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Der Rechtsstaat und die „Letzte Generation“

Inhaltsverzeichnis:

1. Der Mut zur Wahrheit
2. Die Welt ist in Unordnung
2.1 Das Ur-Gewissen
2.2 Vier Wochen im Polizeigewahrsam
2.3 Wenn ein System gut arbeitet
2.4 Paul Hawkins Appell an die Jugend
2.5 Politbarometer November 2022
2.6 Guterres und der Klimagipfel in Kairo
2.7 Die Angst von heute vor dem Morgen
2.8 Angst vor der Wahrheit
3. Blockadeaktionen als Straftat
3.1 Welche Straftaten sollen das sein?
3.2 Muss ein neuer Straftatbestand her?
3.3 Bildung krimineller Vereinigungen
3.4 Nötigung von Verfassungsorganen
3.5 Einen Monat Polizeigewahrsam
4. StA und Justiz
4.1 Irritierter Rechtsstaat
4.2 Gerechtigkeit im Strafverfahren
4.3 Strafbefehle - Die moderne Art der Prozessführung
4.4 Die Politik fordert Freiheitsstrafen und vorbeugende Haft
5. Das polizeiliche Dilemma
5.1 Bilder von Blockadeaktionen
5.2 Zwang oder körperliche Untersuchung?
5.3 Ersatzvornahme oder die Inanspruchnahme von Sachverständigen?
5.4 Kosten zur Wiedererlangung der Freiheit
5.5 Was die Polizeigesetze erlauben
6. Transformation in eine deliberative Demokratie
6.1 Eskalation von Konflikten
6.2 Deliberative Demokratie
6.3 Jürgen Habermas 2022
6.4 Ergebnisse des Klimagipfels
6.5 Trendstudie "Jugend in Deutschland"
6.6  Blockade Berliner Flughafen
6.7 Schlussbetrachtung
6.8 Die Meinung des Volkes
6.9 Schlusssatz

1 Der Mut zur Wahrheit

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Der Mut zur Wahrheit, Michel Foucault (1926 bis 1984) verwendete dafür das griechische Wort parrhesia, das nicht nur Mut, sondern auch rückhaltlose Offenheit voraussetzt. Anders ausgedrückt: Parrhesia ist ein Akt der freimütigen Rede.

Von diesem menschlichen Bedürfnis Gebrauch zu machen kann aber heute schnell dazu führen, sozusagen gesellschaftlich ausgegrenzt zu werden.

Warum?

Michel Foucault: Im Falle der Demokratie war der Grund dafür, dass die parrhesia nicht angenommen wurde, dass man nicht auf sie hörte und dass, selbst wenn sich jemand fand, der den Mut hatte, von der parrhesia Gebrauch zu machen, er eher beseitigt als geehrt wurde, eben die Tatsache, dass die Struktur der Demokratie nicht gestattet, die ethische Differenzierung anzuerkennen und ihr einen Platz einzuräumen. Die Abwesenheit eines Ortes für das ethos in der Demokratie ist dafür verantwortlich, dass die Wahrheit dort keinen Platz findet und nicht gehört werden kann.

Michel Foucault: Der Mut zur Wahrheit - Shurkamp Taschenbuch Wissenschaft 2021 - Seite 92

2 Die Welt ist in Unordnung

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Das wissen wir nicht erst seit heute, das scheint vielmehr seit etlichen Jahren der Normalzustand nicht nur in Deutschland zu sein, von dem wir aber dennoch alle eine unterschiedliche Vorstellung haben. Der Klimanotstand, und nicht nur der, hat aber wohl, für jedermann erkennbar, das Potenzial, nicht nur die bundesdeutsche Gesellschaft zu polarisieren, sondern auch Konflikte auszulösen, sogar weltweit.

Eine Generation junger, aber auch älterer Aktivisten – nicht nur in Deutschland, sondern auch anderswo – begreift die menschengemachte Erderwärmung nämlich als eine existenzielle Bedrohung, die – so ihre Überzeugung – weder von der Politik hinreichend ernst genug genommen wird und dadurch das Überleben des gesamten Planeten infrage gestellt wird.

Nicht nur Fridays for Future, auch andere Organisationen, wie zum Beispiel Extinction Rebellion oder Greenpeace, die Letztgenannten gehören zu den Wachstumskritikern, fordern von den westlichen Regierungen eine sofortige Kehrtwende. Wie ernst es diesen Bewegungen mit ihrem Anliegen ist, das kann einem Statement von Roger Hallam (geboren im Mai 1966), einem britischen Umweltaktivisten und einem der Mitgründer der Klimabewegung Extinction Rebellion entnommen werden, das er 2018 in einem Video vortrug, das von der Zeitung „The Guardian“ produziert worden ist.

Roger Hallam erklärt dort, dass der Ansatz ihrer Rebellion darin besteht, in die Städte zu gehen, um dort den Menschen zu sagen, dass es „effektiv vorbei ist, dass wir alle sterben werden, es sei denn, es gibt eine größere Mobilisierung.“

Wie ernst es diese Aktivisten mit ihrer Mission ist, beschreibt Roger Hallam wie folgt:

Roger Hallam: 30 Prozent unserer Anhänger nehmen in Kauf, verhaftet zu werden und 20 bis 10 Prozent würden sogar für ihre Überzeugung ins Gefängnis gehen.

Exstremism Rebellion - A review of ideologdy and tactics - Seite 21

Warum? Wir können nicht anders. Nicht zu rebellieren wäre unverantwortlich, so Roger Hallam im weiteren Verlauf seines Statements.

2.1 Das Ur-Gewissen

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Vorstellungsbilder über das Ur-Gewissen, gehören nicht nur zu den Grundpfeilern christlicher Ethik, nein, darüber dachten bereits Platon und dessen Vorgänger nach. Nach meinem Kenntnisstand gehörte Thomas von Aquin (1225 bis 1274) zu den wirklich großen Denkern, dessen Vorstellungen über das, was ein Gewissen ist, sich in einem Satz zum Ausdruck bringen lässt:

Menschsein heißt, ein Gewissen zu haben.

Mieht/Wils: Gewissen bildet eine Instanz in einem Menschen, die sich a priori [von vornherein; grundsätzlich; ohne weitere Beweise] als auch a posteriori [aus der Erfahrung gewonnen, auf Erfahrung gründend] im Bezug auf eine Handlung bemerkbar macht. Gewissen umfasst sowohl einen Prozess, der einer Handlung vorausgeht, als auch ein kritisches Hinterfragen und Prüfen im Anschluss an eine Handlung. Das Gewissen handelt jedoch dabei nicht selbst. „Das Gewissen mant man nicht geltend, wenn es einem in den Kram passt. Das Gewissen macht sich selber geltend, oft wenn es uns nicht in den Kram passt. Was das Gewissen ist, ist uns nicht im letzten verfügbar. [...]. Diese Erfahrung hört nicht auf. Daraus lernen wir, dass das Gewissen im Werden ist, einen Prozess darstellt, der uns zugleich vorgegeben und aufgegeben ist.“

Jean-Pierre Wils/Dietmar Mieth: Grundbegriffe der christlichen Ethik, UTB Wissenschaft, 1992, S. 225

Daraus lässt sich schließen, dass die Natur weitaus intelligenter ist, als es der Mensch jemals sein wird, denn die Quelle und die sich speisenden Bedenken von heute, die sich gegen ein stetes „Weiterso“ richten, ließen sich nach der hier vertretenen Auffassung ohne die Existenz eines Gewissens nicht erklären.

Und dieses Gewissen weiß auch, dass es keine „Erlösung“ durch Technologie geben wird. Wir können uns nur selbst erlösen aus dem defizitären Lebensgefühl unserer Schein-Realität, indem wir die Trugbilder von heute als solche erkennen und unsere Kinder vor ihnen schützen.

Und dieses Gewissen dürfte auch die Ursache für die Bereitschaft von Klimaaktivisten sein, die damit verbundenen Folgen hinzunehmen, die eine Rechtsordnung zumindest für unangepasstes Verhalten, tendentiell sogar als eine schwerwiegende Straftat ansieht.

2.2 Vier Wochen im Polizeigewahrsam

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Die Bereitschaft zum persönlichen Opfer gehört offensichtlich auch zu den Überzeugungen der Aktivistinnen und Aktivisten der „Letzten Generation in Deutschland“, von denen, zumindest ist das in Bayern so, zurzeit 17 Aktivisten auf der Grundlage des „Gesetzes über die Aufgaben und Befugnisse der Bayerischen Polizei (Polizeiaufgabengesetz – PAG)“ durch richterliche Beschlüsse für vier Wochen in Polizeigewahrsam genommen worden sind.

Art. 20 Abs. 2 PAG
Dauer der Freiheitsentziehung
(1) Die festgehaltene Person ist zu entlassen,
1. sobald der Grund für die Maßnahme der Polizei weggefallen ist,
2. wenn die Fortdauer der Freiheitsentziehung durch richterliche Entscheidung für unzulässig erklärt wird,
3. in jedem Fall spätestens bis zum Ende des Tages nach dem Ergreifen, wenn nicht vorher die Fortdauer der Freiheitsentziehung durch richterliche Entscheidung angeordnet ist.
(2) In der richterlichen Entscheidung ist die höchstzulässige Dauer der Freiheitsentziehung zu bestimmen. Sie darf jeweils nicht mehr als einen Monat betragen und kann insgesamt nur bis zu einer Gesamtdauer von zwei Monaten verlängert werden.

Anders ausgedrückt: Vier Wochen Gefangene in einer Zelle, ohne dass es zuvor einen Prozess gegeben hat oder ein Urteil gesprochen wurde. Nach meinem Verständnis des Kulturgutes Rechtsstaat, ist das ein Rückfall in das Vor-Mittelalter.

Bekanntermaßen wurde am 12. Juli 1627 die Habeas-Corpus-Akte vom englischen König Karl II. erlassen, der dem neuen Gesetz auf Druck des Parlaments zugestimmt hatte. Dieses neue Gesetz forderte die Staatsgewalt dazu auf, einen Beschuldigten innerhalb kurzer Zeit einem Richter vorzuführen. Damit konnte der König nicht länger Verhaftungen per Sonderbefehl durchsetzen. Heute ist das in Bayern wieder anders. Aber nicht nur dort, auch in anderen Polizeigesetzen können zum Zweck der Gefahrenabwehr Personen längere Zeit auf richterliche Anordnung ohne den Erlass eines Haftbefehls für längere Zeit „weggesperrt“ werden, siehe § 38 PolG NRW (Dauer der Freiheitsentziehung).

In einem Artikel der Welt.de vom 5.11.2022 heißt es unter anderem:

Welt.de: Zwölf Klimaschutzaktivisten müssen nach zwei Festklebeaktionen auf einem zentralen Verkehrsknotenpunkt in München auf richterliche Anordnung für 30 Tage in Polizeigewahrsam bleiben. „Das ist sehr, sehr selten, dass das angewendet wird, das ist wirklich ein großer Ausnahmefall“, sagte ein Sprecher des Polizeipräsidiums München am Freitag.

Welt.de: Zwölf Aktivisten kommen einen Monat in Gewahrsam

2.3 Wenn ein System gut arbeitet

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Was unter „gut arbeiten“ zu verstehen ist, darüber gehen die Meinungen höchstwahrscheinlich extrem auseinander. Die einen verstehen ein gut arbeitendes System darin, dass es dazu in der Lage ist, geltende Regelungen erforderlichenfalls mit der ganzen Härte des Gesetzes durchzusetzen, während andere unter einem gut arbeitenden System eine gute Zusammenarbeit aller systemrelevanten Institutionen verstehen, deren verbindendes Ziel darin besteht, dem Allgemeinwohl zu dienen.

So einfach lässt sich ein gut arbeitendes System aber nicht beschreiben.

Poul Anderson: Mir ist noch kein kompliziertes Problem begegnet, das bei richtiger Betrachtung nicht noch komplizierter geworden wäre.

Poul Anderson, Science-Fiction-Autor

Dieses Zitat verdient es, länger durchdacht zu werden, denn es dürfte der Wirklichkeit ziemlich nahekommen.

Warum?

Ein System ist nicht einfach eine Ansammlung von Einzelteilen. Ein System ist eine Menge von miteinander verknüpften Elementen, deren Zusammenspiel so organisiert ist, damit etwas Bestimmtes erreicht werden kann.

Maja Göpel: Wenn Systeme gut arbeiten, erkennen wir eine Art Harmonie in ihrem Funktionieren, schreibt Donella Meadows. Man könnte diesen Zustand auch als „Harmonie der Hierarchien“ bezeichnen. Sie entsteht, wenn das übergeordnete System für das Wohl des Ganzen sorgen soll und somit den Rahmen vorgibt, innerhalb dessen sich die untergeordneten Systeme, also die Wohnenden, Arbeitenden, Verkaufenden, Reisenden, mit ihren verschiedenen Ansprüchen frei organisieren können. Zentral für diese Harmonie ist, dass die Summe ihrer Aktivitäten zugleich die Bestimmung des übergeordneten Systems ermöglicht.

Vgl. Maja Göpel: Wir können auch anders - Aufbruch in die Welt von morgen, Ullstein-Verlag 2022 – Seite 217

Und was würde das bedeuten, wenn das Leitbild einer Gesellschaft wirklich Nachhaltigkeit oder Klimaneutralität heißen soll?

Das bedeutet, dass es eines neuen Systems bedarf, weil es mit dem alten System einfach nicht realisiert werden kann. Soll Nachhaltigkeit und Klimaneutralität mit dem bestehenden System realisiert werden, dann wäre das gleichbedeutend mit „Neuem Wein in alten Schläuchen“.

Anders ausgedrückt: Die Probleme von heute würden sich nicht einmal lindern lassen, denn auch industrieller „Umweltschutz durch Technik", seien es nun Windräder, Solaranlagen, Grüner Wasserstoff oder Elektroautos, sind ohne Ressourcenverbrauch und ohne Umweltschäden nicht zu haben. Im Gegenteil: Um diese Techniken im industriellen Ausmaß, also für jedermann verfügbar zu machen, wird der CO2-Ausstoß auch dann noch zunehmen, wenn der Strom klimaneutral erzeugt werden sollte.

Zurück zur Situation von heute:

Der Ausstoß des Klimakillers CO2 geht ungebremst weiter. In diesem Jahr erwartet die Forscher einen neuen Rekordwert.

Spiegel Wissenschaft 2022: Global Carbon Budget 2022 CO2-Emissionen wieder auf Vor-Pandemie-Niveau. Nach dem Rückgang der globalen CO2-Emissionen auf 38,5 Milliarden Tonnen im ersten Pandemiejahr 2020 sind die Werte etwa wieder auf dem Niveau vor der Pandemie. Eine erhoffte »Green Recovery«, also eine Krisenbewältigung mithilfe eines nachhaltigeren Wirtschaftssystems, hat es offenbar nicht gegeben.

In der EU sinken die Werte für CO2 um 0,8 Prozent, vor allem wegen des geringeren Verbrauchs von Erdgas infolge der Energiekrise und des Kriegs gegen die Ukraine. Während in der EU die CO2-Emissionen aus Erdgas um zehn Prozent sanken, erhöhten sich die Emissionen aus Kohle um 6,7 Prozent und aus Öl um 0,9 Prozent.

Spiegel Wissenschaft: CO₂-Emissionen wieder auf Vor-Pandemie-Niveau

Was bleibt bei solch einer Entwicklung noch zu hoffen?

Maja Göpel: Der US-amerikanische Umweltaktivist Paul Hawken hat es einmal so formuliert: „Auf die Frage, ob ich pessimistisch oder optimistisch in die Zukunft blicke, ist meine Antwort immer dieselbe. Wenn man sich die wissenschaftlcihen Erkenntnisse (...) ansieht und nicht pessimistisch ist, versteht man die Daten nicht. Aber wenn Sie die Menschen treffen, die daran arbeiten, diese Erde (...) wieder herzustellen, und Sie sind nicht optimistisch - dann haben sie keinen Puls.“

Vgl. Maja Göpel: Wir können auch anders - Aufbruch in die Welt von morgen, Ullstein-Verlag 2022 – Seite 217

2.4 Paul Hawkins Appell an die Jugend

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Paul Hawken (* 8. Februar 1946 USA) ist ein US-amerikanischer Umweltschützer und Bestseller-Autor.

Wozu wir in der Lage sind, das bringt Paul Hawken mit einem Satz sozusagen auf den Punkt. Wir haben bewiesen, dass wir dazu in der Lage sind, gescheiterte Banken zu retten.

Anders ausgedrückt: Wir können ausgefallene Vermögenswerte retten, auch wenn das noch so schmerzhaft ist.

Und:

Wir sind die einzige Spezies auf dem Planeten ohne Vollbeschäftigung. Brillant. Wir haben eine Wirtschaft, die uns sagt, dass es billiger sie, die Erde in Echtzeit zu zerstören, als sie zu erneuern, wiederherzustellen und zu erhalten.

