01 Allgemeines
TOP
Aus
polizeilicher Sicht besteht das Ziel einer vorläufigen Festnahme darin,
die »vorläufig festgenommene Person« einem Richter vorzuführen, damit
dieser die Untersuchungshaft (U-Haft) eines noch nicht verurteilten
Beschuldigten anordnet.
Mit anderen
Worten:
Wird eine
Person von der Polizei vorläufig festgenommen, dann geschieht dies in
der Absicht, diese Person einem Richter vorzuführen.
[Zweck
der U-Haft:] Der Zweck einer
angeordneten U-Haft besteht darin, die Durchsetzung des Anspruchs der
staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und eine
rasche Bestrafung des Täters gewährleisten und die spätere Vollstreckung
eines auf Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Sicherungsmaßregeln
lautenden Urteils sicherstellen zu können.
[BVerfG
zur U-Haft:] Das BVerfG hat sich mit
Beschluss vom 15.12.1965 - 1 BvR 513/65 zu den
Voraussetzungen der Anordnung von Untersuchungshaft wie folgt
positioniert:
[Rn.
13:] »In dem Rechtsinstitut der
Untersuchungshaft wird das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2
Abs. 2 und Art. 104 GG gewährleisteten Rechten des Einzelnen auf
persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen
Strafverfolgung deutlich sichtbar. Die rasche und gerechte Ahndung
schwerer Straftaten würde in vielen Fällen nicht möglich sein, wenn es
den Strafverfolgungsbehörden ausnahmslos verwehrt wäre, den mutmaßlichen
Täter schon vor der Verurteilung festzunehmen und bis zum Urteil in Haft
zu halten. Andererseits ist die volle Entziehung der persönlichen
Freiheit durch Einschließung in eine Haftanstalt ein Übel, das im
Rechtsstaat grundsätzlich nur dem zugefügt werden darf, der wegen einer
gesetzlich mit Strafe bedrohten Handlung rechtskräftig verurteilt worden
ist. Diese Maßnahme schon gegen einen einer Straftat lediglich
Verdächtigen zu ergreifen kann nur in streng begrenzten Ausnahmefällen
zulässig sein. Dies ergibt sich auch aus der grundsätzlichen
Unschuldsvermutung, die es ausschließt, auch bei noch so dringendem
Tatverdacht gegen den Beschuldigten im Vorgriff auf die Strafe Maßregeln
zu verhängen, die in ihrer Wirkung der Freiheitsstrafe gleichkommen.
Diese Unschuldsvermutung ist zwar im Grundgesetz nicht ausdrücklich
statuiert, entspricht aber allgemeiner rechtsstaatlicher Überzeugung und
ist durch Art. 6 Abs. 2 der Europäischen
Menschenrechtskonvention auch in das positive Recht der Bundesrepublik
eingeführt worden.«
An anderer
Stelle heißt es:
[Rn. 14:]
»Dies bedeutet: Die Untersuchungshaft muss in
Anordnung und Vollzug von dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
beherrscht werden; der Eingriff in die Freiheit ist nur hinzunehmen,
wenn und soweit einerseits wegen dringenden auf konkrete Anhaltspunkte
gestützten Tatverdachts begründete Zweifel an der Unschuld des
Verdächtigen bestehen, andererseits der legitime Anspruch der
staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche
Bestrafung des Täters nicht anders gesichert werden kann als dadurch,
dass der Verdächtige vorläufig in Haft genommen wird.
Und in Bezug
auf die Verhältnismäßigkeit heißt es in dem Beschluss:
[Rn
17:] »In der Bundesrepublik Deutschland
hat der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verfassungsrechtlichen Rang.
Er ergibt sich aus dem Rechtsstaatsprinzip, im Grunde bereits aus dem
Wesen der Grundrechte selbst, die als Ausdruck des allgemeinen
Freiheitsanspruchs des Bürgers gegenüber dem Staat von der öffentlichen
Gewalt jeweils nur so weit beschränkt werden dürfen, als es zum Schutz
öffentlicher Interessen unerlässlich ist. Für das Grundrecht der
persönlichen Freiheit folgt dies auch aus der besonderen Bedeutung, die
gerade diesem Grundrecht als der Basis der allgemeinen Rechtsstellung
und Entfaltungsmöglichkeit des Bürgers zukommt und die das Grundgesetz
dadurch anerkennt, dass es in Art. 2 Abs. 2 die Freiheit der Person als
»unverletzlich« bezeichnet.«
In diesem Zusammenhang weisen die
Verfassungsrichter ausdrücklich auf die Regelungen des
§ 116 StPO
(Aussetzung des Vollzugs des Haftbefehls) hin.
Diesbezüglich
heißt es in dem Urteil:
[Rn. 21:]
»Eine besondere Ausprägung des Grundsatzes der
Verhältnismäßigkeit stellt § 116 StPO dar. Er legt dem Richter die
Pflicht auf, bei jeder Verhaftung wegen Flucht-, Verdunkelungs- und
Wiederholungsgefahr zu prüfen, ob der Zweck der Untersuchungshaft nicht
auch durch weniger einschneidende Freiheitsbeschränkungen erreicht
werden kann.
Ist das der Fall, so ist der Vollzug des Haftbefehls
auszusetzen.«
[En01] 1
[Anordnung der U-Haft:] Ein Richter
wird nur dann U-Haft anordnen, wenn die Voraussetzungen von
§ 112
StPO (Voraussetzungen der U-Haft, Haftgründe) greifen.
Die Dauer der
U-Haft darf aufgrund der erstrichterlichen Anordnung die Dauer von 6
Monaten nicht überschreiten. Soll die U-Haft länger andauern, ist dafür
eine besondere Anordnung eines OLG oder des BGH erforderlich, siehe
§
121 StPO (Fortdauer der U-Haft über sechs Monate) und
§ 122 StPO
(Haftprüfung durch das OLG).
02 Voraussetzungen der U-Haft
TOP
Im § 112 Abs.
1 StPO heißt es:
(1) Die
Untersuchungshaft darf gegen den Beschuldigten angeordnet werden, wenn
er der Tat dringend verdächtig ist und ein Haftgrund besteht. Sie darf
nicht angeordnet werden, wenn sie zu der Bedeutung der Sache und der zu
erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung außer
Verhältnis steht.
[Anmerkung:] Obwohl ein Richter zur
Anordnung von U-Haft nicht gezwungen ist, wird er einen Haftbefehl
erlassen, wenn die Voraussetzungen des
§ 112 StPO
(Voraussetzungen der U-Haft; Haftgründe) greifen.
Näheres dazu in den folgenden Randnummern.
An dieser
Stelle sollen zuerst einmal nur die unbestimmten Rechtsbegriffe
aufgelistet werden, die im § 112 Abs. 1 StPO benannt sind:
-
Beschuldigter
-
dringender
Tatverdacht
-
Verhältnismäßigkeit.
02.1 Beschuldigter
TOP
Die
Beschuldigteneigenschaft beginnt mit dem Zeitpunkt, an dem
strafprozessuale Ermittlungshandlungen sich gegen einen Verdächtigen
»als Beschuldigten« richten. Die Beschuldigteneigenschaft endet erst
nach vollständiger Beendigung des Verfahrens.
Für die
polizeiliche Praxis ist die Unterscheidung zwischen einem
»Tatverdächtigen« und einem »Beschuldigten« nicht von besonderer
Bedeutung, weil die Polizei im ersten Zugriff selber entscheidet, ab
wann sie einen Verdächtigen als Beschuldigten ansieht.
Maßnahmen der
Strafverfolgung richten sich zuerst einmal grundsätzlich gegen Personen,
die im Verdacht stehen, eine Straftat begangen zu haben. Nur wenn
Ermittlungen aufgrund einer Strafanzeige geführt werden, muss der
Verdächtige immer als Beschuldigter behandelt werden.
Ansonsten
kommt es auf die Stärke des Tatverdachts an (BGH 37, 48).
[Beschuldigteneigenschaft durch Willensakt der
Strafverfolgungsbehörden:] Sobald die
Strafverfolgungsbehörden gegen einen Tatverdächtigen strafverfolgende
Maßnahmen einleiten, wird diese Person dadurch zwangsläufig zum
Beschuldigten. Beschuldigter ist somit ein Tatverdächtiger, gegen den
das Verfahren als Beschuldigten betrieben wird.
