01 Freiheit im 18.
Jahrhundert
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Es ist heute weitgehend in
Vergessenheit geraten, dass zur Zeit der Aufklärung die
Vorstellungen von »Freiheit« in unterschiedliche Richtungen
erdacht, durchdacht und ausformuliert wurden. Während liberale
Freiheitsvorstellungen von dem Standpunkt ausgingen, dass
Politik eine Sache des »Experimentierens«, also immer aufs Neue
von »Versuch und Irrtum« bestimmt sei, basiert die Lehre der
totalen Demokratie auf der Annahme einer alleinigen und
ausschließlichen Wahrheit in der Politik.
Diese Sichtweise gründete auf der Annahme, dass nur ein alle Lebensbereiche
regelnder Staat »Freiheit« dauerhaft gewähren kann.
Während die »liberalen
Aufklärer« das Wesen der Freiheit in seiner Spontaneität und -
zumindest anfangs - in dem Fehlen jeglichen Zwangs beschrieben,
glaubten die Vertreter der anderen Schule, der Schule des
Sozialismus nach heutigem Sprachgebrauch, dass man die Freiheit nur
dann verwirklichen kann, wenn ein absolutes kollektives Ziel
angestrebt und möglichst sofort durch Handlungen von einem nicht
irren könnenden Staat gewährleistet wird.
Und wer sich dem
kollektiven Gemeininteresse nicht bedingungslos unterordnen
wollte, der wurde, wie in der Französischen Revolution
geschehen, einfach einen Kopf kürzer gemacht.
Jean-Jacques Rousseau ging
davon aus, dass Menschen ihre Freiheit nur einmal erringen
können, nicht ein zweites Mal.
Rousseau schrieb:
»Ein
Volk »vermag sich nur frei zu machen, solange es noch im Zustand
der Barbarei verharrt, aber es ist dazu nicht mehr imstande,
wenn die Kraft des Bürgerstandes verbraucht ist. Dann können die
Unruhen es vernichten, ohne dass es die Revolutionen
wiederherstellen können, und es zerfällt und besteht nicht
länger, sobald seine Fesseln gebrochen sind; von dem Augenblick
an hat es einen Herrn und nicht einen Befreier nötig. Ihr freien
Völker, seid der Wahrheit eingedenk: »Man
kann sich die Freiheit erringen, gewinnt sie aber nie noch
einmal!« [En01] 1
Insbesondere der letzte mahnende Satz von Rousseau scheint
zurzeit seine abschreckende Wirkung verloren zu haben, denn
zusehends verliert sich die Freiheit hinter der zunehmenden
Stärke sich verändernder demokratischer Staaten, zum Beispiel in
der Türkei, in Ungarn, in Polen und sogar in Deutschland selbst.
Diesbezüglich fand der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart
Baum (Bundesinnenminister von 1978 bis 1982) in
einem Interview, das am 20.03.2018 in der Kulturzeit auf SAT3 gesendet
wurde, deutliche Worte.
Gerhart Baum sagte:
»Wir
erleben seit Jahrzehnten eine sicherheitspolitische Aufrüstung.
Auch die letzte Bundesregierung war nicht Anwalt der
Bürgerrechte. Es gibt eine ganze Serie von Gesetzen, die
verfassungsfeindliche Elemente bzw. verfassungswidrige Elemente
enthalten, zum Beispiel: das Gesetz zur Durchsuchung von
Computern ... durch Staatstrojaner. Hier muss jetzt Karlsruhe
heran und muss dieses Gesetz bewerten. Also, wir haben in den
letzten Jahren - das muss man sich mal vorstellen - in den
letzten 10 Jahren, etwa 50 strafverschärfende Gesetze bekommen. Also,
es ist eine Spirale ... und die Freiheit stirbt scheibchenweise.
Und die Grundlage dafür ist die Angst, die Angst ist wirklich
ein hinterhältiger Dämon in einer freiheitlichen Gesellschaft.
Sie wird benutzt, um die Menschen unsicher zu machen. Und dann
werden Symbolhandlungen beschlossen, die angeblich mehr
Sicherheit bringen, aber die das in Wahrheit nicht tun, sondern
die Freiheit einschränken.
Es geht ja um uns, um die Freiheit der unbescholtenen Menschen,
nicht um die Freiheit der Verdächtigen und der Täter ist hier im
Blickfeld, sondern die Freiheit unserer Gesellschaft, die von
der Unterstützung durch eine freie Zivilgesellschaft lebt.
Und ich frage mich, wenn ich das sehe, was in Cottbus geschehen
ist: Wo kommt diese Menschenverachtung her? Wo kommt dieser Hass
her? Dieser Rassismus, in einem Lande, in dem es den Holocaust
gegeben hat. Was ist da passiert? Wie können wir dagegen
vorgehen?
Es gibt Missstände, aber es wird
alles, was die Menschen auf den Sündenbock Flüchtling transponiert.
Und das ist eine ganz gefährliche Entwicklung, und der muss die
ganze Gesellschaft widerstehen. Also, wir haben es mit Ängsten
zu tun, mit Terrorängsten, mit Kriminalitätsängsten, und mit
Änsten vor Überfremdung.«
[En01a]
Ob Rousseau (1712 bis 1778) bereits vor mehr als 200 Jahren
die oben angedeutete Entwicklung vorausahnen konnte, ist eine
unzulässige Spekulation. Rousseaus Zukunftsahnungen beruhten auf
ganz anderen Gefahren, auf die hier aber nicht näher eingegangen
werden kann.
Wie dem auch immer sei.
Die Philosophen des 18.
Jahrhunderts zweifelten nie daran, dass sie mit ihren
Vorstellungen über »Freiheit« eine neue Religion verkündeten.
Freiheit, das war eine
Befreiung von Gott und zugleich eine Hinwendung zur menschlichen
Tugend, dem Allgemeinwohl, dem eigentlichen Ziel von Freiheit.
Es war somit nicht nur
Theismus, also die Lehre von einem persönlichen Gott als
Schöpfer und Lenker der Welt, der Rousseau dazu veranlasste, den
Glauben an eine Gottheit als eine soziale Notwendigkeit zu
erklären.
01.1 Freiheit und Tugend
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Alle Übel, Laster und
alles Elend, so Rousseau, sind darauf zurückzuführen, dass der
Mensch nicht seiner wahren Natur gefolgt sei, denn hätte er
seine wahre Natur erforscht, so hätte er in ihr ein Abbild der
universalen Ordnung entdeckt müssen.
Jean-Jacques Rousseau
dachte, dass dieser Mangel an Tugend durch Erziehung ausgemerzt
werden könne.
Aber der Mensch ist - und
das wusste auch Rousseau - nicht nur ein lernfähiges Geschöpf,
sondern mindestens gleichermaßen auch durch seine individuellen
und unberechenbaren Leidenschaften gekennzeichnet, die Thomas
Hobbes (1588 bis 1679) in einem ihm zugesprochenen und häufig
zitierten Satz wie folgt zusammenfasst.
Denn der Mensch ist dem
Menschen ein Wolf, kein Mensch.
In seinen Hauptwerken wird
man nach diesem Satz vergeblich suchen. Nach meinem
Kenntnisstand handelt es sich bei diesem Zitat um die
persönliche Widmung in einem seiner Bücher, das er einem guten
Freund schenkte.
Wie dem auch immer sei.
In seinen beiden
Hauptwerken, aus denen im Folgenden kurz zitiert wird, macht
Thomas Hobbes unmissverständlich klar, wie er über die Natur des
Menschen dachte. Im Kapitel 13 (Vom
Menschen) seines »Leviatan« schrieb Hobbes folgende Zeilen:
»Und weil der Zustand des
Menschen [...] ein Zustand des Krieges eines jeden gegen jeden
ist, wobei jeder von seiner eigenen Vernunft geleitet wird und
es nichts gibt, dessen er sich bedienen kann, das ihm nicht eine
Hilfe bei der Erhaltung seines Lebens gegen seine Feinde sein
mag, folgt daraus, dass in solch einem Zustand jeder ein Recht
auf alles hat, sogar auf den Körper des anderen. Und solange
dieses Naturrecht des Menschen auf alles andauert, kann es daher
für keinen [Menschen = AR] Sicherheit geben (wie stark oder
weise er auch sein mag), so lange zu leben, wie es die Natur des
Menschen üblicherweise gestattet.«
Ein paar Sätze weiter,
unter Bezugnahme auf die menschliche Vernunft, heißt es,
dass jedermann nach Frieden streben sollte, soweit er Hoffnung
hat, ihn zu erlangen, und dass er, wenn er ihn nicht erlangen
kann, alle Hilfen und Vorteile des Krieges suchen und von ihnen
Gebrauch machen darf. [En02] 2
Und in seinem zweiten
bedeutenden Werk »Vom Bürger - vom Menschen« findet Hobbes für
die Natur des Menschen folgende Worte:
»Würde die Menschen nicht die Furcht voreinander daran hindern,
so würde jeder von Natur aus zweifellos die anderen eher zu
beherrschen suchen, als sich mit ihnen verbinden zu wollen. Es
gilt insofern festzuhalten, dass jede große und dauerhafte
Gemeinschaft von Menschen ihren Ursprung nicht in gegenseitigem
Wohlwollen, sondern in wechselseitiger Furcht voreinander hat.«
[En03] 3
Mit anderen Worten:
Das Recht auf Erreichung
des eigenen Vorteils (eine auch heute noch durchaus gängige
Vorstellung von Freiheit) gibt auch das Recht die dazu
erforderlichen Mittel.
Dem Naturrecht zufolge gehört allen
alles.
Das Recht aller auf alles ist aber im Sinne von Hobbes
nutzlos. Deshalb befinden sich Menschen außerhalb der
Gesellschaft im Zustand des Krieges, heute würde man sagen:
Gesellschaften tun alles, um sich an anderen Gesellschaften
bereichern zu können, das gilt auch für die deutsche Wirtschaft
im Jahr 2018.
[Der starke Staat:]
Um der destruktiven Natur des Menschen zu begegnen, fordern
nicht nur Hobbes, sondern auch die nach ihm kommenden Aufklärer einen starken
Staat, der dazu in der Lage ist, durch den »Gesetzgeber« Regeln
aufstellen zu können, durch die der Mensch wie Lehm geknetet werden
kann, um ihn in die Form zu zwingen, die ein friedliches
Zusammenleben ermöglicht.
Wenn das erreicht ist, so
der Glaube vieler Aufklärer, dann ist Freiheit erreicht.
[Hinweis:] Im
Gegensatz zum »starken Staat« vergangener Jahrhunderte, der als
Verkörperung des Allgemeinwohls verstanden wurde, bezeichnet man
heute u.a. einen Staat als »stark«, wenn er über eine optimal
ausgerüstete Polizei verfügt, die dazu in der Lage ist, die
ganze Härte des Gesetzes durchsetzen zu können. So die
Kurzfassung dessen, was Politiker in Deutschland heute als eine
Voraussetzung dafür ansehen, um das subjektive Sicherheitsgefühl
der Bürger »stärken« zu können.
Dass dazu auch eine allumfassende
Digitalisierung der Polizei gehört, das kann sogar im
Koalitionsvertrag 2018 nachgelesen werden. Aber auch in anderen
Bereichen soll eine bürgernahe Digitalisierung nach dem Prinzip
»Digital First« (das steht so im Koalitionsvertrag) realisiert
werden.
Mit anderen Worten:
Die Digitalisierung - was
so nicht im Koalitionsvertrag steht - wird dann, wenn die
Digitalisierung vollendet ist, über Möglichkeiten verfügen, noch heute bestehende
Freiheitsvorstellungen nicht nur zu verändert, sondern möglicherweise
sogar völlig in Vergessenheit gebracht zu haben.
Zurück zu den
Aufklärern
01.2 Aufgabe des
Gesetzgebers
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Die Aufklärer gingen davon
aus, dass es Aufgabe des Gesetzgebers sei, soziale
Harmonie herbeizuführen, also das rein persönliche Wohl des
Individuums mit dem Allgemeinwohl der Gesellschaft in Einklang
zu bringen. Der Gesetzgeber war somit dazu aufgefordert, Mittel
zu finden, um Menschen in die Notwendigkeit zu versetzen,
tugendhaft zu sein.
Tugendhaftigkeit im Sinne
der Aufklärer sollte erzielt werden durch:
Mit Hilfe geeigneter
Einrichtungen und Maßnahmen, so die Vorstellungswelt der
Aufklärer, würde das Individuum erkennen, dass sich sein
Individualinteresse nicht vom Allgemeininteresse mehr
unterscheiden würden, weil sich sein Individualinteresse ganz
zwangsläufig verwirklichen lasse, wenn sich der Einzelne so
verhält, wie das dem Allgemeinwohl entspricht.
