, in dem sich eine Person nicht mehr aufhalten darf, sondern auch dadurch, dass sie zeitlich wesentlich langfristiger sind bzw. sein können, als das bei normale „vorübergehenden“ Platzverweisungen der Fall ist.

Aufenthaltsverbote können in Baden-Württemberg im Übrigen auch nur von der Polizei verfügt werden, und auch nur dann, wenn „Tatsachen die Annahme rechtfertigen“, dass die Person, gegen die sich das Aufenthaltsverbot richtet, in den örtlichen Bereichen, in denen das Aufenthaltsverbot gelten soll, eine Straftat begehen oder zu ihrer Begehung beitragen wird. was in der zu erstellenden Gefahrenprognose nicht nachvollziehbar konkretisiert und begründet werden muss.

Gefahrenprognose: Die zu erstellende Gefahrenprognose muss somit nachvollziehbar sein und auf Fakten beruhen. Vermutungen reichen nicht aus. Insoweit stellt sich im hier zu erörternden Sachzusammenhang zwangsläufig die Frage, ob ein Gefahrenverdacht mehr ist als eine bloße Vermutung.

Dass es sich bei dem Nachweis der abzuwendenden Gefahr auch nicht nur um einen bloßen Gefahrenverdacht handeln sollte, wird im Polizeirecht von heute zunehmend in Frage gestellt, was aber nicht heißt, dass diese Sichtweise zutreffend ist.

11 Gefahrenverdacht für abschließende Maßnahmen nicht ausreichend

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In der Rechtslehre ist umstritten, ob aufgrund eines bloßen Gefahrenverdachts gefahrenabwehrende Maßnahmen überhaupt getroffen werden dürfen. In Anlehnung an eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 2003 wird hier die Auffassung vertreten, dass ein Gefahrenverdacht nicht ausreicht, um polizeiliche Maßnahmen treffen zu können, durch die auf gravierende Art und Weise abschließend in Rechtspositionen eingegriffen wird, was bei einem Aufenthaltsverbot wohl unstrittigerweise der Fall sein dürfte.

Dafür spricht auch, dass die Polizeigesetze die Sprachfigur des "Gefahrenverdachts" gar nicht kennen, bei dem es sich somit nur um ein Konstrukt der Rechtslehre handeln kann.

In der Rechtslehre wird folgende Position vertreten: Von einem Gefahrenverdacht ist auszugehen, wenn aus Sicht eines verständigen objektiven Betrachters Anhaltspunkte für eine Gefahr vorliegen. Der Gefahrenverdacht ermächtigt die Behörde zum Beispiel aufgrund der Generalklausel dazu, Maßnahmen zur Gefahrenerforschung zu ergreifen. Diese werden auch dann nicht rechtswidrig, wenn sich der Verdacht später als unbegründet herausstellt. Die Maßnahmen dürfen aber aufgrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes grundsätzlich nur von vorläufiger Natur sein.

Position der Richter des Bundesverwaltungsgerichts: Dieser Sichtweise steht aber die Position des Bundesverwaltungsgerichts entgegen, das 2003 in einem Urteil zu dem unbestimmten Rechtsbegriff des „Gefahrenverdachts“ wie folgt Stellung bezogen hat:

BVerwG 2003: Schadensmöglichkeiten, die sich deshalb nicht ausschließen lassen, weil nach dem derzeitigen Wissensstand bestimmte Ursachenzusammenhänge weder bejaht noch verneint werden können, begründen keine Gefahr, sondern lediglich einen Gefahrenverdacht oder ein „Besorgnispotenzial“. Das allgemeine Gefahrenabwehrrecht bietet keine Handhabe, derartigen Schadensmöglichkeiten im Wege der Vorsorge zu begegnen. Ist die Behörde mangels genügender Erkenntnisse über die Einzelheiten der zu regelnden Sachverhalte und/oder über die maßgeblichen Kausalverläufe zu der erforderlichen Gefahrenprognose nicht im Stande, so liegt keine Gefahr, sondern - allenfalls - eine mögliche Gefahr oder ein Gefahrenverdacht vor. Zwar kann auch in derartigen Situationen ein Bedürfnis bestehen, zum Schutz der etwa gefährdeten Rechtsgüter, namentlich höchstrangiger Rechtsgüter wie Leben und körperlicher Unversehrtheit von Menschen, Freiheitseinschränkungen anzuordnen. Doch beruht ein solches Einschreiten nicht auf der Feststellung einer Gefahr; vielmehr werden dann Risiken bekämpft, die jenseits des Bereichs feststellbarer Gefahren verbleiben. Das setzt eine Risikobewertung voraus, die - im Gegensatz zur Feststellung einer Gefahr - über einen Rechtsanwendungsvorgang weit hinausgeht und mehr oder weniger zwangsläufig neben der Beurteilung der Intensität der bestehenden Verdachtsmomente eine Abschätzung der Hinnehmbarkeit der Risiken sowie der Akzeptanz oder Nichtakzeptanz der in Betracht kommenden Freiheitseinschränkungen in der Öffentlichkeit einschließt, mithin - in diesem Sinne - „politisch“ geprägt oder mitgeprägt ist (...). Eine derart weit reichende Bewertungs- und Entscheidungskompetenz steht den Polizei- und Ordnungsbehörden aufgrund der Verordnungsermächtigungen, (...) nicht zu.

BVerwG, Urteil v. 20.08.2003 - 6 CN 2.02

Hinweis: In der Rechtssprechung gibt es dennoch viele Belege dafür, dass Richter zu der Feststellung neigen, dass polizeiliche Maßnahmen durchaus auch dazu dienen können, einem Gefahrenverdacht in der Absicht nachzugehen, um konkrete Anhaltspunkte für das Bestehen einer Gefahr finden zu können.

Wolff/Bachof/Stober/Kluth: Nach herrschender Meinung ist die Polizei auf der Grundlage der Generalklausel zur Anordnung vorläufiger Maßnahmen befugt, wenn ein Gefahrenverdacht vorliegt oder wenn eine Gefahrenerforschung nahe liegt. [...]. Vorläufige Maßnahmen unterscheiden sich von endgültigen Regelungen im Wesentlichen durch ihre Vorläufigkeit  [En08].

Bei einem verfügten Aufenthaltsverbot kann jedoch von einer vorläufigen Maßnahme, die dem Zweck dienen soll, Erkenntnisse zu gewinnen, die weitere Folgemaßnahmen nach sich ziehen können, nicht gesprochen werden, denn eine solche Maßnahme dient ja geradezu dem Zweck, eine für möglich gehaltene Gefahr, abschließend zu beseitigen, so dass von dem „abschließenden Charakter“ eines Aufenthaltsverbotes auszugehen und somit ein Gefahrenverdacht zur Rechtfertigung einer abschließenden Maßnahme wohl kaum in Betracht kommen kann.

12 Martin Sellner zitiert aus dem polizeilichen Aufenthaltsverbot

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Etwa zehn Minuten nachdem Martin Sellner seinen Vortrag begonnen hatte, betrat die Polizei den Veranstaltungsraum und eröffnete dem Redner, dass er die Gemeinde aufgrund eines schriftlich verfügten Aufenthaltsverbotes der Polizei, das dem sofortigen Vollzug unterliegt, jetzt die Gemeinde Neulingen zu verlassen hat.

Um sich einen Eindruck darüber verschaffen zu können, wie erfreut Martin Sellner auf diesen polizeilichen Auftritt reagierte, ist es sehr informativ, sich das über den folgenden Link aufrufbare Video anzusehen, das belegt, wie Martin Sellner sichtbar erfreut, fast schon erleichtert wirkt, weil sich seine Erwartungen doch noch erfüllen, dem deutschen Staat eine weitere Lektion in Sachen Rechtsstaatlichkeit erteilen zu können. Auf jeden Fall aber reagiert Sellner erkennbar amüsiert und durchaus begeistert auf diesen "Akt polizeilicher Realsatire".

