Ehrenhafte Ernte |
1. November 2023 Thema heute: Unrecht gegen Unrecht potenziert Unrecht. Inhaltsverzeichnis:
01 Si vis pacem para
bellum 01 Si vis pacem para bellum Wenn du den Frieden willst, plane den Krieg, oder bereite den Krieg vor! Diese Grundidee findet sich schon bei Platon: Dort heißt es: Die vornehmste Grundlage eines glückseligen Lebens aber ist dies, dass man weder Unrecht tut noch von anderen Unrecht erleidet. Hiervon ist nun das Erstere nicht so gar schwer zu erreichen, wohl aber so viel Macht zu erwerben, dass man sich gegen jedes Unrecht zu sichern vermag, und es ist unmöglich auf eine andere Weise vollkommen zu derselben zu gelangen als dadurch, dass man selber vollkommen tüchtig dasteht. Und ebenso ergeht es auch einem Staate, ist er tüchtig, so wird ihm ein friedliches Leben zuteil, ist er es nicht, so bedrängt ihn Fehde von innen und außen. Steht es aber so damit, so muss sich jeder nicht erst im Kriege, sondern schon in Friedenszeiten auf den Krieg einüben, und darum muss eine verständige Bürgerschaft in jedem Monat nicht weniger als einen Tag Kriegsdienste tun, wohl aber noch mehrere, wenn es den Behörden nötig erscheint, und dabei weder Frost noch Hitze scheuen. Und zwar muss sich dies nicht bloß auf die Männer erstrecken, sondern die ganze Bürgerschaft oder auch einzelne Abteilungen derselben, je nachdem es die Behörden für gut finden, muss mit Weibern und Kindern ausgerückt werden. Platon: Nomoi VIII, 829 St.2 A Vielleicht haben sich daran ja auch deutsche Politiker erinnert, die in der ersten Hälfte des Jahres 2023 den Personalmangel bei der Bundeswehr und die Wehrfähigkeit Deutschlands dadurch beseitigen bzw. wieder herstellen wollten, indem die Wehrpflicht insbesondere angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine die Wehrpflicht wieder geboten sei, denn anders sei die Wehrfähigkeit Deutschlands wohl kaum zu gewährleisten, so ihre Argumentation. Eva Högel verwies in diesem Sachzusammenhang gesehen darauf, dass eine Aufstockung der Bundeswehr bis 2031 in dem erforderlichen und gebotenen Umfang nicht erreichbar sei. Die Herausforderung beim Personal, so die Wehrbeauftragte, ist sogar noch größer als die Herausforderung, die Bundeswehr wieder im erforderlichen Umfang aufzurüsten. Mit anderen Worten: Platons Erkenntnisse waren wohl in Laufe der Zeit in Vergessenheit geraten, obwohl ein großes Fassadenbild am Panzermuseum in Munster/Niedersachsen davor mahnt, den Krieg sozusagen zu verdrängen. Dort heißt es:
Wer aber den Frieden
will, der rede vom Krieg. Wie dem auch immer seit: Über die Gefahren des Krieges in der Absicht zu sprechen, jede sich bietende Gelegenheit dazu zu nutzen, dem Frieden zu dienen, sieht anders aus, als die "Kriegsfähigkeit der Deutschen" einzufordern, wie das Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) am 30. Oktober 2023 im ZDF getan hat. 02 Was hat das mit ehrenhafter Ernte zu tun? Sehr viel, denn es ist sicherlich ehrenwert, sich als staatliches Gemeinwesen darauf vorzubereiten, sich im Falle eines Angriffs angemessen verteidigen zu können, obwohl kriegerische Auseinandersetzungen nur selten wie ein Blitz vom Himmel fallen, denn in den meisten Fällen haben Ursachen dazu beigetragen, an denen alle Kriegsparteien beteiligt waren. Anders ausgedrückt: Wir machen es uns in der Regel zu einfach, wenn wir anlässlich eines Angriffs den Angreifer reflexartig verdammen und ihm die alleinige Schuld am Krieg in die Schuhe zu schieben. Dazu gleich mehr. 03 Dummheit ist die Ursache von Krieg Dummheit – das sind wir. Und umgekehrt. Aus diesem Kreis gibt es kein Entrinnen. Er ist teuflisch. André Glucksmann. Die Macht der Dummheit. DVA 1984, Seite 30. Im Hinblick auf den Verlauf von Kriegen erkennen wird das aber meist erst zu einem Zeitpunkt, wenn ein Krieg bereits vorbei ist und eine gewisse Zeit verstrichen ist, um Historikern die Möglichkeit zu geben, nicht nur über die Kriegsursachen, sondern auch über die Vermeidbarkeit eines gerade erst beendeten Krieges nachzudenken, womit das Vermeiden von Fehlern gemeint ist, die, wenn sie vermieden worden wären, ein Krieg nicht hätte geführt werden müssen. Nun wäre es eine Anmaßung von mir, in einem nur wenige Seiten umfassenden Text den Samen, also die Ursachen sowohl für den Krieg in der Ukraine als auch die, die zum Krieg im Gaza-Streifen geführt haben, aufzuzeigen, die zweifelsohne bereits vor Jahren in den „Boden einer gemeinsam durchlebten Wirklichkeit“ gelegt wurden und in dem die Dummheit politischer Entscheidungen so lange hat wachsen können, bis die Folgen dieses Wachsens in einer unehrenhaften Ernte - einem Krieg – sozusagen ihre Zielbestimmung gefunden hat. Im hier zu erörternden Sachzusammenhang können diese Ursachen deshalb nur punktuell erörtert werden. 