Die
Beschuldigteneigenschaft kann somit nur ein Willensakt der zuständigen
Strafverfolgungsbehörde auslösen, denn der Tatverdacht für sich allein
gesehen begründet weder die Beschuldigteneigenschaft, noch zwingt er
ohne Weiteres zur Einleitung von Ermittlungen.
[Pflichtgemäßes Ermessen der Strafverfolgungsbehörden:]
Bereits im Leitsatz des Urteils des BGH vom 31.05.1990 - 4 StR 112/90
heißt es:
»Es steht im
pflichtgemäßen Ermessen der Strafverfolgungsbehörde, wann sie von der
Zeugen- zur Beschuldigtenvernehmung übergeht; maßgeblich hierfür ist die
Stärke des Tatverdachts.«
An anderer
Stelle heißt es:
[Rn. 11:]
»Dabei unterliegt es der pflichtgemäßen Beurteilung der
Strafverfolgungsbehörde, ob sie einen solchen Grad des Verdachts auf
eine strafbare Handlung für gegeben hält, dass sie ihn als Beschuldigten
verfolgt und als solchen vernimmt (BGHSt 10, 8, 12).«
[En02] 2
[Anordnung von U-Haft:] Die Anordnung
von U-Haft darf sich nur gegen einen Beschuldigten richten. Nachzuweisen
sind insoweit im Hinblick auf die Beschuldigteneigenschaft »Tatsachen«,
die auf eine naheliegende Möglichkeit der Täterschaft oder Teilnahme
schließen lassen. Der Verfolgungsbehörde steht diesbezüglich ein
Beurteilungsspielraum zu (Kleinknecht/Meyer-Goßner - StPO, 43. Auflage,
S. 15, Rn. 76/77).
Bereits in einem Urteil des BGH vom 18.10.1956, Az.: 4 StR 278/56 -
hieß es bezüglich der »Einstufung« eines Tatverdächtigen zum »Beschuldigten« wie
folgt:
[Rn. 10:]
»Es muss (...) grundsätzlich der pflichtgemäßen Beurteilung der
Strafverfolgungsbehörde überlassen bleiben, ob sie gegen jemand einen
solchen Grad des Verdachts auf eine strafbare Handlung für gegeben hält,
dass sie ihn als Beschuldigten verfolgt. Denn sie ist Herrin des
Ermittlungsverfahrens« (BGH 10, 8, 12).«
[En03] 3
[Hinweis:] Eine dringend tatverdächtige
Person wird dadurch zum Beschuldigten im Sinne von
§ 112 StPO
(Voraussetzungen der U-Haft; Haftgründe), indem der Person eröffnet
wird, dass sie vorläufig festgenommen ist. Konsequenter und auch
richtiger ist es aber, bereits dann von der Beschuldigteneigenschaft
auszugehen, wenn ein Polizeibeamter zum Beispiel beabsichtigt, eine
Person vorläufig festzunehmen, denn die Beschuldigteneigenschaft setzt
nicht voraus, dass der Beschuldigte weiß, dass sich strafprozessuale
Maßnahmen gegen ihn richten.
02.2 Dringender Tatverdacht
TOP
»Dringender Tatverdacht liegt vor, wenn nach
dem derzeitigen Ermittlungsergebnis eine große Wahrscheinlichkeit dafür
besteht, dass der Beschuldigte an einer Straftat rechtswidrig und
schuldhaft handelnd beteiligt war und deshalb verurteilt werden wird.«
[En04] 4
Ein solcher
Verdacht ist begründbar, wenn zum Zeitpunkt der vorläufigen Festnahme
erkennbare Umstände die hohe Wahrscheinlichkeit begründen, dass der
Verdächtige als Täter oder Teilnehmer einer Straftat in Betracht kommt.
Das ist
offensichtlich der Fall, wenn eine Person auf frischer Tat betroffen
oder verfolgt wird.
Dringender
Tatverdacht kann aber auch unabhängig von Betreffen oder Verfolgen auf
frischer Tat gegeben sein, dann nämlich, wenn erkennbare Umstände mit
hoher Wahrscheinlichkeit auf Täterschaft schließen lassen.
Solche
Umstände können z. B. sein:
Bloße
Vermutungen reichen zur Begründung eines dringenden Tatverdachts nicht
aus.
Mit dem Wort »dringend« wird ein
deutlich intensiverer Tatverdacht eingefordert, als das beim so
genannten »einfachen« Anfangsverdacht im Sinne von
§ 160 Abs. 1 StPO
(Ermittlungsverfahren) bzw.
§ 152 Abs. 2 StPO (Offizial- und
Legalitätsprinzip) der Fall ist.
[Die
herrschende Meinung:] Nach herrschender
Meinung ist »dringender Tatverdacht« voraussetzungsvoller als ein
»hinreichender« Tatverdacht, der im Hinblick auf die Eröffnung eines
Hauptverfahrens im Sinne von
§ 203 StPO (Eröffnung des
Hauptverfahrens) einzufordern ist und der dadurch gekennzeichnet ist,
dass mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit im Hauptverfahren mit einer
Verurteilung zu rechnen ist.
Diese
Sichtweise führt aber in die Irre, denn ein Beschuldigter kann bereits
dann vorläufig festgenommen werden, wenn an eine Verfahrens-Eröffnung
noch gar nicht zu denken ist. Aber auch nach der Verfahrenseröffnung kommt
eine Festnahme in Betracht, wenn sich im Laufe des Verfahrens die
Verdachtsintensität entsprechend verschärft.
Deshalb sollte bei der Begründung
von dringendem Tatverdacht stets der »Schwerpunkt dieses besonderen
Tatverdachts« begründet werden.
[Schwerpunkt des dringenden Tatverdachts:]
Dringender Tatverdacht ist gegeben, wenn mit
einer gewissen Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen ist, dass die
vorläufig festgenommene Person tatsächlich
-
einem Richter vorgeführt wird
und
-
dieser aufgrund der
Verdachtslage einen Haftbefehl ausstellen wird
und
-
mit einer
Verurteilung des Beschuldigten zu rechnen ist.
[SK-StPO II:] Dort heißt es
hinsichtlich des dringenden Tatverdachts: »Der
Schluss, der Beschuldigte sei an der Tat in einer
verurteilbaren Weise beteiligt, muss sich sozusagen aufdrängen.«
An anderer
Stelle heißt es:
»Die Praxis gibt sich nicht selten mit
deutlich »weniger« zufrieden, so dass man sagen kann, ein Tatverdacht
sei nach ihr bereits dann ein »dringender«, wenn der Haftrichter ihn
aufgrund der bestehenden Beweislage »als dringend« bezeichnen würde.
Eine Prognose, dass eine Verurteilung wahrscheinlich sei, verlange der
»dringende Tatverdacht« nicht. Es genüge die Möglichkeit der
Verurteilung«. [En05]
5
02.3 Verhältnismäßigkeit
TOP
Der Grundsatz
der Verhältnismäßigkeit ist ein die gesamte Verfassung überlagernder
Rechtssatz.
Dies gilt
insbesondere für die Anordnung von Untersuchungshaft.
[BVerfG 1965:] Diesbezüglich
hat sich das BVerfG mit Beschluss vom 15. 12.1965 - 1 BvR 513/65 wie folgt
positioniert:
[Rn.
17:] In der Bundesrepublik Deutschland
hat der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verfassungsrechtlichen Rang.
Er ergibt sich aus dem Rechtsstaatsprinzip, im Grunde bereits aus dem
Wesen der Grundrechte selbst, die als Ausdruck des allgemeinen
Freiheitsanspruchs des Bürgers gegenüber dem Staat von der öffentlichen
Gewalt jeweils nur so weit beschränkt werden dürfen, als es zum Schutz
öffentlicher Interessen unerlässlich ist. Für das Grundrecht der
persönlichen Freiheit folgt dies auch aus der besonderen Bedeutung, die
gerade diesem Grundrecht als der Basis der allgemeinen Rechtsstellung
und Entfaltungsmöglichkeit des Bürgers zukommt und die das Grundgesetz
dadurch anerkennt, dass es in Art. 2 Abs. 2 die Freiheit der Person als
»unverletzlich« bezeichnet.
Im
Zusammenhang mit der Anordnung von U-Haft heißt es weiter:
[Rn.