Die ersten 10 Minuten

Das letzte Bild des Videos zeigt, dass ein Polizeibeamter einen mehrere Seiten umfassendes schriftlichen Beschluss in der Hand hält, bei dem es sich um die Aufenthaltsverbotsverfügung handelt.

Hinweis: Während das 10 Minuten dauernde Video über den Beginn der Veranstaltung – Stand 3. August 2024 – bereits 64.331 Mal aufgerufen wurde, was belegt, dass die polizeiliche Maßnahme im Hinblick auf die Verbreitung der Gedanken von Martin Sellner im Internet eine weitaus größere Wirkung erzielt hat, als sein „nicht gehaltener Vortrag vor gut 60 bis 70 Personen in Baden-Württemberg“, dürfte damit wohl außer Frage stehen. Man könnte sogar auf den Gedanken kommen, dass es gerade das polizeiliche Einschreiten gewesen ist, dass für ein weitaus größeres Gefahrenpotential sorgte, als der verhinderte Vortrag von einer überschaubaren Anzahl von Menschen.

Diesen Verbreitungsgrad erreichte der mehr als 1 Stunde dauernder Videovortrag von Martin Sellner im Internet nicht, dem er den Titel "Der nicht gehaltene Vortrag" gab.

Wie dem auch immer sei: Die nachfolgenden Zitate aus diesem Videovortrag erheben für sich nicht den Anspruch, dass ich jedes gesprochene Wort der ersten 15 Minuten exakt protokolliert habe, obwohl ich mich um eine weitgehend korrekte Wiedergabe des gesprochenen Wortes bemüht habe, die im hier zu erörternden Sachzusammenhang von Bedeutung sind.

Martin Sellner: Ich lese vor: Auch in der Verbotsverfügung der Gemeinde Neulingen heißt es: Sehr geehrter Herr Sellner, gegen Sie ergeht folgende Verfügung. Ihnen wird untersagt, sich vom Samstag, dem 03.08.2024 00.00 Uhr bis zum Sonntag, den 04.08.2024 in der Gemeinde Neulingen inklusive aller Ortsteile aufzuhalten. Im Falle der Zuwiderhandlung drohen wir Ihnen hiermit die Durchsetzung mittels unmittelbaren Zwangs an.

Es folgen nun 7 Seiten, ein Quader, abgeschrieben von der Potsdamer Einreisesperre plus eines bloß darübergestreuten Kontaktverbotes [das können sich meine Anwälte durchlesen]. Es wird behauptet, dass meine Kritik an der Migration, und meine Kritik des dogmatischen Volksbegriffs, der heute, von der ideologischen Elite vorgegeben wird .... alles angeblich gegen das Grundgesetz sei. [...]. Diese Interpretation des Grundgesetzes von Seiten der [nicht mit der Sichtweise von Martin Sellner einverstanden] kulturellen Eliten in diesem Land, ist nicht die einzig mögliche Lektüre. Ich habe das Grundgesetz auch gelesen, Frau Faeser, und die Schlüsse - und nicht nur ich - die ich daraus ziehe, sind ganz andere.

Ich will ein paar Punkte aus der Verfügung herausgreifen, und zwar auf Seite 4 von 7: Dort heißt es: Auch wenn Sellner in der Vergangenheit nicht konkret zu Gewalttaten aufgerufen hat, bedeutet dies, dass das von ihm mittelbar ausgehende Gefahrenpotential aufgrund seiner hohen Reichweite, seines ideologischen und politischen Einflusses und seiner Vernetzung in Deutschland als hoch einzuschätzen ist.

Sellner bezeichnet das als „Verleihung eines Ordens“, bevor er weiter zitiert:

Ebenso bezeichnet sind die von Sellner verbreiteten verschwörungsidiologischen Narrative, die grundsätzlich dazu geneigt sind, als Grundlage für die Begehung von Gewalttaten zu dienen.