04 Die Schismogenese im Nahen Osten Für die Saat, die schon vor dem Ersten Weltkrieg, insbesondere aber nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in den Wüstenboden des britischen Mandats Palästina eingebracht wurde, möchte ich auf eine Wortschöpfung zurückgreifen, die in den 1930er-Jahren von dem britischen Anthropologen und Psychologen Gregory Bateson (1904 bis 1980) und dem Deutschen Wilhelm Emil Mühlmann (1904 bis 1988) wissenschaftsfähig gemacht wurde. Gemeint ist die Sprachfigur der Schismogenese. Darunter verstanden die beiden Wissenschaftler ein Konzept, um problematische soziale Verhaltensmuster zwischen Kleingruppen oder Teilen der Gesellschaft zu erklären, die gegensätzlicher nicht sein konnten. Übertragen auf überschaubare Gruppen, die durchaus einige tausend Menschen umfassen konnten, bedeutete das, dass dort, wo die Lebensformen verschiedener Gruppen aufeinanderprallten, die gegenteiliger nicht sein können, es zwangsläufig zu Spannungen, Auseinandersetzungen und auch zu Kriegen kommen konnte, wenn das nicht durch die strikte Einhaltung von Sicherheitszonen vermieden werden konnte. Daran hat aber niemand denken wollen, als in den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges Juden durch eine zunehmende Auswanderung aus den Ländern Europas eine neue Heimat im zukünftigen Staate Israel zu suchen begangen. Auch diese Zuwanderung hatte eine Vergangenheit, denn bereits 1882 begann sozusagen die 1. Einwanderungswelle ins Heilige Land. Damals brachen Juden nach Zion auf, um dort überleben und eine neue Gemeinschaft gründen zu können. Stets suchten die Einwanderer damals nach Plätzen, in denen wenige Araber lebten, denn ihre Lebensräume sollten getrennt von denen der Araber liegen. Die Juden wollten unter sich sein. Ende der 1920er Jahre gab es aber kaum noch Böden, die nicht von Arabern bewohnt waren, so dass die Einwanderer nunmehr dazu übergingen, den von ihnen benötigten Boden den Arabern abzukaufen. Diese Vorgehensweise ist deshalb bemerkenswert, weil die landkaufenden Juden nicht nur Land besitzen, sondern auch Eigentum an dem Land erwerben wollten, dass, anders lässt sich dieser Prozess des Landerwerbs nicht verstehen, den eigentlichen Eigentümern, nämlich den Palästinensern, abgekauft wurde. Wie dem auch immer sei.
Erlauben Sie mir nun einen Sprung in das Jahr 1922: Auch zu diesem Zeitpunkt gab es einen jüdischen Staat noch nicht. Das im Juli 1922 von Juden und Arabern bewohnte Gebiet umfasste damals folgende Gebiete:
Was weniger bekannt ist: Bereits 1921 hatte die britische Regierung vier Fünftel ihres Mandatsgebietes nicht für die eingewanderten Juden und auch nicht für die bereits dort seit Generationen lebenden palästinensischen Araber, sondern für die Haschemiten vorgesehen. Bei den Haschimiten oder Haschemiten handelte es sich um eine arabische Herrscherfamilie, die das Königshaus von Jordanien stellte. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts herrschten haschimitische Könige zeitweise auch über Syrien und den Irak. Diese Entscheidung der Briten wurde auf Kosten der Juden und der Palästinenser getroffen. Aus britischer Sicht war das gut gemeint, sozusagen als Wiedergutmachung mit Blick auf die Haschimiten. Gut gemeint ist aber noch lange nicht gut gemacht, denn die Briten wollten weiterhin Besitzer bleiben, was aber den Juden und den Palästinensern nicht passte, denn beide hielten sich für die wahren Eigentümer des Heiligen Landes. 05 Der erste Teilungsvorschlag des Heiligen Landes Die Peel-Kommission, offiziell Palestine Royal Commission, war eine Kommission, welche die Briten während ihrer Mandatsherrschaft in Palästina einrichteten. Ihr 404-seitiger Bericht schlug am 7. Juli 1937 erstmals die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat vor. In dem Bericht heißt es unter anderem: Peel-Bericht 1937: Arabern und Juden bietet die Teilung die Aussicht, die unschätzbare Wohltat des Friedens zu erlangen. Es lohnt sicher ein Opfer von beiden Seiten, wenn der Kampf, der mit dem Mandat begonnen hat, mit seiner Beendigung beendet werden kann. Es ist nicht eine natürliche oder von altersher bestehende Fehde. Ein fähiger arabischer Vertreter der arabischen Sache hat uns gesagt, dass die Araber im Laufe ihrer ganzen Geschichte nicht nur von antijüdischen Empfindungen frei waren, sondern dass sie auch bewiesen haben, dass der Geist des Kompromisses in ihrem Leben tief verwurzelt ist. Und er hat weiter sein Mitgefühl mit dem Schicksal der Juden Europas zum Ausdruck gebracht [womit die Ausgrenzung von Juden im Hitlerdeutschland gemeint war, als Tausenden von Juden nach der Machtergreifung Hitlers der Zugang zu Hochschulen und Berufen verwehrt wurde]. „Es gibt keinen rechtlich denkenden Menschen“, sagte er, „der nicht alles Menschenmögliche tun wollte, um die Not dieser Menschen zu lindern, vorausgesetzt, dass es nicht um den Preis geschieht, dass einem anderen Volk gleiches Leid zugefügt wird.