Dieses System kann Geld drucken, um Banken zu retten, aber dieses System kann kein Leben drucken, um diesen Planeten zu retten. Derzeit stehlen wir die Zukunft und verkaufen sie an die Gegenwart. Das bezeichnen wir als Bruttoinlandsprodukt. Das ließe sich aber auch mit einer guten Wirtschaft erreichen, deren Ziel es ist, die Zukunft zu heilen, anstatt sie zu stehlen.

Paul Hawken: Wir können entweder Werte für die Zukunft schaffen oder die Vermögenswerte übernehmen unsere Zukunft. Einer dieser Zukunftswerte heißt Wiederherstellung und der andere „Gegenwartswert“ heißt Ausbeutung.

Was ich von dir will?

Stellen dir vor, dass sich die Menschheit kollektiv zeigt und mit der ihr angeborenen tief in ihrem Innern liegenden Weisheit zusammenkommt, um die Wunden und Beleidigungen, die wir dem Planeten zugefügt haben, zu heilen.

Geht das?

Die Antwort von Paul Hawken lautet:

Der unrealistischste Mensch auf der Welt ist der Zyniker, nicht der Träumer.

Hoffnung macht nur Sinn, wenn es keinen Sinn macht hoffnungsvoll zu sein. Dies ist dein Jahrhundert. Nimm es und lauf, als ob dein Leben davon abhängen würde.

Der englischsprachige Text wurde im NAMTA Journal – Vol. 38, No. 1 – im Winter 2013 von Paul Hawken unter dem Titel „You Are Brilliant, and the Earth Is Hiring“ publiziert und von mir im Rahmen meiner Möglichkeiten übersetzt.

Den Titel dieses Aufsatzes würde ich wie folgt übersetzen:

Du bist genial, und die Erde hört Dir zu“ ... und sie wird so auf deine Genialität reagieren, wie großartig, grandios, einfallsreich und kreativ deine Genialität sich aus der Perspektive der Erde „anhört, anfühlt, auswirkt“.

You Are Brilliant, and the Earth Is Hiring

Die Frage, die sich nunmehr stellt, lautet:

Sind die Protestaktionen der „Letzten Generation“ genial, oder, wie viele behaupten, illegal, im oben skizzierten Sinne?

Festzustellen ist, dass diese Proteste eine Wirkung zeigen. Zumindest eine ganz andere Wirkung als die Zahlen des Politbarometers vom 11.11.2022, die den Klimaschutz betreffen.

2.5 Politbarometer November 2022

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Eine der gestellten Fragen lautete: Bringt die Klimakonferenz in Kairo etwas für den Klimaschutz?

Deutliche 90 Prozent glauben, dass dort wenig oder überhaupt nichts für den Klimaschutz erreicht wird.

Hinsichtlich des Klimaschutzes in Deutschland befragt sind die meisten Befragten folgender Auffassung:

Politik:

57 % tut zu wenig
12 % tut zu viel
26 % gerade richtig

Unternehmen:

64 % tun zu wenig
3 % zu viel
23 % gerade richtig

Und was die Bürger selbst anbelangt:

63 % tun zu wenig
5 % tun zu viel
26 % gerade richtig

Wen vermag es bei solch einem Umfrageergebnis noch wirklich verwundern, wenn sich die Blockierer der „Letzten Generation“ zu denen zählen, die davon überzeugt sind, geradezu das Richtige tun?

2.6 Guterres und der Klimagipfel in Kairo

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Auf Tagesschau.de vom 7.11.2022 heißt es: Start des Klimagipfels „Wir kämpfen den Kampf unseres Lebens“. UN-Generalsekretär Guterres hat die Situation des Planeten in drastischen Bildern geschildert: „Wir sind auf dem Highway zur Klimahölle“, sagte er zum Auftakt der Klimakonferenz und forderte einen Solidarpakt für den Kampf ums Überleben. Mit Blick auf die durch die Klimakrise ausgelösten Dürren, Überschwemmungen, Unwetter und steigende Meeresspiegel sagte Guterres: „Wir kämpfen den Kampf unseres Lebens - und sind dabei zu verlieren“.

Die Menschheit habe die Wahl: kooperieren oder untergehen, sagte Guterres. [...].Wir sind auf einem Highway in die Klimahölle und haben den Fuß auf dem Gaspedal.

Tagesschau.de – Start des Klimagipfels: Wir kämpfen den Kampf unseres Lebens

Angsterzeugung, das scheint die zentrale Botschaft zu sein, die täglich in den Medien verbreitet wird.

Daran vermag auch der erzielte Minimalkonsens dieses Klimagipfels nicht zu ändern.

FAZ.de vom 20.11.2022: Bilanz der Weltklimakonferenz: Ein bisschen gerechter in die Katastrophe. An anderer Stelle heißt es: Dieser sogenannte afrikanische Klimagipfel hat vielleicht wie kein anderer davor verdeutlicht, warum es nicht nur um Erderhitzung und Extremwetter geht auf diesen UN-Treffen, sondern auch um soziale Kipppunkte, historische Schuld und Klimaflüchtlinge. Nur sind das Probleme, die mit Minimallösungen [...] nicht lösbar sind.

FAZ.de: Ein bisschen gerechter in die Katastrophe

2.7 Die Angst von heute vor dem morgen

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Angst war schon seit jeher ein schlechter Ratgeber. Auf der anderen Seite erzeugt Angst aber auch die Bereitschaft, sich gegen die Kräfte aufzulehnen, die Angst erzeugen.

Mittlerweile ist das Angstlevel gerade auch bei jungen Menschen, die sich selbst als „Letzte Generation“ bezeichnen so ausgeprägt, dass sie sich an neuralgischen Kreuzungen auf die Straße setzen und sich dort festkleben, um damit einen „sofortigen Stopp des Klimawandels“ zu erzwingen, damit das nahende Ende der Menschheit doch noch abgewendet werden kann.

Solch eine Zukunftserwartung würde selbst die Zeugen Jehovas neidisch machen, denn die leben seit ihrer Gründung im ausgehenden 19. Jahrhundert durch Charles Taze Russel in den Vereinigten Staaten, ebenfalls in der ständigen Erwartung des Jüngsten Gerichts, das sie letztmalig für das Jahr 1975 vorausgesagt hatten, ihrer vierten, nicht eingetretenen Weltuntergangsprognose. Dennoch: Das „Harmagedon“ der Zeugen Jehovas, so deren Überzeugung, wird grausam sein: Feuersbrunst am Himmel, einstürzende Hochhäuser, flüchtende Menschen.

Ein Szenario, das viele Wissenschaftler nicht nur für dieses Jahrhundert befürchten, sondern das bereits an einigen Stellen auf diesem Planeten Wirklichkeit geworden ist.

Der Wunsch eines 16-jährigen Mädchens mit den Zöpfen scheint wahr zu werden:

Ich will, dass ihr in Panik geratet!“

2.8 Angst vor der Wahrheit

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Bei Michel Foucault heißt es dazu unter anderem: Der Diener [das trifft auch auf Staatsbürger zu] der die Wahrheit sagt, tut seine Pflicht.

Michel Foucault: Dieser Diener steht [nun] vor jemandem, der mächtiger ist als er, und insoweit geht dieser Diener ein Risiko ein. Er geht das Risiko ein, den Zorn dessen heraufzubeschwören, an den er sich wendet, und er möchte nicht sagen, was er zu sagen hat, wenn er sich nicht sicher ist, dass der Freimut, mit dem er es sagen wird [seine Wahrheit] nicht bestraft werden wird.

Pentheus antwortet nun als guter und weiser Herrscher:

Mir liegt daran, die Wahrheit zu wissen, und du wirst niemals dafür bestraft werden, dass du mir die Wahrheit gesagt hast. Du kannst sprechen, du hast nichts von mir zu befürchten, von mir wird dir kein Haar gekrümmt.

An anderer Stelle heißt es:

Das könnte man das parrhesiastische Abkommen nennen. Wenn der Mächtige ordentlich regieren will, muss er akzeptieren, dass diejenigen, die schwächer sind als er, ihm die Wahrheit sagen, selbst wenn diese unangenehm ist.

Michel Foucault: Die Regierung des Selbst und der anderen. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 1. Auflage 2012 – Seite 212

Dass es sich dabei nur um die Wahrheit des Sprechenden handeln kann, liegt in der Natur der Sache, denn der Mensch ist nicht dazu in der Lage, die Wahrheit zu erkennen, geschweige denn, sie in Worte zu fassen.

Das gilt auch für die Aktivisten der „Letzten Generation.“ Deren Botschaft aber soll betraft werden, egal, ob die Botschaft richtig oder falsch ist.

3 Blockadeaktionen als Straftat

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Dieser Überschrift möchte ich, ebenfalls in Anlehnung an Michel Foucault, zuerst einmal in dem Sinne nutzen, mit dem Foucault die Kyniker beschrieben hat, deren Ziel die Rückkehr zu einer natürlichen Lebensweise war, ohne dadurch in ein früheres Stadium der menschlichen Entwicklung zurückzufallen, sondern vielmehr zu versuchen, in Harmonie mit der Natur zu leben.

Die ersten und bis heute bekanntesten Kyniker waren im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. der Sokrates-Schüler Antisthenes und danach dessen Schüler Diogenes.

2500 Jahre später scheinen Kyniker sozusagen eine Wiedergeburt zu erfahren.

Michel Foucault: Der Kyniker [Straßenblockierer der „Letzten Generation“] steht wirklich am Rande der Gesellschaft und bewegt sich um die Gesellschaft selbst, ohne dass man es akzeptieren könnte, ihn aufzunehmen. Der Kyniker [Straßenblockierer] wird verjagt, er ist heimatlos. Zugleich aber erscheint der Kynismus [hier zu verstehen als letzte Möglichkeit, den Lebensraum des Menschen durch störendes Verhalten erzwingen zu wollen] als der universale Kern der Philosophie. Der Kynismus befindet sich im Zentrum der Philosophie, und der Kyniker dreht sich um die Gesellschaft, ohne zu ihr zugelassen zu werden.

Michel Foucault: Der Mut zur Wahrheit

Aber:

Wenn die Demokratie regiert werden kann, dann deshalb, weil es wahre Rede gibt.

Michel Foucault: Regierung des Selbst und der anderen, Seite 235

Und:

Auch wenn es einen idealen Staat gibt, wenn die Ordnung vollkommen ist, wenn die Ämter so gut wie möglich eingerichtet sind, wenn ihre Funktionen so genau wie nötig ausgeführt werden, muss es dennoch, damit die Bürger sich in der Ordnung des Staats richtig verhalten und jene zusammenhängende Organisation bilden, die der Staat für sein Überleben braucht, einen zusätzlichen Diskurs der Wahrheit für die Bürger geben. Jemand muss sich in aller Offenheit an sie [die Staatsmacht] wenden, die Sprache der Vernunft und der Wahrheit ergreifen und sie dadurch überzeugen.

Michel Foucault: Regierung des Selbst und der anderen, Seite 263

Bezogen auf das hier und heute, ist folgende Einschränkung dabei zu beachten:

Nur stören darf die Wahrheit nicht.

Auch wenn der Antrag der Fraktion der CDU/CSU „Straßenblockierer und Museumsrandalierer härter bestrafen – Menschen und Kulturgüter vor radikalem Protest schützen“ am 10.11.2022 im Deutschen Bundestag abgelehnt wurde, besteht bei den Parlamentariern dennoch Einigkeit über folgende Tatsache, die da lautet:

Der Schutz des Klimas und unserer natürlichen Lebensgrundlagen ist eine zentrale Aufgabe unserer Zeit.

Unter Bezugnahme auf Demonstrationen aus der Zivilgesellschaft heißt es an anderer Stelle:

BT-Drucks. 20/4310: Was jedoch als friedliche Demonstration begann, hat sich in Teilen der Klimabewegung in den vergangenen Wochen und Monaten zu einem radikalen und aggressiven Protest gewandelt, der kriminelle Mittel nicht scheut und dabei auch Leib und Leben von Menschen gefährdet. [...]. Straßen werden blockiert und Rettungskräfte bei der Bergung von Verletzten behindert. Seit Februar wurden allein nach Angaben des Berliner Senats bereits 18 Rettungsfahrzeuge im Einsatz behindert. Die Polizei war gezwungen, aufgrund der Blockaden 130.000 zusätzliche Einsatzstunden zu leisten. Bei diesem Protest handelt es sich nicht mehr um politischen Aktivismus, sondern um Straftaten. Friedliche Demonstrationen sind ein wichtiges und im Grundgesetz verbürgtes Instrument demokratischer Mitwirkung. Wer aber Straftaten begeht, statt die demokratischen Mittel zu nutzen, beschädigt im Ergebnis das Anliegen des Klimaschutzes.

Angesichts der zunehmenden Radikalisierung mit immer schwerwiegenderen Eingriffen in einzelne Rechtsgüter bedarf es zu deren Schutz erhöhter Mindeststrafen, insbesondere in Form von Freiheitsstrafen. Die Politik muss diese Straftaten ohne „Wenn und Aber“ missbilligen. Denn offenkundige Sympathien mit solchen Taten seitens rot-grün-roter Politiker schwächen den Rechtsstaat.

BT-Drucksache 20/4310 vom 08.11.2022

Die Forderung von CDU/CSU nach einer härteren Gangart gegen Klima-Aktivisten wurde jedoch am 10. November 2022 von den meisten anderen im Bundestag vertretenen Fraktionen abgelehnt.

Abgeordnete der Regierungskoalition warfen der Unionsfraktion in der ersten Lesung des Antrags [...], vor, sich profilieren zu wollen und zu ignorieren, dass der Rechtsstaat sehr wohl in der Lage sei sich gegen Straftaten zu schützen.

Zumindest nach meiner Wahrnehmung dürfte die Auseinandersetzung mit „Straßenblockaden der letzten Generation“, so wie sie zurzeit geführt wird, wohl eher einer anderen Überschrift bedürfen, die da lauten könnte:

Blockadeaktionen sind Straftaten.

Wer anderes behauptet verbreitet Fake News.

Beim näheren Hinsehen dürfte aber Eher Unsicherheit an die Stelle von Sicherheit treten.

Die folgenden kurzen Zitate aus höchstrichterlicher Rechtssprechung machen nämlich deutlich, dass diesbezüglich durchaus Zweifel angebracht sind, denn von 1995 bis 2011 hat sich vieles getan.

BGH 1995: Haben die Teilnehmer an einer Straßenblockade dadurch, dass sie sich auf die Fahrbahn begeben, Kraftfahrer an der Weiterfahrt gehindert und deren Fahrzeuge bewusst dazu benutzt, die Durchfahrt für weitere Kraftfahrer tatsächlich zu versperren, so kann diesen gegenüber [gemeint ist die zweite Reihe der an der Weiterfahrt gehinderten Fahrzeugführer] im Herbeiführen eines solchen physischen Hindernisses eine strafbare Nötigung liegen.

Strafbare Nötigung durch Gewalt kann demnach vorliegen, wenn der Einfluss auf die Opfer bei nur geringem körperlichen Aufwand dergestalt physischer Art ist, dass die beabsichtigte Fortbewegung durch tatsächlich nicht überwindbare Hindernisse unterbunden wird.

Zweite-Reihe-Beschluss: BGH, Urteil vom 20. Juli 1995 - BGH 1 StR 126/95

Sechs Jahre später heißt es in einem Beschluss des BVerfG wie folgt:

BVerfG 2001: Die Ankettung der Teilnehmer der Blockadeaktion führte nicht [...] zur Unfriedlichkeit im Sinne des Art 8 Abs. 1 GG. Auch der weitere Verlauf hielt sich im Rahmen eines passiven Protestes und die Demonstranten ließen sich ohne Widerstand festnehmen, nachdem Polizeibeamte die Kette mit Bolzenschneidern zerlegt hatten. Ungeachtet der strafrechtlichen Bewertung als Gewalt kann das Verhalten der Teilnehmer der Blockadeaktion daher nicht als unfriedlich angesehen werden. Für die Begrenzung des Schutzbereichs des Art 8 Abs. 1 GG ist jedoch allein der verfassungsrechtliche Begriff der Unfriedlichkeit maßgebend, nicht der umfassendere Gewaltbegriff des § 240 StGB.

Sitzblockade III: BVerfG, Beschluss vom 24.10.2001 - 1 BvR 1190/9

Zehn Jahre später:

BVerfG 2011: Der Schutz [des Protestes] ist nicht auf Veranstaltungen beschränkt, auf denen argumentiert und gestritten wird, sondern umfasst vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen, darunter auch Sitzblockaden. Bei einer Versammlung geht es darum, dass die Teilnehmer nach außen - schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und des Umgangs miteinander oder die Wahl des Ortes - im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen.