19:] Bei der ihm hiernach obliegenden
Abwägung hat der Richter stets im Auge zu behalten, dass es der
vornehmliche Zweck und der eigentliche Rechtfertigungsgrund der
Untersuchungshaft sind, die Durchführung eines geordneten
Strafverfahrens zu gewährleisten und die spätere Strafvollstreckung
sicherzustellen; ist sie zu einem dieser Zwecke nicht mehr nötig, so ist
es unverhältnismäßig und daher grundsätzlich unzulässig, sie anzuordnen,
aufrechtzuerhalten oder zu vollziehen.
Die Haftgründe
der Fluchtgefahr und der Verdunkelungsgefahr (§ 112 Abs. 2 StPO) dienen
ersichtlich diesem Zweck.
Der Haftgrund
der Wiederholungsgefahr in § 112 Abs. 3 StPO (jetzt 112a StPO = AR) geht zwar darüber hinaus,
indem er den Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten, also
einen präventiv-polizeilichen Gesichtspunkt, für die Verhängung der
Untersuchungshaft genügen lässt. Er kann jedoch damit gerechtfertigt
werden, dass es hier um die Bewahrung eines besonders schutzbedürftigen
Kreises der Bevölkerung vor mit hoher Wahrscheinlichkeit drohenden
schweren Straftaten geht; auch erscheint es zweckmäßiger, diesen Schutz
den bereits mit der Aufklärung der begangenen Straftat befassten
Strafverfolgungsbehörden und damit dem Richter anzuvertrauen als der
Polizei.
Und im
Hinblick auf den »absoluten Haftgrund anlässlich von Kapitaldelikten«
heißt es:
[Rn.
20:] Der neu eingeführte § 112 Abs. 4
StPO (jetzt § 112 Abs. 3 StPO = AR) müsste dagegen rechtsstaatliche Bedenken erwecken, wenn er dahin
auszulegen wäre, dass bei dringendem Verdacht eines der hier
bezeichneten Verbrechen gegen das Leben die Untersuchungshaft ohne
weiteres, d.h. ohne Prüfung weiterer Voraussetzungen, verhängt werden
dürfte. Eine solche Auslegung wäre mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.
Es kann schon zweifelhaft sein, ob sie dem Wortlaut der Bestimmung
entspricht; denn dieser legt es nahe, der Vorschrift nur subsidiäre
Geltung beizumessen, sie also nur anzuwenden, wenn zuvor das Vorliegen
eines Haftgrundes nach Absatz 2 geprüft und verneint worden ist. Aber
auch wenn man dieser Auslegung nicht folgt, fordert der Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit, dass der Richter auch bei Anwendung des § 112 Abs.
4 StPO (jetzt Abs. 3 = AR) den Zweck der Untersuchungshaft nie aus dem Auge verliert. Weder
die Schwere der Verbrechen wider das Leben noch die Schwere der (noch
nicht festgestellten) Schuld rechtfertigen für sich allein die
Verhaftung des Beschuldigten; noch weniger ist die Rücksicht auf eine
mehr oder minder deutlich feststellbare »Erregung der Bevölkerung«
ausreichend, die es unerträglich finde, wenn ein »Mörder« frei
umhergehe. Es müssen vielmehr auch hier stets Umstände vorliegen, die
die Gefahr begründen, dass ohne Festnahme des Beschuldigten die
alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Tat gefährdet sein könnte.
[Verhältnismäßigkeit und
§ 116 StPO - Aussetzung des Vollzugs:]
Diesbezüglich heißt es in der Randnummer 20 des o.g. Beschlusses:
[Rn.
20:] Eine besondere Ausprägung des
Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit stellt § 116 StPO dar. Er legt dem
Richter die Pflicht auf, bei jeder Verhaftung wegen Flucht-,
Verdunkelungs- und Wiederholungsgefahr zu prüfen, ob der Zweck der
Untersuchungshaft nicht auch durch weniger einschneidende
Freiheitsbeschränkungen erreicht werden kann. Ist das der Fall, so ist
der Vollzug des Haftbefehls auszusetzen.
Die vorstehenden Darlegungen über
die allgemeine Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im
Haftrecht führen zu dem Ergebnis, dass eine Haftverschonung auch möglich
sein muss, wenn der Haftbefehl auf § 112 Abs. 4 StPO gestützt wird
(jetzt Abs. 3 = AR). [En06]
6
[Haftverschonung:] Nach dem
verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist auch bei
einem auf § 112 Abs. 3 StPO gestützten Haftbefehl eine Haftverschonung
in entsprechender Anwendung des § 116 StPO möglich.
§ 116 StPO (Aussetzung des Vollzugs) ist eine
Regelung, von der nur Richter Gebrauch machen können. Über die dort
aufgeführten »milderen« Mittel zur Vermeidung von Haft kann die Polizei
nicht verfügen.
Richter können
zum Beispiel zur Vermeidung von U-Haft verfügen, dass sich der
Beschuldigte:
-
zu
festgesetzten Zeiten bei der Polizei zu melden hat
-
seinen
Pass oder Personalausweis zu hinterlegen hat
-
seien
Wohnung nur in Begleitung von Aufsichtspersonen verlassen darf
-
gegen
Kaution auf freien Fuß gesetzt wird oder
-
eine
elektronische Fußfessel zu tragen hat.
03 Haftgründe des § 112 StPO
TOP
Diesbezüglich
ist der Wortlaut des § 112 Abs. 2 StPO eindeutig.
Dort heißt
es:
(2) Ein
Haftgrund besteht, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen
-
festgestellt wird, dass der Beschuldigte
flüchtig ist oder sich verborgen hält,
-
bei Würdigung der
Umstände des Einzelfalles die Gefahr besteht, dass der Beschuldigte
sich dem Strafverfahren entziehen werde (Fluchtgefahr),
oder
-
das
Verhalten des
Beschuldigten den dringenden Verdacht begründet, er werde
a) Beweismittel vernichten, verändern,
beiseiteschaffen, unterdrücken oder fälschen oder
b) auf Mitbeschuldigte, Zeugen oder
Sachverständige in unlauterer Weise einwirken oder
c) andere zu solchem Verhalten
veranlassen,
und wenn deshalb die Gefahr droht, dass
die Ermittlung der Wahrheit erschwert werde (Verdunkelungsgefahr).
Darüber
hinausgehend enthält § 112 Abs. 3 StPO eine Regelung, dass bei schweren
Kapitaldelikten eine Person auch dann in U-Haft genommen werden kann,
ohne dass es dazu eines Haftgrundes im Sinne von § 112 Abs. 2 StPO
bedarf.
Dazu später mehr.
[Haftgründe im Überblick:] Ein
Haftgrund im Sinne des § 112 StPO besteht, wenn der dringend
Tatverdächtige:
-
flüchtig
ist oder sich verborgen hält
-
Fluchtgefahr besteht
-
Verdunkelungsgefahr besteht
oder
-
die
Schwere der Tat für sich allein gesehen die U-Haft rechtfertigt (absoluter Haftgrund).
In den
folgenden Randnummern werden die jeweiligen Haftgründe näher erörtert.
[Hinweis:] Der Haftgrund der
Wiederholungsgefahr ist nicht Gegenstand des § 112 StPO, sondern ist im
§ 112a StPO (Haftgrund der Wiederholungsgefahr) geregelt.
Ausführungen zu diesem Haftgrund stehen im Kapitel »§ 112a StPO
(Wiederholungsgefahr)« zur Verfügung.
03.1 Flucht als Haftgrund
TOP
Der Haftgrund
der Flucht besteht, wenn festgestellt wird, dass der Beschuldigte
»flüchtig« ist oder »sich verborgen hält«.
Flucht ist
nicht bereits dann anzunehmen, wenn sich ein Täter vom Tatort entfernt
hat, oder von der Polizei unmittelbar nach der Tat »auf frischer Tat
betroffen und verfolgt wird«.
Wegzurennen
ist das gute Recht eines jeden Täters, denn niemand ist dazu verpflichtet, im Anschluss an eine
begangene Tat
-
am Tatort darauf zu warten,
dass die Polizei eintrifft,
oder
-
sich der
Polizei zu stellen.
