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Gefährlicher Ort – OVG Hamburg 2022

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Dem Urteil lag die Klage eines farbigen Beschwerdeführers zugrunde, der im Bereich des S-Bahnhofs Reeperbahn in Hamburg auf dem Heimweg von der Polizei aufgefordert worden war, sich auszuweisen, ohne sich in dem Bereich aufzuhalten.

Der Kläger trug vor, den Bereich nur durchquert zu haben.

Da der Personenkontrolle keine diskriminierenden Kausalverläufe im Sinne von Art 3 GG zugrunde lagen, heißt es in dem Urteil wie folgt:

OVG Hamburg 2022: Die in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG genannten Merkmale dürfen grundsätzlich nicht als Anknüpfungspunkt für eine rechtliche Ungleichbehandlung herangezogen werden. Das gilt auch dann, wenn eine Regelung nicht auf eine nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG verbotene Ungleichbehandlung angelegt ist, sondern - als mittelbare Diskriminierung - in erster Linie andere Ziele verfolgt.

Die Identitätsfeststellung konnte darüber hinaus rechtmäßig auf der Grundlage [der Befugnis durchgeführt werden, die Identitätsfeststellungen an gefährlichen Orten ermöglicht]. Hiernach darf die Polizei die Identität einer Person feststellen, wenn sie an einem Ort angetroffen wird, von dem Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass dort Personen Straftaten von erheblicher Bedeutung verabreden, vorbereiten oder verüben.

[Diese Befugnis] ist verfassungsgemäß, ohne dass es einer verfassungskonformen Einschränkung bedarf. Der mit der Regelung verbundene Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung [...] ist gerechtfertigt. Dieses Grundrecht ist nicht schrankenlos gewährleistet. Der Einzelne muss solche Beschränkungen seines Rechts hinnehmen, die durch überwiegende Allgemeininteressen gerechtfertigt sind. Diese Beschränkungen bedürfen jedoch einer verfassungsmäßigen gesetzlichen Grundlage, die insbesondere dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit und -bestimmtheit sowie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht. Sie müssen einen legitimen Zweck verfolgen und zur Erreichung des Zwecks geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne sein. Diesen Anforderungen wird [die Befugnis] gerecht. Die Norm wahrt den Grundsatz der Normenbestimmtheit und -Klarheit und verstößt nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Das Bestimmtheitsgebot findet allgemein seine Grundlage im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG. [...]. Das Gebot soll sicherstellen, dass der betroffene Bürger sich auf mögliche belastende Maßnahmen einstellen und ggf. sein Verhalten mit Blick auf die geltende Rechtslage ausrichten kann. Es soll ferner gewährleisten, dass die gesetzesausführende Verwaltung für ihr Verhalten steuernde und begrenzende Handlungsmaßstäbe vorfindet [sowie] die Grenzen der Freiheit des Bürgers nicht einseitig in das Ermessen der Verwaltung gestellt ist. Dem Gesetz kommt im Hinblick auf den Handlungsspielraum der Exekutive damit eine begrenzende Funktion zu, die rechtmäßiges Handeln des Staates sichern und dadurch auch die Freiheit der Bürger schützen soll. [...]. Der Anlass, der Zweck und die Grenzen eines im Gesetz vorgesehenen Eingriffs müssen in der Ermächtigung bereichsspezifisch, präzise und normenklar festgelegt werden. Die konkreten Anforderungen an die Bestimmtheit und Klarheit der Ermächtigungsnorm bestimmen sich maßgeblich nach der Art und Schwere des Eingriffs sowie nach dem Charakter der Maßnahme (Gefahrenabwehr- oder Vorfeldmaßnahme). Sieht der Gesetzgeber im Vorfeld einer konkreten Gefahr Grundrechtseingriffe zur Verfolgung künftiger Straftaten oder zu deren Verhütung vor, müssen die Bestimmtheitsanforderungen spezifisch an dieser Vorfeldsituation ausgerichtet werden. Ferner sind die den Anlass bildenden Straftaten sowie die Anforderungen an Tatsachen, die auf die künftige Begehung hindeuten, so bestimmt zu umschreiben, dass das im Bereich der Vorfeldermittlung besonders hohe Risiko einer Fehlprognose gleichwohl verfassungsrechtlich noch hinnehmbar ist. Die Norm muss handlungsbegrenzende Tatbestandselemente enthalten, die einen Standard an Vorhersehbarkeit und Kontrollierbarkeit vergleichbar dem schaffen, der für die überkommenen Aufgaben der Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung rechtsstaatlich geboten ist.

Gemessen an diesen Maßstäben sind Anlass, Zweck und Grenzen in [der Befugnis zur Feststellung der Identität einer Person an gefährlichen Orten] hinreichend bestimmt.

Der Anlass für die Identitätsfeststellung ist die konkrete „Gefährlichkeit“ eines bestimmten Ortes aufgrund der Tatsache, dass dort Straftaten von erheblicher Bedeutung verabredet, vorbereitet oder verübt werden.