Diese »Freiheitsidee«
wurde auch nicht dadurch ungültig, wenn zugegeben werden musste,
dass der Mensch, so wie er ist, natürlich immer sein
persönliches Wohl dem Allgemeinwohl vorziehen wird.
Grund für solche
Unstimmigkeiten sei nicht die Verderbtheit der menschlichen
Natur, sondern die Schuld des Gesetzgebers.
Mit anderen Worten:
Je perfekter der
Gesetzgeber das Allgemeinwohl regelt, um so freier die im Staat
lebenden Bürger.
01.3
Freiheitsvorstellungen der Philosophen
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Die Freiheitsvorstellungen
der Philosophen der Aufklärung hat J. L. Talmon in seinem auch
heute noch lesenswerten und bedeutenden dreibändigen Werk über
»Die Ursprünge der totalitären Demokratie« beschrieben.
[Hinweis:] Eine
Neuauflage dieses Werkes wurde aus diesem Grunde im Verlag
Vandenhoeck & Ruprecht 2013 herausgegeben, weil
Talmons Werk auch heute noch zu den bedeutendsten
ideenhistorischen Deutungen des Totalitarismus gehört.
Die Zitrate in diesem
Aufsatz wurden der deutschen Erstausgabe aus dem Jahr 1961
entnommen.
Auf Seite 38 fasst Talmon
die Freiheitsvorstellungen der Aufklärer wie folgt zusammen:
»Freiheit ist die Fähigkeit, diejenigen Rücksichten, Interessen
Vorlieben und Vorurteile sowohl persönlicher als auch
kollektiver Art abzuschütteln, die das objektiv Wahre und
Gute verdunkeln, das ich wollen muss, wenn ich meiner wahren
Natur treu bin.
Was auf das Individuum
zutrifft, findet ebenso auf das Volk Anwendung.
Mensch und Volk müssen dazu gebracht werden, die Freiheit zu
wählen und nötigenfalls gezwungen werden, frei zu sein.«
[En04] 4
Ein paar Zeilen weiter
heißt es:
»Das Ziel ist, Menschen zu
erziehen, die »fügsam das Joch des öffentlichen Glücks tragen«,
das heißt, einen neuen Menschentyp zu schaffen, ein rein
politisches Geschöpf ohne irgendwelche besonderen privaten oder
Gruppenbindungen, ohne irgendwelche Teilinteressen, wie Rousseau
sie nannte.«
[Hinweis:] Es
gehört heute zum Allgemeinwissen, dass die Denker der Aufklärung
glühende Propheten der Freiheit und der Menschenrechte waren.
Was aber weniger bekannt
ist, ist ihr tiefes Befangensein in der Idee der
Tugend, die in ihren Vorstellungen nichts anderes war, als
die Übereinstimmung mit der erhofften harmonischen
Gesellschaftsordnung, die es an die Stelle der alten Ordnung
zu errichten galt.
Noch deutlicher:
Für die Aufklärer war die
unvermeidliche Gleichsetzung von Freiheit, Tugend und Vernunft
ihr wichtigster Glaubensartikel, und das galt auch für
Robespierre, der letztendlich nur noch seine Sicht der Dinge
gelten ließ, die ihm die Freiheit gab, alle Feinde seines
Glaubens, und dazu gehörten auch viele ehemalige Freunde, zu
vernichten.
Als die weltliche Religion
des 18. Jahrhunderts dann zur Kenntnis nehmen musste, dass ihre
Vorstellungen eines dem Menschen angeblich innewohnenden
Allgemeinwohls nicht der Realität entsprachen, folgte daraus das
große Schisma, worunter im hier zu verstehenden Zusammenhang die
Spaltung innerhalb einer etablierten säkularen
Glaubensgemeinschaft zu verstehen ist:
Und dass es sich sowohl
bei den Einen als auch bei den Anderen um tieffühlende
Intellektuelle handelte, das mögen die folgenden Zitate
verdeutlichen:
[Robespierre:]
»Aber es gibt, ich sage dir, die reinen
Empfindungsseelen. Es existiert diese zarte Leidenschaft,
herrisch, unwiderstehlich, Qual und Freuden der Herzen zugleich,
großmütig, dieses tiefe Entsetzen vor der Tyrannei, dieser
mitfühlende Eifer für die Unterdrückten, diese heilige Liebe zur
Heimat sowie die erhabenere und heilige Liebe zur Menschheit,
ohne die eine große Revolution nur ein brillantes Verbrechen
wäre, das ein anderes Verbrechen zerstört.
Es existiert dieser
großzügige Ehrgeiz, auf dieser Erde die erste Republik dieser
Welt zu gründen, in der der Egoismus der Menschen durch die
himmlische Freude der Ruhe des Gewissens und der herrlichen
Glückseligkeit verwandelt wird.
Herbeigeführt von der Selbstsucht unbelasteter Männern, die ein
himmlisches Vergnügen daran finden, in der Ruhe ihres Gewissens
sich an dem bezaubernden Spektakel des öffentlichen Glücks zu
beteiligen. Du fühlst es gerade jetzt und fühlst dieses Brennen
in deiner Seele, genauso wie ich es in meiner Seele empfinde.«
[En05] 5
[Alexis de
Tocqueville:] Der bekannte französische Publizist, Politiker
und Historiker (1805 - 1859) teilte diesen Glauben an das Glück
demokratischer Freiheiten nicht mehr, als er schrieb:
»Also ich denke, dass die Art der Unterdrückung, von denen
demokratische Völker bedroht sind, anders aussehen werden, als
das früher der Fall war. In der Welt unserer Zeitgenossen gibt
es dafür keine Erinnerungsbilder. Ich selbst suche vergeblich
nach einem Ausdruck, der sich dazu eignet, solche
Erinnerungsbilder hervorzubringen, Ideen, mit denen ich diese
Unterdrückung beschreiben und umschließen kann. Die alten Worte
von Despotismus und Tyrannei stimmen nicht mehr. Die Sache ist
einfach zu neu. Wir müssen versuchen, es zu definieren, aber ich
vermag das nicht zu leisten.« [En06] 6
[Hinweis:] Bis
heute ist es noch keinem Wissenschaftler gelungen, die
Machtverhältnisse in demokratischen Systemen umfassend zu
analysieren. Grund dafür ist, dass die Vorstellungen von
Demokratie einfach zu vielfältig sind.
Dennoch lohnt es sich, der
Frage nachzugehen, wie und ob überhaupt, in der Bundesrepublik
Deutschland das Allgemeinwohl des Volkes im Zentrum des
politischen Willens dieses demokratischen Systems steht, denn
Demokratie ist ja letztendlich kein Selbstzweck, sondern
erlebbarer und realisierter Wille der Souveränität des Volkes,
das sich dieses System gegeben hat, wenn man sich an der
gängigen Definition von »Demokratie« orientiert.
Aber ist das wirklich so?
01.4 Das Allgemeinwohl und
der Souverän
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Zumindest Rousseaus
»Souverän« ist der verkörperlichte »Allgemeine
Wille des Volkes« und bedeutet im Wesentlichen dasselbe wie die
»Natürliche harmonische Ordnung«.
Durch Verbindung dieses
Begriffs mit dem Prinzip der Volkssouveränität und der
Selbstbestimmung des Volkes machte Rousseau damit den Weg frei
für die totalitäre Demokratie, denn Rousseau verstand den »Allgemeinen
Willen des Volkes« als das tragende Element der modernen
weltlichen Religion, und zwar nicht nur als ein mögliches
Ideensystem, sondern als einen leidenschaftlichen Glauben.
Bei J. L. Talmon heißt es
dazu:
[Allgemeiner Wille:]
Nur wenn alle gemeinsam als ein versammeltes Volk handeln, tritt
die Natur des Menschen als Staatsbürger wirksam in Erscheinung.
Das würde nicht geschehen, wenn nur ein Teil der Nation sich
versammelte, um den allgemeinen Willen zu wollen. Er würde einen
Teil-Willen ausdrücken. Überdies macht sogar die Tatsache, dass
alle etwas gewollt haben, dies noch nicht zum Ausdruck des
allgemeinen Willens, wenn die richtige Einstellung derer fehlte,
die es wollten. Ein Wille wird nicht allgemein dadurch, dass er
von allen gewollt wird, es sei denn, er wird in Übereinstimmung
mit dem objektiven Willen gewollt (Talmon, S. 39).
Und an anderer Stelle
heißt es:
Es ist sehr wichtig, sich
klarzumachen, dass das, was heute als wesentliche
Begleiterscheinung der Demokratie gilt, nämlich Verschiedenheit
der Ansichten und Interessen, von den Vätern der Demokratie im
18. Jahrhundert bei weitem nicht für wesentlich gehalten wurde.
Ihre ursprünglichen Postulate waren Einigkeit und
Einstimmigkeit (Talmon, Seite 40).
[Zeck des
Allgemeinen Willens:] Er kann
beschrieben werden als ein einzig wahres Ziel, das wir wollen
oder wollen müssten, obwohl wir es jetzt vielleicht wegen
unserer Rückständigkeit, unserer Vorurteile, unserer Selbstsucht
oder Unwissenheit noch nicht wollen, möglicherweise auch noch
gar nicht kennen.
Wie dem auch immer sei.
»Die
Aufgabe des Gesetzgebers ist die Schaffung eines neuen
Menschentyps mit einer neuen Mentalität, neuen Werten, einer
neuen Art von Empfindsamkeit, frei von alten Instinkten,
Vorurteilen und schlechten Gewohnheiten. Es genügt nicht, die
Regierungsmaschinerie zu ändern noch eine Klassenumschichtung
herbeizuführen. Die menschliche Natur muss geändert werden oder,
in der Terminologie des 18. Jahrhunderts, der Mensch muss dazu
gebracht werden, tugendhaft zu sein« (Talmon, Seite 44).
01.5 Das Allgemeinwohl im
Koalitionsvertrag 2018
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Im Koalitionsvertrag 2018
taucht das Wort »Allgemeinwohl« - ganz im Gegenteil zur Dominanz
dieses Begriffs in den Schriften der Aufklärer zur Zeit der
Aufklärung - nur drei Mal auf.
Allein daraus kann
abgeleitet werden, dass Freiheit heute gänzlich anders
verstanden wird als zu der Zeit, in der Menschen tatsächlich um
ihre Freiheit kämpfen mussten, der Fall war.
Jean-Jacques Rousseau
dürfte Recht haben, wenn er schreibt:
»Ihr
freien Völker, seid der Wahrheit eingedenk:
»Man kann sich die Freiheit erringen, gewinnt sie aber nie noch
einmal!« [En07] 7
Mit anderen Worten:
Wenn die Freiheit erst
einmal den Tyrannen entrissen wurde (von denen Rousseau
schreibt) und sich in den Händen von Parteien befindet, deren
Überleben davon abhängt, dass sie das tun, was ihre (Partei)-Wähler sich
von ihnen wünschen, dann verliert sich Freiheit schneller, als
Rousseau das bereits 1762 ahnte.
Und da im
Koalitionsvertrag 2018 nicht viel über das »Allgemeinwohl« zu
lesen ist, ist es problemlos möglich, alles dazu im
Koalitionsvertrag 2018 Geschriebene hier zu zitieren:
[Seite 61:] Der
Mittelstand ist das Rückgrat unserer Wirtschaft und steht
weltweit für hohe Qualitätsstandards. Selbständige,
Familienunternehmen, Freie Berufe und
Handwerk schaffen mit Abstand die meisten Arbeits- und
Ausbildungsplätze und leisten damit einen wichtigen Beitrag
zum Allgemeinwohl. Wir wollen ihre Leistung künftig noch
stärker öffentlich anerkennen und fördern. Der Mittelstand prägt
Kultur und Selbstverständnis der deutschen Wirtschaft und
leistet einen starken Beitrag zur internationalen
Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes.
[Seite 111:] Wir
wollen das Engagement von Genossenschaften, kommunalen und
kirchlichen Wohnungsunternehmen, nicht gewinnorientierten
Initiativen und Stiftungen für den Neubau und eine
sozialverträgliche Sanierung im Sinne einer
Gemeinwohlorientierung unterstützen.
[Seite 113:]
Gemeinsam mit Ländern und Kommunen wollen wir ehrenamtliches
Engagement und gemeinwohlorientierte Initiativen stärken. [En08]
8
Mit anderen Worten:
Heute werden Interessen
vertreten, das Allgemeinwohl existiert als Wort wohl nur noch im
Duden. Ganz so exotisch ist das Wort Allgemeinwohl dennoch
nicht, denn auch im Artikel 14 GG und
im Artikel 87e GG wird die Sprachfigur »Wohl der Allgemeinheit«
verwendet.