Eine Versammlung verliert den Schutz des Art 8 GG grundsätzlich bei kollektiver Unfriedlichkeit. Unfriedlich ist danach eine Versammlung, wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten stattfinden, nicht aber schon, wenn es zu Behinderungen Dritter kommt, seien diese auch gewollt und nicht nur in Kauf genommen.

BVerfG, Beschluss vom 07. März 2011 - 1 BvR 388/05

Zumindest die Position der Richter des Bundesverfassungsgerichts lässt erkennen, dass es sich auch bei der strafrechtlichen Einordnung von Blockadeaktionen der „Letzten Generation“ nicht um eine einfach zu begründende Schuldzuweisung handelt.

Warum?

3.1 Welche Straftaten sollen durch Blockadeaktionen verwirkt werden?

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Die Aussage von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) dazu lautet:

Marco Buschmann: Durch welche Straftatbestände das Verhalten der Aktivisten der „Letzten Generation“ erfasst seien, wisse man noch nicht. „Bei Straftatbeständen wie Nötigung, wenn man sich auf Straßen festklebt, finden ja schon Verurteilungen statt“, erklärte der Bundesjustizminister. Buschmann sprach sich zudem klar gegen die bayerische Praxis aus, bei der einige Demonstranten in Präventivhaft genommen wurden.

Rbb24 vom 10.11.2022: Bundesjustizminister lehnt Gespräche mit „Letzter Generation“ ab

Mehr Hilflosigkeit auch im Hinblick mit dem Umgang und der rechtlichen Einordnung von „Blockadeaktionen der letzten Generation“ lässt sich wohl kaum formulieren. Wenn nicht einmal der Bundesjustizminister weiß, um was für Straftaten es sich bei den Blockadeaktionen handelt, wer soll es dann wissen? Die Blockierer?

Beck-Aktuell vom 31.08.2022: Im ersten Prozess nach den Straßenblockaden von Klimademonstranten in Berlin ist ein Aktivist verurteilt worden. Das Amtsgericht Tiergarten entschied, dass sich der 20-Jährige der Nötigung schuldig gemacht hat. Das Gericht verurteilte den jungen Mann zu 60 Stunden Freizeitarbeit.

Die Gruppe „Letzte Generation“ kritisierte das Berliner Urteil [...] Scharf. „Obwohl es die Klimakrise als Problem anerkannte, klammerte das Gericht diese in seiner Entscheidung ausdrücklich aus“, teilte die Initiative mit. Dies sei ein „fataler Fehler“. „Wir sind bereit, die rechtlichen Konsequenzen für unser Handeln zu tragen, doch können es nicht hinnehmen, dass sich das Gericht heute aus der Verantwortung gezogen hat (...).“ Die „Letzte Generation“ kündigte an: „Der friedliche Widerstand geht mit derselben Entschlossenheit weiter.“

Beck-Aktuell: Klimademonstrant nach Straßenblockaden wegen Nötigung verurteilt

Gut zwei Monate später heißt es in einer Meldung wie folgt:

Rbb24: Die Berliner Innensenatorin Iris Spranger (SPD) will sich dafür stark machen, dass Klima-Demonstranten bei rechtswidrigen Protestaktionen auch in der Hauptstadt künftig länger als 48 Stunden in Gewahrsam genommen werden können. Dazu müssten allerdings die gesetzlichen Rahmenbedingungen in Berlin geändert werden, sagte sie [...] dem rbb. Anders als zum Beispiel in Bayern, wo bis zu 30 Tage Gewahrsam möglich seien, könne dieser in Berlin maximal 48 Stunden dauern.

Ein 30-tägiger Gewahrsam ist in Berlin wie auch in den meisten anderen Bundesländen rechtlich nicht möglich. Schön wäre es, wenn wir das länger als 48 Stunden machen könnten, aber 30 Tage finde ich verfassungsrechtlich eher bedenklich“, betonte Spranger im rbb24 Inforadio. Über einen längeren Gewahrsam wolle sie nun mit der Justiz und dem Abgeordnetenhaus sprechen.

Rbb24 vom 15.11.2022: Innensenatorin fordert längeren Gewahrsam für Klima-Demonstranten

Wie dem auch immer sei:

Rbb24 vom 4.11.2022: Klima-Aktivistin nach Straßenblockaden zu Geldstrafe verurteilt. Die Blockaden haben zu zahlreichen Verfahren bei der Berliner Justiz geführt. Nach Gerichtsangaben wurden bislang auf Antrag der Staatsanwaltschaft mehr als 170 Strafbefehle erlassen, lediglich sieben davon seien ohne Einspruch rechtskräftig geworden. In zwei Fällen seien beantragte Strafbefehle nicht erlassen worden.

Auch [eine] 56-Jährige hatte Einspruch gegen einen Strafbefehl eingelegt. Damit kam es zum siebten Mal zu einer mündlichen Verhandlung. Der Staatsanwalt hatte eine Geldstrafe von 70 Tagessätzen zu je 15 Euro wegen Nötigung in drei Fällen beantragt. Das Gericht wertete allerdings das Festkleben als Widerstand und verhängte eine Strafe von 90 Tagessätzen zu je 15 Euro. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Rbb24.de: Klima-Aktivistin nach Straßenblockaden zu Geldstrafe verurteilt

3.2 Muss ein neuer Straftatbestand her?

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Bei der Vielzahl vorgetragener Möglichkeiten, durch Straßenblockaden gegen geltendes Recht zu verstoßen, können einem diesbezüglich durchaus Zweifel an der rechtlichen Einordnung solcher Aktionen kommen. Die Palette umfasst nämlich unterschiedlichste Tatbestande, beginnend mit der Nötigung bis hin zur Bildung krimineller Vereinigungen, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und sogar Nötigung von Verfassungsorganen.

Übersicht der in Betracht kommenden Straftaten:

  • § 105 StGB (Nötigung von Verfassungsorganen)

  • § 113 StGB (Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte)

  • § 129 StGB (Bildung krimineller Vereinigungen)

  • § 222 StGB (Fahrlässige Tötung) durch Unterlassen
    Der Todesfall in Berlin wurde dafür zum Anlass genommen,

  • § 315b StGB (Gefährliche Eingriffe in den Straßenverkehr)

  • § 315c StGB (Gefährdung des Straßenverkehrs).
    Hinsichtlich der Blockade des Berliner Flughafens wurde die Palette in Betracht kommender Straftaten um zwei weitere Tatbestände (versuchsweise) erweitert:

  • § 315a StGB (Gefährdung des Bahn-, Schiffs- und Luftverkehrs)

  • § 316b StGB (Störung öffentlicher Betriebe)
    Mehr zu den zuletzt genannten beiden Tatbeständen am Ende dieses Aufsatzes. Soviel vorab: Wer so argumentiert, kennt die Tatbestände nicht. Der Wahrsprecher bedient sich dabei nur griffiger Überschriften von Straftatbeständen, ohne weiterzulesen.

3.3 Bildung krimineller Vereinigungen

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BZ.de vom 11.11.2022: Die Berliner Generalstaatsanwaltschaft prüft zurzeit, ob es sich bei der Klima-Bewegung der „Letzten Generation“ um eine kriminelle Vereinigung handeln könnte. Das bestätigte Behördensprecher Sebastian Büchner am Freitag der Berliner Zeitung. Es seien mehrere Anzeigen eingegangen. Die Bildung einer kriminellen Vereinigung ist ein eigener Straftatbestand, der mit einer Geldstrafe oder Freiheitsstrafen von bis zu fünf Jahren geahndet werden kann.

Berliner Zeitung: Kriminelle Vereinigung? Staatsanwalt überprüft „Letzte Generation“

Spätestens dadurch geraten die Blockierer der „Letzten Generation“ in die Nähe von Extremisten und Ökoterroristen.

§ 129 Bildung krimineller Vereinigungen
(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine Vereinigung gründet oder sich an einer Vereinigung als Mitglied beteiligt, deren Zweck oder Tätigkeit auf die Begehung von Straftaten gerichtet ist, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren bedroht sind. Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine solche Vereinigung unterstützt oder für sie um Mitglieder oder Unterstützer wirbt.
(2) Eine Vereinigung ist ein auf längere Dauer angelegter, von einer Festlegung von Rollen der Mitglieder, der Kontinuität der Mitgliedschaft und der Ausprägung der Struktur unabhängiger organisierter Zusammenschluss von mehr als zwei Personen zur Verfolgung eines übergeordneten gemeinsamen Interesses.
(3) Absatz 1 ist nicht anzuwenden,
1. wenn die Vereinigung eine politische Partei ist, die das Bundesverfassungsgericht nicht für verfassungswidrig erklärt hat,
2. wenn die Begehung von Straftaten nur ein Zweck oder eine Tätigkeit von untergeordneter Bedeutung ist oder
3. soweit die Zwecke oder die Tätigkeit der Vereinigung Straftaten nach den §§ 84 bis 87 betreffen.
(4) Der Versuch, eine in Absatz 1 Satz 1 und Absatz 2 bezeichnete Vereinigung zu gründen, ist strafbar.
(5) In besonders schweren Fällen des Absatzes 1 Satz 1 ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter zu den Rädelsführern oder Hintermännern der Vereinigung gehört. In den Fällen des Absatzes 1 Satz 1 ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren zu erkennen, wenn der Zweck oder die Tätigkeit der Vereinigung darauf gerichtet ist, in § 100b Absatz 2 Nummer 1 Buchstabe a, b, d bis f und h bis o, Nummer 2 bis 8 und 10 der Strafprozessordnung genannte Straftaten mit Ausnahme der in § 100b Absatz 2 Nummer 1 Buchstabe h der Strafprozessordnung genannten Straftaten nach den §§ 239a und 239b des Strafgesetzbuches zu begehen.
(6) Das Gericht kann bei Beteiligten, deren Schuld gering und deren Mitwirkung von untergeordneter Bedeutung ist, von einer Bestrafung nach den Absätzen 1 und 4 absehen.
(7) Das Gericht kann die Strafe nach seinem Ermessen mildern (§ 49 Abs. 2) oder von einer Bestrafung nach diesen Vorschriften absehen, wenn der Täter
1. sich freiwillig und ernsthaft bemüht, das Fortbestehen der Vereinigung oder die Begehung einer ihren Zielen entsprechenden Straftat zu verhindern, oder
2. freiwillig sein Wissen so rechtzeitig einer Dienststelle offenbart, dass Straftaten, deren Planung er kennt, noch verhindert werden können; erreicht der Täter sein Ziel, das Fortbestehen der Vereinigung zu verhindern, oder wird es ohne sein Bemühen erreicht, so wird er nicht bestraft.

Es würde zu weit führen, diesen Straftatbestand mit erforderlicher sachlicher Gründlichkeit  zu erörtern.

Festzustellen ist, dass der objektive Tatbestand des § 129 StGB wie folgt verwirkt werden kann:

  • Gründung einer kriminellen Vereinigung

  • Mitgliedschaftliche Beteiligung an solch einer Vereinigung

  • Werbung für neue Mitglieder

  • Unterstützung krimineller Vereinigungen.

Allen vier Begehungsarten gemeinsam ist das Merkmal der Vereinigung, deren Zweck oder Tätigkeiten auf die Begehung von Straftaten gerichtet ist, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bedroht sind.

Das ist bei den nachfolgend aufgeführten Delikten der Fall:

§ 113 StGB (Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte)
(1) Wer einem Amtsträger oder Soldaten der Bundeswehr, der zur Vollstreckung von Gesetzen, Rechtsverordnungen, Urteilen, Gerichtsbeschlüssen oder Verfügungen berufen ist, bei der Vornahme einer solchen Diensthandlung mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt Widerstand leistet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

§ 240 StGB (Nötigung)
(1) Wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

§ 315b StGB (Gefährliche Eingriffe in den Straßenverkehr)
(4) Wer in den Fällen des Absatzes 1 die Gefahr fahrlässig verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(5) Wer in den Fällen des Absatzes 1 fahrlässig handelt und die Gefahr fahrlässig verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Und natürlich auch bei den anderen, oben bereits aufgelisteten Straftatbeständen.

Was eine kriminelle Vereinigung ist, das ist im Abs. 2 definiert.

(2) Eine Vereinigung ist ein auf längere Dauer angelegter, von einer Festlegung von Rollen der Mitglieder, der Kontinuität der Mitgliedschaft und der Ausprägung der Struktur unabhängiger organisierter Zusammenschluss von mehr als zwei Personen zur Verfolgung eines übergeordneten gemeinsamen Interesses.

Ob diese Voraussetzungen in Betracht kommen können, wird die Generalstaatsanwaltschaft in Berlin zu entscheiden haben. Sollte sie die Umweltaktivisten der „Letzten Generation“ tatsächlich als eine kriminelle Vereinigung ansehen, dann bedeutet das auch, dass jegliches Werben um neue Aktivisten strafbewehrt wäre.

BT-Drucks. 14/88893: Die Tathandlung des Werbens soll deshalb auf das gezielte Werben um Mitglieder und um Unterstützer beschränkt werden. Die Sympathiewerbung, der die Rechtsprechung einen vergleichsweise geringen Unrechtsgehalt zuweist (vgl. BGHSt 33, 16 <18>), kann hingegen ohne Einbuße für bedeutsame Rechtsgüter aus dem Tatbestand ausgeschieden werden. Die Werbung um Mitglieder zielt auf die Gewinnung von Personen, die bereit sind, sich mitgliedschaftlich in die Organisation der Vereinigung einzufügen. Die Werbung um Unterstützer richtet sich entweder auf die Anstiftung zu einer konkreten Beihilfehandlung oder auf die Gewinnung von Anhängern, die zu einer über den Einzelfall hinausgehenden Zusammenarbeit, etwa als Quartiergeber oder Nachrichtenmittler, bereit sind. Die Tathandlung kann sich als gezielter öffentlicher Aufruf auf eine Vielzahl nicht näher bestimmter Personen, etwa auf eine Versammlung beziehen, sie kann sich aber auch als individuelle Werbemaßnahme an einen Einzelnen richten. Ein Werbeerfolgwird nicht vorausgesetzt; auch der erfolglose Versuch, andere zum Beitritt oder zur Unterstützung einer kriminellen oder terroristischen Organisation zu bestimmen, wird erfasst.

BT-Drucks. 14/8893 vom 24. 04. 2002

Welche Rückkopplung solch eine Entscheidung nach sich ziehen würde, vermag niemand vorauszusehen, dessen Bemühen es ist, auf linearem Weg ein Problem zu lösen, indem Handlungen zur Straftat erklärt werden, die allein dadurch schon eine gewisse Nähe zu terroristischen Vereinigungen bekommen.

Lineare Problemlösungen lassen sich, in Anlehnung an Donella H. Meadows, nicht sachlich beschreiben. Bei solchen Problemlösungen handelt es sich lediglich um Vermutungen, die in die Zukunft reichen, die aber bekanntermaßen ungewiss ist.

Dennoch: Vertreter linearer Problemlösungen glauben daran, dass die ganze Härte des Gesetzes zur Besserung führt. Beweisen lässt sich solch eine Vermutung aber nicht.

Mit einer Systemanalyse hingegen ließe sich die Anzahl möglicher Entwicklungen im Rahmen des menschlich Möglichen sozusagen „voraussehen“, um das zu erwartende Verhalten bei Veränderung der steuernden Faktoren beschreiben zu können. Ist das geschehen, muss dennoch beurteilt werden, welches Szenario als realistische Zukunftsaussicht ernst genommen werden sollte.

Wörtlich heißt es diesbezüglich bei Donella H. Meadows: „Untersuchungen dynamischer Systeme (und eine Gesellschaft ist zweifellos ein dynamisches System) sollen normalerweise nicht die Zukunft vorhersagen. Vielmehr sollen sie erkunden, was passieren würde, wenn sich bestimmte steuernde Faktoren auf unterschiedliche Art und Weise entwickeln.

An anderer Stelle heißt es:

Die große Kunst besteht darin, sich daran zu erinnern, dass Grenzen von uns selbst gesetzt wurden und dass sie für jede neue Diskussion, jeden neue Problem und jeden Zweck neu überdacht werden können und sollen. Es ist eine Herausforderung, so kreativ zu bleiben, dass man auf die Grenzen verzichtet, die für das letzte Problem funktioniert haben, um stattdessen einen Satz von Begrenzungen zu finden, der für die nächste Fragestellung am besten passt. Das ist auch notwendig, wenn man eine gute Problemlösung will.

Donella H. Meadows: Die Grenzen des Denkens – Wie wir sie mit System erkennen und überwinden können, Oekom-Verlag 2019, Seite 92.

3.4 Nötigung von Verfassungsorganen

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Sogar Nötigung von Verfassungsorganen im Sinne von § 105 StGB wird den Aktivisten der „Letzten Generation“ vorgeworfen.

Warum?