Hier unterbricht Martin Sellner sein Zitieren und sagt:

Ich bin gegen Gewalt. Ich schreibe mir die Finger wund gegen Militanz. [Aber in der Aufenthaltsverfügung heißt es = AR], aufgrund meiner Vernetzung könnten meine Thesen Legitimation als Grundlage für die Legitimierung von Gewalttaten anzusehen sein. Und das führte dann unter anderem zu dem Schluss, dass es notwendig ist, mögliche Straftaten zu unterbinden und das auf andere Art und Weise als durch Zwangsgewalt und Abschiebung aus Neulingen das nicht möglich sei.

Hinweis: Ab Minute 14:25 wird das Video vorübergehend aufnahmetechnisch so schlecht, dass ich hier die Auseinandersetzung mit der Gefahrenprognose, aus der Sellner weiterhin zitiert, abgebrochen habe, zumal auf der Grundlage dessen, was dem Wortprotokoll bereits entnommen werden kann, sich die Gefahrenprognose der Polizei auf einem Niveau befindet, dessen Bewertung einem Verwaltungsgericht vorbehalten sein wird, denn Sellner hat bereits einen Anwalt damit beauftragt, die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltsverbotes verwaltungsgerichtlich überprüfen zu lassen.

Dennoch: Es spricht vieles dafür, dass es Martin Sellner wieder einmal gelungen sein könnte, den Rechtsstaat Deutschland sozusagen vorzuführen, indem er genau dort seine „Finger in die Grundsubstanz des bundesdeutschen Rechtsstaates legt“, die darin besteht, dass die politischen Machtinteressen der Exekutive nur noch durch die Anrufung unabhängiger Richter eingehegt werden können.

Die nicht gehaltene Rede im Volltext

Hinweis: Es dauert einige Sekunden, bis sich der Vortrag lädt. Er beginnt dann bei Minute 7:05, denn so lange wird das Emblem von Rumble gezeigt, bevor der Vortrag startet.

13 Schlusssätze

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Bereits bei Max Weber (1864 bis 1920) kann nachgelesen werden, dass sich die Exekutive und deren Bürokratie eigentlich dadurch auszeichnen sollte, dass sie ihr Handeln nach allgemeinen, berechenbaren Regeln frei von Willkür und durch ausgebildetes hauptamtliches Personal unabhängig sowohl von persönlichen Beziehungen als auch unabhängig von der eigenen politischen Einstellung trifft.

An anderer Stelle heißt es bei Max Weber aber auch: Verwaltung ist nicht primär „Rechtsanwendung“, sondern „rationale Pflege von Interessen“, oder: „Bürokratie“ ist die moderne Herrschaftsform in Verwaltung und Wirtschaft.

Wie dem auch immer sei: Mit den oben beschriebenen Mitteln, die in Baden-Württemberg von der Polizei zur Anwendung kamen, wird der Analyse von Max Weber durchaus entsprochen, zumal sich erzkonservativem Denken durch das oben geschilderte Einschreiten der Polizei nicht einhegen lässt, sondern eher eine gegenteilige Wirkung erzeugt.

Nun denn ... so ist das Leben: Auch mit „Zucker und Salz“, einem Wahlkampfvideo der CDU in Thüringen, wird es wohl auch einer Volkspartei kaum gelingen, der in Thürignen ebenfalls zur Volkspartei mutierten AfD Paroli zu bieten, denn auch der Versuch von Mario Voigt (CDU), seit 2009 Mitglied im Thüringer Landtag, der im September 2024 in Thüringen gerne Ministerpräsident werden möchte, gehört wohl ebenfalls eher in die Rubrik „Realsatire“ als in den Bereich eines ernstzunehmenden Statements eines Wahlkämpfers, der sich um das höchste Amt im Bundesland Thüringen zur Wahl stellt, und der – ebenso wie andere Parteien auch – erzkonservatives Denken am liebsten ganz aus dem Bewusstsein des Thüringer Wahlvolkes verdrängen möchte.