Wer sucht, findet
das Wort »Allgemeinwohl« (Gemeinwohl) auch im
Sozialgesetzbuch. Aber auch dort wird es nur spärlich verwendet.
Beispiel:
§ 59 SGB X (Anpassung und
Kündigung in besonderen Fällen)
(1) Haben die
Verhältnisse, die für die Festsetzung des Vertragsinhalts
maßgebend gewesen sind, sich seit Abschluss des Vertrages so
wesentlich geändert, dass einer Vertragspartei das Festhalten an
der ursprünglichen vertraglichen Regelung nicht zuzumuten ist,
so kann diese Vertragspartei eine Anpassung des Vertragsinhalts
an die geänderten Verhältnisse verlangen oder, sofern eine
Anpassung nicht möglich oder einer Vertragspartei nicht
zuzumuten ist, den Vertrag kündigen. Die
Behörde kann den Vertrag auch kündigen, um schwere Nachteile für
das Gemeinwohl zu verhüten oder zu beseitigen.
(2) Die Kündigung bedarf
der Schriftform, soweit nicht durch Rechtsvorschrift eine andere
Form vorgeschrieben ist. Sie soll begründet werden.
[Hinweis:] Das Wort
»Allgemeinwohl« ist in der Demokratie von heute zu einer Sprachfigur entartet, die es Juristen
erlaubt, unter Aufwendung ihrer ganzen Sprachkunst
Entscheidungen herbeizuführen und Begründungen zu finden, die
wohl kaum als »objektive Wahrheiten« bezeichnet werden können,
wie sie die Aufklärer einforderten.
Damals bedeutete dieser
Grundbegriff der menschlichen Freiheit, dass unter Allgemeinwohl
alle das Gleiche verstanden. Die Vorstellung, dass nur
wenige etwas für das »Allgemeinwohl« halten bzw. einfordern
konnten, war den Aufklärern zwar nicht unbekannt, wurde aber
mehrheitlich abgelehnt.
Was aus dem
»Allgemeinwohl« in Deutschland heute geworden ist, wird bei einem kurzen Blick in die
Rechtsprechung deutlich.
Mehr dazu in der folgenden
Randnummer.
01.6 Das Allgemeinwohl in
der bundesdeutschen Rechtsprechung
TOP
Sucht man nach
höchstrichterlichen Entscheidungen, die das Wort »Allgemeinwohl
enthalten«, dann stößt man schnell auf ein Urteil des BVerfG vom
17.12.2013 - 1 BvR 3139/08, in der es um die Zulässigkeit von
Enteignungen im Großraum des Braunkohleabbaugebietes Garzweiler
ging.
[Anlass:] Der Abbau von Braunkohle in Deutschland erfolgt in
großflächigem Tagebergbau. Für die ökonomisch sinnvolle
Realisierung von Vorhaben sind regelmäßig die Inanspruchnahmen
besiedelter Flächen und damit auch die Umsiedlung ganzer
Ortschaften notwendig. Seit 20 Jahren kämpft der Polizist
Stephan Pütz um den Erhalt seines Dorfes Immerath
in der Nähe von Erkelenz.
[Hinweis:] Durch
das o.g. Urteil des BVerfG kann sein Vorhaben nunmehr endgültig
als gescheitert angesehen werden, denn schwerer als das Recht
auf Heimat, so die Richter des BVerfG, wiegt die
Energieversorgung, auch wenn die Richter im o.g. Urteil die Rechte von zu
Enteignenden stärkten.
Erhalten bleiben wird der
Heimatdorf des klagenden Polizisten jedoch nur dann, wenn die extreme Klimaschädlichkeit des
Braunkohlebergbaus zu der Erkenntnis führt, aus Gründen des
Allgemeinwohls (Klimaschutz) auf den Abbau von Braunkohle gänzlich zu
verzichten.
Dadurch würden aber
wirtschaftliche Interessen berührt, die die so genannten
Volksparteien derzeit für so wichtig halten, dass sie die Interessen des
Allgemeinwohls heute noch um Längen überwiegen.
Im Urteil des BVerfG vom
17.12.2013 - 1 BvR 3139/08 heißt es bereits in den Leitsätzen:
-
Nach Art. 14 Abs. 3 GG
kann eine Enteignung nur durch ein hinreichend gewichtiges
Gemeinwohlziel gerechtfertigt werden, dessen Bestimmung dem
parlamentarischen Gesetzgeber aufgegeben ist.
-
Das Gesetz muss
hinreichend bestimmt regeln, zu welchem Zweck, unter welchen
Voraussetzungen und für welche Vorhaben enteignet werden
darf. Allein die Ermächtigung zur Enteignung für »ein dem
Wohl der Allgemeinheit dienendes Vorhaben« genügt dem nicht.
-
Dient eine Enteignung
einem Vorhaben, das ein Gemeinwohlziel im Sinne des Art. 14
Abs. 3 Satz 1 GG fördern soll, muss das enteignete Gut
unverzichtbar für die Verwirklichung dieses Vorhabens sein.
-
Das Vorhaben ist
erforderlich im Sinne des Art. 14 Abs. 3 GG, wenn es zum
Wohl der Allgemeinheit vernünftigerweise geboten ist, indem
es einen substantiellen Beitrag zur Erreichung des
Gemeinwohlziels leistet. [En09] 9
[Hinweis:] Durch
das o.g. Urteil wurden jedoch die Rechte betroffener Eigentümer
verbessert, indem Enteignungen nur auf der Grundlage eines
gültigen Rahmenbetriebsplans zulässig sind. Nach Ansicht der
Verfassungsrichter handelt es sich bei dem Rahmenbetriebsplan,
der auf der Grundlage von § 55 BBergG erlassen wurde, um eine gebundene Entscheidung,
die weder der »Nachbesserung« noch einer »gerichtlichen
Kontrolle« zugänglich ist, wenn in diesem Rahmenbetriebsplan die
Vorgaben des Bundesverwaltungsgerichtes beachtet wurden, das
sich zu den Anforderungen eines Rahmenbetriebsplans bereits mit
Beschluss vom 20.10.2008 - BVerwG 7 B 21.08 geäußert hatte.
Mit anderen Worten:
Das BVerfG hat nicht gegen
Garzweiler geurteilt, sondern lediglich einen besseren
Rechtsschutz für Enteignete eingefordert.
01.7 Allgemeinwohl oder
Fahrverbote?
TOP
Mit Urteil vom 27. Februar
2018 - BVerwG 7 C 26.16 - hat das Bundesverwaltungsgericht in
Leipzig entschieden, dass Diesel-Verkehrsverbote ausnahmsweise
möglich sind.
In der Pressemitteilung Nr. 9 des BVerwG vom
27.02.2018 heißt es (das Urteil ist noch nicht online) u.a.:
-
Das Land NRW habe
dafür zu sorgen, dass »der Luftreinhalteplan für Düsseldorf so
zu ändern [ist], dass dieser die erforderlichen Maßnahmen
zur schnellstmöglichen Einhaltung des über ein Jahr
gemittelten Grenzwertes für Stickstoffdioxid (NO2) in Höhe
von 40 µg/m³ im Stadtgebiet Düsseldorf enthält. Der Beklagte
[Stadt Düsseldorf] sei verpflichtet, im Wege einer Änderung
des Luftreinhalteplans weitere Maßnahmen zur Beschränkung
der Emissionen von Dieselfahrzeugen zu prüfen. Beschränkte
Fahrverbote für bestimmte Dieselfahrzeuge seien rechtlich
und tatsächlich nicht ausgeschlossen.«
-
Das Land
Baden-Württemberg wiesen die Richter des BVerwG an, »den
Luftreinhalteplan für Stuttgart so zu ergänzen, dass dieser
die erforderlichen Maßnahmen zur schnellstmöglichen
Einhaltung des über ein Kalenderjahr gemittelten
Immissionsgrenzwertes für NO2 in Höhe von 40 µg/m³ und des
Stundengrenzwertes für NO2 von 200 µg/m³ bei maximal 18
zugelassenen Überschreitungen im Kalenderjahr in der
Umweltzone Stuttgart enthält. Der
Beklagte [das Land Baden-Württemberg] habe ein ganzjähriges
Verkehrsverbot für alle Kraftfahrzeuge mit Dieselmotoren
unterhalb der Schadstoffklasse Euro 6 sowie für alle
Kraftfahrzeuge mit Ottomotoren unterhalb der
Schadstoffklasse Euro 3 in der Umweltzone Stuttgart in
Betracht zu ziehen.
Hinsichtlich des
Luftreinhalteplans Düsseldorf hat das Verwaltungsgericht
festgestellt, dass Maßnahmen zur Begrenzung der von
Dieselfahrzeugen ausgehenden Emissionen nicht ernsthaft in den
Blick genommen worden sind. Dies wird der Beklagte nachzuholen
haben. Ergibt sich bei der Prüfung, dass sich Verkehrsverbote
für Diesel-Kraftfahrzeuge als die einzig geeigneten Maßnahmen
zur schnellstmöglichen Einhaltung überschrittener NO2-Grenzwerte
darstellen, sind diese - unter Wahrung des Grundsatzes der
Verhältnismäßigkeit - in Betracht zu ziehen. [En10] 10
[Keine Fahrverbote in
NRW:] Diese Position vertritt zumindest Armin Laschet,
Ministerpräsident in NRW. Der Ministerpräsident hat im Übrigen
hinsichtlich möglicher Fahrverbote in der Region im März 2018
ein Machtwort gesprochen. Fahrverbote bezeichnete er als
»unverhältnismäßig und damit rechtswidrig«. Diese Haltung habe
er auch der Bezirksregierung Düsseldorf mitgeteilt, die zurzeit
einen neuen Luftreinhalteplan für die Landeshauptstadt
aufstellen muss.
Und da es sich bei
Bezirksregierungen um »weisungsgebundene Behörden« handele,
»gäbe es«, so Laschet, »rechtliche Möglichkeiten, das [Verhängen
von Dieselfahrverboten] zu untersagen.« »Selbst wenn man eine
Millionenstadt wie Köln mit einem kompletten Dieselfahrverbot
belegen würde«, so Laschet, »habe dies auf die Luftreinheit nur
»minimale Auswirkungen«. [En11] 11
Also kann man auf
Fahrverbote verzichten.
Festzustellen ist aber,
dass solch ein Verständnis von Rechtsstaatlichkeit - sich aus
politischen Gründen gegen ein höchstrichterliches Urteil zu
stellen - deutlich macht, dass dieser Rechtsstaat langsam aber
sicher zu zerbröseln beginnt.
Von oben nach unten.
Was die skizzierte
Sichtweise eines NRW-Spitzenpolitikers mit dem in diesem Aufsatz
diskutierten »Allgemeinwohl« und somit mit Freiheit zu tun hat,
mag jede Leserin und jeder Leser für sich selbst entscheiden.
Möglicherweise hält sich
Armin Laschet ja auch strikt an den geänderten Wortlaut im
Art. 53 der Landesverfassung NRW, in dem der Wortlaut des
Amtseides geregelt ist,
den die Mitglieder der Landesregierung NRW zu leisten haben.
Art. 53 hat folgenden
Wortlaut:
Die Mitglieder der
Landesregierung leisten beim Amtsantritt vor dem Landtag
folgenden Amtseid:
»Ich schwöre, dass ich meine ganze Kraft dem
Wohle des Landes Nordrhein-Westfalen
widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das mir
übertragene Amt nach bestem Wissen und Können unparteiisch
verwalten, Verfassung und Gesetz wahren und verteidigen, meine
Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen
jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.«
Der Eid kann auch
ohne religiöse Beteuerung geleistet werden.
Vor der Änderung im Jahr
2016 hieß es
noch:
»Ich schwöre, dass ich
meine ganze Kraft dem Wohle des deutschen
Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm
wenden, das mir übertragene Amt nach bestem Wissen und Können
unparteiisch verwalten, Verfassung und Gesetz wahren und
verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und
Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott
helfe.«
Wie dem auch immer sei.
Seit dem 25. Oktober 2016
hat der Art. 53 einen anderen Wortlaut. Die dort vorgenommene
Einschränkung lässt erahnen, dass in NRW nicht mehr die
Interessen des deutschen Volkes, sondern nur die des Landes NRW
gefördert werden müssen.