In der Süddeutschen Zeitung vom 5.11.2022 heißt es, anlässlich des Todesfalles einer Radfahrerin, für die die Teilnehmer und Teilnehmerinnen einer Blockadeaktion verantwortlich seien, Folgendes:

SZ.de: Die Gruppe „Letzte Generation“ sprach den Angehörigen der Radfahrerin ihr Beileid aus. „Wir sind geschockt“, sagte Sprecherin Carla Hinrichs. Zugleich kündigten die Aktivisten weitere Aktionen an. „Die Bundesregierung soll unseren Protest beenden - jetzt, indem sie die Krise in den Griff bekommt. Bis dahin geht der Widerstand weiter“, hieß es in einer Mitteilung. Zur Kritik an ihrem Protest hieß es von der „Letzten Generation“: „Was immer uns als Menschen an öffentlicher Hetze entgegenschlagen mag, wird uns nicht davon abbringen, das einzig moralisch Richtige zu tun: In einer alles entscheidenden Krise nicht zu verharren, sondern loszugehen.“

In der Berliner Zeitung findet sich ein weiteres Zitat aus der Berliner Gruppe "Letzte Generation:

BZ.de: Die Bundesregierung soll unseren Protest beenden – jetzt, indem sie die Krise in den Griff bekommt. Bis dahin geht der Widerstand weiter.

Berliner Zeitung: Klimaaktivisten setzen Protest nach Tod von Radfahrerin fort.

Nur ein paar Tage später wird solch eine Äußerung bereits als ein tatbestandliches Handeln im Sinne von § 105 StGB (Nötigung von Verfassungsorganen) gesehen.

§ 105 StGB (Nötigung von Verfassungsorganen)

(1) Wer
1. ein Gesetzgebungsorgan des Bundes oder eines Landes oder einen seiner Ausschüsse,
2. die Bundesversammlung oder einen ihrer Ausschüsse oder
3. die Regierung oder das Verfassungsgericht des Bundes oder eines Landes
rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt nötigt, ihre Befugnisse nicht oder in einem bestimmten Sinne auszuüben, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft.
(2) In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren.

Anders ausgedrückt:

Die Kreativität der Rechtssuchenden scheint grenzenlos zu sein. Das gilt wohl auch für das Wegsperren von Aktivisten im Freistaat Bayern.

3.5 Einen Monat Polizeigewahrsam

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Auf der Grundlage des „Gesetzes über die Aufgaben und Befugnisse der Bayerischen Polizei (Polizeiaufgabengesetz – PAG)“ kann eine Person bis zum Zweck der Gefahrenabwehr durchaus für die Dauer eines Monats in Polizeigewahrsam genommen werden.

Art. 20 PAG (Dauer der Freiheitsentziehung)
(1) Die festgehaltene Person ist zu entlassen,
1. sobald der Grund für die Maßnahme der Polizei weggefallen ist,
2. wenn die Fortdauer der Freiheitsentziehung durch richterliche Entscheidung für unzulässig erklärt wird,
3. in jedem Fall spätestens bis zum Ende des Tages nach dem Ergreifen, wenn nicht vorher die Fortdauer der Freiheitsentziehung durch richterliche Entscheidung angeordnet ist.
(2) 1In der richterlichen Entscheidung ist die höchstzulässige Dauer der Freiheitsentziehung zu bestimmen. 2Sie darf jeweils nicht mehr als einen Monat betragen und kann insgesamt nur bis zu einer Gesamtdauer von zwei Monaten verlängert werden.

Diesbezüglich heißt es auf Tagesspiegel.de vom 4.11.2022 wie folgt:

Ohne Prozess: Zwölf Klimaaktivisten müssen nach Blockaden in München für einen Monat in Gewahrsam. Das Amtsgericht München verhängt harte Strafen gegen Klimaaktivisten. Grundlage für das lange Einsperren ohne Prozess ist das bayerische Polizeiaufgabengesetz. Die Aktivisten sollen am Donnerstagvormittag an einer Straßenblockade mit insgesamt 17 Teilnehmern beteiligt gewesen sein, bei welcher der Verkehr nahe dem Münchner Karlsplatz blockiert wurde. Nach dem Ende der Blockade und der Feststellung ihrer Personalien kamen die Aktivisten am Donnerstagnachmittag wieder frei. Kurz nach der Freilassung starteten 15 der Aktivisten laut Polizei erneut am Karlsplatz eine Blockade und brachten den Verkehr zum Erliegen. Bis zum Eintreffen der Polizei hatten sich demnach die ersten Demonstranten mit einer Hand auf der Fahrbahn angeklebt. Die Blockade verursachte genau wie die vorherige, laut Polizei erhebliche Verkehrsbehinderungen. Das Polizeipräsidium München warnte dringend vor einer Beteiligung an solchen Aktionen, diese seien Straftaten. „Aus dem Grund wird die Münchner Polizei, unter Ausschöpfung aller rechtlicher Mittel, gegen derartige Blockadeaktionen weiterhin konsequent vorgehen“, erklärte das Polizeipräsidium. (AFP)

Tagesspiegel.de: Ohne Prozess: Zwölf Klimaaktivisten müssen nach Blockaden in München für einen Monat in Gewahrsam.

Andernorts reagiert die Polizei anders:

Bz-Berlin.de vom 11.11.2022: Auch am Freitag wird in Berlin geklebt. Dutzende Klima-Aktivisten blockierten am Morgen den Verkehr rund um das Frankfurter Tor in Friedrichshain! Verkehrschaos im Berliner Osten! Wegen einer erneuten Protest-Aktion von Klima-Aktivisten staut sich der Verkehr rund um das Frankfurter Tor, welches mittlerweile komplett gesperrt wurde. Rund 50 Klima-Aktivisten sind an der Aktion beteiligt, 30 davon sollen sich festgeklebt haben. Das Ablösen der festgeklebten Demonstranten der Gruppe „Letzte Generation“ dauere länger, sagte eine Polizeisprecherin. Die gesamte Kreuzung, an der sich die Durchgangsstraßen aus Mitte, Friedrichshain, Lichtenberg, Prenzlauer Berg und Kreuzberg treffen, wurde für längere Zeit gesperrt, schrieb die Verkehrsinformationszentrale (VIZ). Es gab lange Staus in alle Richtungen. Die VIZ riet: „Nach Möglichkeit weiträumig umfahren.“

Bz-Berlin.de: Schon wieder! Klima-Kleber legen Berliner Verkehr lahm.

Und wie reagiert die Politik darauf?

Spiegel.de vom 7.11.2022: Klimaprotest dürfe »kein Freibrief für Straftaten sein«, sagte CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt dem Blatt. Es brauche »deutlich härtere Strafen für Klima-Chaoten, um einer weiteren Radikalisierung in Teilen dieser Klimabewegung entgegenzuwirken und Nachahmer abzuschrecken«.

Spiegel.de: Letzte Generation« kündigt Ausweitung ihrer radikalen Proteste an

Und wie denkt die Bevölkerung über diese Aktionen?

Auf Zeit.de vom 8.11.2022 heißt es dazu: Unter den rund 5.000 Befragten hielten 81 Prozent das Vorgehen der Aktivisten für falsch, nur 14 Prozent hielten den Protest für richtig, wie die Anfang November online durchgeführte Umfrage weiter ergab. Die meiste Zustimmung gab es dabei noch unter den Wählern der Grünen (40 Prozent) und der Linken (34 Prozent). Bei den Wählern von CDU/CSU lag die Ablehnung bei 97 Prozent.

Zeit.de vom 8.11.2022: Mehrheit der Deutschen verurteilt Proteste der letzten Generation

4 StA und Justiz

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Die Anzahl der publizierten Meinungen in Bezug auf die Blockadeaktionen der „Letzten Generation“ reichen sowohl in den Leitmedien als auch in den sozialen Medien von Zustimmung und Verständnis, bis hin zur Ablehnung, verbunden mit der Forderung, dass diese Extremisten alle weggesperrt werden müssen.

CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt bezeichnete die Aktivisten der „Letzten Generation“ sogar als „Klima-RAF“.

Alle wegsperren“ lautet das vollmundige Credo der empörten Twitter-Gemeinde oder des „Bild“-Boulevards. Auch aus Teilen der Politik kommen wenig zielführende Vergleiche, wenn sich beispielsweise CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt bemüßigt fühlt, die Aktivisten der „Letzten Generation“ als „Klima-RAF“ zu brandmarken, was den Verfassungsschutzpräsidenten Thomas Haldenwang sofort dazu bewegte, diese Dobrindt-Äußerung zu kritisieren.

Beck-Aktuell: „Wenn ich diese Bemerkung von Herrn Dobrindt höre, kann ich nur sagen, aus meiner fachlichen Perspektive: Ich nenne das Nonsens“, sagte Haldenwang im Rahmen einer Veranstaltung des SWR und der Stiftung Hambacher Schloss. Mit dem Ausdruck hatte sich Dobrindt auf die Rote-Armee-Fraktion (RAF) bezogen, die in der Bundesrepublik über Jahrzehnte als Inbegriff von Terror und Mord galt.

Redaktion beck-aktuell, 17. Nov 2022: Verfassungsschutz-Chef nennt Dobrindt-Aussage zu „Klima-RAF“ Nonsens

4.1 Irritierter Rechtsstaat

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Auch hier reichen die Reaktionen des Rechtsstaates qur Blockadeaktionen vom Freispruch bis zur Verhängung von Haftstrafen. In Bezug auf den Freispruch eines Richters wird dieser in einer Meldung der Redaktion Netzwerk Deutschland wie folgt zitiert:

RND.de vom 11.11.2022: Richter: Jede politische Demonstration sei lästig, aber für den demokratischen Rechtsstaat unerlässlich. In dem Beschluss des Richters, der dem RND vorliegt, heißt es, dass der Erlass des Strafbefehls mangels hinreichenden Tatverdachts der Nötigung abgelehnt werde. Jede politische Demonstration sei lästig, aber für den demokratischen Rechtsstaat unerlässlich. Das Thema des Klimawandels und der ökologisch notwendigen Wende im politischen Handeln sei wissenschaftlich nicht zu bestreiten. Da das Lösen der festgeklebten Person nur etwa zehn Minuten dauerte und sie sich nicht [gemeint ist eine befreite Aktivistin] gewalttätig verhielt, sei es laut Auffassung des Richters nicht ausreichend, dieser politischen Demonstration strafrechtlich zu begegnen. Zudem falle die Aktion unter den grundrechtlichen Schutz der Versammlungsfreiheit, der unabhängig davon sei, ob die Versammlung angemeldet war oder nicht.

Redaktion Netzwerk Deutschland vom 11.11.2022: Tatbestand der Nötigung nicht erwiesen

Natürlich werden auch Geldstrafen verhängt und Freizeitarbeit angeordnet. Zu Freiheitsstrafen ist es bisher aber noch nicht gekommen. Auch wenn in Bayern Klimaaktivisten für längere Zeit in Polizeigewahrsam genommen wurden, hat das mit einer Freiheitsstrafe nichts zu tun, auch dann nicht, wenn ein Richter die Gewahrsamnahme angeordnet hat.

Übrigens:

Stimme.de: Im ersten Strafprozess nach den Straßenblockaden von Klimademonstranten in Berlin ist ein Aktivist verurteilt worden. Das Amtsgericht Tiergarten sprach den 20-Jährigen der Nötigung schuldig und verhängte 60 Stunden Freizeitarbeit gegen den Studenten. Er hatte sich im Juni dieses Jahres an einer Blockade der Gruppe «Letzte Generation» an der Stadtautobahn A100 in Berlin-Wedding beteiligt und an der Fahrbahn festgeklebt. 

Stimme.de vom 30.08.2022: Straßenblockaden - Klimademonstrant in Berlin verurteilt

Und auf Stern.de vom 11.11.2022 heißt es zu den Verurteilungen:

Stern.de: Noch ist die Zahl der Gerichtsurteile überschaubar. Laut einem Bericht der „Süddeutschen Zeitung“ gibt es gerade einmal sieben rechtskräftig verhängte Strafen. 266 Mal habe die Staatsanwaltschaft in Berlin einen sogenannten Strafbefehl beantragt, zumeist wegen Nötigung, gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte.

Stern.de: Warum sich die Justiz mit den Aktionen der Letzten Generation so schwer tut

4.2 Gerechtigkeit im Strafverfahren

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Es ist hier nicht erforderlich, über die Gerechtigkeit im Strafverfahren umfangreiche Erörterungen vorzutragen. Das, was im hier zu erörternden Sachzusammenhang von Bedeutung ist, kann einem lesenswerten Aufsatz von Marc Thommen zum Thema „Gerechtigkeit und Wahrheit im modernen Strafprozess“ nachgelesen werden.

Marc Thommen: Ein Strafverfahren, das es nicht schafft, den – wer immer das ist – «wahren» Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen, wird gemeinhin als ungerechtes Strafverfahren wahrgenommen. Dabei wird freilich übersehen, dass selbst wenn der Täter tatsächlich schuldig sein sollte, es verfahrensrechtliche Gründe für einen Freispruch geben kann.

An anderer Stelle:

Schuldige müssen also nicht in jedem Fall verurteilt, Unschuldige hingegen in jedem Fall freigesprochen werden. Wahrheit ist mit anderen Worten notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung eines gerechten Schuldspruchs. Wir brauchen die Wahrheit im Strafverfahren, weil das Schwert des Strafrechts nur den wahren Täter treffen soll.

Damit sind wir bei der zweiten, deutlich komplexeren Frage:

Welche Wahrheit braucht ein Strafverfahren? Braucht es wirklich die „ganze Wahrheit“ und „nichts als die Wahrheit“? Ist die Findung objektiver Wahrheit im Strafprozess überhaupt möglich? Der klassische Strafprozess baut auf der Prämisse auf, dass Wahrheit „da“ ist und gefunden werden kann. [...]. Gegenstand der Suche ist nämlich die Wirklichkeit. Die Beurteilung, ob die Wahrnehmung der Wirklichkeit entspricht, setzt ein Bild der Wirklichkeit voraus. Dieses Bild ist immer subjektiv und daher die Wirklichkeit ihrerseits bereits ein Konstrukt. „Im Strafverfahren erschafft sich jeder Verfahrensbeteiligte sein eigenes Bild vom wahrheitsgemässen Geschehen“. [...]. Die Wahrheitssuche im Strafprozess leidet aber nicht nur unter der Erinnerung der Beteiligten. Sie hat noch zusätzliche, sozusagen hausgemachte Probleme. Das fängt damit an, dass sich Strafgerichte [...] nicht für die „ganze Wahrheit“ interessieren müssen. Sie haben einen viel engeren Blickwinkel. Eruiert wird nur, was für die konkrete Tat relevant ist. Die Tat als Momentaufnahme aus dem Leben des Täters; der Film als Ganzes bleibt unbelichtet. Die materielle Wahrheit gestaltet sich insofern bloß als die Wahrheit des materiellen Rechts. Hinzu kommt, dass für die Wahrheitssuche im Strafprozess nur beschränkte zeitliche und finanzielle Ressourcen zur Verfügung stehen. Doch auch innerhalb dieser Schranken verzichtet der Strafprozess darauf, die „Wahrheit um jeden Preis“ zu ermitteln.

Marc Thommen: Gerechtigkeit und Wahrheit im modernen Strafprozess

4.3 Strafbefehle - Die moderne Art der Prozessführung

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Das Strafbefehlsverfahren ist im deutschen Recht ein vereinfachtes Verfahren zur Bewältigung der leichten Kriminalität durch einen schriftlichen Strafbefehl. Die Besonderheit des Strafbefehlsverfahrens liegt darin, dass es zu einer rechtskräftigen Verurteilung ohne mündliche Hauptverhandlung führen kann. Dies entlastet sowohl die Gerichte als auch die Staatsanwaltschaft und natürlich auch die Polizei, denn das Strafbefehlsverfahren ist kostensparend, schnell und lässt sich ohne großes Aufsehen erledigen.

Hinsichtlich der Schuld des Täters gilt: Die Schuld des Täters muss nicht zur Überzeugung des Gerichts feststehen. Es genügt ein hinreichender Tatverdacht.

Nur zur Erinnerung, der klassische Strafprozess zeichnete sich dadurch aus, dass in einer Hauptverhandlung ein Urteil gefällt wurde.

Im Gegensatz dazu zeichnet sich der moderne Strafprozess – also das Strafbefehlsverfahren – dadurch aus, dass der Sachverhalt bereits im Vorverfahren verbindlich festgelegt und abgeschlossen wird.

Anders ausgedrückt: In einem verkürzten Verfahren wird der staatsanwaltschaftliche Urteilsvorschlag zwar formell vom Gericht abgesegnet, in der Sache handelt es sich aber um ein staatsanwaltschaftliches Urteil.

Und dieses staatsanwaltschaftliche Verfahren dominiert den heutigen Strafprozess. Weit über 90 Prozent aller Verfahren werden durch das Strafbefehlsverfahren abgeschlossen. Das gilt insbesondere für die Massenverfahren anlässlich strafbarer Verkehrsdelikte.