Flucht setzt
voraus, dass im Rahmen polizeilicher Ermittlungen ein Beschuldigter
weiß, dass ihn die Strafverfolgungsbehörden suchen und er sich deshalb
-
von seinem
bisherigen räumlichen Lebensmittelpunkt absetzt
-
er dafür sorgt, dass er für
die Strafverfolgungsbehörden unerreichbar ist, indem er,
- seine Wohnung aufgibt
- sich nach erfolgter Abmeldung am neuen Wohnort nicht anmeldet
- sich sporadisch bei Freunden kurzfristig aufhält.
Kurzum:
Flucht als Haftgrund greift, wenn sich der Beschuldigte dem Zugriff der
Strafverfolgungsbehörden entzieht, obwohl er Kenntnis davon hat, dass
die Behörden nach ihm fahnden.
[Hinweis:] Berufsbedingt häufig
abwesende Personen (Piloten, Seeleute, Fernfahrer etc.) sind nicht
flüchtig, wenn sie sich vorübergehend im Ausland aufhalten.
[Verborgen halten:] Verborgen hält
sich, wer seinen Aufenthalt vor den Behörden verschleiert, also
unangemeldet oder unter falschem Namen oder an einem unbekannten Ort
lebt oder anderweitig dafür sorgt, dass er für Ermittlungsorgane schwer
auffindbar ist.
Ziel des
Flüchtenden ist es, sich dem Strafverfahren zu entziehen.
Haftbefehle,
die auf der Grundlage von »Flucht« oder »sich verborgen halten« ergehen
setzen somit den Nachweis von drei Kriterien voraus:
[Hinweis:] Der Haftgrund der »Flucht«
im Sinne von § 112 Abs. 2 Satz 1 StPO greift auch dann, wenn es sich bei
der Anlasstat um ein Bagatelldelikt im Sinne des
§ 113 StPO
(U-Haft bei leichteren Taten) handelt.
03.2 Fluchtgefahr
TOP
Es entspricht
den Tatsachen, dass von der Polizei in den weitaus meisten Fällen
Beschuldigte einem Richter vorgeführt werden, um einen richterlichen
Haftbefehl auf der Grundlage bestehender »Fluchtgefahr« zu erwirken.
Nach § 112
Abs. 2 Nr. 2 StPO besteht Fluchtgefahr, wenn auf Grund bestimmter
Tatsachen bei Würdigung der Umstände des Einzelfalles die Gefahr
besteht, dass der Beschuldigte sich dem Strafverfahren entziehen werde,
so die herrschende Meinung.
Diese
Definition rechtfertigt es nicht,
-
Fluchtgefahr anhand genereller
Maßstäbe und unter Verwendung schematischer Argumente zu begründen
oder
-
vom
Haftgrund der Fluchtgefahr auszugehen, wenn die äußeren Bedingungen
für eine Flucht günstig erscheinen
-
oder
-
wenn als
Strafmaß »Freiheitsstrafe« zu erwarten ist.
[Prüfkriterien:] Maßgeblich für die
Prüfung des Haftgrundes »Fluchtgefahr« ist, dass die Gesamtheit der
Einzelumstände, insbesondere die persönlichen Verhältnisse des Täters
sorgfältig zu prüfen sind.
»Die Beurteilung von Fluchtgefahr erfordert
somit die Berücksichtigung aller Umstände des jeweiligen Einzelfalls,
insbesondere die Art der dem Beschuldigten vorgeworfenen Tat, der
Persönlichkeit des Beschuldigten, seiner Lebensverhältnisse, seines
Vorlebens und seines Verhaltens vor und nach der Tat. Berücksichtigt
werden kann auch, dass gegen den Beschuldigten der dringende Verdacht
weiterer Taten besteht, insbesondere, dass gegen ihn noch weitere
Verfahren anhängig sind. Die »für« und »gegen« Flucht sprechenden
Tatsachen müssen gegeneinander abgewogen werden.«
[En07] 7
[Merke:] Die Gefahr, dass der
Beschuldigte sich dem Verfahren entziehen wird, muss sich bei objektiver
Betrachtung mit nachvollziehbarer Beweisführung aus bestimmten Tatsachen
ableiten lassen. Fluchtgefahr ist somit immer anhand der konkreten
Umstände des Einzelfalles zu prüfen und zu begründen.
[Rechtsgüterabwägung:] In Anlehnung an
die ständige Rechtsprechung sind die Umstände, die auf eine mögliche
Flucht hindeuten gegen die Umstände abzuwägen, die ihr
entgegenstehen. Dabei reicht es für den Nachweis von Fluchtgefahr nicht
aus, wenn die äußeren Bedingungen für eine Flucht günstig erscheinen.
Vielmehr ist zu prüfen, ob der Beschuldigte voraussichtlich von solchen
Möglichkeiten Gebrauch machen wird oder nicht.
[Tatsachen:] Die Begründung von
»Fluchtgefahr« muss deshalb aus bestimmten Tatsachen hergeleitet werden
können. Bloße Mutmaßungen und Befürchtungen reichen für den Nachweis von
Fluchtgefahr nicht aus. Andererseits dürfen an die nachzuweisenden
»Tatsachen« aber auch keine allzu hohen Anforderungen gerichtet werden.
Gründe die
für Fluchtgefahr sprechen:
-
ohne
festen Wohnsitz
-
häufig
wechselnde Wohnsitze
-
arbeitslos
-
häufiger
Arbeitsplatzwechsel
-
Flucht in
einem früheren Verfahren
-
Zugehörigkeit zu einer verbotenen Vereinigung
-
charakterliche Labilität des Beschuldigten
-
extremistisches Weltbild (Rechts- und Linksextremismus, Salafismus)
-
Neigung
zum Glücksspiel
-
Drogenmissbrauch
-
Fehlen
fester familiärer Bindungen
-
Verbindungen ins Ausland
-
gute
Fremdsprachenkenntnisse
-
Ankündigung und Umsetzung der verbotenen Ausreise in Krisengebiete
(Dschihadisten)
-
Vermögen
im Ausland.
Gegen
Fluchtgefahr sprechen:
-
starke
familiäre Bindungen
-
attraktiver Arbeitsplatz
-
hohes
Alter des Beschuldigten
-
fester
Wohnsitz
-
Wohnungseigentum (Haus, Eigentumswohnung, Firma etc.).
[Fluchtgefahrprognose:] Fluchtgefahr
darf nur aus bestimmbaren Tatsachen abgeleitet werden. Bloße Vermutungen
und Mutmaßungen reichen dafür nicht aus. Hinsichtlich der
Glaubwürdigkeit der vorgetragenen »Tatsachen« reicht die gleiche
Wahrscheinlichkeit aus, die für den Nachweis des »dringenden
Tatverdachts« einzufordern ist.
[Fluchtgefahr in der Rechtsprechung:]
Die oben gemachten Ausführungen entsprechen im Wesentlichen den
sprachlichen Formulierungen der Oberlandesgerichte, wie das die
folgenden Beispiele belegen:
OLG
Celle, Urteil vom 22.10.2009 - 1 Ws 534/09 vom 22.10.2009:
Für die Annahme von Fluchtgefahr
ist nicht pauschal auf bestimmte Strafhöhen abzustellen; maßgeblich
bleibt vielmehr die im konkreten Verfahren für den jeweiligen
Angeklagten aufgrund seiner gesamten Situation sich darstellende Frage,
ob die ihn erwartende Strafe ein Entziehen oder Untertauchen erwarten
lässt. [En08] 8
Diese
Rechtsauffassung bestätigte das BVerfG mit Beschluss vom 11. Juli 2012 -
2 BvR 1092/12.
Das OLG
Dresden definierte im Beschluss vom 23.12.2014 - 2 Ws 542/14 den
Haftgrund »Fluchtgefahr« wie folgt:
»Der Haftgrund der Fluchtgefahr liegt gemäß §
112 Abs. 2. Nr. 2 StPO dann vor, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen, bei
Würdigung der Umstände des Einzelfalles eine höhere Wahrscheinlichkeit
für die Annahme spricht, der Beschuldigte werde sich dem Strafverfahren
entziehen, als für die Erwartung, er werde am Verfahren teilnehmen (Graf
in: KK StPO, § 112 Rn. 16 m.w.N.). Bei der Prognoseentscheidung ist jede
schematische Beurteilung anhand genereller Maßstäbe, insbesondere die
Annahme, dass bei einer Straferwartung in bestimmter Höhe stets oder nie
ein bedeutsamer Fluchtanreiz bestehe, unzulässig. Die zu erwartenden
Rechtsfolgen allein können die Fluchtgefahr grundsätzlich nicht
begründen; sie sind Ausgangspunkt für die Erwägung, ob ein aus der
Straferwartung folgender Fluchtanreiz unter Berücksichtigung aller
sonstigen Umstände zu der Annahme führt, der Beschuldigte werde diesem
wahrscheinlich nachgeben und flüchtig werden.«
[En09] 9
OLG
Frankfurt/M., Urteil vom 07.04.1965 - 1 Ws 73/65:
»Der Haftgrund der Fluchtgefahr besteht gemäß
§ 112 Abs.2 Nr.2 StPO nur dann, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen bei
Würdigung der Umstände des Einzelfalles, namentlich der Verhältnisse des
Beschuldigten und der Umstände, die einer Flucht entgegenstehen, die
Gefahr besteht, dass der Beschuldigte sich dem Strafverfahren entziehen
werde. Der objektiv gefasste Begriff der Fluchtgefahr lässt dem Richter
(...) nur noch einen eingeschränkten Wertungsspielraum. Die Fluchtgefahr
als objektive und konkrete Gefahr, dass der Beschuldigte sich dem
Strafverfahren entziehen wird, muss deshalb an bestimmte Tatsachen
anknüpfen, die jeder objektive und unbefangen Urteilende im Sinne der
Fluchtgefahr deutet (vgl. Kleinknecht in JZ 1965, 115). Die vom Gesetz
geforderte Angabe der Tatsachen, aus denen sich der Haftgrund ergibt (§§
114 Abs.2 Nr.3, 122 Abs.3 StPO n.F.) dient der Selbstkontrolle des
Richters und soll eine Überprüfung ermöglichen.«
[En10] 10
Hinsichtlich
von Fluchtgefahr heißt es bei Burhoff online:
-
Bei der
Abwägung aller Umstände kann die Höhe der zu erwartenden Strafe von
Belang sein, wobei es eine Rolle spielt, bei welchem Gericht das
Verfahren anhängig ist, ob also die Höhe der Strafe »überschaubar«
ist.
-
Hält ein
Nichtsesshafter regelmäßig Kontakt zu einer Anlaufstelle eines
Sozialarbeiters und besteht bei ihm Bereitschaft, über diese für die
Ermittlungsbehörden erreichbar zu sein, spricht das gegen
Fluchtgefahr.
-
Auch kann,
wenn bei einem Beschuldigten sowohl Krankheitseinsicht als auch
Therapiebereitschaft vorhanden sind, die Annahme von Fluchtgefahr
nicht auf eine Drogenabhängigkeit gestützt werden.
-
Hat ein Beschuldigter einen
festen Wohnsitz in Frankreich, kann auch nicht von Fluchtgefahr
ausgegangen werden. Denn seit In-Kraft-Treten
des Schengener Durchführungsabkommens sind die Erwirkung und
Vollstreckung eines internationalen Haftbefehls sowie die
Auslieferung an Deutschland ohne größere Probleme möglich, wenn der
angeklagte Sachverhalt auch in Frankreich zu bestrafen wäre. Im
Übrigen kann es angesichts der Niederlassungsfreiheit innerhalb
Europas und der seit In-Kraft-Treten des
Schengener Durchführungsabkommens erleichterten Rechtsverfolgung im
europäischen Ausland nicht als Verborgenhalten gewertet werden, wenn
der Beschuldigte in Frankreich lebt.
-
Nach inzwischen wohl
übereinstimmender Meinung aller Obergerichte kann allein mit einer
(hohen) Straferwartung die Fluchtgefahr nicht begründet werden. Sie
ist vielmehr grundsätzlich nur der Ausgangspunkt für die Erwägung,
ob der in ihr liegende Anreiz zur Flucht auch unter Berücksichtigung
aller sonstigen Umstände so erheblich ist, dass die Annahme
gerechtfertigt erscheint, der Beschuldigte werde ihm nachgeben und
wahrscheinlich flüchten. Fluchtgefahr ist z.B. verneint worden bei
einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 8 Monaten. [En11]
11
[Kurzfassung: Fluchtgefahr:] Die
Straferwartung allein vermag eine Fluchtgefahr nicht zu begründen. Die
Annahme einer Fluchtgefahr kann nur aus Tatsachen hergeleitet werden.
Die Beurteilung der Fluchtgefahr erfordert die Berücksichtigung aller
Umstände, insbesondere der Art der dem Beschuldigten vorgeworfenen Tat,
seiner Persönlichkeit, seiner Lebensverhältnisse, seines Vorlebens und
seines Verhaltens vor und nach der Tat.
[Hinweis:] Der Haftgrund der
»Fluchtgefahr« im Sinne von § 112 Abs. 2 Satz 2 StPO greift auch dann,
wenn es sich bei der Anlasstat um ein Bagatelldelikt im Sinne des
§
113 StPO (U-Haft bei leichteren Taten) handelt. Fluchtgefahr setzt bei
Bagatelldelikten aber voraus, dass der Beschuldigte keinen festen
Wohnsitz oder Aufenthaltsort hat. Ausschlaggebend ist nicht die
»Meldeadresse«, sondern eine tatsächlich auf Dauer angelegte
Niederlassung.
Es kommt darauf an, dass der Beschuldigte tatsächlich
erreichbar ist.
03.3 Verdunkelungsgefahr
TOP
Dieser
Haftgrund soll der so genannten Verfahrens-Sabotage vorbeugen. Die
besteht darin, dass der Beschuldigte auf unlautere Art und Weise
Beweismittel:
-
Zeugen
-
Mittäter
-
Sachverständige.
Verdunklungsgefahr besteht auch dann, wenn »andere zu solch einem
Verhalten veranlasst« werden.
[Verdunkelungsgefahr und bestimmte Tatsachen:]
Der Nachweis der Verdunkelungsgefahr setzt voraus, dass sich aufgrund
bestimmter Tatsachen, die sich aus dem Verhalten, den Kontakten und den
Lebensumständen oder der Lebensführung des Beschuldigten ergeben,
Verdunkelungsgefahr begründen lässt. Verdunkelungsgefahr muss, in
Anlehnung an die Rechtsprechung, durch den anordnenden Richter geprüft
werden. Das geschieht in der Regel im Wege des Freibeweises.
[Bagatelldelikte:] Der Haftgrund der
Verdunkelungsgefahr greift nicht, wenn es sich um so genannte
Bagatelldelikte handelt. Diesbezüglich bestimmt
§ 113 StPO
(Einschränkung der U-Haft), dass bei Delikten, für die nur Geldstrafe
oder Freiheitsstrafe bis zu 6 Monaten, die Untersuchungshaft wegen
Verdunkelungsgefahr nicht angeordnet werden darf.
[Verdunkelungsgefahr in der polizeilichen Berufspraxis:]
In der polizeilichen Praxis hat der Haftgrund der »Verdunkelungsgefahr«
nur geringe Bedeutung. Er kommt meist nur bei Delikten in Betracht,
deren Tatbegehung »Irreführung« oder »Verschleierung« beinhalten:
-
Bestechung
-
Betrug
-
gewerbsmäßige Hehlerei
-
organisierte Kriminalität
-
Wirtschafts- und Steuerdelikte
-
Urkundenfälschung
-
Banden-
und Spionagedelikte
-
Terrorismus
-
Zugehörigkeit zu terroristischen Vereinigungen
-
Menschenhandel
-
Kinderpornografie etc.
Der Haftgrund
kommt aber auch dann in Betracht, wenn die gesamte Lebensführung des
Beschuldigten auf Täuschungen, Drohungen und Gewaltanwendung beruht.
[Hinweis:] Wesentlich für den Haftgrund
der »Verdunkelungsgefahr« ist, dass die »Verdunkelungshandlung« - das
Sabotieren der Arbeit der Ermittlungsbehörden - sozusagen
»verdunkelungsgeeignet« ist.
03.4 Absoluter Haftgrund
TOP
Hinsichtlich
eines gesetzlich unterstellten »absoluten Haftgrundes anlässlich
schwerer Kapitaldelikte« ist anzumerken, dass nach inzwischen wohl
übereinstimmender Meinung aller Obergerichte allein mit einer (hohen)
Straferwartung die Fluchtgefahr nicht begründet werden kann.