Im Gegensatz zu den Menschen, die unter
dem unbestimmten Rechtsbegriff des »deutschen Volkes« verstanden
werden können, handelt es sich bei dem Land NRW lediglich um
eine Gebietskörperschaft und folglich um eine juristische Person
des öffentlichen Rechts, ohne Leib und ohne Leben, ohne Furcht
und ohne Hoffnung, eben um eine formbare Gebietskörperschaft in den Händen
gewählter Politiker.
[Hinweis:] In NRW
kann zurzeit davon ausgegangen werden, dass Gesundheitsschutz nicht so
hoch angesehen wird, wie die mobile Freiheit seiner Bürger.
01.8 Das gemeine Volk ist
ohne Vernunft
TOP
Auch wenn ohne die
»Philosophen der Aufklärung« die Französische Revolution
undenkbar gewesen wäre, bedeutet das nicht, dass die Aufklärer
die Geschicke des Staates dem gemeinen Volk überlassen wollten,
denn mit dem »Allgemeinen Willen des Souveräns« (des Volkes) war
etwas anderes gemeint als das einfache Volk.
Obwohl sich das
aufklärerische Denken nicht nur in Debattierclubs, in Salons und
in Kaffeehäusern, sondern auch auf dem Lande »durch Hörensagen«
schnell verbreitete, war es doch das Bildungsbürgertum,
das sich überwiegend an politischen Diskussionen und
philosophischen Gesprächen beteiligte.
Der Mehrheit des gemeinen
Volkes fehlte dazu schlichtweg die Zeit.
Die hungernde Mehrheit
hatte im Übrigen alle ihr zur
Verfügung stehenden Energien einzusetzen, um überhaupt
existieren zu können.
Für Voltaire war dieses
gemeine Volk der Pöbel, das, so Voltaire in seiner Philosophie
der Geschichte aus dem Jahre 1765, zur Selbstbildung weder Zeit
noch die dazu erforderlichen Fähigkeiten besitzt.
»Es scheint
nötig«, so Voltaire, »dass es einen unwissenden Pöbel gebe; wenn
dieser zu vernünfteln anfängt, so ist alles verloren!«
Diese Einstellung war im
Kreis derjenigen, die ihren Verstand zu gebrauchen wussten, weit
verbreitet.
Auch Immanuel Kant hatte
keine hohe Meinung vom gemeinen Volk. In seiner Schrift »Der
Streit der Fakultäten« schreibt er 1798 u.a.:
»Unter dem Wort Volk (populus)
versteht man die in einem Landstrich vereinigte Menge Menschen,
insofern sie ein Ganzes ausmacht. Diejenige Menge oder auch der
Teil derselben, welcher sich durch gemeinschaftliche Abstammung
für vereinigt zu einem bürgerlichen Ganzen erkennt, heißt Nation
(gens); der Teil, der sich von diesen
Gesetzen ausnimmt die wilde Menge in diesem Volk, heißt Pöbel (vulgus),
dessen gesetzwidrige Vereinigung das Rottieren
(agere per turbas) ist; ein Verhalten,
welches ihn von der Qualität eines Staatsbürgers ausschließt.« [En12]
12
[Rottieren:] Von
Kant gebraucht im Sinne von: Sich zusammenscharen, sich zu bösen
Zwecken zusammenrotten, zur Verschwörung bzw. zum Aufruhr
neigen, Menschen ohne Vernunft: siehe Wortbedeutung Wörterbuch
der Gebrüder Grimm.
[Robespierre:] Er
war wohl der Einzige, der aufrichtig danach strebte, dem Volk
die wirkliche Freiheit zu bringen. Bis dahin aber war - nach der
Überzeugung von Robespierre - noch viel
Erziehungsarbeit beim gemeinen Volk notwendig.
Bei J. L. Talmon heißt es
diesbezüglich sinngemäß:
Es sei nötig, die Massen
zu mobilisieren, um es der revolutionären Avantgarde zu
ermöglichen, den wirklichen Volkswillen auszuführen, wenn die
revolutionären Massen den Umsturz herbeigeführt haben. Nachdem
die Avantgarde, gemeint sind die Revolutionsführer und das zum
Denken fähige Bürgertum, im Anschluss daran an der Macht sei,
müsse dem Volk die Freiheit gegeben werden, diesen Willen in
voller Reinheit zu verwirklichen. Das a priori
unterstellte Einverständnis der Massen mit dem, was die
Avantgarde tun würde, könne vorausgesetzt werden.
Wer mit der
Avantgarde nicht übereinstimmt, ist ein Konterrevolutionär, den
es zu beseitigen gilt. [En13] 13
[A priori:] Aus der
Vernunft durch logisches Schließen gewonnene Wahrheit, die
keines weiteren Beweises bedarf.
Mit anderen Worten:
Der Pöbel kann auf die
Straße gehen und die alten Eliten verjagen, den Rest erledigt
dann die Avantgarde (diejenigen, die über Vernunft verfügen, die
neuen Eliten). Und wenn die Avantgarde das realisiert hat, was
sie selbst für den allgemeinen Volkswillen hält, dann bedarf es
keiner politischen Betätigung des Volkes mehr, denn das wäre
dann ja nur noch konterrevolutionär.
01.9 Freiheit und Eigentum
1789
TOP
Kulturhistorisch
betrachtet war der erste Zaun, der gezogen wurde, um »sein«
Eigentum von dem der Allgemeinheit zugänglichen öffentlichen
Raum abzugrenzen, der erste Schritt in die Knechtschaft.
Und als
dann die Starken auf den Gedanken kamen, die Schwachen für sich
arbeiten zu lassen, begann die unendliche Geschichte der
Konflikte zwischen Herrn und Knecht.
Wie dem auch immer sei.
Es ist viel darüber
diskutiert worden, wie viel Sozialismus im Gedankengut des 18.
Jahrhunderts enthalten ist.
Manche Historiker finden
in den Schriften der Aufklärer:
-
einen ausgeprägten
Sozialismus andere
-
nicht viel Sozialismus
und wiederum andere
-
keine Spur von
Sozialismus.
Dennoch, aufgrund der
Gleichheit der Menschen konnte man Eigentum nicht unbewiesen als
geheiligtes natürliches Recht betrachten, denn die
Gleichheitsidee verdammte ungleiche Klassen und Privilegien als
ein Übel, das im Widerspruch zu den Lehren der Natur und den
Bedürfnissen der Menschen entstanden sei.
Rousseaus Verurteilung der
Gesetze als Werkzeug der Reichen, das die Armen zwinge,
Ausbeutung und Elend hinzunehmen, zwingt sozusagen zu der
Erkenntnis, dass es in jeder Nation Unterdrücker und
Unterdrückte, Diebe und Bestohlene gibt.
Im Übrigen gehört es zu
den Kernaussagen von Rousseau der Satz, dass »der
Staat dafür zu sorgen habe, dass alle genug haben und niemand zu
viel.«
Übrigens:
Auch die Denker des 18.
Jahrhunderts trugen viel dazu bei, die Unantastbarkeit des
Eigentums zum obersten Richter im Wirtschaftsleben zu erklären.
Sie scheuten sich dennoch davor, die letzten Schlussfolgerungen
zu ziehen und versuchten vielmehr, so konservativ wie möglich zu
sein, obwohl die Idee der Demokratie eine immer engere
Annäherung an wirtschaftliche Gleichheit in sich einschloss und
auch heute noch in sich einschließt.
Durchzusetzen vermochten
sich diese Gleichheitsvorstellungen aber nicht, vielmehr wurde
das Eigentum mehrheitlich als ein Naturrecht angesehen.
Die damit verbundene
Ungleichheit (Freiheit der Wenigen und Unfreiheit der Vielen)
wurde damit begründet, dass letztlich alle Menschen mit
verschiedenen Veranlagungen (Größe, Geschlecht, Intelligenz,
Behinderungen, Talenten etc.) das Licht der Welt erblickten.
Damit war ein Weg gefunden, erklären zu können, warum auch das
Eigentum ungleich verteilt war. Die Einen (die Mehrheit) besaßen
von Geburt aus halt gar nichts und die Wenigen (die
Besitzenden), verfügten von Geburt an über die Macht des
Eigentums.
Das Recht auf Eigentum
wurde wegen der Fadenscheinigkeit der oben skizzierten
Begründung im Rahmen der Verabschiedung der Erklärung der
Menschen- und Bürgerrechte in der französischen
Nationalversammlung im August 1789 deshalb auch erst gar nicht in der Nationalversammlung diskutiert, sondern, ohne Aussprache,
sozusagen auf den »letzten Drücker« in die
Menschenrechtserklärung aufgenommen und verabschiedet.
Der Artikel XVII
(Eigentum), der letzte Artikel in der Erklärung der Menschen-
und Bürgerrechte, der erst in letzter Minute (am Tag vor der
Verabschiedung) in den Text aufgenommen wurde, verhinderte eine Aussprache
im Plenum.
Artikel XVII:
Da
das Eigentum ein unverletzliches und heiliges Recht ist,
kann es niemandem genommen werden, es sei denn, die gesetzlich
festgestellte öffentliche Notwendigkeit erforderte es
offenkundig, und unter der Bedingung einer gerechten und
vorherigen Entschädigung. [En14] 14
Das Wort heilig
taucht in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte im
Übrigen nur zweimal auf. Erstmalig in der Präambel. Dort heißt
es u.a.: »Die als Nationalversammlung konstituierten Vertreter
des französischen Volkes [haben] beschlossen, in einer
feierlichen Erklärung die natürlichen, unveräußerlichen und
heiligen Menschenrechte darzulegen«.
Eine solchermaßen sakrale
Sprache wird nur noch einmal im letzten
Artikel XVII verwendet.
Fast könnte man vermuten, dass
Joseph de Maistre (1753 bis 1821) bei der Verabschiedung der
Erklärung der Bürger- und Menschenrechte anwesend gewesen wäre
(was nicht der Fall war) denn dieser konservative und
erzkatholische französischen Aufklärer, hatte zur Lösung von
Legitimationsproblemen, die sich aus Ungleichheiten bestehen,
vorgeschlagen, dass Institutionen, die das soziale Verhalten
und Handeln von Personen und Gruppen betreffen, umso stabiler
werden, je stärker sie sich auf eine göttliche Grundlage berufen
können. Sein Vorschlag lautete:
»Wenn
etwas dauerhaft bewahrt werden soll, so macht es heilig.«
Diese besondere
heilige Note des
»Eigentums« in der »Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von
1789« nahm Karl Marx in seiner Rezension zur Judenfrage 1843 zum
Anlass, folgende Zeilen zu schreiben:
»Keines der so genannten Menschenrechte geht also über den
egoistischen Menschen hinaus, über den Menschen, wie er Mitglied
der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich auf sich, auf sein
Privatinteresse und seine Privatwillkür zurückgezogenes und vom
Gemeinwesen abgesondertes Individuum ist. Weit entfernt, dass
der Mensch in ihnen als Gattungswesen aufgefasst wurde,
erscheint vielmehr das Gattungsleben selbst, die Gesellschaft,
als ein den Individuen äußerlichen Rahmen, als Beschränkung
ihrer ursprünglichen Selbständigkeit. Das einzige Band, das sie
zusammenhält, ist die Naturnotwendigkeit, das Bedürfnis und das
Privatinteresse, die Konservation ihres Eigentums und ihrer
egoistischen Person.« [En15] 15
Tatsache ist, dass das
Recht auf Eigentum auch in den Jahrhunderten nach der
Französischen Revolution, genau genommen bis heute, dafür
gesorgt hat und weiterhin dafür sorgt, »dass die Anzahl der
Unterdrücker (heute würde man sagen, der Eliten) traditionsgemäß
gering an der Zahl ist, die Unterjochten (Arme, Ausgebeutete,
Lohnsklaven) hingegen gemeine Myriaden umfassen.
Mit anderen Worten:
Noch nie klaffte die
Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinander als heute.
Nicht einmal zur Zeit der Französischen Revolution waren die
Ungleichheiten so groß wie 2018.
[Hinweis:] Obwohl
es als eine gesicherte soziologische Erkenntnis angesehen werden
kann, dass eine zu große Einkommensungleichheit in einer
Gesellschaft mit erheblichen sozialen und ökonomischen
Nachteilen verbunden ist, wird sich an diesem »Zustand« wohl
kaum etwas ändern.
Systeme, die zur Änderung nicht bereit sind,
werden somit wohl damit leben müssen, dass Kriminalität und
Drogenkonsum umso höher sind, je größer die Kluft
zwischen Arm und Reich ist.