Bei der Vielzahl von Blockadeaktionen der „Letzten Generation“ scheint dies jedoch anders zu sein, denn diese Verfahren werden mehrheitlich von den Aktivisten abgelehnt. Ihnen ist es wichtig, von einem Gericht verurteilt zu werden.

Das Strafbefehlverfahren setzt ein Schuldanerkenntnis der davon betroffenen Personen voraus.

Anders ausgedrückt: Akzeptiert der Beschuldigte den Erledigungsvorschlag, also den Strafbefehl, so wird der Vorschlag zum Urteil; die Hypothese wird zur Wahrheit.

4.4 Die Politik fordert Freiheitsstrafen und vorbeugende Haft

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Angesichts der Häufung der Straßenblockade und der daraus entstehenden Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung werden aus der Politik nunmehr Forderungen nach einer Mindestfreiheitsstrafe laut, die aber im Wege des Strafbefehlsverfahrens nicht angeordnet werden können.

Straßenblockierern, die Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienste behindern, sollen demnach künftig nicht mehr mit einer Geldstrafe davonkommen. Droht die wiederholte Teilnahme an einer Straßenblockade, sollen der Blockierer zudem vorbeugend in Haft genommen werden können. Es brauche deutlich härtere Strafen für Klimaextremisten, um einer weiteren Radikalisierung in Teilen dieser Klimabewegung entgegenzuwirken und Nachahmer abzuschrecken, so eine in den Leitmedien und im Internet gebetsmühlenhaft wiederholte Forderung.

5 Das polizeiliche Dilemma

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In Anbetracht der oben skizzierten Unordnung im demokratischen Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland, befindet sich natürlich auch die Polizei in einem Dilemma, denn ihre Aufgabe ist es, eine „gestörte“ öffentliche Sicherheit wieder in Ordnung zu bringen.

Das ist in Anbetracht der Rechtslage, die zurzeit alles andere als eindeutig, überzeugend oder gar als prägnant bezeichnet werden kann, eine nicht leicht zu erbringende Aufgabe.

Unbestreitbar dürfte wohl nur die Aussage sein, dass es sich bei den Blockierern um Personen handelt, die tatbestandlich gegen den § 1 StVO verstoßen, in dem es heißt:

§ 1 StVO (Grundregeln)
(1) Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.
(2) Wer am Verkehr teilnimmt hat sich so zu verhalten, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird.

Bei dem Rest strafbarer Bewertungen handelt es sich um Konstruktionen, die je nach Sicht der Dinge Zustimmung oder Ablehnung finden. Bekanntermaßen lässt sich mit juristischem Sprachgebrauch ja fast alles begründen. Der eine plädiert mit überzeugenden Gründen für einen Freispruch, der andere möchte Blockierer am liebsten wegsprerren.

In dieser Auseinandersetzung des Rechthabenwollens wird bedauerlicherweise meist übersehen, dass der Staat und seine Organe von Verfassungswegen sogar dazu verpflichtet sind, das Klima (aktiv) zu schützen.

Art 20a GG
Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.

Und auch ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2021 macht deutlich, worauf sich Klimaaktivisten berufen können. In den nachfolgend nur auszugsweise zitierten Leitsätzen heißt es:

BVerfG 2021: 1. Der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schließt den Schutz vor Beeinträchtigungen grundrechtlicher Schutzgüter durch Umweltbelastungen ein, gleich von wem und durch welche Umstände sie drohen. Die aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgende Schutzpflicht des Staates umfasst auch die Verpflichtung, Leben und Gesundheit vor den Gefahren des Klimawandels zu schützen. Sie kann eine objektivrechtliche Schutzverpflichtung auch in Bezug auf künftige Generationen begründen. 2. Art. 20a GG verpflichtet den Staat zum Klimaschutz. Dies zielt auch auf die Herstellung von Klimaneutralität. a. Art. 20a GG genießt keinen unbedingten Vorrang gegenüber anderen Belangen, sondern ist im Konfliktfall in einen Ausgleich mit anderen Verfassungsrechtsgütern und Verfassungsprinzipien zu bringen. Dabei nimmt das relative Gewicht des Klimaschutzgebots in der Abwägung bei fortschreitendem Klimawandel weiter zu.

BVerfG, Beschluss vom 24. März 2021 – 1 BvR 2656/18 u.a.

Dennoch: Die Aktivisten reisen inzwischen durch das gesamte Bundesgebiet, um an aufmerksamkeitserzeugenden neuralgischen Verkehrspunkten ihre „Straftaten“ ausüben zu können.

Und damit alles nach Plan verläuft, dafür sorgt ein Netzwerk, ohne das heute politisches Handeln gar nicht mehr zu denken, geschweige denn zu organisieren ist. Es wäre wirklich naiv, davon auszugehen, dass sich eine überschaubare Anzahl von Aktivisten rein zufällig und völlig losgelöst von vorausgegangenen Absprachen, exakt um 10.45h zum Beispiel in Berlin am Friedrichstor trifft, um sich dann dort gemeinsam mit anderen Gleichgesinnten auf die Fahrbahn zu setzen, um einigen von ihnen dann die Möglichkeit zu geben, sich dort festzukleben.

Anders ausgedrückt: Solche Blockaden als Spontandemonstrationen anzusehen, setzt wirklich eine Sichtweise voraus, die den Richtern des Bundesverfassungsgerichtes nicht vorschwebte, als sie Spontandemonstrationen als eine zulässige Form der Ausübung des Versammlungsrechtes erklärten.

Anlässlich von Blockadeaktionen, um die es im hier zu erörternden Sachzusammenhang geht, dürfte es der Wirklichkeit wohl zumindest recht nahekommen, davon auszugehen, dass kein Aktivist und keine Aktivisten unvorbereitet an solch einer Aktion teilnimmt. Vielmehr kann sogar erwartet werden, dass alle Blockierer zuvor an einem Crashkurs teilgenommen haben, der sie dazu befähigt, mit solch einer Situation umgehen zu können: Diskussion mit aufgebrachten Autofahrern und eingesetzten Polizeibeamten, Formen des Widerstands, Einweisung in die richtige Klebetechnik, Vorsorge für die Verrichtung der eigenen Notdurft, wenn das Ganze doch länger dauern sollte als eigentlich erwartet, etc.

Mit anderen Worten: Bei einer Blockadeaktion handelt es sich nicht um eine Situation, die als eine Spontandemonstration anzusehen wäre.

BVerfG 1991: Darunter sind Versammlungen zu verstehen, die sich aus einem momentanen Anlass ungeplant und ohne Veranstalter entwickeln.

BVerfG, Beschluss vom 23.10.1991 - 1 BvR 850/88

Protestaktionen, die lediglich den Anschein einer Spontandemonstration erwecken, genießen deshalb auch nicht den Schutz, der echten Spontandemonstrationen gewährt wird, was zur Folge hat, dass zumindest der Leiter bzw. der Veranstalter einer anmeldepflichtigen Demonstration sich strafbar macht, wenn eine Anmeldung unterlassen wird.

Das gilt auch für so genannte „faktische Leiter“.

BVerfG 2019: Die Entscheidung des Amtsgerichts und des Oberlandesgerichts, auch den „faktischen Leiter“ einer nicht angemeldeten Versammlung als tauglichen Täter nach § 26 Nr. 2 VersammlG anzusehen, verstößt nicht gegen das strafrechtliche Analogieverbot (Art. 103 Abs. 2 GG).

An anderer Stelle heißt es:

Als Leiter einer Spontanversammlung ist daher nach der Rechtsprechung namentlich anzusehen, wer den Ablauf der Versammlung, die Reihenfolge der Redner und schließlich auch die Unterbrechung oder Schließung der Versammlung bestimmt. Auf der Seite des Leiters ist dabei weiterhin erforderlich, dass er diese Funktionen übernommen hat, auf Seiten der Teilnehmer hingegen, dass sie mit deren Ausübung durch ihn einverstanden sind.

BVerfG, Beschluss vom 9. Juli 2019 – 1 BvR 1257/19

Kurzum: Die Polizei agiert in einer Rechtslage, in der ihr nichts anderes übrig bleibt, als darauf zu vertrauen, dass das, was sie tut, rechtmäßig ist. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Polizei – trotz der oben aufgeführten Einwände – zuerst einmal von einer Spontanversammlung ausgeht und diese eine kurze Zeit gewähren lässt, bevor sie diese Blockadeaktion dann auflöst, nicht weil sie unfriedlich verläuft, sondern weil so genannte immanente Schranken es der Polizei erlauben, die Ausübung eines Grundrechtes für beendet zu erklären, wenn gleichwertige Rechte von anderen Personen auf eine Art und Weise verletzt werden, die mit dem Vorstellungsbild der Verhältnismäßigkeit nicht mehr übereinstimmen.

Anders ausgedrückt: Nach einer 10 bis 15 Minuten dauernden Duldung einer Blockade wird die Polizei diese Aktion beenden, indem sie diese „Versammlung“ auflöst, was dann zur Folge hat, dass nicht mehr der Schutz des Versammlungsrechtes greift, sondern nunmehr allgemeines Polizeirecht zur Anwendung kommen kann.

Was das bedeutet, das ist schnell skizziert:

  • Die Polizei erlässt eine Platzverweisung

  • Personen, die dieser Aufforderung nicht nachkommen wird angedroht, die Platzverweisung erforderlichenfalls zwangsweise durchzusetzen

  • Aktivisten, die nicht angeklebt sind, werden dann von der Straße entfernt (getragen oder weggezogen)

  • Bei angeklebten Aktivisten ist das nicht möglich, ohne sie dabei zu verletzen, denn angeklebte Hände von der Fahrbahn zu „reißen“, wäre zwar möglich, hier zu verstehen im Sinne von machbar, würde aber wohl zu einem Aufschrei in dieser Gesellschaft führen, zu dem diese Gesellschaft bekanntermaßen in der Lage ist, wenn durch „bloße Polizeigewalt“ sozusagen der Herrschaftswille erzwungen wird.

Mit anderen Worten: Die ganze Härte des Gesetzes zur Anwendung kommen zu lassen, dürfte zumindest heute noch an einem Demokratieverständnis scheitern, das, sozusagen wie eine unsichtbare Hand, auch das Handeln der Polizei bestimmt.

Natürlich können Blockierer auch zur Durchsetzung einer Platzverweisung in Polizeigewahrsam genommen werden, was aber bei festgeklebten Demonstranten gar nicht so einfach ist.

Das Wegtragen von Blockierern geschieht unter Anwendung unmittelbaren Zwangs, das ist gar keine Frage. Gleiches gilt auch für ein Wegziehen.

Wie aber ist das Lösen festgeklebter Hände rechtlich zu bewerten, bei dem die Polizei darum bemüht ist, dem „Besitzer“ der festgeklebten Hand möglichst keine Schmerzen zuzufügen.

Ist das auch als eine ermächtigungsgebundene Zwangsanwendung zu qualifizieren?

Bevor Ausführungen zu den Befreiungsaktionen der Polizei gemacht werden, um festgeklebte Demonstranten von der Fahrbahn überhaupt entfernen zu können, halte ich es für zielführend, wenn Sie sich zuvor einige Bilder anzuschauen, die zumindest einen Eindruck darüber vermitteln, was vor Ort anzutreffen ist.

5.1 Bilder von Blockadeaktionen

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Blockiere der „Letzten Generation“

Das folgende Bild einer „abgelösten Hand“, besser gesagt der „Zustand der Innenfläche einer von der Straßenoberfläche befreiten Hand“, lässt zumindest erahnen, mit welchen Minimalfolgen zu rechnen ist, wenn die Polizei „festgeklebte Hände befreit.“

Befreite Hand

Das folgende Bild lässt den Schluss zu, dass es sich beim Lösen einer festgeklebten Hand um eine Prozedur handelt, die eigentlich Ärzten vorbehalten sein müsste. Dazu gleich mehr.

Prozedur des Ablösens

Das Bild eines vor Schmerzen schreienden Befreiten suggeriert, dass der Befreite Opfer brutaler Polizeigewalt geworden ist.

Brutal befreit

Das folgende Foto lässt den Schluss zu, dass die Polizei alles in ihren Möglichkeiten Liegende zur Anwendung kommen lässt, einem Störer bloß nicht weh zu tun. Fast könnte man auf den Gedanken kommen, dass hier Demonstranten im übertragenen Sinne „die Füße gewaschen werden“, um ein neutestamentarisches Bild in die Wirkung dieses Fotos einfließen zu lassen.

Liebevolle Polizeiarbeit

Dass für die Befreiung festgeklebter Hände auch Hammer und Meißel eingesetzt werden müssen, illustriert das folgende Bild.

Mit Meißel und Hammer

Das folgende Bild einer angeklebten Hand möchte ich mit einer Frage verbinden, die da lautet: Ist es eine polizeiliche Aufgabe, eine solchermaßen festgeklebte Hand zu befreien?

Ist das eine polizeiliche Aufgabe?

Letztes Foto!

Ist das eine polizeiliche Zwangsmaßnahme?

Diese Frage lässt sich nicht mit einem alles relativierenden und umfassenden JA beantworten. Festzustellen ist jedoch, dass solch eine Frage meines Wissens nach bisher noch gar nicht gestellt wurde. Grund dafür mag sein, dass die Polizei, als das für Ordnung zu sorgen habende Organ im Staate, halt alles zu tun hat, um die öffentliche Sicherheit und Ordnung wieder herzustellen.

Die Frage, ob sie das darf oder ob sie die dafür erforderlichen medizinischen Kenntnisse besitzt, diese Frage wird erst gar nicht gestellt. Und dabei ist diese Frage mehr als berechtigt, denn es werden Lösungsmittel und Instrumente eingesetzt, die von der Polizei zuerst einmal beschafft werden mussten, um festgeklebte Hände überhaupt befreien zu können, für die es weder eine Ermächtigung noch eine ausreichende berufliche Qualifikation gibt.

5.2 Zwang oder körperliche Untersuchung?

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Unbestritten ist, dass es sich bei der Polizei um eine Organisation handelt, die dazu berechtigt ist, polizeiliche Maßnahmen zwangsweise durchsetzen zu können. Als mögliche anzuwendende Zwangsmittel kommen zur Durchsetzung von Maßnahmen, die dem Zweck der Gefahrenabwehr dienen, die nachfolgend aufgeführten Zwangsmittel in Betracht:

  • Ersatzvornahme

  • Unmittelbarer Zwang.

Soll eine strafprozessuale Maßnahme mit Zwang durchgesetzt werden, dann kommt nur unmittelbarer Zwang oder aber das Hinzuziehen von Sachverständigen in Betracht, wenn es zum Beispiel darum geht, eine Blutprobe zu entnehmen, eine Wohnungstür unter Zuhilfenahme eines Schlüsseldienstes zu öffnen oder eine Speichelprobe zu entnehmen, wenn der Beschuldigte eine Speichelprobe ablehnt.

Wie dem auch immer sei: Weigert sich der Beschuldigte, dann kann die Polizei zur Durchsetzung einer strafprozessualen Maßnahme den Beschuldigten dazu zwingen, den von der Polizei beauftragten „Sachverständigen“ sozusagen seine Arbeit machen zu lassen.

Schauen Sie sich jetzt bitte noch einmal das Bild an, auf dem zu sehen ist, wie Polizeibeamte mit aller ihnen möglichen Sorgfalt versuchen, jemanden zu befreien, der sich selbst festgeklebt hat.

Liebevolle Polizeiarbeit

Darin auch nur den Ansatz von „unmittelbarem Zwang zur Durchsetzung einer polizeilichen Maßnahme zu erkennen“, setzt nach meiner Sicht der Dinge einen ernstzunehmenden Wahrnehmungsfehler voraus.

Warum?

Der unmittelbare Zwang ist das schärfste Mittel der Polizei, um eine rechtmäßig verfügte Maßnahme erzwingen zu können. Diese Möglichkeit der Zwangseinwirkung kennzeichnet im besonderen Maße die Befugnisse der Polizei, geltendem Recht Geltung zu verschaffen. Nach der in allen Polizeigesetzen der Länder übernommene Gesetzesdefinition ist unmittelbarer Zwang die Einwirkung auf Personen oder Sachen durch körperliche Gewalt, ihre Hilfsmittel und durch Waffen.

Körperliche Gewalt: Die Einwirkung dieses Zwangsmittels erfolgt durch direkte Anwendung von Körperkräften einschreitender Polizeibeamtinnen oder Polizeibeamten. Gegenüber Personen kann dies beispielsweise durch Festhalten mittels Polizeigriffen, durch Faustschläge oder durch Fixieren durch das Körpergewicht einschreitender Polizeibeamten geschehen. Weniger schmerzhaft ist das Wegtragen oder Wegziehen von Personen anlässlich von Sitzblockaden.