Aber entscheiden Sie selbst:

Zucker oder Salz

Auch die zum Video passend erstellte Website „Zuckerodersalz.de“ zeugt von einem Kampfeswillen, der eher Mitleid als Begeisterung erzeugt.

Zuckerodersalz.de

Hinweis: Schon jetzt darf man sich auf das nächste Wahlkampfvideo von Mario Voigt (CDU) freuen, das auf Zuckerodersalz.de – nunmehr sogar in englischer Sprache – mit den Worten: „Coming soon“ und unter Verwendung eines ebenfalls in englischer Sprache verfassten Titels „Behind the Scenes“, was so viel bedeutet wie: „Hinter den Kulissen“, angekündigt wird.

Wenn sich dann die in diesem Video agierenden Akteure ebenfalls der englischen Sprache bedienen, wird sich die CDU wohl damit abfinden müssen, weitere Wählerinnen und Wähler, die jetzt noch die CDU wählen wollen, zu verlieren.

Und auch die Ankündigung der Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) ein weiteres Messerverbot auszusprechen dürfte wohl kaum dazu geeignet sein, mehr Sicherheit zu erzeugen, zumal dieses Verbot nicht für Schraubenzieher gilt, die gleichermaßen wie Messer gefährlich sein können, wenn sie zweckentfremdet eingesetzt werden.

Im Übrigen: Um allein zu verhindern, dass Schülerinnen und Schüler mit Messern bewaffnet am Unterricht teilnehmen, wären Tausende von zusätzlichen Mitarbeitern erforderlich und Tausende von Schulstunden müssten ausfallen, um sicherstellen zu können, dass nur unbewaffnete Schülerinnen und Schüler am Unterricht teilnehmen.

Und was die Messerverbotszonen anbelangt ist anzumerken, dass es sicherlich nicht ausreichen wird, wenn es der Polizei erlaubt ist, Personen zu fragen, ob sie Messer mit einer Länge von mehr als 6 cm (das ist der Vorschlag des verschärften Messerverbotes der Bundesinnenministerin) mit sich führen. Um danach suchen zu dürfen, würde das voraussetzen, dass es sich bei den Messerverbotszonen um einen "gefährlichen Ort" im Sinne aller Polizeigesetze handelt, denn nur an "gefährlichen Orten" ist es der Polizei erlaubt, Personen auch verdachtsunabhängig durchsuchen zu können.

Anders ausgedrückt: Wenn die Bundesinnenministerin plant, große Teile der Bundesrepublik Deutschland zu "gefährlichen Orten" einstufen zu lassen, spätestens dann kann davon ausgegangen werden, dass sich der Rechtsstaat Deutschland sozusagen freiwillig der Wirklichkeit im Hier und im Jetze beugt und damit politischen Kräften den Boden bereitet, einen anderen Rechtsstaat aufzubauen.

Und dann auch das noch:

Das Bundesverwaltungsgericht hat das im Juli 2024 von der Bundesinnenministerin Nancy Faeser verfügte Verbot des Compact-Magazins, teilweise aufgehoben. Das teilte das Gericht auf seiner Website am 14.08.2024 per Pressemitteilung mit.

Dort heißt es unter anderem:

BVerwG - Pressemitteilung Nr. 39/2024 vom 14.08.2024: Zweifel bestehen jedoch, ob angesichts der mit Blick auf die Meinungs- und Pressefreiheit in weiten Teilen nicht zu beanstandenden Beiträge in den Ausgaben des „COMPACT-Magazin für Souveränität“ die Art. 1 Abs. 1 GG verletzenden Passagen für die Ausrichtung der Vereinigung insgesamt derart prägend sind, dass das Verbot unter Verhältnismäßigkeitspunkten gerechtfertigt ist. Denn als mögliche mildere Mittel sind presse- und medienrechtliche Maßnahmen, Veranstaltungsverbote, orts- und veranstaltungsbezogene Äußerungsverbote sowie Einschränkungen und Verbote von Versammlungen in den Blick zu nehmen.