“ (Zitiert nach: Israels Weg zum Staat, DTV-Dokumente 1964, Seite 298) Dazu sollte es aber in den folgenden Jahren nicht kommen und daran änderten auch die Wirren des Zweiten Weltkrieges zuerst einmal nichts. Erst zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges glaubten zumindest die Vereinten Nationen (UN) daran, eine Lösung für den bestehenden zionistisch-palästinensischen Konflikt gefunden zu haben: Die Teilung des Heiligen Landes. Um dieses Vorhaben Wirklichkeit werden zu lassen, nahm die UN-Vollversammlung am 29. November 1947 den von der Mehrheit der UNESCO-Kommission empfohlenen Teilungsplan an. Allerdings wurde das Gebiet des jüdischen Staates geringfügig verkleinert. In dieser Resolution sind sowohl die Grenzen des arabischen als auch die des jüdischen Staates akribisch beschrieben und festgelegt. Volltext der UN-Resolution vom 29. November 1947 Die Entscheidung, Palästina zu teilen, basierte vor allem auf der Erkenntnis, dass die territorialen Ansprüche von Juden und Arabern unvereinbar waren, so dass die Schaffung zweier getrennter Staaten als ein alleiniger logischer Schluss in Betracht gezogen werden konnte. Wie dem auch immer sei. Die arabischen Mitglieder der Vereinten Nationen 1947 lehnten die Teilung Palästinas ab, obwohl sie noch im gleichen Jahr der Teilung des indischen Subkontinents und die Gründung des neuen, vorwiegend muslimischen Staates Pakistan zustimmten, um gleichermaßen bestehende Unvereinbarkeiten zwischen Hindus und Muslimen, die mit denen von Juden und Arabern durchaus vergleichbar sind, beenden zu können. Eine Teilung war dennoch keine Lösung, denn bereits vor der Gründung des Staates Israel, die am 14. Mai 1948 erfolgte, „fielen reguläre Streitkräfte aus Ägypten, Transjordanien, Syrien, dem Libanon und ein Verband irakischer Truppen von Norden, Osten und Süden ins Heilige Land ein. Zitat: An diesem Tag erklärte Azzam Pascha, der damalige Generalsekretär der Arabischen Liga, in einer Pressekonferenz: Wir führen einen Ausrottungskrieg und wir werden ein Massenschlachten veranstalten, von dem man einst sprechen wird wie von den mongolischen Massakern und den Kreuzzügen. In vierwöchigen Kämpfen wurden die Eindringlinge jedoch besiegt, und am 11. Juni 1948 setzte, auf Anweisung der Vereinten Nationen, eine einmonatige Waffenruhe ein. Nach deren Ablauf gingen die Araber wiederum zum Angriff über; nach weiteren zehn Tagen jedoch, in welchen ihre Streitkräfte schwere Rückschläge erlitten, wurde die Waffenruhe erneuert. Sie wurde im Herbst und Winter des Jahres durch die Araber erneut gebrochen. Israels Weg zum Staat. DTV-Dokumente 1964, Seite 13 Es sollte noch bis Juli 1949 dauern, bis es zu einer dauerhaften Waffenruhe kam. Das Ergebnis davon war: Die Palästinenser hatten nunmehr alles verloren. Die, die nicht freiwillig geflohen waren, wurden vertrieben. Ungefähr ein Drittel der palästinensischen Flüchtlinge beschlossen, aus freien Stücken das Land zu verlassen, ein weiteres Drittel wurde sozusagen zur Flucht genötigt, und das noch verbleibende Drittel wurde mittels Gewalt vertrieben. Für Statistiker: Am Vorabend der Staatsgründung Israel lebten dort:
Wenige Tage nach der Gründung des Staates Israel hatte sich die Gesamtbevölkerung drastisch verändert:
2020 lebten in Israel:
Das sind die statistischen Fakten: Fakt ist aber auch, dass die Frage, wem das Heilige Land gehört, bis heute immer noch nicht als beendet angesehen werden kann, denn beide Parteien verstehen sich als die alleinigen Eigentümer des Heiligen Landes. Diese Sprachfigur „Heiliges Land“ ist jedoch so komplex, dass es wirklich eine Anmaßung wäre, dazu in wenigen Sätzen etwas zu sagen. Dennoch entspricht es der Wirklichkeit, dass aufgrund unterschiedlicher religiöser Überzeugungen, der Glaube an die Bibel und an die Thora sowie der Glaube an den Koran, dafür „gesorgt haben“, dass die fundamentalischen Vertreter beider Glaubensrichtungen eine Grundüberzeugung eint: Der jeweils andere ist im Unrecht. Das Heilige Land gehört uns. Die sich daraus ergebenden Spannungen haben sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges weiter entwickelt und letztendlich die Situation geschaffen, so wie wir sie heute erleben. Grund dafür war und ist auch die Weigerung Israels, einer Zwei-Staaten-Lösung zuzustimmen, obwohl dieser Gedanke wirklich nicht neu ist Hinweis: Die in diesem Kapitel gemachten Ausführungen zur Geschichte im Heiligen Land wurden in Anlehnung, zum Teil auch wortgetreu, dem lesenswerten Buch von Michael Wolffsohn „Wem gehört das Heilige Land? Die Wurzeln des Streits zwischen Juden und Arabern“, Pieper Verlag 2021, Seite 241 bis 289, entnommen. Andere benutzte Quellen sind im Text als solche gekennzeichnet. 