Wie aber ist polizeiliches Einschreiten zu bewerten, wenn durch filigrane Arbeiten und unter Anwendung einer verletzungsvermeidenden Arbeitstechnik, festgeklebte Hände sozusagen operativ von der Fahrbahnoberfläche befreit werden müssen?

Das Wort operativ möchte ich zum Anlass nehmen, meine Ausführungen auf das Wesentliche konzentrieren zu können, denn dieses Wort lässt erkennen, dass es nicht Aufgabe der Polizei sein kann, sozusagen „Operationen am menschlichen Körper“ durchzuführen.

Im Gegenteil: Solch ein polizeiliches Tätigwerden lässt das Gesetz gar nicht zu. Wir alle wissen, dass die Polizei keine Blutproben entnehmen darf. Sogar bei der Entnahme einer Speichelprobe bedarf die Polizei dafür einer richterlichen Anordnung, um solch eine Probe dann auch gegen den Willen eines Beschuldigten von einem Arzt auf der Grundlage von § 81a StPO (Körperliche Untersuchung des Beschuldigten; Blutproben) erforderlichenfalls unter Anwendung unmittelbaren Zwangs entnehmen lassen zu können.

Anders ausgedrückt: Die Erhebung molekulargenetischen Materials gegen den Willen eines Beschuldigten in einem laufenden Strafverfahren ist nur auf der Grundlage von § 81a StPO (Körperliche Untersuchung des Beschuldigten; Blutprobe) zulässig. Die Anordnung einer solchen Maßnahme steht unter Richtervorbehalt.

Und das soll für „Befreiungsaktionen“ unter Verwendung von Lösungsmitteln und speziell dazu geeigneten Instrumenten anders sein?

Wenden wir uns nun kurz dem unbestimmten Rechtsbegriff einer „körperlichen Untersuchung“ zu.

Meyer-Goßner/Schmitt: Körperliche Untersuchung, die ausschließlich Ärzten vorbehalten sind: Der Unterschied zur einfachen Untersuchung liegt nicht in der Zufügung von Schmerzen oder in der Benutzung von ärztlichen Instrumenten oder Apparaten, sondern in der Beibringung von Verletzungen des Körpers, mögen sie auch ganz geringfügig sein. Ein körperlicher Eingriff liegt insbesondere vor, wenn natürliche Körperbestandteile, die Körperzellen, Blut, Liquor, Samen, Harn, Speichel entnommen oder wenn dem Körper Stoffe zugefügt werden, oder sonst in das haut- und muskelumschlossene Innere des Körpers eingegriffen wird.

Meyer-Goßner/Schmitt – Strafprozessordnung, 61. Auflage 2018 – Seite 311

Solche Eingriffe, so heißt es im Wortlaut von § 81a StPO, setzen Folgendes voraus:

  • Körperliche Untersuchungen oder andere körperliche Eingriffe sind nur zulässig, wenn die Regeln der ärztlichen Kunst dabei beachtet werden

  • Keine gesundheitlichen Nachteile für den davon Betroffenen zu erwarten sind

  • Die Untersuchung bzw. der körperliche Eingriff durch einen Arzt vorgenommen wird.

Nun könnte man einwenden, dass die Regeln der Strafprozessordnung nicht anzuwenden sind, wenn es darum geht, Maßnahmen der Gefahrenabwehr durchzusetzen.

Das aber würde bedeuten, die Errungenschaften eines Rechtsstaates sozusagen durch Ignoranz bestehenden Rechts auszuhebeln. Um das zu vermeiden sehen auch die Polizeigesetze, die körperliche Untersuchungen zum Zweck der Gefahrenabwehr als Rechtsfolgen enthalten vor, dass solche Untersuchungen Ärzten vorbehalten sind, siehe zum Beispiel die nachfolgenden Befugnisse aus dem Polizei- und Ordnungsbehördengesetz des Landes Rheinland-Pfalz, die Untersuchungen zum Zweck der Gefahrenabwehr regeln.

§ 11a POG RP (Medizinische und molekulargenetische Untersuchungen)

§ 18 Abs. 3 POG RP (Durchsuchung und Untersuchung von Personen)
(3) Die Polizei darf zur Abwehr einer Gefahr für Leib oder Leben eine Person körperlich untersuchen. Zu diesem Zweck sind Entnahmen von Blutproben oder andere körperliche Eingriffe, die von einem Arzt nach den Regeln der ärztlichen Kunst zu Untersuchungszwecken vorgenommen werden, ohne Einwilligung des Betroffenen zulässig, wenn kein Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten ist. Die körperliche Untersuchung bedarf der richterlichen Entscheidung; dies gilt nicht, sofern die körperliche Untersuchung der Feststellung der Gewahrsamsfähigkeit dient. In diesen Fällen bedarf es nur dann einer richterlichen Anordnung, wenn zur Feststellung der Gewahrsamsfähigkeit ausnahmsweise ein körperlicher Eingriff erforderlich wird. Zuständig ist das Amtsgericht, in dessen Bezirk die Polizeidienststelle ihren Sitz hat. § 21 Abs. 1 Satz 3 gilt entsprechend. Bei Gefahr im Verzug darf die Maßnahme durch die Behördenleitung oder einen von ihr besonders beauftragten Beamten mit der Befähigung für das vierte Einstiegsamt angeordnet werden; die richterliche Entscheidung ist unverzüglich nachzuholen. Die bei der Untersuchung erhobenen personenbezogenen Daten dürfen für einen anderen Zweck nur zur Abwehr von schwerwiegenden Gesundheitsgefährdungen oder zur Verfolgung von Straftaten von erheblicher Bedeutung (§ 34 Abs. 3) verwendet werden. Sind die durch die Maßnahme erlangten personenbezogenen Daten nicht mehr erforderlich, sind sie unverzüglich zu löschen.

Halten wir fest: Die vorgetragenen Argumente lassen zumindest den nachvollziehbaren Schluss zu, dass die Polizei etwas tut, wozu sie nicht ermächtigt ist.

Dafür werden Ärzte benötigt, die Inanspruch zu nehmen sowohl zum Zweck der Gefahrenabwehr als auch zum Zweck der Strafverfolgung zulässig wäre.

Dass die nach den Regeln der ärztlichen Kunst befreiten Personen die damit verbundenen Kosten zu tragen haben, dürfte dann eine Selbstverständlichkeit sein, obwohl im Sozialstaat Deutschland wohl schnell die Forderung erhoben werden dürfte, dass diese Behandlungskosten von den Krankenkassen zu tragen sind.

Anders ausgedrückt: Alles ist möglich, was was sich menschliche Gehirne ausdenken können.

5.3 Ersatzvornahme oder die Inanspruchnahme von Sachverständigen

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Vielleicht erinnern Sie sich noch an das Bild, auf dem zu sehen ist, dass eine festgeklebte Hand sozusagen mit Hammer und Meißel befreit werden muss. Je nach Untergrund und dem für das Ankleben verwendeten „Fliesen- oder Zwei-Komponenten-Kleber“, der von Pattex trägt zum Beispiel die Beschriftung: "Kleben statt Bohren", womit eine besondere Klebefähigkeit zum Ausdruck gebracht wird, kann es dann durchaus erforderlich werden, für die Befreiung einer festgeklebten Hand eine Flex und einen Presslufthammer einsetzen zu müssen, weil der Untergrund rund um die festgeklebte Hand zuerst einmal „aufgelockert“ werden muss, um danach dann entscheiden zu können, wie die immer noch fest mit der Hand verbundenen „Straßenteile“ von der Hand gelöst werden können.

Hier noch einmal das Bild solch einer „Befreiungsaktion“.

Mit Hammer und Meißel

Dass es sich bei solch einer „Befreiung“ nicht um eine körperliche Untersuchung handeln kann, die ärztlichen Sachverstand erfordert, dürfte ebenfalls unbestreitbar sein. Dafür werden Handwerker benötigt, die wissen, wie eine Straßenoberfläche behandelt werden muss, um sozusagen „locker“ zu werden.

Aber auch Handwerker sind Sachverständige im Sinne des polizeilichen Eingriffsrechts.

Werden diese Sachverständigen zum Zweck der Gefahrenabwehr von der Polizei in Anspruch genommen, dann handelt es sich bei dem anzuwendenden Zwangsmittel nicht um unmittelbaren Zwang, sondern um Ersatzvornahme. Das heißt, dass ein fachkundiger „Befreier“ damit beauftragt werden kann, eine vertretbare Handlung durchzuführen, zum Beispiel ein Unfallfahrzeug kostenpflichtig abzuschleppen. Um eine vertretbare Handlung würde es sich aber auch dann handeln, wenn zum Zweck der Gefahrenabwehr ein fachkundiger Befreier mit der „Befreiung einer festgeklebten Hand“ beauftragt würde, denn auch bei solch einer Tätigkeit handelt es sich um eine vertretbare Handlung.

Vertretbare Handlung: Eine Handlung ist nach allgemeiner Auffassung dann vertretbar, wenn es für die Polizei tatsächlich oder wirtschaftlich gleich bleibt, ob der Pflichtige oder ein anderer die zu erbringende Leistung vornimmt, in diesem Fall das Lösen der festgeklebten Hand vom Straßenuntergrund.

In solch einem Fall ist die Polizei auf jeden Fall dazu befugt, die Handlung auf Kosten des Betroffenen entweder selbst auszuführen (Selbstvornahme) oder einen anderen, zum Beispiel einen Fachbetrieb, mit der „Befreiungsaktion“ zu beauftragen. Natürlich kann die Polizei für solche Aktionen auch die Feuerwehr in Anspruch nehmen, die ebenfalls über die Arbeitsmittel verfügt, die erforderlich sein werden, um zum Beispiel mit einer Flex den Untergrund „zersetzen“ zu können, was für den zu Befreienden ebenfalls mit Kosten verbunden ist.

Geschieht die „Befreiungsaktion“ zum Zweck der Strafverfolgung, kommt eine Ersatzvornahme aus Rechtsgründen nicht in Betracht, denn niemand ist dazu verpflichtet, sich an einem Strafverfahren, das sich gegen ihn richtet, selbst aktiv zu beteiligen. Anders ausgedrückt: Es besteht keine vertretbare Handlung. 

Unabhängig davon besteht aber auch dann die Möglichkeit, durch die Beauftragung eines Sachverständigen, wozu auch Fachbetriebe und wohl auch die Feuerwehr gehören, die Arbeiten durchführen zu lassen, die erforderlich sind, um ein Strafverfahren gegen den „Befreiten“ betreiben zu können, weil die Person zum Beispiel zum Zweck der Identitätsfeststellung auf der Grundlage von § 163b StPO (Maßnahmen zur Identitätsfeststellung) zur Polizeistation verbracht werden muss, um dort deren Identität festzustellen bzw. die Person erkennungsdienstlich zu behandeln, oder gar einem Richter vorzuführen, weil es sich bei der befreiten Person um einen Mehrfachtäter handelt, und somit Wiederholungsgefahr als Haftgrund zumindest nachvollziehbar begründet werden könnte.

Im Gegensatz zur Ersatzvornahme zum Zweck der Gefahrenabwehr hat bei der Hinzuziehtung fremden Sachverstandes zum Zweck der Strafverfolgung aber zuerst einmal die Polizei die Kosten zu tragen. Grund dafür ist, dass erst im Urteil der urteilende Richter darüber entscheidet, in welcher Höhe der Verurteilte die Kosten zu tragen hat, die im Rahmen der Durchführung des Strafverfahrens angefallen sind.

Da der Polizei aber ein Wahlrecht zusteht, zu welchem Zweck sie Maßnahmen treffen will, dürfte es zielführend sein, die oben erörterten Befreiungsaktionen als Maßnahmen zur Gefahrenabwehr zu bewerten, denn die Beendigung eines Dauerdelikst ist Gefahrenabwehr.

5.4 Kosten zur Wiedererlangung der Freiheit

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Erfolgt eine Befreiung festgeklebter Hände zum Zweck der Gefahrenabwehr nicht durch die Polizei, sondern durch dafür qualifizierte Personen, die ihre Arbeit dem Verursacher in Rechnung stellen können, dürfte das für die Befreiten weitaus schmerzhafter sein, als zum Beispiel mittels eines Strafbefehls zu einer Geldstrafe von 200 Euro „verurteilt“ zu werden.

Im Gegensatz halten sich die anfallenden Kosten für die gleiche „Befreiung“ zum Zweck der Gefahrenabwehr durch die Polizei in Grenzen, soweit polizeiliches Einschreiten überhaupt in Rechnung gestellt werden kann. In NRW ist das nicht der Fall.

Wie dem auch immer sei. Die Kosten, die anfallen, wenn ein Fachbetrieb oder die Feuerwehr mit der Befreiung beauftragt wird, dürften bedeutsam sein.

Kostencheck.de: Wer selbst bezahlen muss, darf sich auf hohe bis sehr hohe Kosten gefasst machen. Verrechnet wird im Allgemeinen nach Einsatzminuten. In Berlin liegen die Kosten für eine Einsatzminute beispielsweise bereits bei 4,70 EUR, wenn ein einzelner Feuerwehrzug ausrückt. Werden Kranwagen in Marsch gesetzt, liegen die Kosten dann bereits bei 11,70 EUR pro Minute.

Selbst eine vergleichsweise kurze Einsatzdauer von 15 – 20 Minuten kann dann bereits enorm hohe Kosten verursachen. Die Kosten für den einzelnen Feuerwehrmann werden meist mit rund 2 EUR pro Minute berechnet.

https://kostencheck.de/feuerwehr-kosten

Wie hoch die Kosten für den Einsatz eines Notarztes sind, kann der oben zitierten Quelle nicht entnommen werden.

Anders ausgedrückt: Die ganze Diskussion über Extremisten, Ökoterroristen und Strafverschärfungen ließen sich vermeiden, wenn zum Schutz einer Vielzahl von Personen, die Personen, die dieses System nachhaltig stören, zumindest die Kosten für ihre Befreiung zu tragen haben.

Übrigens: Wenn eine Befreiungsaktion 700 Euro kosten würde, dann würden auch die Gerichte dagegen keine Einwände haben, denn Forderungen, da sind sich in diesem System alle einig, können nicht nur geltend gemacht, sondern auch eingeklagt und gerichtlich durchgesetzt werden. Dafür gibt es Gerichtsvollzieher, denn die haben die Aufgabe, Urteile und andere Vollstreckungstitel zwangsweise zu vollstrecken.

Bild.de: In Berlin musste eine Hundebesitzerin 10.000 Euro zahlen. Die Feuerwehr hatte mit viel Aufwand und Gerät nachts acht Stunden lang im Wald gebuddelt, um deren Terrier aus einem Dachsbau zu befreien.

Bild.de vom 07.06.2018 - Feuerwehr rettet Katze - Wer muss nach dem Noteinsatz blechen?

Lediglich in Bayern fallen keine Kosten für die Rettung von Tieren an. Befreite Blockierer müssen dort aber nach ihrer Befreiung damit rechnen, für längere Zeit in eine polizeiliche Gewahrsamszelle „weggesperrt“ zu werden.

5.5 Was die Polizeigesetze erlauben

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Wie schon an anderer Stelle festgestellt, erlauben es die Polizeigesetze bzw. die den Zwang regelnden Befugnisse allen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten in Deutschland, rechtmäßig verfügte Maßnahmen im Wege der Ersatzvornahme (Inanspruchnahme von Sachverständigen auf der Grundlage von § 163 StPO) oder unter Anwendung unmittelbaren Zwangs durchzusetzen, wenn nur durch Anwendung von körperlicher Gewalt oder durch Ersatzvornahme, die öffentliche Sicherheit oder Ordnung wieder hergestellt werden kann und die Intensität des Zwangs verhältnismäßig ist.

Was bedeutet das für eine festgeklebte Hand eines Umweltaktivisten?

Das Gesetz ließe es durchaus zu, durch einen schnellen Ruck eine festgeklebte Hand vom Untergrund zu befreien, wenn das vor Ort als eine praktikabele Möglichkeit anzusehen ist, um eine festgeklebte Hand wieder „beweglich“ zu machen. Natürlich geht das nicht, wenn für die Befreiung lokale Straßenbauarbeiten erforderlich sind.

In den meisten Fällen aber dürften Hände nicht so fest mit dem Untergrund verbunden sein, dass Straßenbauarbeiten erforderlich werden. Vielmehr kann davon ausgegangen werden, dass Hände nur so fest mit dem Untergrund verbunden werden, dass ein Lösen dieser Verbindung ohne damit verbundene schwerwiegende Folgen möglich ist.

Eine blutende Hand und auch herausgerissene Haut aus der Innenseite der festgeklebten Hände könnten somit durchaus als eine verhältnismäßige Folge polizeilicher Zwangsanwendung verstanden werden, zumal die Folgen eines rechtmäßigen Schlagstockeinsatzes oder die eines rechtmäßigen Gebrauchs eines Mehrzweckeinsatzstockes oder eines Reizstoffsprühgerätes, ganz zu schweigen von den Folgen des polizeilichen Schusswaffengebrauchs, weitaus ernstere Körperverletzungen hervorrufen können, als das beim Befreien einer festgeklebten Hand mit einem Ruck zu erwarten ist.