Sie ist
vielmehr grundsätzlich nur Ausgangspunkt für die Erwägung, ob der in ihr
liegende Anreiz zur Flucht auch unter Berücksichtigung aller sonstigen
Umstände so erheblich ist, dass die Annahme gerechtfertigt erscheint,
der Beschuldigte werde ihm nachgeben und wahrscheinlich flüchten.
Für die
Polizei ist dieser Haftgrund dennoch völlig problemlos, weil
Tatverdächtige, die im Zusammenhang mit
-
Mord
-
Totschlag
-
schwerer
Körperverletzung
-
Völkermord
-
Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion mit Leibe- oder Lebensgefahr
-
schwerer
Brandstiftung oder
-
Bildung
einer terroristischen Vereinigung
sozusagen standardmäßig vorläufig
festgenommen werden, denn kein Polizeibeamter ist dazu in der Lage, vor
Ort entscheiden zu können, um was für eine Person es sich bei dem
Tatverdächtigen tatsächlich handelt.
Im
polizeilichen Berufsalltag ist auch kein Fall denkbar, in dem eine
Polizeibeamtin oder ein Polizeibeamter auf eine vorläufige Festnahme
verzichten würde (zumindest dann nicht, wenn unmittelbar nach der Tat
Personen als dringend Tatverdächtige ermittelt werden).
Ob dann
letztendlich auch ein Richter auf der Grundlage der Erkenntnisse, die
zum Zeitpunkt der Richtervorführung verfügbar sind, U-Haft auf der
Grundlage eines »absoluten Haftgrundes« anordnen wird, liegt nicht im
Verantwortungsbereich der Polizei.
Diesbezüglich
heißt es im Beschluss des BVerfG vom 15.12.1965 - 1 BvR 513/65:
Der Grundsatz
der Verhältnismäßigkeit hat auch für das Untersuchungshaftrecht
allgemein Geltung. »Er kommt vor allem auch darin zum Ausdruck, dass -
trotz genauer Umschreibung der Voraussetzungen für den Erlass eines
Haftbefehls - dieser niemals obligatorisch ist, sondern stets im
pflichtmäßigen Ermessen des Richters steht; das folgt aus dem Wort
»darf« in § 112 Abs. 1 und 4 StPO«.
An
anderer Stelle heißt es:
[Rn.
19:] 3. Bei der ihm hiernach
obliegenden Abwägung hat der Richter stets im Auge zu behalten, dass es
der vornehmliche Zweck und der eigentliche Rechtfertigungsgrund der
Untersuchungshaft ist, die Durchführung eines geordneten Strafverfahrens
zu gewährleisten und die spätere Strafvollstreckung sicherzustellen; ist
sie zu einem dieser Zwecke nicht mehr nötig, so ist es unverhältnismäßig
und daher grundsätzlich unzulässig, sie anzuordnen, aufrechtzuerhalten
oder zu vollziehen.
[Rn.
20:] »Der neu
eingeführte § 112 Abs. 4 StPO (heute § 112 Abs. 3 = AR) müsste dagegen rechtsstaatliche Bedenken
erwecken, wenn er dahin auszulegen wäre, dass bei dringendem Verdacht
eines der hier bezeichneten Verbrechen gegen das Leben die
Untersuchungshaft ohne weiteres, d.h. ohne Prüfung weiterer
Voraussetzungen, verhängt werden dürfte. Eine solche Auslegung wäre mit
dem Grundgesetz nicht vereinbar.« [En12]
12
[Hinweis:] Eine solche Prüfung ist
nicht möglich, wenn zum Beispiel am Tatort ein Tatverdächtiger auf
frischer Tat betroffen wird.
03.5 Bagatelldelikte - leichte Taten
TOP
Auch
anlässlich von Bagatelldelikten kommt U-Haft in Betracht. Voraussetzung
dafür ist, dass es sich um eine Tat handelt, die mit Freiheitsstrafe bis
zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu einhundertachtzig
Tagessätzen bedroht ist.
Bei
Bagatelldelikten findet der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr keine
Anwendung.
In Betracht
kommt U-Haft nur auf der Grundlage des Haftgrundes der »Flucht« sowie
des Haftgrundes der »Fluchtgefahr« in Betracht.
Die Voraussetzungen der
Inhaftierung anlässlich von Bagatelldelikten sind im
§ 113 StPO
(U-Haft bei leichten Taten) geregelt.
[Hinweis zum Haftgrund der Fluchtgefahr:]
Fluchtgefahr setzt bei Bagatelldelikten voraus, dass der Beschuldigte
keinen festen Wohnsitz oder Aufenthaltsort hat. Ausschlaggebend ist
nicht die »Meldeadresse«, sondern eine tatsächlich auf Dauer angelegte
Niederlassung.
Es kommt darauf an, dass der Beschuldigte tatsächlich
erreichbar ist.
03.6 Haftbefehl - § 114 StPO
TOP
Maßgebliche Vorschrift darüber,
was in einem Haftbefehl zu stehen hat, ist
§ 114 StPO
(Haftbefehl).
Der Wortlaut
dieser Norm ist einschlägig.
[Tatvorwurf:] In einem Haftbefehl ist
der Tatvorwurf näher zu bezeichnen. Der dafür erforderliche historische
Vorgang der Tat ist so genau darzustellen, dass der Beschuldigte den
gegen ihn erhobenen Vorwurf nach Umfang und Tragweite eindeutig erkennen
kann.
Lediglich in
komplexen Ermittlungsverfahren (insbesondere Wirtschaftsstrafverfahren)
können diesbezüglich im Anfangsstadium der Ermittlungen gewisse
Abstriche hingenommen werden. Die Anforderungen an die Konkretheit der
Darstellung des Tatvorwurfs steigen jedoch mit fortschreitender Dauer
der Ermittlungen und der Dauer bereits angeordneter Untersuchungshaft.
Geringere
Anforderungen sind möglich, wenn sich das Ermittlungsverfahren noch in
einem relativ frühen Stadium befindet.
Stellt der Haftbefehl die Tat
nicht mindestens so genau dar, dass der Beschuldigte die
strafrechtlichen Vorwürfe nach Umfang und Tragweite eindeutig erkennen
kann, kann bei eingelegter Beschwerde das angerufene Beschwerdegericht
dem Haftbefehl während des Ermittlungsverfahrens eine ordnungsgemäße
Fassung geben, wenn die Staatsanwaltschaft einen entsprechenden Antrag
stellt. [En13] 13
[Dringender Tatverdacht:] Ein
Haftbefehl genügt nicht den in § 114 Abs. 2 Nr. 4 StPO normierten
Mindestanforderungen, wenn die den dringenden Tatverdacht tragenden
Gründe dort unzureichend aufgeführt sind. Danach sind die Tatsachen
anzugeben, aus denen sich der dringende Tatverdacht ergibt. Erforderlich
ist eine gestraffte Darstellung der wesentlichen, die Verdachtsmomente
enthaltenden Ermittlungsergebnisse, welche im Zeitpunkt der
Haftentscheidung vorliegen. [En14]
14
[Tatsachen und Beweismittel:] Die den
jeweiligen Haftgrund tragenden Tatsachen und Beweismittel sind anzugeben
und zu subsumieren. Das bloße Verwenden von »Textbausteinen« vermag
dieser Anforderung nicht zu genügen.
[Hinweis:] Damit ein Richter dazu in
der Lage ist, einen - rechtlichen Standards entsprechenden Haftbefehl
erlassen zu können - ist er darauf angewiesen, dass die Polizei mit
gebotener fachlicher Gründlichkeit ihrem Ermittlungsauftrag nachgekommen
ist.
03.7 Haftbefehl und Wohnungsdurchsuchung
TOP
Der Haftbefehl erlaubt auch die
Durchsuchung der Wohnung des Beschuldigten, denn gemäß
§ 102 StPO
(Durchsuchung beim Verdächtigen) kann die Wohnung eines Beschuldigten
durchsucht werden, wenn zu vermuten ist, dass der Beschuldigte dort
ergriffen werden kann.
Im Gegensatz
dazu können die Wohnungen nicht verdächtiger Personen zur Ergreifung
einer per Haftbefehl gesuchten Person, nur dann durchsucht werden, wenn
Tatsachen vorliegen, aus denen zu schließen ist, dass die gesuchte
Person sich in den zu durchsuchenden Räumen befindet.