06 Förderung der Hamas durch Israel Diese Überschrift wirkt auf den ersten Blick wie ein Widerspruch in sich selbst, denn wie können Verantwortung tragende Politiker des Staates Israel überhaupt auf den Gedanken gekommen sein, diejenigen zu stärken, die nicht nur Israel, sondern am liebsten alle Juden vernichten würden? In der Politik scheint indes wirklich nichts unmöglich zu sein, um der selbst angenommenen Staatsräson Geltung zu verschaffen, indem das Wirklichkeit wird oder zur Wirklichkeit gemacht wird, was als Wirklichkeit gewollt ist. In diesem Fall ist das die Verhinderung zweier Staaten im Heiligen Land durch die zurzeit entscheidenden Regierungsparteien. Ein Verhinderer dieser Zweistaatlichkeit ist der amtierende Ministerpräsident des Staates Israel, Benjamin Netanjahu, der seit dem 29. Dezember 2022, wie schon fünf Mal zuvor, dieses Amt innehat bzw. innehatte. Er ist der erste Ministerpräsident, der nach der Gründung Israels geboren wurde, und der am längsten amtierende Ministerpräsident dieses Landes. Bei den Parlamentswahlen im November 2022 erreichte sein rechtes Bündnis die Mehrheit in der Knesset, die seitdem sozusagen unter kritischem „Dauerbeschuss“ der Opposition steht. Wie dem auch immer sei. Zur Untragbarkeit der Regierung Netanjahu heißt es in einem Artikel, der am 29. Oktober auf INFOsperber.ch erschien und der von dem britischen Journalisten Jonathan Saul Freedland verfasst wurde, der sich selbst als ein „liberaler Zionist“ bezeichnet, unter der Überschrift „Katastrophale Fehleinschätzung“ wie folgt: INFOsperber.de: Die Strategie Netanyahus sei als eine «katastrophale Fehleinschätzung» anzusehen. Netanyahu habe während seiner 16 Jahre als Ministerpräsident die Terrororganisation Hamas im Gazastreifen stets unterstützt, um die Palästinenser zu entzweien und eine Zweistaatenlösung zu verhindern. Mit Ausnahme kurzer, regelmäßiger Militäroperationen habe Netanyahu die Hamas im Gazastreifen ungehindert regieren lassen und sie von den Golfstaaten finanzieren lassen. Netanyahu habe die Vorstellung gefallen, dass die Palästinenser zwei geteilte Einheiten seien – die Fatah im Westjordanland, die Hamas im Gazastreifen. Das habe es ihm erlaubt, darauf zu bestehen, dass es keinen palästinensischen Partner gebe, mit dem er Geschäfte machen könnte. Das wiederum bedeutete: keinen Friedensprozess, keine Aussicht auf einen palästinensischen Staat und keine Forderung nach territorialen Zugeständnissen Israels. Diese Strategie Netanyahus sei kein Geheimnis gewesen. Im März 2019 hatte Netanyahu auf einer Sitzung seiner Mitte-Rechts-Partei Likud zu seinen Likud-Kollegen gesagt: «Wer die Gründung eines palästinensischen Staates vereiteln will, muss die Hamas und den Transfer von Geld an die Hamas unterstützen […] Das ist Teil unserer Strategie, um die Palästinenser in Gaza von den Palästinensern im Westjordanland zu isolieren.» Auch in der Times of Israel hieß es bereits am 8. Oktober 2023: Jahrelang hat Netanyahu die Hamas gestützt. Jetzt ist es uns um die Ohren geflogen. Die Politik des Ministerpräsidenten, die Terrorgruppe auf Kosten von Abbas und der palästinensischen Staatlichkeit als Partner zu behandeln, hat zu Wunden geführt, deren Heilung in Israel Jahre dauern wird. Mit anderen Worten: Ich denke, dass allein auf der Grundlage dieser kurzen Statements über eine langjährige israelitische Regierungspolitik das transportiert worden sein könnte, was in diesem Text als Schismogenese bezeichnet wird. Gemeint ist eine Entwicklung, die aus Arabern und Juden hat Feinde werden lassen. 07 UN-Resolution Oktober 2023 Bei der am 27. Oktober 2023 von der Generalversammlung der UN verabschiedeten Resolution, in der, im Hinblick auf den Krieg im Gaza-Streifen, Israel zu einem humanitären Waffenstillstand aufgefordert wird, hat sich Deutschland der Stimme enthalten, weil die Resolution den Hamas-Terror nicht klar beim Namen nannte, die Freilassung aller Geiseln nicht deutlich genug formuliert und das Selbstverteidigungsrecht Israels in der Resolution nicht bekräftigt wurde. Das Votum der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne), ist dennoch nicht nur enttäuschend, sondern, zumindest auch nach der hier vertretenen Auffassung eher beschämend, denn mit der im Deutschen Bundestag noch vor einigen Tagen geäußerten Staatsräson Deutschlands gegenüber Israel, die Bundeskanzler Olaf Scholz als eine unverrückbare Verpflichtung bezeichnete, hat so viel Zurückhaltung, man könnte auch sagen Feigheit bei der Einnahme einer eindeutigen Position, wirklich nichts mehr zu tun. Obwohl sich auch andere europäische Staaten der Stimme enthielten, gab es auch andere, die der Resolution zustimmten und auch einige, die der Resolution ihre Stimme verweigerten, wodurch sicherlich eine deutlichere Position im Hinblick auf die Verursacher dieses Kriegs im Gaza-Streifen zum Ausdruck gebracht wird, als das bei einer geschmeidigen Verweigerung der Zustimmung, die wohl eher als eine halbe Zustimmung und eine halbe Ablehnung zu verstehen ist, weitaus unverbindlicher ist, als ein deutliches und vernehmbares NEIN. Nachvollziehbar ist das nicht, denn in der Resolution wird Israel wahrheitswidrig als Besatzungsmacht bezeichnet. Auch enthält die Resolution auch keine Ächtung im Hinblick auf die von der Hamas in Israel begangenen Verbrechen, die in der Resolution sozusagen beschönigend als Angriffe umschrieben werden, ein weiterer Beweis dafür, dass in der Politik Wahrheit und Interessen meist nur schwer nachvollziehbar sind. Wie dem auch immer sei. Die Resolution wurde von den nachfolgenden Staaten der EU abgelehnt:
Zustimmung fand die Resolution in:
Stimmenthaltungen kennzeichnen das Abstimmungsverhalten der Mehrheit der EU-Staaten:
Chaotischer kann sich die EU wohl kaum noch positionieren, ohne das Ansehen in der Welt komplett zu verlieren. Auch hier zeigt sich, dass der Same an eine goldene europäische Zukunft, der in den 1950er Jahren gesät wurde, zwar aufgegangen und auch gewachsen ist, in der Zeit des Klimawandels aber wohl endgültig die Phase des Verfalls begonnen hat. Eine erfolgversprechende Ernte des Erreichten lässt sich zumindest so nicht einfahren. Warum? Alle Länder, und das gilt insbesondere für die Länder der EU, die der Resolution, die sich gegen Israel richtet, zugestimmt haben, dürften damit viel Vertrauen auf Seiten der Israeliten verspielt haben. Vergleichbares gilt wohl auch für die Zurückhaltung der deutschen Außenministerin als auch für die Vertreter der anderen europäischen Staaten, die sich der Stimme enthielten. Das Abstimmungsverhalten der EU-Mitgliedsstaaten lässt sich insoweit nur als eine schwer nachvollziehbare Parteiergreifung ohne Sinn und Verstand verstehen. Anders ausgedrückt: Die Resolution der UN vom 27. Oktober 2023 wird an dem Leid der Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen wohl kaum etwas ändern. Das, was bleiben wird, lässt sich in einem kurzen Satz zusammenfassen: Gut, das wir darüber gesprochen haben. So aber lassen sich durch ein fehlgeleitetes Politikverständnis weltweit wohl kaum die Probleme im Gaza-Streifen mildern, geschweige denn lösen. 08 Dem Völkerrecht verpflichtet Die Schonung von Zivilisten anlässlich kriegerischer Auseinandersetzungen gehören genauso zum Völkerrecht, wie das Verbot von Massenvertreibungen. Dieser Grundsatz war bereits im 18. Jahrhundert Bestandteil des so genannten Naturrechts und somit verboten. Bei der Ausübung seines Selbstverteidigungsrechts muss Israel folglich Zivilisten im Gaza-Streifen im Rahmen des Möglichen schonen. Im Übrigen ist es auch nicht erklärtes Ziel des israelischen Staates, die dort lebenden Menschen zu vertreiben. Ziel der Fluchtbewegung der im Gaza-Streifen lebenden Menschen in den Süden ist es, sich vor einer Bodenoffensive der Israelis in Sicherheit bringen zu können, die sich (wahrscheinlich) auf den Norden des Gaza-Streifens und auf Gaza-Stadt beschränken wird, in dem die Hamas sich sozusagen eingetunnelt haben. Dennoch handelt es sich bei dieser Flucht um eine Katastrophe, denn die Flucht von etwa 1,5 Millionen Menschen in den Süden des Gaza-Streifens wird eine Vielzahl von Problemen schaffen, sowohl für die Weltgemeinschaft als auchfür den Staat Israel. Eine Notlage, die von Tag zu Tag dringlicher und auch größer wird. Aus diesem Grunde haben die USA den Israeliten ja wohl auch geraten, ihre Pläne für den Gazastreifen gründlich zu überdenken, denn immerhin leben im gesamten Gaza-Streifen rund 2,3 Millionen Menschen, fast die Hälfte von ihnen sind Kinder und Jugendliche. Die meisten von ihnen sind zudem Nachkommen von Menschen, die vor und während des arabisch-israelischen Krieges von 1948 aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Folglich müssen die Israelis verstehen, dass es sich nicht nur um Zahlen, sondern um Menschen handelt, die in grosser Gefahr sind und denen geholfen werden muss. 09 Vorschlag von Yuval Noah Harari Yuval Noah Harari ist ein israelitischer Historiker, Philosoph und Autor der Bestseller:
Seit 2005 lehrt Yuval Noah Harari an der Hebräischen Universität Jerusalem. Ich denke, dass ein Artikel, der am 29.10.2023 auf INFOsperber.ch veröffentlicht wurde, und in dem Yuval Noah Harari wörtlich zitiert wird, zumindest einen Eindruck darüber vermittelt, dass es auch in Israel, trotz des zurzeit erlebten Ausnahmezustandes, oder gerade deswegen, viele Menschen gibt, die sich den folgenden Gedanken durchaus anschließen könnten: INFOsperber.ch vom 29.10.2023: Minderjährige und Frauen aus dem Gazastreifen nach Israel evakuieren. Etwa drei Viertel der Bevölkerung im jetzt bombardierten Gazastreifen sind Kinder, Jugendliche und Frauen. Einen Vorschlag, um möglichst viele dieser Zivilpersonen vor Tod, Verletzungen, Hunger und Dehydrierung zu verschonen, machte Yuval Noah Harari am 28. Oktober 2023 in Tamedia-Zeitungen [stärkstes Redaktionsnetzwerk in der Schweiz]. Der Geschichtsprofessor an der Hebräischen Universität Jerusalem geht davon aus, dass die Hamas darauf spekuliere, dass Israel «mit massiver Gewalt zurückschlägt und den Palästinensern grosses Leid zufügen würde». Ziel der Hamas mit ihren «religiösen Fantasien» sei es, «in den Köpfen von Millionen von Menschen in Israel und in der gesamten muslimischen Welt die Saat des Hasses zu säen und so den Frieden mit Israel für kommende Generationen zu verhindern». Alle Beteiligten müssten verhindern, dass die von der Hamas entfesselte Flut die gesamte Region verwüstet. Man