Mit der Maßnahme wird auch ein in der Norm bestimmter, konkreter Zweck verfolgt. Die Norm dient der Vorsorge für die Verhütung von Straftaten an Orten, an denen eine besonders hohe Wahrscheinlichkeit dafür besteht, Gefahrenverursacher anzutreffen. Durch die Anordnung einer Identitätsfeststellung kann hierbei einerseits die Gefährlichkeit des Ortes weiter erforscht werden, um Klarheit über die dort verkehrenden und sich aufhaltenden Personen zu erlangen. Darüber hinaus sollen Straftäter verunsichert und in Bewegung gehalten werden, um ihnen die Begehung von Straftaten zu erschweren. Das damit verfolgte Ziel, zu verhindern, dass bestimmte Orte zum Sammelpunkt von Straftätern werden, knüpft - unabhängig vom Einzelgewicht der Rechtsverstöße - an ein strukturell erhöhtes Gefahrenpotential an und dient damit einem öffentlichen Interesse von erheblichem Gewicht.

Beschränkung des gefährlichen Ortes

OVG Hamburg 2022: Weiterhin sind auch die Grenzen des Eingriffs konkret in örtlicher, sachlicher und zeitlicher Hinsicht normiert. Die Maßnahme darf nicht flächendeckend, sondern nur an einem bestimmten, konkret räumlich abgrenzbaren Ort durchgeführt werden. Darüber hinaus muss dieser Ort in sachlicher Hinsicht dadurch gekennzeichnet sein, dass Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass Personen dort Straftaten von erheblicher Bedeutung verabreden, vorbereiten oder verüben. Auf diese Weise enthält die Norm ein zweistufiges Begrenzungssystem. In einer ersten Stufe wird auf eine gerichtlich voll überprüfbare Tatsachenlage [...] auf unbestimmte, einer polizeilichen Bewertung im Einzelfall unterliegende Lageerkenntnisse abgestellt. Die Tatsachen können auf Mitteilungen anderer Behörden, Strafanzeigen von Bürgern, Hinweisen von polizeilichen Informanten oder in Lageberichten und Einsatzkonzepten niedergelegten Beobachtungen der Polizei beruhen. Einzelbeobachtungen sind nicht ausreichend, die Tatsachengrundlage muss - um aussagekräftig sein zu können - über einen längeren Zeitraum hinweg gewonnen worden sein.

Gefahrenerforschung bestimmter Straftaten

In einer zweiten Stufe zielt die Norm nicht allgemein auf die Gefahrerforschung jeglicher Formen von Kriminalität, sondern lediglich auf solche Straftaten ab, die von erheblicher Bedeutung sind. Diesbezüglich heißt es in dem Urteil sinngemäß, dass damit Anlassstraftaten gemeint sind,, die mindestens dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen sind und den Rechtsfrieden empfindlich stören und dazu geeignet sein müssen, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen.

OVG Hamburg 2022: Hierbei muss die Begehung von Straftaten von erheblicher Bedeutung nicht in jedem Einzelfall durch rechtskräftige Verurteilungen nachgewiesen sein. Wie bereits ausgeführt, ist es aufgrund des präventiven, auf die Strafverfolgungsvorsorge gerichteten Normzwecks ausreichend, wenn nachprüfbare Tatsachen dafür vorliegen, dass entsprechende Straftaten in der Vergangenheit begangen worden sind und weiterhin begangen werden.

Hamburgisches OVG, Urteil vom 31.01.2022 - 4 Bf 10/21

Anders ausgedrückt: Örtlichkeiten die von der Behördenleitung aufgrund von nachvollziehbaren Tatsachen als „gefährliche Orte“ eingerichtet wurden, ermöglicht es an solchen Orten tätig werdenden Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten, sozusagen verdachtsunabhängig, die Identität von Personen festzustellen und weitere, in den Polizeigesetzen benannte Maßnahmen zu treffen, die an gefährlichen Orten gesetzlich zugelassen sind, wie zum Beispiel die Durchsuchung von Personen und deren mitgeführte Sachen.

Willkürliche Personenkontrollen erlaubt das polizeiliche Eingriffsrecht auch an "gefährlichen Orten" nicht.

Gefährliche Orte im Sinne des PolG NRW:

§ 12 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW (Identitätsfeststellung)
(1) Die Polizei kann die Identität einer Person feststellen,
2. wenn sie sich an einem Ort aufhält, von dem Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass
a) dort Personen Straftaten von erheblicher Bedeutung verabreden, vorbereiten oder verüben,
b) sich dort Personen treffen, die gegen aufenthaltsrechtliche Strafvorschriften verstoßen,

c) sich dort gesuchte Straftäter verbergen.

§ 39 Abs. 1 Nr. 4 PolG NRW (Durchsuchung von Personen)
(1) Die Polizei kann außer in den Fällen des § 12 Abs. 2 Satz 4 eine Person durchsuchen, wenn 4. sie sich an einem der in § 12 Abs. 1 Nr. 2 genannten Orte aufhält.

§ 40 Abs. 1 Nr. 4 PolG NRW (Durchsuchung von Sachen)
(1) Die Polizei kann außer in den Fällen des § 12 Abs. 2 Satz 4 eine Sache durchsuchen, wenn 4. sie sich an einem der in § 12 Abs. 1 Nr. 2 genannten Orte befindet.

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