Die
Durchsuchung von Räumen so genannter unverdächtiger Personen setzt somit
voraus, dass es aus der Sicht der Ermittlungspersonen wahrscheinlich
sein muss, dass die festzunehmende Person sich in den Räumen einer
unverdächtigen Person befindet.
Mit anderen
Worten:
Aus Sicht der
Ermittlungspersonen (Polizei) muss es sozusagen sicher sein, dass die Person
in den Räumen eines Unverdächtigen angetroffen wird.
Ist das der Fall, dann muss
darüber hinausgehend »Gefahr im Verzug« gegeben sein. [En15]
15
[Vollstreckung von Haftbefehlen:] Die
Vollstreckung ist grundsätzlich Angelegenheit der StA, die sich dazu,
auf der Grundlage von
§ 161 StPO (Allgemeine Ermittlungsbefugnis
der Staatsanwaltschaft) der Polizei
bedienen kann.
04 Polizei und Haftgründe
TOP
Nimmt die Polizei einen dringend
Tatverdächtigen vorläufig fest, so geschieht dies meist auf der
Grundlage von
§ 127 Abs. 2 StPO (Vorläufige Festnahem) iVm
§
112 StPO (Voraussetzungen der U-Haft; Haftgründe).
Nähere (beispielsorientierte)
Ausführungen dazu stehen in dem Kapitel: § 127 StPO -
Vorläufige Festnahme zur Verfügung.
Aufgrund des
Sachzusammenhangs sei hier nur auf Folgendes hingewiesen:
In vielen
Fällen ist es so, dass zum Zeitpunkt der vorläufigen Festnahme noch
nicht klar ist, ob überhaupt ein Haftgrund besteht, denn die dafür
erforderlichen Erkenntnisse können in der Regel unmittelbar vor Ort
nicht festgestellt werden, zumindest dann nicht, wenn ein Täter auf
frischer Tat betroffen oder verfolgt wird.
[Beispiel:]
Polizeibeamten gelingt es, einen Einbrecher auf frischer Tat zu
betreffen. Der Mann - bei dem es sich offenkundig um einen erfahrenen
Einbrecher handelt - weist sich mit einem gültigen Personalausweis aus.
Er sagt zu den Beamten: "Und jetzt lassen Sie mich bitte gehen, wenn Sie
weitere Fragen haben, können Sie mich ja vorladen. Meine Adresse haben
Sie ja." Die Beamten nehmen den Täter dennoch mit zur Polizeiwache.
Rechtslage?
In solch einer
Situation ist kein Mensch dazu in der Lage, die Gründe benennen zu
können, die »für« oder »gegen« die im § 112 StPO benannten Haftgründe
sprechen. Dazu sind auch Polizeibeamte erst nach sorgfältiger Prüfung
des Einzelfalls in der Lage, dann nämlich, wenn feststeht, welche
Tatsachen »für« und welche Tatsachen »gegen« Fluchtgefahr sprechen, denn
dies ist der für die polizeiliche Praxis meist in Anspruch genommene
Haftgrund.
Deshalb werden
die einschreitenden Beamten dem Mann eröffnen, dass er
vorläufig festgenommen ist und ihm das Recht zusteht, zu schweigen und
einen Anwalt mit der Wahrung seiner Rechte zu beauftragen.
Hier wird davon ausgegangen, dass
diese »vorläufige Festnahme zum Zweck der Prüfung von Haftgründen« sich
aus
§ 127 Abs. 1 StPO (Festnahmerecht für jedermann) ableiten
lässt, weil der Einbrecher sich ja mit einem (gültigen) Personalausweis
ausgewiesen hat.
Diese Befugnis nimmt aber Bezug
auf
§ 163b StPO (Identitätsfeststellung).
In Anlehnung an die Rechtssprechung des BVerfG ist aber die Identität
einer Person festgestellt, wenn diese sich mit einem gültigen
Ausweispapier ausgewiesen hat und keine Anhaltspunkte dafür gegeben
sind, dass es sich um gefälschte, ungültige oder nicht mehr aktuelle
Ausweise handelt.
[Hinweis:] Auf die oben skizzierte Problematik wird im
Kapitel
»Vorläufige
Festnahme«
mit gebotener Gründlichkeit eingegangen. An dieser Stelle sei nur darauf
hingewiesen, dass die wohl herrschende Meinung eine vorläufige Festnahme
in diesem Falle auf § 127 Abs. 1 StPO stützt. Eine Begründung für die
»Mitnahme
zur Polizeiwache zur Prüfung von Haftgründen«
wäre aber auch bei extensiver Auslegung von § 163b StPO möglich.
Tatsache ist, dass es das Gesetz
Polizeibeamten erlaubt, eine Person festzuhalten und zur Polizeiwache zu
verbringen, um dort feststellen zu können, ob die Person auch auf der
Grundlage von
§ 127 Abs. 2 StPO (Vorläufige
Festnahme) festgehalten werden kann.
Der
kurzfristige Freiheitsentzug, der erforderlich ist, um mit gebotener
fachlicher Gründlichkeit prüfen zu können, ob ein Haftgrund besteht,
lässt das Gesetz zu. Auf welche der o.g. Befugnisse diese Festhaltezeit
gestützt wird, hat somit keine Auswirkungen auf die materielle Rechtmäßigkeit eines
Festhaltens zum Zweck der Prüfung von »Fluchtgefahr«.
Nach der hier
vertretenen Rechtsauffassung ist dieses Festhalten zur Prüfung eines
Haftgrundes auf der Grundlage von
§ 127 Abs. 1 StPO
(Vorläufige Festnahme) zu bevorzugen, weil
einfacher zu begründen.
Ob ein Richter
in Anlehnung an die von der Polizei ermittelten Tatsachen die Person
tatsächlich in U-Haft nehmen wird oder nicht, ist eine Entscheidung, mit
der sich die Polizei abzufinden hat.
Die Polizei
kann nur für die Handlungsabläufe verantwortlich sein, die der
richterlichen Entscheidung vorgelagert sind.
05 Bearbeitung von Haftsachen
TOP
Haftsachen
sind beschleunigt zu bearbeiten. Die Eilbedürftigkeit von Haftsachen
ergibt sich aus den Nummern 7, 46 und 52
der Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren
(RiStBV).
Nr. 7 RiStV
Haftbefehl bei Antragsdelikten
(1) Wird der
Beschuldigte vorläufig festgenommen oder gegen ihn ein Haftbefehl
erlassen, bevor ein Strafantrag gestellt ist, so hat der Staatsanwalt
alle Ermittlungen vorzunehmen, die keinen Aufschub dulden.
(2) Ist eine
Tat nur mit Ermächtigung oder auf Strafverlangen verfolgbar, so gilt
Abs. 1 sinngemäß.
Nr. 46 RiStV
Begründung der Anträge in Haftsachen
(1) Der
Staatsanwalt hat alle Anträge und Erklärungen, welche die Anordnung,
Fortdauer und Aufhebung der Untersuchungshaft betreffen, zu begründen
und dabei die Tatsachen anzuführen, aus denen sich
a) der
dringende Tatverdacht,
b) der
Haftgrund
ergeben.
(2) Wenn die
Anwendung des § 112 Abs. 1 Satz 2 StPO naheliegt, hat der Staatsanwalt
darzulegen, weshalb er auch bei Berücksichtigung des Grundsatzes der
Verhältnismäßigkeit die Anordnung der Untersuchungshaft für geboten
hält.
(3) Soweit
durch Bekanntwerden der angeführten Tatsachen die Staatssicherheit
gefährdet wird, ist auf diese Gefahr besonders hinzuweisen (§ 114 Abs. 2
Nr. 4 StPO).
(4) Besteht in
den Fällen des § 112 Abs. 3 und des § 112a Abs. 1 StPO auch ein
Haftgrund nach § 112 Abs. 2 StPO, so sind die Feststellungen hierüber
aktenkundig zu machen.
Nr. 52 RiStV
Kennzeichnung der Haftsachen
In Haftsachen
erhalten alle Verfügungen und ihre Ausfertigungen den deutlich
sichtbaren Vermerk »Haft«. Befindet sich der Beschuldigte in anderer
Sache in Haft, so ist auch dies ersichtlich zu machen.
Zusammenarbeit zwischen StA und Polizei:
Die
»Richtlinien für die Zusammenarbeit zwischen Staatsanwaltschaft und
Polizei«, veröffentlicht im Gem. RdErl. d. Justizministeriums - 4600 -
III A.10 – u. d.