dürfe nicht vergessen, dass ein Atomkrieg theoretisch vielleicht nur 24 Stunden entfernt ist: «Wenn die Hizbollah und andere Verbündete des Iran Israel mit Zehntausenden Raketen beschiessen, könnte Israel zur Selbsterhaltung zu Atomwaffen greifen.» Deshalb sollten alle Seiten auf biblische Fantasien und Forderungen nach absoluter Gerechtigkeit verzichten und sich auf konkrete Schritte zur Deeskalation des unmittelbaren Konflikts konzentrieren. Zur Deeskalation macht Harari zwei konkrete Vorschläge (wörtlich zitiert): Die Hamas lässt alle Frauen, Kinder und Babys frei, die sie als Geiseln hält. Gleichzeitig lässt Israel im Gegenzug mehrere Dutzend palästinensische Frauen und Jugendliche frei, die es als Gefangene in seinen Gefängnissen hält. Wäre das Gerechtigkeit? Nein. Gerechtigkeit verlangt, dass die Hamas sofort und bedingungslos alle Geiseln freilässt, die sie in ihre Gewalt gebracht hat. Aber diese Initiative könnte dennoch ein Schritt zur Deeskalation sein. Der palästinensischen Zivilbevölkerung wird ermöglicht, den Gazastreifen zu verlassen und sich in anderen Ländern in Sicherheit zu bringen. Ägypten, das eine gemeinsame Grenze mit dem Gazastreifen hat, sollte hier die Führung übernehmen. Sollte Ägypten jedoch keine Hilfe leisten, könnte Israel den vertriebenen Zivilisten aus dem Gazastreifen Unterschlupf gewähren – auf israelischem Boden. Wenn kein anderes Land bereit ist, palästinensische Zivilisten aufzunehmen und zu schützen, könnte Israel das IKRK [Internationales Komitee vom Roten Kreuz] und andere internationale humanitäre Organisationen einladen, auf der israelischen Seite der Grenze vorübergehend Zufluchtsorte für vertriebene Zivilisten aus dem Gazastreifen einzurichten. Diese Zufluchtsorte könnten Frauen, Kindern und aus dem Gazastreifen evakuierten Krankenhausbewohnern Schutz bieten, solange die Kämpfe gegen die Hamas andauern. Und nach Beendigung der Kämpfe würden die geflohenen Bewohner Gazas zurückkehren. Mit einem solchen Schritt würde Israel seine moralische Pflicht erfüllen, das Leben palästinensischer Zivilisten möglichst zu schützen. Und gleichzeitig würde er den israelischen Verteidigungskräften helfen, den Krieg gegen die Hamas-Terroristen mit einer geringeren Zahl an Zivilisten in der Kampfzone fortzusetzen. Bedauerlicherweise wurden solche Gedanken vor der Verabschiedung der UN-Resolution vom 27. Oktober 2023 im UN-Sicherheitsrat nicht einmal diskutiert, was nach der hier vertretenen Auffassung dafür spricht, dass es sich bei diesem Sicherheitsrat um nichts anderes, als um ein Zusammentreffen von Interessenvertretern handelt, deren Sichtweise den so genannten gesunden Menschenverstand pflichtgemäß gewusst und gewollt auszuklammern haben, vergleichbar mit dem Fraktionszwang im Deutschen Bundestag. Solange wie es der Generalversammlung der Vereinten Nationen bei der Textfassung ihrer Resolutionen aber nicht möglich ist, gesunden Menschenverstand aufs Papier zu bringen, dürfte es um die Zukunft der Welt weiterhin wirklich schlecht bestellt sein. Eine Versammlung, die nur Eigeninteressen verfolgt und die Welt in gute und in schlechte Staaten einteilt, vermag ihrem Anspruch nicht gerecht zu werden. So viel zu der Saat, die im Nahen Osten vor Jahrzehnten gesät und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges dort über 70 Jahre hat wachsen können und mit zunehmender Zeit bedauerlicherweise am Halm zu verdorren begann. Das, was dort heute geerntet werden kann, das ist ein weltweites Versagen aller Politiker, die sich an diesem Spiel von Macht und Interessen beteiligt haben. 10 Schismogenese im Kalten Krieg Vergleichbar dumm begann auch die Geschichte im Anschluss an die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Gut 10 Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hielt Winston Churchill am 5. März 1946 eine Rede über den Eisernen Vorhang. Zitat: Von Stettin an der Ostsee bis hinunter nach Triest an der Adria ist ein “Eiserner Vorhang” über den Kontinent gezogen. Hinter jener Linie liegen alle Hauptstädte der alten Staaten Zentral- und Osteuropas: Warschau, Berlin, Prag, Wien, Budapest, Belgrad, Bukarest und Sofia. Alle jene berühmten Städte liegen in der Sowjetsphäre und alle sind sie in dieser oder jener Form nicht nur dem sowjetrussischen Einfluss ausgesetzt, sondern auch in ständig zunehmendem Maße der Moskauer Kontrolle unterworfen. […] An anderer Stelle heißt es: Ich glaube nicht, daß Sowjetrußland den Krieg will. Was es will, das sind die Früchte des Krieges und die unbeschränkte Ausdehnung seiner Macht und die Verbreitung seiner Doktrin. Was wir aber heute, solange noch Zeit vorhanden ist, in Erwägung ziehen müssen, das sind die Mittel zur dauernden Verhütung des Krieges und zur Schaffung von Freiheit und Demokratie in allen Ländern. Weber (Hg.), 30 Jahre Bundesrepublik Deutschland, Band. 2, Entscheidungsjahr 1948, München 1979, S. 34f. Mit anderen Worten: Bereits 10 Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war