Und auch ein Stromstoß von 50 000 Volt durch einen Taser dürften nachhaltigere Folgen hinterlassen.

Ich denke, dass es viele Gründe dafür gibt, dass sich die Polizei diesbezüglich dennoch zurückhält, obwohl das Gesetz das zuließe, denn die "gesellschaftlich zu erwartende Rückkopplung" der oben skizzierten polizeilichen Vorgehensweise (ruckartige Befreiung durch die Polizei) würde wohl eine Protestbewegung auslösen, die dem Protest von heute möglicherweise noch eine ganz andere Richtung geben könnte.

Festzustellen ist, dass sich die Krisen von heute, wobei die Gefahr der Erderwärmung wohl zu den größten Problemen der Jetztzeit gehört und, das darf nicht vergessen werden, untrennbar mit den Motiven der Umweltaktivisten der „Letzten Generation“ verbunden ist, lässt sich nur durch Klugheit, durch nachhaltige Gerechtigkeit und durch Tapferkeit lösen.

Bedauerlicherweise sind diese Tugenden heute sozusagen aus der Mode gekommen.

Wie dem auch immer sei. Die Umweltprobleme von heute und deren Lösung auf die „Nach-uns-Zeit“ zu verlagern, wird die junge Generation nicht mehr zu ertragen bereit sein. Die Aktivitäten der „Letzten Generation“ dürften somit wohl erst der Anfang einer unaufschiebbaren Transformation des bestehenden Gesellschaftsvertrages sein, soweit es einen solchen überhaupt jemals gegeben haben sollte.

Ich weiß nicht – und kann es auch gar nicht wissen – ob Sie diese Zeilen für „wahr im Sinne der parrhesia“ halten.

Diese parrhesia ist aber in der Tat dasjenige, um Michel Foucault erneut zu Wort kommen zu lassen, „was die Gesellschaft nötig hat, um regiert zu werden, aber auch das, was auf die Seele der Bürger einwirken muss, damit sie tadellose Bürger in diesem Staat sind, auch wenn er gut regiert wird.“

6 Transformation in eine deliberative Demokratie

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Die Zeiten ändern sich und die Zusagen und Versprechungen der gewählten Volksvertreter, nach der Wahl sich daran zu halten, was sie versprochen haben, sind brüchig geworden.

Warum?

Johannes Agnoli: Das Vertrauen, dass die zukünftigen Parlamentarier vor der Wahl einfordern, so kann es bereits bei Johannes Agnoli (1925 bis 2003) nachgelesen werden „wird nicht gerade ausdrücklich als ein Blankoscheck verlangt, in Wirklichkeit aber läuft die Forderung auf Erteilung von Vollmacht [darauf] hinaus: „Ihr sollt uns vertrauen,“ [und] „gebt uns euere Souveränität, ohne weitere Fragen zu stellen.“ Ich wiederhole auch hier: Es handelt sich um eine Verselbständigung politischer Macht gegenüber dem souveränen Volk, in der das Volk die Massen sind, und die verselbständigte Macht nur Vermittlung sozialer und ökonomischer Herrschaft bedeutet.“

An anderer Stelle heißt es:

Der „Stimmbürger“ (wie es neuerdings in einer weniger obszönen Fassung des althergebrachten Begriffs „Stimmvieh“ heißt) soll tunlichst sich nicht aktiv in das subtile Machtspiel der Parteien einschalten und keine Initiative ergreifen.

Johannes Agnoli: Die Transformation der Demokratie, Konkret Literatur-Verlag 2012 - Seite 122 und 123

Dieser Zustand des Stillhaltens, den Johannes Angoli kritisiert, scheint sich seinem Ende zuzuneigen, denn die Staatsform der Demokratie durchläuft, wie alle anderen Systemprozesse auch, eine Welle des Aufstiegs, der dann unweigerlich ein Abschwung folgt, wenn das bestehende System nicht verändert bzw. den notwendigen Gegebenheiten angepasst wird. Für eine Demokratie würde das bedeuten, sich in eine Postdemokratie zu verändern, womit heute eine Demokratie gemeint ist, in der die Bürgerinnen und Bürger mehr Mitspracherechte erhalten, als das zurzeit noch der Fall ist.

Wie heißt es doch so schön bei Colin Crouch (* 1944):

Colin Crouch: Die Tatsache, dass [...] Die Demokratie in den vergangenen Jahrzehnten an Kraft verloren hat, bedeutet nicht, dass wir in vor- oder nachdemokratischen Gesellschaften leben. Von den Errungenschaften der demokratischen Epoche ist ein umfangreiches Vermächtnis an Praktiken, Haltungen, Werten und Institutionen geblieben. Das gibt Anlass zu Optimismus, erklärt aber auch eine wichtige Eigenschaft postdemokratischer Zustände: Da die demokratischen Institutionen und Haltungen weiterhin existieren, merken wir nicht, dass die Demokratie geschwächt und die Macht innerhalb des politischen Systems auf eine kleine Elite aus Politikern und Konzernen übergegangen ist, die eine Politik nach den Wünschen der Letzteren betreiben.

Colin Crouch: Postdemokratie revisited, Edition Suhrkamp 2761 – 1. Auflage 2021 – Seite 21

6.1 Eskalation von Konflikten

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Die oben nur kurz skizzierten Konflikte der Machtausübung innerhalb demokratischer Systeme eskalieren unweigerlich im Laufe der Zeit. Donella H. Meadows bezeichnet diesen Prozess als einen sich selbst verstärkenden Rückkopplungsprozess, der sowohl negativ als auch positiv sein kann.

Zurzeit scheint der Prozess der negativen Rückkopplung bedeutsamer zu sein, denn die Folgen eines grenzenlosen Wachstums, sowohl national als auch global, zeigen sich immer deutlicher ab.

Donella H. Meadows: Die sich daraus ergebende „Eskalation im Großen“ ist durchaus vergleichbar mit der Eskalation auf einem Spielplatz im Kleinen: Haust du mich, so hau ich ein bisschen doller zurück, also haust du mich noch doller wieder, und ziemlich schnell ist eine richtige Prügelei im Gang. Auf die politische Ebene übertragen heißt das: Ich habe recht, nur meine Sicht der Dinge ist richtig, du bist ein Feind, dich muss ich bekämpfen.

Ein Kandidat zieht einen anderen in den Dreck, also revanchiert sich der andere und so weiter, bis die Wähler sich gar nicht mehr vorstellen können, dass ihre Kandidaten auch irgendwelche positive Seiten haben. So nimmt der ganze demokratische Prozess Schaden.

An anderer Stelle heißt es:

Der einzige andere elegante Ausweg aus dem Eskalationssystem sind Abrüstungsverhandlungen. Das setzt eine strukturelle Veränderung voraus und bedeutet, das System neu zu entwerfen. [...]. Es ist nicht einfach, in Eskalationssystemen zu Abrüstungsübereinkünften zu kommen, und sie machen keine der beteiligten Parteien glücklich, aber sie sind wesentlich besser, als das Wettrennen fortzusetzen.

Donella H. Meadows: Die Grenzen des Denkens – wie wir sie mit System erkennen und überwinden können. Oekom-Verlag 2019 – Seite 186 ff

Die Politik von heute hält das Gegenteil für unverzichtbar. In Deutschland wird dafür sogar im Juni 2022 ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt.

Ein Vorhaben, für das vom Bundesverteidigungsministerium eine Dringlichkeitsliste erstellt worden war, die aufzeigen sollte, wo dieses Geld zu investieren ist. Als dann aber bereits im Oktober 2022 der Bundesrechnungshof diese Dringlichkeitsliste sozusagen in ihre "Einzelteile der Unbrauchbarkeit" zerpflückte, wurde deutlich, dass auch mit einem Sondervermögen sorgsam umzugehen ist, auch deshalb, weil alle in der oben genannten "Dringlichkeitsliste" genannten Notwendigkeiten zusammengerechnet den 100-Milliarden-Rahmen bereits um neun Milliarden Euro längst gesprengt hatten.

Vielleicht noch eine Klarstellung zur Wortbedeutung „Sondervermögen“. Dieses Vermögen ist keine Folge von Sparsamkeit und Rücklagenbildung, sondern eine Folge von Verschuldung.

6.2 Deliberative Demokratie

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Die Lösung der hier nur oberflächlich skizzierten Ursachen für das Unbehagen in unserer Kultur (Demokratie) sehen Soziologen und Philosophen in einer anzustrebenden postmodernen Gesellschaft, die sie als eine deliberative Demokratie beschreiben.

Das dieser Sprachfigur zugrunde liegende englische Wort Deliberation bedeutet so viel wie:

Deliberation: Beratung, Erörterung, Bedächtigkeit, Vorschläge erarbeiten, etwas mit Bedacht tun, nach gründlicher Überlegung, einen Diskurs führen, miteinander reden, einen gemeinsamen Nenner finden wollen.

Solch eine Form der Meinungsfindung findet ja heute nicht einmal mehr in den Parlamenten statt.

Politis.it: Der Begriff deliberative Demokratie bezeichnet ein demokratietheoretisches Konzept, in dem die öffentliche Beratung der Bürger und Bürgerinnen zentral ist. Wesentliches Kennzeichen einer deliberativen Demokratie ist der öffentliche Diskurs über alle politischen Themen [...]. Die deliberative Demokratie umfasst öffentliche Diskurse, öffentliche Beratung, die Mitwirkung der Bürger an öffentlicher Kommunikation und andere Formen der Einbeziehung der Bürger in die politische Willensbildung, nicht jedoch die direkte Entscheidung einer Sachfrage durch die Bürger (Volksabstimmungen). Die deliberative Demokratie ergänzt die direkte Demokratie (Volksentscheid) und die repräsentative Demokratie. Im Zentrum der Theorie der deliberativen Demokratie steht das Legitimationsideal der öffentlichen Beratung politischer Fragen. Gemäß deliberativer Demokratietheorie sollten einzelne Bürger immer bereit sein, ihre moralischen und politischen Argumente und Forderungen mit Gründen zu verteidigen und über diese Gründe mit anderen zu beraten. Der bekannte italienische Politikwissenschaftler Luigi Bobbio bringt diese Seite der Demokratie folgendermaßen auf den Punkt: „Bezogen auf die Demokratie hat das Adjektiv ‚deliberativ‘ eine zweifache Bedeutung: diskutieren und entscheiden.

Deliberative Demokratie - politis.it

6.3 Jürgen Habermas 2022

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In seinem Buch: „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik“, fordert Jürgen Habermas eine Medienstruktur ein, die den inklusiven Charakter der Öffentlichkeit und einen deliberativen Charakter der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung ermöglicht.

Jürgen Habermas: Der – wie man nur hoffen kann: temporäre – Zerfall der politischen Öffentlichkeit hat sich darin ausgedrückt, dass für fast die Hälfte der Bevölkerung kommunikative Inhalte nicht mehr in der Währung kritisierbarer Geltungsansprüche ausgetauscht werden konnten. Nicht die Häufung von Fake News ist für eine verbreitete Deformation der Wahrnehmung der politischen Öffentlichkeit signifikant, sonder der Umstand, dass aus der Perspektive der Beteiligten Fake News gar nicht mehr als solche identifiziert werden können.

An anderer Stelle heißt es:

Darin besteht ja der Witz deliberativer Politik: dass wir in politischen Auseinandersetzungen unsere Überzeugungen verbessern und der richtigen Lösung von Problemen näher kommen können (S. 25).

Jürgen Habermas: Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik, Suhrkamp 2022, Seite 64 und 25

Bei der in der Öffentlichkeit zurzeit entfesselten Kakophonie, hier als Disharmonie der gegensätzlichen Meinungen zu verstehen, wird das wohl kaum möglich sein. Ob dieses Nicht-verstehen-Wollen, dieses Aneinander-Vorbeireden bzw. der damit auch verbundene Vorwurf sich als ein Extremist, sogar als ein Verfassungsfeind zu outen, diese Demokratie deliberativ werden lässt, kann, nein muss bezweifelt werden. Zu erwarten ist, dass sich diese Demokratie eher selbst zerstört, auf jeden Fall nimmt dadurch die Resilienz des Systems, also dessen Widerstands- und Erneuerungskraft bedeutsamen Schaden.

In Anlehnung an Jürgen Habermas möchte ich weiterhin feststellen, dass sich, egal wie weit sich die Demokratie von heute bereits von ihrem Anspruch, eine Volksvertretung zu sein, die den Willen des Volkes umsetzt, entfernt haben mag, diese Demokratie verdient den Namen einer Demokratie nur so lange, wie die Masse ihrer Bürger an dem Zweck der Demokratie, der darin besteht, die Interessen des Volkes durch gewählte Volksvertreter zu vertreten, glauben.

Anders ausgedrückt: Zunehmende Radikalisierung in einer Demokratie dürfte auf die Unfähigkeit der Regierenden zurückzuführen sein, eine Gesellschaft auf Dauer zukunftsfähig zu erhalten.

Im Schlusssatz seines Essays zur deliberativen Demokratie kommt Jürgen Habermas, Bezug nehmend auf das wachsende Widerstandspotential in einer Demokratie zu folgendem Fazit:

Jürgen Habermas: In den insgesamt wachsenden kapitalistischen Gesellschaften unserer, wie sich heute herausstellt, nicht besonders stabilen Demokratien, entsteht dieses überraschende Widerstandspotential und lässt das politische System von innen zerbröseln, wenn auf der Basis wachsender sozialer Ungleichheiten der Zerfall der politischen Öffentlichkeit nur weit genug fortgeschritten ist.

Das gilt es zu verhindern.

Wer versucht, durch Verbote und Strafverfolgung das zu erhalten, was dringend einer Veränderung bedarf, muss mit den Folgen der sich daraus ergebenden negativen Rückkopplungen leben, an deren Ende der Zerfall demokratischer Werte oder ein immer wehrhafter werdende Polizeistaat zu erwarten sein.

Bekanntermaßen aber ist das Ganze mehr als die Summe seiner Teile, und obwohl sich dieses Ganze in einem stetigen Fluss befindet – ein Zurück sieht dieser Prozess nicht vor – ist es jederzeit möglich, dem Fluss eine andere Fließrichtung zu geben.

Insoweit ist Zukunft durchaus gestaltbar, wenn auch nicht vorhersehbar.

6.4 Ergebnisse des Klimagipfels

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Die Ergebnisse der Klimakonferenz sind, so die Überschrift auf T-online.de:

„Blanker Hohn“.

  • Die dramatischen Folgen der Klimakrise lassen sich durch das Erreichte nicht aufhalten.

  • Auch nicht durch zugesagte Ausgleichshilfen für Entwicklungsländer.

  • Warum?

  • Geld allein vermag das Klima nicht zu retten.

  • Was bleibt, ist das Bekenntnis zum 1,5 Grad Klimaziel.

Klimafazit: Chance vertan. Wieder einmal. Das, was erreicht wurde, war der große hinterlassene ökologische Fußabtritt der ca. 30 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, deren Anreise den Kohlendioxidanteil mit Sicherheit nicht reduziert, sondern im Hinblick auf den erzielten Erfolg auf unverantwortliche Art und Weise wohl lediglich erhöht haben dürfte.

Die Blockadeaktionen der Aktivisten der „Letzten Generation“ erzeugen mit ihren radikalen Maßnahmen mehr Aufmerksamkeit, aber auch mehr Wut.

6.5 Trendstudie "Jugend in Deutschland"

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Die nachfolgend skizzierten Ergebnisse einer Studie der Jugendforscher Simon Schnetzer und Klaus Hurrelmann, die im Oktober 2022 publiziert wurde, kann entnommen werden, dass 1.027 Jugendliche und junge Erwachsene zu ihrer finanziellen Situation und zu ihren Zukunftsaussichten befragt wurden:

Die Mehrheit der 14- bis 29-Jährigen macht sich Sorgen wegen Inflation, Krieg und Klima – und jeder fünfte junge Mensch in Deutschland hat Schulden.

Spiegel.de vom 21.22.2022: Momentan steht der Umfrage zufolge die Inflation ganz vorn, gefolgt vom Krieg in Europa und dem Klimawandel. Die Sorge um das Klima sei dabei nicht weniger wichtig geworden, sie werde nur von anderen Befürchtungen überlagert, so Schnetzer. Ein so hohes Maß an Sorgen habe er selten gesehen, ordnet Hurrelmann das Ergebnis ein.

Studie zu Sorgen der jungen Generation: Jeder Fünfte zwischen 14 und 29 Jahren hat Schulden

6.6 Blockade Berliner Flughafen

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Die Sprachfigur des Überschreitens einer roten Linie scheint sich, was die Aktionen der "Letzten Generation" betrifft, durchgesetzt zu haben.