Übrigens:
Die von
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) bereits vor Amtsantritt
(11.03.2018) angekündigte »null Toleranz gegenüber Straftätern«,
wird daran wohl kaum etwas ändern, und zwar auch dann nicht,
wenn die »ganze Härte des Gesetzes« zur Anwendung kommt. Die
ganze Härte des Gesetzes soll im Übrigen auch auf diejenigen
angewendet werden, die als Hartz-IV-Bezieher es mit der Wahrheit
nicht so genau nehmen. Sinnvoll wäre es, diese Genauigkeit auch bei
Autokonzernen, Großbanken, bei Amazon, Google und anderen
Unternehmen einzufordern und durchzusetzen.
[Tagesschau.de vom
16.01.2017:] Bezugnehmend auf eine Oxfam-Studie zur Kluft
zwischen Arm und Reich heißt es:
Die globale Ungleichheit
nimmt laut der britischen Hilfsorganisation Oxfam immer
dramatischere Ausmaße an. Demnach verfügen die acht reichsten
Männer über ein ähnlich großes Vermögen wie die ärmste Hälfte
der Weltbevölkerung. [En16] 16
Bei Michael
Serres, einem bekannten französischen Philosophen und Autor
des Buches »Der Parasit«, heißt es:
»Das
Verhältnis zwischen Herrn und Knecht ist stets ein Verhältnis
zwischen dem einen und den vielen. Die Klassen sind niemals
gleichmächtig, ja, eine Klassenteilung gibt es fast gar nicht:
vielmehr Vielzahl und Seltenheit«. [En17] 17
Serres wiederholt damit
nur eine Erkenntnis, die schon James Madison, dem vierten
Präsidenten der Vereinigten Staaten (von 1809 bis 1817) und
einem ihrer Gründerväter bestens vertraut war.
»Um
erfolgreich »ein System zu entwerfen, das die Zeit überdauern
soll, so Madison, müsse man dafür sorgen, dass die Machthaber
aus den Reihen der begüterten Minderheit erwählt werden. So
werde es möglich, »die Rechte des Eigentums vor der Gefahr zu
schützen, die durch eine Gleichheit des allgemeinen Wahlrechts
droht, das die völlige Macht über das Eigentum in Hände legen
würde, die keinen Anteil daran haben.« [En18]
18
Im Übrigen ist sich die
akademische Forschung generell einig, dass die Verfassung der
USA ihrem Wesen nach ein aristokratisches Dokument ist, dessen
Ziel darin besteht, die
»demokratischen Tendenzen zu bremsen« sowie die Macht einer
»besseren Art von Menschen « zu überantworten und all jene
auszuschließen, die weder reich noch von hoher Geburt noch durch
die Ausübung politischer Macht für solch eine verantwortliche
Aufgabe besonders geeignet erscheinen.
Es vermag insoweit nicht
zu verwundern, dass es auch die Aufklärer im 18. Jahrhundert für
ihre Pflicht hielten, die Gesellschaft zu fragmentiert und die
Beteiligung der Bevölkerung an der politischen Arena zu
beschränken.
[Hinweis:] Der
Ausdruck »Recht auf Eigentum« wurde damals allgemein als Rechte
verstanden, die dem Besitzer von Eigentum zustehen.
Reichtumsverteilung heute:
-
Reichsein ist selten.
-
Arm sein ist auch
heute noch weltweit die Regel.
-
Nur die Reichen
wissen, was für die Menschheit gut ist.
Und wie ist Eigentum heute
in Deutschland verteilt?
5. Armutsbericht der
Bundesregierung 2017:
Dort heißt es:
Die
reichsten 10 Prozent der Haushalte besitzen mehr als die Hälfte
des gesamten Netto-Vermögens. Die untere Hälfte nur 1 Prozent.
Zudem kommt der wirtschaftliche Aufschwung nicht bei allen an.
Die unteren 40 Prozent der Beschäftigten haben 2015 real weniger
verdient als Mitte der 90er Jahre. Wenn sich harte Arbeit für
die, die klein anfangen müssen, kaum auszahlt, schadet das uns
allen. [En19] 19
Mit anderen Worten:
Es fehlt nicht am Wissen,
sondern am Wollen, diesen Missstand zu ändern.
01.10 Freiheit als
zentraler Wert
TOP
Freiheit, das ist nach
heutigem Verständnis der zentrale Wert, der das Leben in so
genannten freien marktwirtschaftlich orientierten Systemen
bestimmt.
Freiheit, das ist aber
auch eine Erinnerung bzw. eine Vorstellung daran, dass
»Freiheit« nicht grenzenlos gewährt werden kann, denn
»Freiheit«, dieses häufig missbrauchte Wort, lässt sich heute
kaum noch denken, ohne zugleich auch diffuse Ängste vor der
Zukunft aufkommen zu lassen.
Mit anderen Worten:
Wenn »Freiheit« weiterhin als »Wirtschaftswachstum
um jeden Preis« oder als bedingungsloser »Glauben an die
Lösbarkeit aller Probleme durch Technik« grenzenlos fortgeführt
werden sollte, dann werden die Folgen des Klimawandels den
Menschen möglicherweise schon bald davon überzeugen, dass es
für ihn, den Menschen, besser gewesen wäre, »Freiheit« behutsamer
auszuleben, als das zurzeit der Fall ist.
Voltaires Kritik an der Freiheit:
Bereits bei Voltaire kann
nachgelesen werden, was 1759, als seine satirische
Novelle »Candide oder der Optimismus« veröffentlicht wurde,
nicht zum Besten gerichtet war.
Als Candide den ihn
begleitenden Gelehrten fragt, wie er die Welt sieht, kommt es zu
folgendem Dialog:
[Candide:] »Nicht
wahr, Ihr glaubt doch auch, dass physisch und moralisch alles in
der Welt aufs beste eingerichtet ist und gar nicht anders sein
kann?«
[Gelehrter:] »Nein,
Monsieur«, widersprach der Gelehrte, »glaube ich ganz und gar
nicht. Vielmehr meine ich, dass bei uns alles schief läuft.
Keiner hierzulande weiß seine Aufgabe in der Gesellschaft;
keiner weiß, wie er seinem Rang, seinem Stand gerecht wird;
keiner was er tut, und keiner, was er tun soll. Klar gibt es
Ausnahme, solche Soupers (Abendessen = AR) etwa - da sitzt man
noch froh und einträchtig beieinander. Aber sonst vergeht die
Zeit doch nur mit dümmlichen Streitereien: Jansenisten
gegen Molinisten, Gerichtsleute gegen Kirchenleute,
Schriftsteller gegen Schriftsteller, Höflinge gegen Höflinge,
Vermögende gegen das Volk, Weiber gegen ihre Männer, Verwandte
gegen Verwandte; kurz, da tobt ein ewiger Krieg.«
-
Molinisten:
Protestantische Theologie der Neuzeit
-
Jansenisten:
Eine besonders in Frankreich verbreitete katholische
Bewegung, die sich auf die Gnadenlehre des Augustinus
berief, und als häretisch verfolgt wurde.
[Hinweis:] Es
dürfte nicht schwerfallen, den Dialog zwischen »Candide und dem
Gelehrten« durch aktuelle gedankliche Ergänzungen noch
zeitgemäßer werden zu lassen, als er ohnehin schon ist. Wenn
diese Korrektur gedanklich vollzogen wird, was nicht schwer sein
dürfte, dann
handelt es sich um einen Text, der im Jahr 2018 hätte
geschrieben werden können.
Das, was Voltaire 1759
satirisch beschreibt, ist das Unvermögen des Menschen, bei der
Ausübung seiner »Freiheit« sich seines Verstandes zu bedienen,
weil er nicht dazu in der Lage ist, die Folgen seines Tuns
hinreichend zu bedenken.
02 Freiheit im 21.
Jahrhundert
TOP
Bei Isaia
Berlin (1909 bis 1997), einem bedeutenden russisch-britischen
Philosophen und Ideengeschichtler jüdischer Abstammung heißt es
zur Freiheit in seinem Buch »Freiheit - vier Versuche« auf Seite
58 wie folgt:
»Die
Grundbedeutung von Freiheit ist Freiheit von Ketten, von
Eingesperrtsein, von Versklavung durch andere. Alles andere ist
eine Erweiterung dieser Bedeutung oder Metaphorik«
[Metaphorik: Gebrauch von Metaphern = AR].
Nach Freiheit streben
heißt zu versuchen, Hindernisse aus dem Weg zu räumen, für die
eigene Freiheit kämpfen heißt, die Einmischung anderer, die
Ausbeutung, die Versklavung durch andere abwenden. Freiheit,
jedenfalls in ihrer politischen Bedeutung, ist gleichbedeutend
mit der Abwesenheit von Herrschaft, dass man nicht
herumkommandiert wird.
Und auf Seite 109 heißt
es:
In früheren Zeiten, als
das Leben noch von mehr als einer Autorität beherrscht wurde,
konnte ein Mensch dem Druck des Staates entkommen, indem er in
der Festung der Opposition Zuflucht suchte. [...] Heute [werden]
seine Freiheiten im Interesse seines Wohlstandes, seiner
geistigen und körperlichen Gesundheit, seiner Sicherheit, seiner
Befreiung von Mangel und Angst beschnitten. Sein
Entscheidungsspielraum [gemeint ist die des modernen Menschen]
ist kleiner geworden [...], zugunsten eines einfacheren, besser
regulierten Lebens, eines stabilen, von moralischen Konflikten
unbehelligten Glaubens an eine effizient wirkende Ordnung. [En20]
20
Freier geworden sind wir
dadurch aber nicht.
Erich Fromm
schreibt in seinem Buch »Furcht vor der Freiheit« folgende
Zeilen:
»Der Mensch hat - je mehr
er aus seinem ursprünglichen Einssein mit seinen Mitmenschen und
der Natur heraustritt und »Individuum« wird - keine andere Wahl,
als sich entweder mit der Welt in spontaner Liebe und
produktiver Arbeit zu vereinen oder aber auf irgendeine Weise
dadurch Sicherheit zu finden, dass er Bindungen an die Welt
eingeht, die seine Freiheit und die Integrität seines
individuellen Selbst zerstören.« [En21] 21
An anderer Stelle (100
Seiten weiter) heißt es:
»Wir sind zu Konformisten
geworden, die in der Illusion leben, Individuen mit eigenem
Willen zu sein. Diese Illusion hilft dem einzelnen Menschen,
sich seiner Unsicherheit nicht bewusst zu werden, aber darin
erschöpft sich auch die Hilfe, die einem eine solche Illusion
gewähren kann. Im Grunde ist das Selbst so geschwächt, dass der
Mensch sich machtlos und höchst unsicher fühlt. Er lebt in einer
Welt, zu der er keine echte Beziehung mehr hat und in der jeder
und alles instrumentalisiert sind, wo er zu einem Teil der
Maschine geworden ist, die seine Hände konstruiert haben. Er
denkt, fühlt und will, was die anderen von ihm erwarten, und
verliert dabei sein Selbst, auf das sich jede echte Sicherheit
eines freien Menschen gründen muss.« [En22] 22
Mit anderen Worten:
Freiheit als heute
oftmals verwendete politische Sprachfigur ist nichts anderes, als eine
Illusion.
Alles, oder nichts.
02.1 Freiheit und ihre
Grenzen
TOP
Ethische Prinzipien kommen
in der Welt nicht bloß vor, sie besitzen auch Macht. Zu diesen
Prinzipien - von denen Macht ausgeht - gehört auch die Idee der
»Freiheit«.
Im Sinne von Immanuel Kant
genügen dazu alle ethischen Prinzipien, die »großen Hindernissen
überlegen sind« (Kritik der Urteilskraft), zum Beispiel auch
denen des Fortschrittsglaubens und des Glaubens an ein
grenzenloses Wirtschaftswachstum.
Oder, um mit Max Weber zu
sprechen, zu diesen Prinzipien gehören auch solche
Vorstellungen, die so mächtig werden, dass sie dazu in der Lage
sind »den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchsetzen zu
können« (Wirtschaft und Gesellschaft).
Über Macht im o.g. Sinne
verfügen somit nicht nur die üblichen vier Faktoren, die im
Folgenden lediglich aufgelistet werden:
Macht besitzt - und das
wird in der postmodernen Zeit von heute bedauerlicherweise
oftmals übersehen - auch die Ethik bzw. die Moral, da beide mehr
oder weniger alle oben genannten Machtfaktoren beeinflussen, am
meisten aber wohl die Politik und die Medien, denn Moral und
Ethik müssen, um sich durchsetzen zu können, zuerst einmal in
das öffentliche Bewusstsein der Menschen »eindringen«, um dort
so mächtig werden zu können, um in den Köpfen der Menschen
erforderlich werdende Veränderungseinsichten überhaupt entstehen zu
lassen..
Was ist damit gemeint?