eine Situation geschaffen worden, die es zuließ, aus Alliierten wieder Gegner werden zu lassen, aus denen auch wieder Feinde werden konnten, damit dann irgendwann wieder die Waffen wieder sprechen können. Die Guten in diesem Kalten Krieg waren die Staaten im Westen, die Bösen, die Staaten im Osten, insbesondere die UdSSR und China. Mehr gibt es dazu eigentlich nicht anzumerken, außer der Tatsache, dass einige Jahre auf der Grundlage von Übereinkommen beide Seiten abrüsteten, diese Übereinkommen aber heute gegenstandslos geworden sind, denn noch nie wurde so intensiv aufgerüstet, wie in den letzten Jahren. Zurück in die Zeit des Kalten Krieges. Allein das Wort Kommunist reichte damals aus, um in den Demokratien des Westens nicht nur komplett ausgegrenzt, sondern zum Teil sogar verfolgt zu werden, wie das zum Beispiel in den USA der Fall war, denn im Inneren der USA fand der Kampf gegen den Kommunismus seinen radikalsten Ausdruck im so genannten McCarthyismus. Des Kommunismus verdächtige Personen wurden damals in den USA vor ein Komitee für „unamerikanische“ Aktivitäten geladen. I n der Deutschland entschied man sich für ein Verbot der KPD (1956). 11 Ende des Kalten Krieges 1991 endete dieser Kalte Krieg bekanntermaßen mit dem Zusammenbruch der UdSSR. Die Politiker im Westen waren davon überzeugt, dass ihre Sicht der Dinge nunmehr gesiegt und sich das bessere System durchgesetzt habe und folglich alle von dieser Sichtweise abweichenden Vorstellungen über das Zusammenleben von Staaten dadurch gegenstandslos geworden waren, weil das Gute sich im Wettstreit der Systeme sich als ein eindeutiger Sieger erwiesen hatte. Das, was von nun an zählte, war der so genannte Freie Markt, dessen Erfolg nicht weggedacht werden kann, ohne das der heute menschheitsbedrohende Klimawandel kaum der Rede wert wäre. In dieser Euphorie des Erfolges wurde es auch für opportun gehalten, die Nato nach Osten hin zu erweitern. Dass durch diese Osterweiterung angeblich ein Versprechen gebrochen worden war, das dem letzten Staatspräsidenten der Sowjetunion, Michail Sergejewitsch Gorbatschow, gegeben worden war, konnte von Historikern jedoch nicht bestätigen. Aus deren Recherchen geht vielmehr hervor, dass es solch ein Versprechen hinsichtlich einer Nicht-Erweiterung seitens der NATO und der USA in Richtung Osten nie gegeben hat. Diese Sicht der Dinge hat sogar Michail Sergejewitsch Gorbatschow in einem Interview, das er im Oktober 2014 dem nachrichtenorientierten Onlineangebot Russia Beyond gewährte, das vom russischen Staat finanziert wird, bestätigt. Schon damals ging es um Fragen, die eine mögliche NATO-Osterweiterung durch den Beitritt, der Ukraine betrafen. Im Folgenden wird ein kurzer Abschnitt aus diesem Interview zitiert. RBTH: Eines der Schlüsselthemen, die im Zusammenhang mit den Ereignissen in der Ukraine entstanden sind, ist die NATO-Osterweiterung. Haben Sie das Gefühl, dass Ihre westlichen Partner Sie belogen haben, als Sie ihre Zukunftspläne in Osteuropa entwickelten? Warum haben Sie nicht darauf bestanden, dass die Ihnen gemachten Versprechen – insbesondere das Versprechen von US-Außenminister James Baker, dass die NATO nicht nach Osten expandieren würde – gesetzlich verankert werden? Ich zitiere Baker: „Die NATO wird keinen Zentimeter weiter nach Osten vorrücken.“ M.G.: Das Thema „NATO-Erweiterung“ wurde in diesen Jahren überhaupt nicht diskutiert und auch nicht zur Sprache gebracht. Ich sage das mit voller Verantwortung. Kein einziges osteuropäisches Land brachte das Thema zur Sprache, nicht einmal nach dem Ende des Warschauer Pakts im Jahr 1991. Auch westliche Staats- und Regierungschefs brachten es nicht zur Sprache. Ein weiteres von uns angesprochenes Thema wurde besprochen: Sicherzustellen, dass die militärischen Strukturen der NATO nicht vorrücken und dass nach der deutschen Wiedervereinigung keine zusätzlichen Streitkräfte des Bündnisses auf dem Gebiet der damaligen DDR stationiert werden. Bakers in Ihrer Frage erwähnte Aussage erfolgte in diesem Zusammenhang. Kohl und der deutsche Vizekanzler Hans-Dietrich Genscher haben darüber ebenfalls gesprochen. Ich will mich kurzfassen. Dieses Interview, in dem die Ukraine angesprochen wird, lässt es zu, einen Sprung von 8 Jahren zu machen, der abrupt am 24. Februar 2022 endet, weil von da an, mit dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine, sozusagen eine neue Zeit der "Ernte" begann. 