Link zur Pressemitteilung

Eine größere Werbe-Aktion für „Compact“ als die, die Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) mit ihrem Federstrich-Verbot ausgelöst hat, hätte die beste Werbeagentur nicht ausdenken können.

In der Tagesschau vom 14.08.2024 wird Wolfgang Kubicki, der stellvertretende Bundesvorsitzende der Freien Demokraten und Vizepräsident des Deutschen Bundestageswie folgt zitiert:

Frau Faeser sollte jetzt in sich gehen und überlegen, ob sie weiter Wahlkampf für die AfD machen will.

Man muss es bedauern, wie naiv heute Politk gemacht wird: Anders ausgedrückt: Wenn irgendjemand in diesem Land die Demokratie delegitimiert, dann sind das Aktionen der Exekutive, die an Selbstüberschätzung leidet und meint, Recht so anwenden zu können, wie sie sich das vorstellt, um dann von der Wirklichkeit eingeholt zu werden, die in einem Rechtsstaat darin besteht, dass angeordnete hoheitliche Maßnahmen der Exekutive vollumfänglich der richterlichen Kontrolle unterliegt, deren Beschlüsse dann die Exekutive wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholt, der da Rechtsstaat heißt.

Die von der Frankfurter Allgemeinen zu dem Beschluss der Richter des Bundesverwaltungsgerichts  am 14.08.2024 verwendete Überschrift zur teilweisen Aufhebung des Compact-Verbotes macht deutlich, woran es der Bundesregierung von heute mangelt:
Die Überschrift lautet:
Die Regierung sieht vor lauter Verboten das Grundgesetz nicht mehr.

14 Quellen

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Endnote_01
Deutschlandfunk.de vom 05.08.2024: Österreichischer Rechtsextremist: Baden-Württemberg: Polizei beendet Lesung von Martin Sellner.
https://www.deutschlandfunk.de/baden-wuerttemberg-
polizei-beendet-lesung-von-martin-sellner-102.html
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Endnote_02
Laudatio von Özge Inan zum Leuchtturm für besondere publizistische Leistungen 2024. https://correctiv.org/in-eigener-sache/2024/07/24/
laudatio-von-oezge-inan-zum-leuchtturm-fuer-besondere-
publizistische-leistungen-2024/
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Endnote_03
LTO vom 26.7.2024: OLG Hamburg gibt Vosgerau Recht Nie­der­lage für NDR nach Inter­pre­ta­tion von Cor­rectiv-Recherche.
https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/
ulrich-vosgerau-siegt-vor-olg-hamburg
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Endnote_04
Anwaltskanzlei Höcker: Correctiv-Bericht verboten: Keine Pläne zur Ausweisung deutscher Staatsbürger in Potsdam diskutiert
https://www.hoecker.eu/news/falschbehauptung-der-tagesschau-
zu-correctiv-bericht-verboten-keine-pl%C3%A4ne-zur-
ausweisung-deutscher-staatsb%C3%BCrger-in-potsdam-diskutiert
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Endnote_05
Spiegel.de vom 27.01.2024: Geplante Einreisesperre gegen Rechtsextremisten. https://www.spiegel.de/politik/deutschland/geplante-
einreisesperre-gegen-rechtsextremisten-darf-martin-
sellner-bald-nicht-mehr-nach-deutschland-a-
533a2948-498b-4414-bdf9-1f0749d225ab
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Endnote_06
PNP.de vom 29.01.2024: Grenzkontrolle bei Passau. Hickhack um Sellner: Polizei lässt Rechtsextremisten nach Kontrolle einreisen.
https://www.pnp.de/lokales/landkreis-passau/
hickhack-um-sellner-bundespolizei-kontrolliert-nach-
enreise-ankuendigung-jedes-fahrzeug-15322808
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Endnote_07
Achgut.com vom 09.08.2024: Hier kein Aufenthalt: https://www.achgut.com/artikel/ausgestossene_der_woche_eskimorolle
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Endnote_08
Wolff/Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht I, C.H.Beck, 12. Auflage, S. 507
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