1972, also vor gut 45
Jahren, wurde in der Schweiz die im Auftrag des Club of Rome
erstellte Studie »Die Grenzen des Wachstums« vorgestellt. Die
Studie zeigte auf, dass alle globalen Auswirkungen des Menschen
vom Menschen nicht mehr beherrscht werden könnten, weil die zu
erwartenden weltweiten Veränderungen die Vorstellungskraft des
Menschen schlichtweg übersteigen würde.
In den Schlussfolgerungen
der Studie heißt es u.a.:
-
Wenn die gegenwärtige
Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der
Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der
Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält,
werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe
der nächsten hundert Jahre erreicht. [En23] 23
-
Unsere gegenwärtige
Situation ist so verwickelt und so sehr Ergebnis
vielfältiger menschlicher Bestrebungen, dass keine
Kombination rein technischer, wirtschaftlicher oder
gesetzlicher Maßnahmen eine wesentliche Besserung bewirken
kann.
-
Ganz neue Vorgehensweisen sind erforderlich, um die
Menschheit auf Ziele auszurichten, die anstelle weiteren
Wachstums auf Gleichgewichtszustände führen. Sie erfordern
ein außergewöhnliches Maß von Verständnis, Vorstellungskraft
und politischem und moralischem Mut. Wir glauben aber, dass
diese Anstrengungen geleistet werden können, und hoffen,
dass diese Veröffentlichung dazu beiträgt, die hierfür
notwendigen Kräfte zu mobilisieren. [En24] 24
Doch der in der Studie
angekündigte Weltuntergang ließ auf sich warten.
40 Jahre später lud die
VW-Stiftung, die die Studie des Club of Rome seinerzeit mit
einer Million DM gesponsert hatte, am 28. und 29. November 2012
zu einem Symposium in die prunkvolle Galerie Herrenhausen in
Hannover ein. [En25] 25
Allein die Bilder der
prächtigen Galerie Herrenhausen, die über den folgenden Link
aufgerufen werden können, zeigen den Widerspruch zwischen dem
vorhergesagten Schreckenszenario des Club of Rome und den (Gott
sei Dank) bisher ausgebliebenen? negativen Folgen auf, die die
Studie, »Die Grenzen des Wachstums« vorausgesagt hatten, so
zumindest der wohl noch vorherrschende Zeitgeist damals im Jahr 2012 in
Deutschland.
Galerie Herrenhausen in Hannover
[Hinweis:] 2018
würde der VW-Konzern sicherlich nicht mehr zu einem Symposion
einladen, das sich mit Fragen auseinandersetzen würde, die die
Grenzen des Wachstums bzw. den Umweltschutz betreffen.
Der Dieselskandal und drohende Fahrverbote für Dieselfahrzeuge
in bundesdeutschen Großstädten würden so viel Zukunftsoptimismus
wie bei VW 2012 noch vorhanden gewesen ist, heute sicherlich nicht mehr
zulassen.
Allein die Vorstellung,
dass das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig über die
Zulässigkeit von Fahrverboten von Dieselfahrzeugen bereits im März 2018
entscheiden würde, wäre 2012 schlicht
undenkbar gewesen.
Hätten Politiker,
Wirtschaftsbosse, Zukunftsforscher oder andere Experten 2012 die
Meinung vertreten, dass mit solchen Verboten bereits 2018 zu
rechnen sei, wären diese Personen wahrscheinlich dazu
aufgefordert worden, sich auf ihre geistige Gesundheit
untersuchen zu lassen.
Wie dem auch immer sei.
Die Berichte des »Club
of Rome« aus 1972 wandten sich an die Menschheit als
Ganzes. Da die Menschheit aber über keine Weltregierung verfügt,
vermag es nicht zu verwundern, dass sich seit 1972 vor allem die
Regierungen und Verwaltungen in einer Vielzahl von Ländern dazu
aufgerufen fühlten und sich auch heute noch fühlen, dem
drohenden Klimawandel und den anderen im Bericht des »Club
of Rome« angekündigten Schreckensszenarien mit
angemessenen Mitteln zu begegnen.
Die Grenzen des Wachstums
wurden damit zu einer willkommenen Legitimation staatlicher
Großplanungen.
02.2 Was Rousseau uns
heute noch zu sagen hat
TOP
Auch wenn die folgenden
Zitate von Jean-Jacques Rousseau bereits über 250 Jahre alt
sind, kann ihnen auch heute nicht ihre Aktualität abgesprochen
werden. Als Rousseau im Jahr 1762 seine staatstheoretische
Schrift »Du Contract Social« (Der
Gesellschaftsvertrag) veröffentlichte, übte er damit vor allem
Kritik an der damaligen Gesellschaft und bemängelte die
soziale Ungleichheit, die auch damals schon die politische
Ordnung gefährdete.
Zitat 1:
»Sobald [...] das gesellschaftliche Band zu erschlaffen und der
Staat schwach zu werden beginnt; sobald die Privatinteressen
sich immer mehr geltend machen und die kleinen Gesellschaften
auf die großen einzuwirken anfangen: Dann leidet das gemeinsame
Interesse und findet Gegner; es herrscht keine Einstimmigkeit
mehr; der allgemeine Wille ist nicht mehr der Wille aller, es
erheben sich Widersprüche und Streitigkeiten, und die beste
Ansicht wird nicht ohne lebhafte Wortgefechte angenommen.«
[En26] 26
Solche eine destruktive
Entwickelung des Gemeinwesens, so Rousseau, lässt sich nur
dadurch vermeiden, indem sich die Gesetze ausschließlich am
Allgemeinwohl orientieren.
Zitat 2:
»Ein
auf solcher Weise regierter Staat, so Rousseau, hat nur wenige
Gesetze nötig, und je erforderlicher sich der Erlass neuer
macht, desto allgemeiner wird auch diese Notwendigkeit
anerkannt. Wer sie zuerst vorschlägt, spricht nur aus, was schon
alle längst gefühlt, und es ist nicht erst von Kabalen
und Beredsamkeitsergüssen die Rede, um etwas Gesetzeskraft zu
verleihen, was jeder schon selbst zu tun beschlossen hat, sobald
er nur sicher wäre, dass die anderen seinem Beispiel folgen
würden.« [En27] 27
[Kabalen:]
Wortbedeutung gemäß Duden: Arglistigkeit, Gemeinheit, Heimtücke,
Hinterhältigkeit, Hinterlist, Machenschaften,
Niederträchtigkeit, Ruchlosigkeit, Tücke, Winkelzüge; (gehoben)
Arglist.
[Hinweis:] Von
einer solchen Gesetzgebung ist die pluralistische Demokratie in
Deutschland meilenweit entfernt.
Tatsache ist, dass es auch
heute, trotz der Verschärfung der Zugangsregeln immer noch mehr
Lobbyisten mit eigenem Hausausweis als Abgeordnete im Deutschen
Bundestag gibt.
In einer Meldung vom
08.06.2017 heißt es auf Sueddeutsche.de wie folgt:
706 Lobbyisten im Bundestag. Die
Verwaltung des Parlaments teilte der Süddeutschen Zeitung mit,
dass sie bis Mitte Mai insgesamt 706 Jahresausweise »an
Interessenvertreter von Verbänden« ausgestellt habe. Mit den
Ausweisen haben die Lobbyisten Zugang zu allen
Bundestagsgebäuden. [En28] 28
[Hinweis:] In solch
einem Klima der Beeinflussung durch Interessensverbände dafür
Sorge zu tragen, dass das »Allgemeinwohl« in Gesetzen
hinreichend berücksichtigt wird, dürfte wohl nichts anderes als
eine bloße Fiktion sein.
Was für
gesamtgesellschaftliche Folgen eine solche enge Verbindung von
Unternehmens- und Allgemeininteressen haben kann, das soll in
der folgenden Randnummer an ausgewählten Beispielen illustriert
werden.
02.3 Was kostet
Wirtschaftswachstum?
TOP
Der Preis für Wachstum
steigt ständig. So erzeugte beispielsweise Chinas
»Wirtschaftswunder« eine Luftverschmutzung, die täglich 4000
Bürger des Landes das Leben kostete. [En29] 29
Die Lage in den vom Smog
verseuchten Großstädten in China hat sich zwischenzeitlich so
verschärft, dass ein kanadisches Unternehmen Chinas Bürgern
Flaschen mit sauberer Luft aus den Rocky Mountains verkauft -
ein gutes Beispiel dafür, wie sich Wirtschaftswachstum die von
ihm selbst angerichteten Zerstörungen für sein Gedeihen zunutze
macht.
Auf Stern.de vom 15.
Dezember 2015 heißt es:
Chinesen kaufen Frischluft aus Kanada -
in Sprühflaschen. Ein Kanadier liefert seit gut zwei Monaten in
Flaschen abgefüllte Frischluft nach China - mit großem Erfolg.
Die vom Smog geplagte Bevölkerung schreckt selbst der hohe Preis
nicht ab.
Für umgerechnet etwa 22
Euro liefert der Kanadier seinen Kunden 7,7 Liter Frischluft aus
dem Banff National Park in den Rocky
Mountains. Die Menge soll für rund 150 Atemzüge reichen - und
der Bedarf scheint groß. Aktuell seien 4000 Flaschen auf dem Weg
nach China, die meisten bereits verkauft. [En30] 30
[Hinweis:] Peking
ist näher als vermutet. Die Flugzeit von Düsseldorf nach Peking
beträgt lediglich 9 Stunden und 40 Minuten.
Aber auch in Deutschland
sind die Kosten des Wirtschaftswachstums immens. Während
Wirtschaftswachstum für die Einen (Unternehmern, Arbeitnehmer,
Aktionäre etc.) von Vorteil sind, wird bedauerlicherweise
übersehen, dass die Folgekosten die erzielten Gewinne deutlich
übersteigen können.
Niemand weiß heute so ganz
genau, wie hoch die Kosten für:
-
die Beseitigung von
Atommüll
-
die Reinigung von
Wasser von Giftstoffen und Arzneimittelrückständen oder
-
die Behandlungskosten
für Krankheiten sein werden, die im Zusammenhang mit
wirtschaftlichem Fortschritt stehen oder
-
die Reinigung von
Böden, die durch industrielle Landwirtschaft nicht nur ihre
Nährstoffe verloren, sondern giftig geworden sind.
Mit anderen Worten:
Wirtschaftsführer und
Politiker stehen heute vor der schwierigen Aufgabe, ein
mindestens 200 Jahre altes Verhaltensmuster abzulegen, nämlich
die Fixierung auf Wirtschaftswachstum um jeden Preis.
Heute sollte Freiheit anders definiert werden.
Gesellschaften, die nicht
rechtzeitig dazu in der Lage sind, diesen Irrglauben zumindest
zu begrenzen, werden sicherlich schon bald einen hohen Preis für
ihre Ignoranz zu zahlen haben.
Die wirkliche
Zukunftsfrage, vor der Industriegesellschaften und somit auch
Deutschland heute stehen, lautet somit: Wie kann der Wohlstand
erhalten bleiben, ohne ihn durch Raubbau an der Natur zu mehren?
Gesucht ist also nichts
anderes als die Synthese aus Ökonomie und Ökologie.
Wachstum? Nein danke! [En31]
31
Was oftmals übersehen
wird:
Umweltschäden sind schon
heute tödlicher als Krieg und Krankheit
Am 20.10.2017 heißt es im
ZDF:
Schadstoffe in der Luft,
im Wasser und im Boden kosten Jahr für Jahr Millionen Menschen
das Leben. Allein 2015 gab es einer Studie zufolge neun
Millionen Todesfälle wegen Umweltverschmutzung. Dem größten
Risiko ausgesetzt sind Menschen in Afrika und Asien. [En32]
32
[Hinweis:] Über die
gesundheitlichen Folgeschäden der Luftverschmutzung in 70
deutschen Großstädten können die Sichtweisen nicht
unterschiedlicher sein. Einige Wissenschaftler sprechen von
statistischen Verzerrungen, andere von unbeweisbaren
Behauptungen und wiederum andere halten das für reine
Panikmache.
Und: Politiker halten
Fahrverbote für unverhältnismäßig.
Mit anderen Worten:
Freie Fahrt für freie
Bürger ist ein höheres Rechtsgut als Gesundheit und Leben.
Freiheit ohne Auto: undenkbar.
Wie dem auch immer sei.
Auf der Website des
Umwelt-Bundesamtes kann nachgelesen werden, wie gefährlich
Umweltverschmutzungen für den Menschen bereits heute sind.