12 Ursache des Ukraine-Krieges Dieser Krieg hätte wahrscheinlich vermieden werden können, wenn die USA dazu bereit gewesen wären, auf einen NATO-Beitritt der Ukraine zu verzichten. Diese Position vertritt zumindest Jeffrey D. Sachs in einem Gastbeitrag vom 20. September 2023, der auf Jeffsachs.org publiziert wurde. Hinweis: Jeffrey Sachs ist Professor und Direktor des Zentrums für nachhaltige Entwicklung an der Columbia University in New York. Er war Berater von drei UN-Generalsekretären. Zurzeit berät er auch den UN-Generalsekretär António Guterres im Hinblick auf die Erreichbarkeit der 17 Nachhaltigkeitsziele der UN. In dem Gastbeitrag heißt es: Während des katastrophalen Vietnamkriegs hieß es, die US-Regierung habe die Öffentlichkeit wie eine Pilzfarm behandelt: Sie hielt sie im Dunkeln und fütterte sie mit Mist. Der heldenhafte Daniel Ellsberg ließ die Pentagon-Papiere durchsickern, in denen dokumentiert wird, dass die US-Regierung unerbittlich über den Krieg lügt, um Politiker zu schützen, denen die Wahrheit peinlich wäre. Ein halbes Jahrhundert später, während des Ukraine-Krieges, wird der Mist noch höher aufgetürmt. Laut der US-Regierung und der immer unterwürfigen New York Times war der Ukraine-Krieg „unprovoziert“, das Lieblingsadjektiv der Times, um den Krieg zu beschreiben. Putin, der sich angeblich mit Peter dem Großen verwechselte, marschierte in die Ukraine ein, um das Russische Reich neu zu errichten. Fauxpas von NATO-Generalsekretär Stoltenberg: Doch letzte Woche beging NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg einen Fauxpas, was bedeutete, dass er versehentlich mit der Wahrheit herausplatzte. In seiner Aussage vor dem EU-Parlament machte Stoltenberg deutlich, dass Amerikas unermüdlicher Vorstoß, die NATO auf die Ukraine auszuweiten, der wahre Grund für den Krieg sei und warum er bis heute andauere. Hier sind Stoltenbergs aufschlussreiche Worte: „Hintergrund war, dass Präsident Putin im Herbst 2021 erklärte und tatsächlich einen Vertragsentwurf schickte, den die NATO unterzeichnen sollte, dass er keine weitere NATO-Erweiterung versprach. Das hat er uns [gemeint ist die NATO] geschickt. Das war eine Voraussetzung dafür, nicht in die Ukraine einzumarschieren. Das haben wir natürlich nicht unterschrieben. Das Gegenteil geschah. Er [gemeint ist Putin] wollte, dass wir dieses Versprechen unterzeichnen und die NATO niemals erweitern. Er wollte, dass wir unsere militärische Infrastruktur in allen Verbündeten entfernen, die der NATO seit 1997 beigetreten sind, d. Klassenzugehörigkeit. Das haben wir abgelehnt. Also zog er in den Krieg, um die NATO, noch mehr NATO, in der Nähe seiner Grenzen zu verhindern.“ Um es noch einmal zu sagen: Er [Putin] zog in den Krieg, um die NATO, noch mehr NATO, in der Nähe seiner Grenzen zu verhindern. So im Kern auch die Sichtweise des Altbundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD), der in einem Interview, das er am 21. Oktober 2023 der Berliner Zeitung gewährte, versicherte, dass der Ukraine-Krieg hätte vermieden werden können. Wörtlich sagte Gerhard Schröder: Die Einzigen, die den Krieg regeln könnten gegenüber der Ukraine, sind die Amerikaner. Bei den Friedensverhandlungen im März 2022 in Istanbul mit dem heutigen ukrainischen Verteidigungsminister Rustem Umjerow haben die Ukrainer keinen Frieden vereinbart, weil sie nicht durften. Sie mussten bei allem, was sie beredeten, zuerst bei den Amerikanern nachfragen. Natürlich vermögen die oben zitierten Statements den russischen Angriff nicht zu rechtfertigen, denn völkerrechtswidrige Angriffe lassen sich nicht rechtfertigen. Andererseits darf aber auch nicht verschwiegen werden, dass die Spirale der Gewalt meist auf einer langen Wachstumszeit beruht, in der ein Samen zu wachsen beginnt, dem von Anfang an die Möglichkeit enthält, sich zu einer Missernte auszuwachsen. Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Bereits 3 Monate zuvor, am 7. Juli 2023, gewährte Jeffrey Sachs, der links orientierten Tageszeitung „Junge Welt“ ein wie ich finde zumindest nachdenklich stimmendes Interview: Dieses Interview ist lesenswert und kann über den folgenden Link aufgerufen werden.
We need a multipolar
world. 13 Schlusssatz Ehrenhafte Ernten, egal welche Ernten damit gemeint sind, setzen voraus, dem „Boden“ auf dem eine gute Ernte gedeihen soll, respektvoll und unter Einhaltung von Regeln zkultiviert wird, die eine gute Ernte wahrscheinlich werden lassen. Geschieht das nicht, dann sind auf Dauer gesehen Missernten unvermeidbar. Das einzusehen und zu lernen würde ich als eine der größten Lernaufgaben bezeichnen wollen, die weltweit möglichst schnell geleistet werden muss. Es gibt also viel zu tun, um weiteres Versagen zu verhindern. So auch die Sichtweise von Henry Kissinger, der in einem Interview, das er der Neuen Züricher Zeitung gewährte, und das am 31. Oktober 2023 dort veröffentlicht wurde. Dort heißt es unter anderem: Henry Kissinger: Die Führer der Welt haben versagt. Es gibt eine Führungskrise in unserer Welt. [...]. Sie haben es nicht geschafft, die übergeordneten Konzepte, die Grundlagen und das Tagesgeschäft von Politik zu beherrschen. Die Gesellschaften müssen einen Weg finden, ihre Probleme zu lösen, ohne ständig eine Reihe von Konflikten zu haben. Das ist die Herausforderung. Wir haben eine Zeit ständiger Auseinandersetzungen hinter uns, die zu großen Kriegen geführt und einen Großteil unserer Zivilisation zerstört haben. Dem muss ein Ende bereitet werden. TOP Aufsatz schließen |