Innenministeriums - IV D 1 – 2941 – v. 1.8.1999, enthalten ebenfalls
Hinweise über die Bearbeitung von Haftsachen.
Dort heißt es
u.a.:
Nr. 2
Wahrnehmung
der Aufgaben von Staatsanwaltschaft und Polizei
Neben der
Verantwortung der Staatsanwaltschaft für das Ermittlungsverfahren als Ganzes trägt
die Polizei die Verantwortung für die von ihr durchgeführten
Ermittlungen. Beide Behörden nehmen die ihnen im Ermittlungsverfahren
jeweils zugewiesenen Aufgaben in dem Bewusstsein einer gemeinsamen
Verantwortung für das gesamte Ermittlungsverfahren wahr und arbeiten
daher eng und vertrauensvoll zusammen.
Nr. 6
Haftsachen
Bei der
Bearbeitung von Haftsachen beachten Staatsanwaltschaft und Polizei das
besondere Beschleunigungsgebot und stellen seine Einhaltung durch
geeignete organisatorische Maßnahmen sicher.
Nr. 7
Abgabe der
Ermittlungsvorgänge
Nach Abschluss
ihrer Ermittlungen übersendet die Polizei die Ermittlungsvorgänge ohne
Verzug an die Staatsanwaltschaft. Vor Abschluss ihrer Ermittlungen
übersendet die Polizei die Ermittlungsvorgänge an die
Staatsanwaltschaft,
-
wenn diese
um Übersendung bittet,
-
die
Vornahme einer richterlichen oder staatsanwaltschaftlichen
Untersuchungshandlung erforderlich erscheint oder die Ermittlungen
in der Sache vor allem durch die Vielzahl der Taten oder
Tatverdächtigen einen besonderen Umfang annehmen oder sich rechtlich
schwierig gestalten, es sei denn, die Staatsanwaltschaft hat im
Einzelfall auf die Übersendung der Vorgänge verzichtet,
-
sich die
Polizei aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht in der Lage
sieht, die Sache angemessen zu fördern,
-
Anhaltspunkte vorliegen, dass die Staatsanwaltschaft eine
Beschränkung des
-
Verfahrensstoffes vornehmen
oder eine abschließende Entscheidung (Nr. 5) treffen kann. [En16]
16
Der Grundsatz
der Eilbedürftigkeit von Haftsachen gilt nicht nur im Hinblick auf eine
vorrangige Bearbeitung dieses Vorgangs, um einen richterlichen Beschluss
auf U-Haft zu erwirken. Der Beschleunigungsgrundsatz gilt auch für die
Zeit, die danach kommt.
[Beschleunigungsgrundsatz:] Der »Beschleunigungsgrundsatz« war
mehrfach Gegenstand umfangreicher
höchstrichterlicher Rechtsprechung.
[Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte:]
2005 entschied der EGMR, dass eine in
Untersuchungshaft befindliche Person einen Anspruch darauf hat, dass
ihrem Fall Priorität zugestanden wird und dass ihr Verfahren mit
besonderer Beschleunigung fortgeführt wird.
Zur Wahrung des
Beschleunigungsgebots in Haftsachen muss das Bemühen des Gerichts
erkennbar sein, Zeugen und Sachverständige auf eine effiziente Art zu
laden und einen straffen Verhandlungsplan festzulegen. [En17]
17
Das gilt für alle am
Strafverfahren beteiligten Stellen.
Ende des Kapitels
TOP
§ 112 StPO
(Haftgründe; Voraussetzungen der U-Haft)
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06 Quellen
TOP
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Endnote_01
Voraussetzungen der U-Haft
BVerfGE 19, 342 - Wencker
Bweschluss vom 15.12.1965 - 1 BvR 513/65
http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv019342.html
Aufgerufen am 21.04.2015
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Endnote_02
Beschuldigteneigenschaft
Stärke des Tatverdachts
BGH, 31.05.1990 - 4 StR 112/90
https://www.jurion.de/Urteile/BGH/1990-05-31/4-StR-112_90
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Endnote_03
Beschuldigter
Bundesgerichtshof
Urt. v. 18.10.1956, Az.: 4 StR 278/56
https://www.jurion.de/Urteile/BGH/1956-10-18/4-StR-278_56
Aufgerufen am 21.04.2015
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Endnote_04
Begriff: Dringender Tatverdacht
SK-StPO II - Paeffgen - S. 707, Rn. 4
Zurück
Endnote_05
Dringender Tatverdacht - Anforderungen
SK-StPO II
Paeffgen, § 112 StPO
Seite 710 Rn. 9
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Endnote_06
Anordnung von Untersuchungshaft
BVerfGE 19, 342 - Wencker Beschluss des BVerfG
vom 15. 12.1965 - 1 BvR 513/65
http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv019342.html
Aufgerufen am 21.04.2015
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Endnote_07
Fluchtgefahrprognose
Kleinknecht/meyer-Goßner
Strafprozessordnung
43. Auflage
§ 112, Rn. 19
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Endnote_08
Fluchtgefahr und Strafmaß
OLG Celle · Beschluss vom 22. Oktober 2009 ·
Az. 1 Ws 534/09
https://openjur.de/u/324665.html
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Endnote_09
Haftsachen und Haftgrund der Fluchtgefahr
OLG Dresden 2. Stafsenat, Beschluss vom
23.12.2014 - 2 Ws 542/14
https://www.juris.de/jportal/portal/page/
homerl.psml?nid=jpr-NLSF000002515&cmsuri=%2
Fjuris%2Fde%2Fnachrichten%2Fzeigenachricht.jsp
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Endnote_10
Haftgrund der Fluchtgefahr OLG Frankfurt/M.,
Urteil vom 07.04.1965 - 1 Ws 73/65
http://www.recht21.com/urteile/olg_frankfurt_1965-04-07.pdf
Aufgerufen am 21.04.2015
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Endnote_11
Fluchtgefahr
http://www.burhoff.de/insert/?/veroeff/
aufsatz/strafo_2006_51.htm#BIII1
Aufgerufen am 21.04.2015
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Endnote_12
Absoluter Haftgrund
BVerfGE 19, 342 - Wencker
BVerfG, Beschluss vom 15.12.1965 - 1 BvR
513/65
http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv019342.html
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Endnote_13
Haftbefehl: Anforderungen an die Konkretheit
der Darstellung des Tatvorwurfs OLG Frankfurt, Beschluss vom 26.10.2006
- 1 Ws 87/06
http://www.lareda.hessenrecht.hessen.de/jportal/
portal/t/s15/page/bslaredaprod.psml?&doc.id=KORE
229772007%3Ajuris-r01&showdoccase=1&doc.part=L
Aufgerufen am 21.04.2015
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Endnote_14
Anforderungen an dringenden Tatverdacht
OLG Koblen,, Beschluss vom 21.01.2009 - 1 Ws
9/09
http://www3.mjv.rlp.de/rechtspr/DisplayUrteil_neu.
asp?rowguid={
5D2FFEC4-8CB9-4C50-84C1-CDC1364E2F7C}
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Endnote_15
Durchsuchung einer Wohnung zur Vollstreckung
eines Haftbefehls
OLG Düsseldorf, Urteil vom 26.02.2008 - III-5
Ss 203/07 - 93/07
https://www.jusmeum.de/urteil/olg_duesseldorf/e2bddefd5d9
736796319a70b6ede3f96f5d598e6c179636f3b793a7d544f166c?page=1
https://www.jusmeum.de/urteil/olg_duesseldorf/e2bddefd5d9
736796319a70b6ede3f96f5d598e6c179636f3b793a7d544f166c?page=3
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Endnote_16
Richtlinie für die Zusammenarbeit
von Staatsanwaltschaft und Polizei
Gem. RdErl. d. Justizministeriums - 4600 - III
A.10 –
u. d. Innenministeriums - IV D 1 – 2941 –
v. 1.8.1999
https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_vbl_show_pdf?p_id=277
Aufgerufen am 21.04.2015
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Endnote_17
Beschleunigungsgebot in Haftsachen
EGMR Nr. 65745/01 - Urteil der 3. Kammer vom
10. November 2005 (Dzelili gegen Deutschland)
http://www.hrr-strafrecht.de/hrr/egmr/
01/65745-01.php?referer=db
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§ 112 StPO(Haftgründe; Voraussetzungen der U-Haft)
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