Wirkung der
Umweltverschmutzung auf die Gesundheit
[Kosten der Beseitigung
von Umweltverschmutzungen/-zerstörungen:] Wie
teuer die Beseitigung von Umweltschäden, soweit das überhaupt
möglich ist , die Bürgerinnen und Bürger in den Industrieländern
noch kosten wird, darüber gibt es zurzeit keine validen
Erkenntnisse.
Es kann davon ausgegangen
werden, dass schon heute die Kosten höher sind, als das durch
das Wachstum erzielte Einkommen des Bruttosozialprodukts
(Bruttonationaleinkommens).
03 Furcht oder Angst vor
den Folgen der Freiheit
TOP
»Escape from
Freedom« (Die Furcht vor der
Freiheit), diesen Titel wählte Erich Fromm
1941 für seine Analyse der Ursachen des Naziregimes. In seinem
Buch zeigte Erich Fromm auf, dass Freiheit,
verstanden als positive Verwirklichung des Individuums, noch
nicht errungen ist.
Erich Fromm
wies aber auch auf
überzeugende Art und Weise nach, dass der Faschismus nicht
auszurotten ist, auch wenn wir das Ergebnis, wohin uns der
Faschismus führt, kennen.
[Hinweis:] Nach der hier vertretenen Interpretation von
Faschismus, trägt auch das Dogma einer
Wachstumsgesellschaft durchaus faschistische Merkmale,
denn um lebensfähig zu bleiben benötigt insbesondere jede
Wachstumsgesellschaft, die an ihre Grenzen stößt,
Wirtschaftsführer und Politiker, die alles Erforderliche tun, um
die treibende Kraft dieses Systems - und das ist die Wirtschaft
- in Gang zu halten. Wer sich diesem Totalitarismus, dem Zwang
zum Wachstum, verweigert, zerstört damit das ganze System.
Mit anderen Worten:
Wachstum lässt nur Freiheit in eine Richtung zu. Diese Richtung
heißt:
Mehr Wachstum.
Zurück zu Erich Fromm:
Als Psychologe wählte
Fromm
sicherlich mit Bedacht das Wort »Furcht« und nicht das Wort
»Angst« vor der Freiheit für sein auch heute noch lesenswertes
Buch aus.
Im Folgenden wird der
Versuch unternommen, die wesentlichsten Aussagen dieses Buches
kurz zusammenzufassen:
-
Doppelgesicht der
Freiheit: Der moderne Mensch, so Erich Fromm,
empfinde die Freiheit als Last. Er fühlt sich isoliert und
ohnmächtig, weil er den Sinn seines Lebens, seine Identität
und Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, verloren hat. Fromm bezeichnet damit ein Zeitgefühl, das auch heute
durchaus zeitgemäß ist.
-
Autoritärer
Charakter des Menschen: In der Kurzfassung heißt das
im Sinne von Erich Fromm: Nach
oben buckeln und nach unten treten! Von der Macht,
bzw. von der Autorität erwarten die Menschen aber auch
Schutz, von ihr möchten sie behütet werden. Die Macht bzw.
die Autorität wird aber auch für alles verantwortlich
gemacht, was bei ihrem Tun herauskommt. Daran hat sich bis
heute nichts geändert. Es mag insoweit nicht verwundern,
dass in der Dieseldiskussion von heute die Schuldigen
schnell gefunden sind: die Politik und die Autoindustrie.
-
Flucht in die
Konformität: In einer Zeit, die durch Werbung, Medien
und Bilder dominiert ist, werden uns öfter als wir es
wahrhaben wollen, Gedanken oder Bedürfnisse von außen
einsuggeriert und wir empfinden sie als die unseren. Das war
schon während der Zeit des Nationalsozialismus in
Deutschland so. Durch die Medien wird der moderne Mensch mit
einer Fülle von Informationen überflutet, die, durch ihre
angebliche wissenschaftliche Objektivität, die dahinter
stehenden Interessen oftmals verschleiern. Dem Menschen wird
zudem der Eindruck vermittelt, von Experten abhängig zu
sein. Daran hat sich ebenfalls bis heute nichts geändert.
Keine Nachricht ohne Expertenmeinung: Terrorismusexperte,
Umweltexperte, Konfliktforscher, Zukunftsexperte etc. pp.
-
Die »Natur des
Menschen«: Dazu heißt es bei Erich
Fromm: »Wenn es auch gewisse
allen Menschen gemeinsame Bedürfnisse gibt, wie etwa Hunger,
Durst und Sexualität, sind jene Triebe, welche die
Unterschiede im Charakter der Menschen bedingen - etwa Liebe
und Hass, das Streben nach Macht und das Verlangen, sich zu
unterwerfen, die Freude an sinnlichem Genuss und die Angst
davor, sämtlich Produkte des gesellschaftlichen Prozesses.
Die schönsten wie auch die abscheulichsten Neigungen des
Menschen sind kein festgelegter, biologisch gegebener
Bestandteil seiner Natur, sondern das Resultat des
gesellschaftlichen Prozesses, der den Menschen erzeugt. Die
Gesellschaft hat also nicht nur die Funktion, etwas zu
unterdrücken, obwohl sie auch diese Funktion hat, sondern
auch eine kreative Funktion. Die Natur des Menschen,
seine Leidenschaften und seine Ängste, sind ein Produkt der
Kultur.« [En33] 33
[Hinweis:] Diese
Sicht der Dinge dürfte auf heftigen Widerspruch aus Kreisen der
Genetik, der Epigenetik bzw. der Biologie stoßen,
Denkrichtungen, die schon seit Jahren herausgefunden haben
wollen, dass es so etwas wie einen »freien Willen« gar
nicht gibt.
Was bedeutet das?
Wenn der Mensch keinen
freien Willen hat, dann handelt er schlicht kausal im Sinne des
in ihm ablaufenden Programmes. Für das, was er tut, kann er
nicht verantwortlich sein, weil er gar nicht über einen freien
Willen verfügt, sondern schlicht und ergreifend das tut, was
seine Gene von ihm erwarten bzw. zu tun vorgeben.
Verbrechen und
individuelle Schuld kann es bei konsequenter Anwendung dieser
wissenschaftlichen Erkenntnis nicht geben.
Irgendwie erinnert diese
Sicht der Dinge an mittelalterliche Vorstellungen, in denen
alles, was auf der Welt geschieht, von Gott gewollt ist. Gott
entscheidet, was geschieht.
Heute sollen es die Gene sein.
Wie dem auch immer sei.
Die zitierten Textstellen
von Erich Fromm, sagen nichts darüber aus,
warum sich der Mensch vor der Freiheit »fürchtet« bzw. warum er
sich nicht vor der Freiheit »ängstigt«. Insoweit ist es
erforderlich, den Sinn der beiden Wörter »Frucht« und »Angst«
zumindest kurz zu erörtern, weil deren Wortbedeutungenauch für
den weiteren Verlauf dieses Aufsatzes von Bedeutung sind:
03.1 Furcht
TOP
Im Deutschen Wörterbuch
der Gebrüder Grimm heißt es sinngemäß: Furcht kann als geistige
Beziehung zwischen etwas Bevorstehendem oder etwas Höherem oder
Erhabenerem verstanden werden. Etwas, wovor der Mensch
zurückschreckt, wovon er besser nicht Besitz ergreifen sollte,
weil ihm sonst Strafe droht. Gottesfurcht, diese Wortverbindung
lässt zumindest erahnen, was Furcht im eigentlichen Wortsinn
bedeutet. Furcht ist ein Grundbegriff für etwas innerlich
Durchdringendes, Aufregendes, Aufwühlendes. [En34] 34
Meyers
Konversations-Lexikon definiert Furcht wie folgt:
Furcht ist der Affekt, der
aus der Vorstellung eines künftigen (wirklich oder vermeintlich
bevorstehenden) Übels entsteht. Ihren seelischen Wirkungen nach
gehört sie zu den niederdrückenden und lähmenden Affekten: Die
ganze Vorstellungstätigkeit ist mehr oder weniger auf den einen
(gefürchteten) Gegenstand beschränkt, das Denken also gehemmt,
der Wille durch den Trieb, dem bevorstehenden Übel zu entgehen,
ausschließlich beherrscht oder bei höheren Graden der Furcht
ganz gelähmt. Äußerlich macht sich die Furcht bemerkbar durch
Unruhe der Bewegungen oder starre Bewegungslosigkeit, durch
Zittern, Erbleichen etc., Symptome, an denen das Vorhandensein
dieses Affekts auch bei vielen Tieren erkannt werden kann. [En35]
35
03.2 Angst
TOP
Im Deutschen Wörterbuch
der Gebrüder Grimm heißt es über die Angst sinngemäß: Angst ist
verbunden mit einem Gefühl von Enge. Angst und Bange kommen
daher, dass die Enge, die gespürt und in die der Mensch
hineingedrängt wird, als Gefühl eines bevorstehenden Unglücks
wahrgenommen wird. [En36] 36
Ganz anders die Definition
von Angst in Meyers großem Konservations-Lexikon aus dem Jahre
1902.
Dort heißt es:
Angst, das Gefühl der
»Engigkeit« in der Brust, bez. in der Herzgegend, tritt auf als
Begleiterscheinung verschiedener Lungen- und Herzkrankheiten,
bedingt durch den in der Atemnot zum Ausdruck kommenden
Sauerstoffmangel des Organismus. [...]. Die Begleiterscheinungen
der Angst sind beschleunigter Herzschlag, gespannter und
aussetzender Puls, Blässe und Kühle der Haut, unregelmäßige
Atmung, unruhiges Hin- und Herlaufen etc. Die stärksten Grade
der Angst treten auf bei Melancholie, Sinnestäuschungen
schreckhaften Inhalts, im Verlaufe der verschiedensten
Geisteskrankheiten (Delirium tremens, Paranoia, Epilepsie etc.)
mit Neigung zum Selbstmord und bei wutartigem Zerstörungstrieb
auf.
Schwere Angstanfälle erforderneine ärztliche Überwachung in
Heilanstalten. [En37] 37
[Hinweis:]
Entscheiden Sie bitte selbst, in welch einem Gefühlszustand sich
die deutsche Bevölkerung zurzeit befindet. Nach meiner Sicht der Dinge
fürchtet sie sich vor Überfremdung und vor Terrorismus. Für
weitaus größere Zukunftsgefahren scheint der Grad des
Bewusstseins noch nicht hinreichend ausgeprägt zu sein. Das kann
sich aber schnell ändern, wenn die ersten Fahrverbote verhängt
werden, um in Städten mit besonders hoher Stickoxidbelastung
dafür zu sorgen, dass die zugelassenen Grenzwerte nicht mehr
überschritten werden.
Spätestens dann wird der
ganze Zorn des Volkes sich über diejenigen ergießen, die solch
eine Wirklichkeit zu verantworten haben (Politik und
Autoindustrie).
04 Unbehagen im 21.
Jahrhundert
TOP
Ob die zu erwartenden
negativen Folgen des Klimawandels, von in Deutschland lebenden
Menschen bereits heute als ein dringend zu lösendes politisches
Phänomen wahrgenommen werden, diese Frage muss jeder
für sich selbst entscheiden.
Anders ist das aber mit
dem »Unbehagen« in einer Kultur, bei dem es sich, in Anlehnung
an Siegmund Freud, immer um Ursachen handelt, die aus der
Außenwelt kommen, denn der Mensch, so Freud, ist Ereignissen
ausgeliefert, denen er sich nicht entziehen kann.
Dies gilt insbesondere für
kollektiv erwartete Unglückserfahrungen.
Diese Verletzbarkeit, so
Sigmund Freud, führt dazu, dass der Mensch zum Beispiel zum
Schutz vor dem Unbehagen den Rückzug in Illusionen sucht, will
sagen: Wahrgenommene Probleme werden schöngeredet oder, was die
Flüchtlingsströme anbelangt, dadurch aufgebauscht, indem Grenzen
geschlossen und außerhalb von Europa so genannte Sammellager
eingerichtet werden sollen/müssen, um weiterhin lebensfähig zu bleiben.
Trotzdem:
In diesen kurzen
Feststellungen liegt viel Unbehagen, egal welcher politischen
Richtung möglicher Problemlösungen der Einzelne auch anhängen
mag. Auch diejenigen, die Mauern errichten wollen, werden ein
Unbehagen spüren, denn sie können nicht wissen, ob sich dadurch
Migrationsströme auf Dauer aufhalten lassen.
Was bleibt und wächst, ist Unbehagen.