Auch anlässlich der Blockadeaktion der letzten Generation, die den Berliner Flughafen am 24.11.2022 für zwei Stunden lahmlegte, wird die Sprachfigur der roten Linie sozusagen gebetsmühlenhaft bemüht, verbunden mit drastischen Strafen.

Aber auch hier wird die Überschreitung einer roten Linie zum Anlass genommen, strafbare Vorwürfe zu benennen, die das Strafgesetzbuch nicht kennt. Natürlich handelt es sich bei die Aktion um Hausfriedensbruch und um Sachbeschädigung, nicht aber um eine Gefährdung des Bahn-, Schiffs- und Luftverkehrs im Sinne von § 315a StGB, denn ausweislich des Gesetzestextes kann diese Tat (in diesem Fall) nur von dem Führer eines Luftfahrzeuges begangen werden.

Anders ausgedrückt: Täter kann nur der Pilot selbst sein.

Dennoch: Auch Rechtsverdrehung eignet sich dazu, das Übertreten einer roten Linie so „unrechtmäßig, illegitim und extremistisch“ erscheinen zu lassen, damit die Öffentlichkeit endlich einsieht, dass hier ein wehrhafter Staat gefragt ist.

Den zu schaffen, dafür braucht es diese Rhetorik aber nicht.

Es würde völlig ausreichen, geltendes Recht anzuwenden, wozu auch die Anwendung des bürgerlichen Rechts zählt, denn derjenige, der eine unerlaubte Handlung im Sinne von § 823 BGB begeht, macht sich schadenersatzpflichtig.

Und der dürfte immens sein, denn für knapp 2 Stunden ging nichts mehr. 15 Flugzeuge konnten nicht landen und mussten auf andere Flughäfen ausweichen. 5 Flüge konnten nicht starten. 3000 bis 4000 Fluggäste waren von der Blockade betroffen. Welche wirtschaftlichen Schäden dadurch verursacht wurden, das lässt sich nur erahnen. Die standen aber nicht im Vordergrund der Berichterstattung und der Statements namhafter Politiker.

Was eingefordert wurde, das lässt sich in wenigen Sätzen zusammenfassen:

• Das ist eine erneute absolut inakzeptable Eskalation
• Die Aktionen der Aktivisten werden immer skrupelloser
• Konsequente Strafe für diese Störung des Flugbetriebs
• Es wurde eine „Rote Linie“ überschritten
• Eine vollkommen illegitime Aktion
• Die volle Härte des Rechtsstaats ist einzufordern.

Sogar die deutsche Sonderbeauftragte für internationale Klimapolitik, Jennifer Morgan, mahnte derweil die Verhältnismäßigkeit der Proteste an. „Wir brauchen das Engagement der jungen Menschen und der Zivilgesellschaft. Aber jeder Einsatz für den Klimaschutz muss im Rahmen der Gesetze unserer Demokratie bleiben“. [...]. „Klima-Protest darf keine negativen Folgen für andere Menschen haben.“

Welt.de vom 25.11.2022: Politik fordert harte Strafen für „Klimakleber“ der „Letzten Generation“
https://www.welt.de/politik/deutschland/video242325749/Rollfeld-Blockade-am-BER-Politik-fordert-harte-Strafen-fuer-Klimakleber-der-Letzten-Generation.html

Und wie hat der Rechtsstaat darauf zu reagieren?

Gegen die Klimaaktivisten werden strafrechtliche Ermittlungsverfahren eingeleitet. Nach geltendem Recht können ihnen die nachfolgend aufgeführten Straftaten vorgeworfen werden:

Hausfriedensbruch
Sachbeschädigung.

Der Vorwurf, dass den Aktivisten auch ein gefährlicher Eingriff in den Flugverkehr vorgeworfen werden kann verkennt aber, wie oben bereits schon einmal angedeutet, dass diese Tat nur von Führern eines Luftfahrzeuges begangen werden kann.

§ 315a StGB (Gefährdung des Bahn-, Schiffs- und Luftverkehrs)
(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer
1. ein Schienenbahn- oder Schwebebahnfahrzeug, ein Schiff oder ein Luftfahrzeug führt, obwohl er infolge des Genusses alkoholischer Getränke oder anderer berauschender Mittel oder infolge geistiger oder körperlicher Mängel nicht in der Lage ist, das Fahrzeug sicher zu führen, oder
2. als Führer eines solchen Fahrzeugs oder als sonst für die Sicherheit Verantwortlicher durch grob pflichtwidriges Verhalten gegen Rechtsvorschriften zur Sicherung des Schienenbahn-, Schwebebahn-, Schiffs- oder Luftverkehrs verstößt
und dadurch Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet.
(2) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 ist der Versuch strafbar.
(3) Wer in den Fällen des Absatzes 1
1. die Gefahr fahrlässig verursacht oder
2. fahrlässig handelt und die Gefahr fahrlässig verursacht,
wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Anders ausgedrückt: Täter kann nur der Führer des Fahrzeuges selbst sein.

Auch der Vorwurf, öffentliche Betriebe gestört zu haben, scheitert am Wortlaut des, diesen Bereich regelnden Straftatbestandes:

§ 316b StGB (Störung öffentlicher Betriebe)
(1) Wer den Betrieb
1. von Unternehmen oder Anlagen, die der öffentlichen Versorgung mit Postdienstleistungen oder dem öffentlichen Verkehr dienen,
2. einer der öffentlichen Versorgung mit Wasser, Licht, Wärme oder Kraft dienenden Anlage oder eines für die Versorgung der Bevölkerung lebenswichtigen Unternehmens oder
3. einer der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit dienenden Einrichtung oder Anlagedadurch verhindert oder stört, daß er eine dem Betrieb dienende Sache zerstört, beschädigt, beseitigt, verändert oder unbrauchbar macht oder die für den Betrieb bestimmte elektrische Kraft entzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Der Versuch ist strafbar.
(3) 1In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. 2Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter durch die Tat die Versorgung der Bevölkerung mit lebenswichtigen Gütern, insbesondere mit Wasser, Licht, Wärme oder Kraft, beeinträchtigt.

Warum kann § 316b StGB nicht greifen?

Ganz einfach: Die Schädigung, bzw. die jeweilige Einwirkung auf den öffentlichen Betrieb muss an der Sache, also an dem betroffenen öffentlichen Betrieb selbst vorgenommen worden sein. Ob dafür das Aufschneiden eines Maschendrahtzaunes ausreicht, der eher Rotwild und unbefugte Personen daran hindern soll, "unbefugt das Rollfeld zu betreten", das mögen Juristen entscheiden. Diese Tathandlung dürft eher als eine Sachbeschädigung im Sinne von § 304 StGB (Gemeinschädliche Sachbeschädigung) anzusehen sein, zumal Störungen oder Einstellungen der Betriebstätigkeit, die im Gefolge einer Einwirkung auf Menschen entstehen, und das ist ja der gewollte Erfolg der Aktivisten, von § 316b StGB nicht erfasst sind.

Dennoch: Auch Rechtsverdrehung eignet sich dazu, das Übertreten einer roten Linie so „unrechtmäßig“ erscheinen zu lassen, dass die Öffentlichkeit endlich einsieht, dass hier ein wehrhafter Staat gefragt ist.

Den zu schaffen, dafür braucht es diese Rhetorik aber nicht.

Es würde völlig ausreichen, geltendes Recht anzuwenden, wozu auch die Anwendung des bürgerlichen Rechts zählt, denn derjenige, der eine unerlaubte Handlung im Sinne von § 823 BGB begehen, machen sich dadurch schadenersatzpflichtig.

§ 823 BGB (Schadensersatzpflicht)
(1) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.
(2) Die gleiche Verpflichtung trifft denjenigen, welcher gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstößt. Ist nach dem Inhalt des Gesetzes ein Verstoß gegen dieses auch ohne Verschulden möglich, so tritt die Ersatzpflicht nur im Falle des Verschuldens ein.

Anders ausgedrückt: Bei dem Schaden, den die Aktivisten durch ihre Aktion angerichtet haben, dürfte es sich um eine Größenordnung handeln, die, wenn diese Schäden eingeklagt würden, die Aktivsten wohl härter treffen dürften als das, was dieser Rechtsstaat als Sanktionen für das begangene Unrecht überhaupt vorsieht.

6.7 Schlussbetrachtung

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Die Wehrhaftigkeit dieses Staates "radikal" zu verschärfen, dürfte im Übrigen auch wohl kaum im Interesse eines Staates liegen, der vermeiden möchte, dass die gesamte Umweltbewegung sich dadurch kriminalisiert fühlt, denn für die Aktionen der Aktivisten der letzten Generation haben viele durchaus Verständnis, obwohl sie die eingesetzen Mittel für nicht zielführend und eher für kontraproduktiv halten.

Im Übrigen wird ein radikaler Wandel, den die Aktivisten einfordern, auch von der Wissenschaft geltend gemacht. 50 Jahre nach dem Bericht des Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“, halten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Thinktanks des Club of Rome „Earth for All“, 2022 folgendes Genesungsprogramm für unverzichtbar:

  • Ein neues wirtschaftliches Betriebssystem

  • Die Umsetzung des damit verbundenen Systemwandels

  • Kehrtwende bei der Bildung, beim Einkommen und bei den Renten

  • Beseitigung der bestehenden Ungleichheit

  • Eine neue Finanzarchitektur

  • Beendigung des parasitären Finanzsystems

  • Transformation des Welthandels

  • Revolutionierung der Landwirtschaft

  • Umstellung der Ernährung

  • Verhinderung von Nahrungsmittelverlusten und deren Verschwendung

Die Forderung nach einem Tempolimit auf Autobahnen, wie von den Aktivisten der letzten Generation gefordert, halten Wissenschaftler für so banal, dass diese Forderung in dem oben genannten Bericht erst gar nicht enthalten ist. Gleiches gilt für die Forderung nach einer Neuauflage des 9-Euro-Tickets.

Das sind Peanats im Vergleich zu dem radikalen Wandel, der erforderlich ist, dem Klimawandel auch nur einigermaßen angemessen begegnen zu können. Im Übrigen möchte ich es nicht versäumen, darauf hinzuweisen, dass nach höchstrichterlicher Entscheidung das Suchen nach brauchbaren Nahrungsmitteln in den Müllcontainern von Supermärkten immer noch als eine Straftat anzusehen ist: als Diebstahl.

BVerfG, Beschluss vom 05. August 2020 - 2 BvR 1985/19.

Und was Radikalität anbelangt? Was Wissenschaftler darunter verstehen, die sich mit den Folgen der Erderwärmung seit Jahrzehnten auseinandersetzen, dass kann auch dem folgenden Zitat des neuen Berichts an den Club of Rome entnommen werden:

Earth for All 2022: Was wir vorschlagen, erfordert beispiellose wirtschaftliche Veränderungen innerhalb einer einzigen Generation. [...]. In diesem Szenario ist der Weg durch das Jahrhundert nicht nur Flickwerk, sondern von einer echten und grundlegenden Neugestaltung der Wirtschafts-, Energie- und Nahrungsmittelsysteme gekennzeichnet. Es handelt sich um ein umfassendes Upgrade. Einen Neustart. Eine radikale Neuausrichtung der Leitlinien unserer Zivilisation, um zu verhindern, dass das ganze System zusammenbricht. [...]. Wir wissen, dass bei wachsender Ungleichheit das Wohlergehen und das soziale Vertrauen schwindet. Dies wird den Index der sozialen Spannsungen nach oben treiben. Wenn der Index über längere Zeit hinweg steigt, kommt es innerhalb einer Gesellschaft zu verschärfter Polarisierung, die es zunehmend erschwert, kohärente langfristige Entscheidungen zu treffen.

Der neue Bericht an den Club of Rome - Earth for All - Oekom-Verlag 2022, S. 41, 47, 51

Aus dieser Perspektive betrachtet dürften die Störungen der öffentlichen Ordnung durch die Aktivisten der "Letzten Generation" eher zu den unbedeutenden Folgen zählen, mit denen zu rechnen sein wird, wenn alles so bleibt wie es ist.

Übrigens: Die Berichterstattung des Bundesinnenministeriums zur Blockade des Berliner Flughafens lässt ebenfalls deutliche Lücken erkennen, was die Versammlungsfreiheit anbelangt.

Zeit.de vom 25.11.2022:  Mit Blick auf jüngste Protestaktionen für den Klimaschutz betont das Bundesinnenministerium das Demonstrationsrecht. Man müsse differenzieren, dass in Deutschland "jegliche Art von Protest natürlich verfassungsrechtlich geschützt ist und absolut legitim ist" und natürlich für den Klimaschutz und jedes andere Anliegen in Deutschland "frei und ungehindert" protestiert werden könne, sagte ein Sprecher am Freitag in Berlin. Die verfassungsrechtliche Grenze sei dort erreicht, wo Straftaten begangen würden, und hier schreite auch die Polizei ein.

Zeit.de: Ministerium: Protest legitim, bei Straftaten handelt Polizei

Auch hier irrt sich der Sprecher des Bundesinnenministeriums, denn Versammlungen auf Privatgelände setzen, von Ausnahmen einmal abgesehen, das Einverständnis des Hausrechtsinhabers voraus.

Warum?

Publicus.boorberg.de vom 25.11.2022: Privatflächen können von der Durchführung von Versammlungen nur dann nicht ausgenommen werden, soweit eine unmittelbare Grundrechtsbindung besteht oder Private im Wege der mittelbaren Drittwirkung von Grundrechten in Anspruch genommen werden können. Dazu muss der beabsichtigte Versammlungsort für den Publikumsverkehr offenstehen und einen Raum des Flanierens, des Verweilens und der Begegnung schaffen, der dem Leitbild des öffentlichen Forums entspricht.

Von der Versammlungsfreiheit ausgenommen sind auch Orte, zu denen der Zugang individuell kontrolliert oder nur für einzelne, begrenzte Zwecke gestattet wird.

Demgegenüber verbürgt die Versammlungsfreiheit die Durchführung von Versammlungen aber dort, wo ein allgemeiner öffentlicher Verkehr eröffnet ist.

Zulässigkeit einer Versammlung auf privaten Flächen
Verwaltungsgericht Schleswig, Beschl. v. 16.4.2021 – 3 B 39/21
Zitiert nach: Publicus.Boorberg.de vom 25.04.2022:
https://publicus.boorberg.de/zulaessigkeit-einer-versammlung-auf-privaten-flaechen/

Von einem der Öffentlichkeit zugänglichen Ort kann bei dem Rollfeld eines Flughafens wirklich nicht ausgegangen werden, denn auf ein Rollfeld kommt niemand unkontrolliert, es sei denn, sie oder er verschafft sich durch strafbares Handeln Zugang zu verbotenem Areal.

6.8 Die Meinung des Volkes

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Ich möchte mich kurz fassen:

FAZ.de vom 25.11.2022: Die „Letzte Generation“ will ihren Protest so lange fortsetzen, bis Abgeordnete ihre Forderungen erfüllen, ein Tempolimit auf Autobahnen etwa, oder ein 9-Euro-Ticket. Aber kein Staat und kein Abgeordneter muss sich erpressen lassen. Die Bürger bestimmen selbst, wie sie die Zukunft ihres Planeten sichern, und nicht eine radikale Minderheit.

Letzte Generation : Wer Aktivisten vorsorglich wegsperrt, geht zu weit

Die Annahme, dass der letzten Satz in der oben zitierten Meldung richtig ist, beruht auf nichts anderem als auf Vermutungen, möglicherweise auch nur auf Wunschdenken. Durch eine repräsentative Umfrage ließe sich der Wille des Volkes, was die Einführung eines Tempolimits und ein Wiederaufleben des 9-Euro-Tickets anbelangt, wohl zum Erstaunen der Politiker schnell beantworten. Aber für die Meinung des Volkes interessiert sich niemand, außer an Wahltagen.

6.9 Schlusssatz

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Einmal ganz abgesehen davon, wie sinnvoll es ist, sich auf Straßen oder Rollfeldern festzukleben, um gegen Zustände zu demonstrieren, die tatsächlich der Änderung bedrüfen, anzuerkennen ist der Mut dieser Aktivisten, sogar die Folgen ihres Tuns ertragen zu wollen. Dadurch unterscheiden sich diese Aktivisten zumindest "nachhaltig" von den   Gelegenheitsmutigen der deutschen Fußballnationalmannschaft, bei denen es sich durch die Bank um Fußballmillionäre handelt, die zur Vermeidung persönlicher Nachteile ihren Protest dadurch zum Ausdruck bringen, indem sie sich ihre Hände vor den Mund halten.

Wie heißt es doch so schön bei Kurt Tucholsky, zitiert nach Zeno.org:

Denn nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein.

Kurt Tucholsky: Die Verteidigung des Vaterlandes

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