Siegmund Freud beschreibt
das wie folgt:
»Wenn wir gegen unseren jetzigen Kulturzustand mit Recht
einwenden, wie unzureichend er unsere Forderungen an eine
beglückende Lebensordnung erfüllt, wie viel Leid er gewähren
lässt, das wahrscheinlich zu vermeiden wäre, wenn wir mit
schonungsloser Kritik die Wurzeln seiner Unvollkommenheit
aufzudecken streben, üben wir gewiss unser gutes Recht [aus] und
zeigen uns nicht als Kulturfeinde. Wir dürfen erwarten,
allmählich solche Abänderungen unserer Kultur durchzusetzen, die
unsere Bedürfnisse besser befriedigen und jener Kritik entgehen.
Aber vielleicht machen wir uns auch mit der Idee vertraut, dass
es Schwierigkeiten gibt, die dem Wesen der Kultur anhaften und
die keinem Reformversuch weichen werden.« [En38]
38
Michael Serres hat für
dieses »nicht weichen wollen« ebenfalls deutliche Worte
gefunden.
In seinem Buch »Der
Parasit« beschreibt er nachvollziehbar, dass sich Menschen heute
wie Parasiten verhalten.
Der Wirt (die Erde) wird
vom heutigen Menschen mit einer Selbstverständlichkeit in
Anspruch genommen, die die Existenz des Parasiten selbst in
Frage stellt. Wenn aber, so Michael Serres, der parasitäre
Mensch seinen Wirt ausplündert und dadurch weltweit
lebensfeindliche Veränderungen geschaffen hat, die seinen Wirt dazu
zwingen, sich den sich ändernden Gegebenheiten anzupassen, die
durch den parasitären Menschen verursacht wurden, dann bereitet
er, der Parasit Mensch, schlichtweg seinen eigenen Selbstmord
vor denn: Der Tod des Wirtes - gemeint ist der Lebensraum auf
der Erde, in dem Menschen leben können - ist der Tod der
menschlichen Parasiten, denn von wem soll der Mensch leben, wenn
nicht von seinem Wirt? [En39] 39
Und zum Wesen eines
Parasiten heißt es an anderer Stelle:
»Der Parasit ist ein
Erreger. Er bringt ein Gefälle hinein, [in seinen Wirt], indem
er das Gleichgewicht oder die Energieverteilung des Systems in
einen schwankenden und instabilen Zustand bringt. Er [der
Parasit = AR] dopt das System. Er irritiert es. Er entzündet es.
Oft hat dies Gefälle keine Wirkung, es kann aber Wirkungen
hervorrufen - und durch Verkettung oder Reproduktion sogar
gewaltige.
Und ein paar Zeilen weiter
heißt es sinngemäß:
Der Parasit führt uns in
die Nähe des subtilen Gleichgewichts lebender Systeme. Er stört
sozusagen ihr energetisches Gleichgewicht. Er führt
Veränderungen herbei, die das System des Wirtes (der Erde)
erschüttern, und wird dadurch zur transformierenden Bewegung des
Lebens selbst. [En40] 40
Mit an deren Worten:
Parasiten sind Erreger.
Sie verlieren diese
Eigenschaft, wenn der Wirt tot, oder aus anderen Gründen für
seinen Gast (seine Parasiten) unbewohnbar geworden ist.
In der Natur suchen sich
die vielen Parasiten, die es im Tierrecht gibt, beim Tod ihres
Wirtes andere Wirte oder gehen mit ihrem Wirt zugrunde.
Trotz intensiven Bemühens
und unter Einsatz aller nur erdenklichen finanziellen und
technischen Mittel ist es dem Menschen bis heute noch nicht
gelungen, einen Ersatzplaneten (einen neuen Wirt) zu finden, um
seiner Erregereigenschaft weiter nachgehen zu können.
Die gute Nachricht zum
Schluss:
Nicht die Erde wird
sterben, es stirbt lediglich der Mensch und mit ihm viele andere
Arten und in den Jahrmillionen, die dann noch kommen werden,
dürfte es der Erde sicherlich möglich sein, vernunftbegabtere
Wesen entstehen zu lassen, die mit ihrer Freiheit besser
umzugehen verstehen als die Menschen von heute.
04.1 Klimawandel
TOP
Der Klimawandel ist etwas
Undenkbares. Ihn dennoch zu leugnen hieße, auch andere
gesicherte Erkenntnisse der Wissenschaft in Frage zu stellen.
Die Faktenlage ist aber so eindeutig, dass heute kein ernst zu
nehmender Wissenschaftler den Klimawandel mehr leugnen kann.
Ausnahmen gibt es immer
wieder.
Die Fremdartigkeit des
Klimawandels ist ein »unheimlicher« Vorgang. Die Unheimlichkeit
besteht darin, dass Klimaveränderungen globalen Ausmaßes zu
erwarten sind, die Veränderungen herbeiführen werden, die wir
nicht für möglich halten bzw. die wir uns einfach nicht
vorstellen können.
Diese Konfrontation mit
dem »Undenkbaren« führt dennoch dazu, dass uns bewusst wird,
dass es in unserer Wirklichkeit eine nichtmenschliche Präsenz
gibt, mit der wir kommunizieren und die uns nicht nur in Angst
versetzt, sondern auch Furcht erzeugt, weil einmal vollzogene
»Grenzüberschreitungen« nicht mehr rückgängig, sondern höchstens
nur noch verzögert bzw. abgeschwächt werden können.
Dazu einige Beispiele:
Tatsache ist, dass der
Mensch sich dem Wasser Schritt für Schritt näherte und heute die
größten Metropolen dieser Welt unmittelbar am Wasser liegen, was
zur Folge haben wird, dass diese Metropolen unter dem Anstieg
des Meeresspiegels besonderen Gefahren ausgesetzt sein werden.
Ein Beispiel, das zum
Nachdenken anregen soll:
Warum sich Menschen dazu
entschlossen, in Fukushima in unmittelbarer Nähe des Meeres ein
Kernkraftwerk zu errichten, obwohl man bereits im Mittelalter
mit eingravierten Tsunamiwarnungen am Wegesrand große Findlinge
aufgestellt hatte, um künftigen Generationen davor zu warnen,
unterhalt dieser Markierungslinien nicht zu bauen, ist nichts
anderes als menschliche Selbstüberschätzung.
Wäre dem Rat der Alten
gefolgt worden, hätte es die Katastrophe in Fokushima nie
gegeben.
Wie dem auch immer sei.
Der Klimawandel verkehrt
die weltliche Ordnung der Moderne in ihr Gegenteil. Um es mit
einem Zitat von Martin Heidegger auszudrücken:
Nur ein Gott
vermag uns noch zu retten.
Grund dafür ist auch unser
oberflächliches Gedächtnis.
Auf folgende Fragen wissen
die meisten die richtige Antwort:
-
Wo warst du als 9.
November 1989, als die Mauer viel?
-
Wo warst du am 11.
September 2001, als du erstmalig die Bilder von den
Terroranschlägen auf die beiden Türme des World Trade
Centers (WTC) im Fernsehen gesehen hast?
Wie ist es aber mit
folgenden Fragen?
-
Wo warst du, als im
Mai 2013 die Schwelle von 400 p.p.m. (parts per million)
Kohlenstoffdioxid CO2 in der Atmosphäre überschritten wurde?
Die meisten werden gar nicht wissen, was eine Bedeutung
diese Grenzüberschreitung für das Klima auf der Erde hat und
auch in Zukunft haben wird. Die Antwort lautet:
Es handelt
sich um eine unumkehrbare Veränderung der
Luftzusammensetzung, die dazu führt, dass es auf der Erde
wärmer wird.
-
Wo warst du, als das
Larsen-B-Schelfeis auseinanderbrach? Seine Auflösung
wurde zwischen dem 31. Januar und dem 7. März 2002
festgestellt, an dem es mit einer Eisplatte von 3.250
Quadratkilometern Fläche sich von der
antarktischen Halbinsel löste. Bis zu diesem
Zeitpunkt war das Eisschelf während des gesamten Holozäns,
also seit über 10.000 Jahren stabil gewesen. Der
Zusammenbruch von Larsen-B führte zu einem beschleunigten
Abfluss der dahinter befindlichen Eisströme ins Meer. Nach
dem Zusammenbruch wurden bis zu achtfach höhere
Fließgeschwindigkeiten gemessen. [En41] 41
Stimmt das?
Nur wenige werden sich
noch an die Meldungen in den Medien erinnern, die sich mit
diesen Ereignissen auseinandersetzten. Und nur ein kleiner Kreis
von Wissenschaftlern, Umweltschützern und Interessierten wird
darüber nachgedacht haben, wie folgenreich diese Ereignisse für
die Zukunft der Menschheit sein werden, zumal zeitgleich durch andere
besorgniserregende Ereignisse, die hier nicht genannt werden
können, die Gefahren potenziert haben und werden, die vom Klimawandel ausgehen.
Wie dem auch immer sei.
Der amerikanische
Schriftsteller Roy Scranton hat in seinem Buch »Learning to
Die in the Anthropocene« beschrieben, wie
machtlos der Einzelne tatsächlich ist, sich dem Klimawandel
entgegen zu stellen.
Bei Amitav Ghosh, der aus
dem oben genannten Buch zitiert, heißt es:
»Auch Großdemonstrationen vermögen die einmal eingeschlagene
Richtung nicht zu ändern. Ganz egal, wie viele Menschen sich zu
gewaltigen Protestmärschen auf der Straße versammeln, an die
realen Strömungen der Macht kommen sie nicht heran, weil sie
keinen Anteil an ihrer Produktion haben. Sie konsumieren nur.«
[En42] 42
Und an anderer Stelle
heißt es sinngemäß:
Ein Protestmarsch oder
eine andere Form der Demonstration des öffentlichen Empfindens
gegen die Unaufhaltsamkeit des Klimawandels ist nicht mehr als
eine Orgie demokratischer Gefühle, nicht mehr als ein
aktivistisches Straßenfest, Grund, eine Twitter-Hashtag-Kampagne
auszulösen, kurzum, sich ein gutes Gefühl zu verschaffen oder
seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe zu demonstrieren,
wohl wissend, dass solche Aktionen keinen Einfluss auf die
Gesetzgebung oder die Staatsgewalt haben werden, die heute
zumindest noch dazu in der Lage wäre, die zu erwartenden
gravierenden Veränderungen zumindest verzögern, möglicherweise
sogar begrenzen zu können.
Das, was durch die Politik
von heute zugelassen wird, lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Die Angst vor dem
Unvorstellbaren wächst.
Das Vertrauen in die vom Volk gewählten
Repräsentanten nimmt aber nicht nur deshalb rapide ab. Es entsteht eine Protesthaltung
bis hin zum Fundamentalismus. Aus verbalem Protest wird
aggressiver Protest. Radikale Parteien finden Unterstützung für
die von ihnen propagierten einfachen Lösungen, die im Übrigen
den Klimawandel schlichtweg leugnen, zum Beispiel die AfD.
Kurzum:
Die Demokratie verändert
sich heute schneller, als das Klima, weil sie sich in
Nebensächlichkeiten verliert (Beispiel: Änderung des Textes der
deutschen Nationalhymne, die Entwicklung von Flugtaxis
(Forderung der CSU-Politikerin und künftige Staatsministerin für
Digitalisierung Dorothee Bär am 05.03.2018 im Heute-Journal)
oder emotionale Reden so genannter »Gutmenschen« im Bundestag,
die den Abgeordneten der AfD vorwerfen,
Rassisten bzw. Nazis zu sein, dadurch aber auch nichts
verändern, sondern wahrscheinlich nur verschlimmern, denn
dadurch dokumentierten diese Abgeordneten nur, was sie von den
Meinungen Andersdenkender halten.
[Hinweis:]
Vielleicht ist es erneut an der Zeit, sich an einige Zitate von
Rosa Luxemburg (1870 - 1919), einer deutschen sozialistischen
Politikerin polnischer Herkunft und Mitbegründerin der KPD zu
erinnern.
-
Freiheit ist immer
Freiheit der Andersdenkenden.
-
Mir imponieren nur die
Ratschläge, die der Ratgebende selbst beherzigt.
-
So ist das Leben und
so muss man es nehmen, tapfer, unverzagt und lächelnd -
trotz alledem.
-
Wer sich nicht bewegt,
spürt seine Fesseln nicht! [En43] 43
04.2 Umweltverschmutzung
TOP
Das, was zum Klimawandel
bereits »gesagt« wurde, gilt auch für die Umweltverschmutzung,
denn beide Fehlentwicklungen stehen in einem engen
Sachzusammenhang zueinander und beide erzeugen auch das gleiche
Unbehagen.
Und beide sind das Ergebnis verantwortungslosen
Freiheitsgebrauchs.
Wer die Verwüstungen
gesehen hat, die der Braunkohlebergbau rund um Garzweiler angerichtet hat, wird wissen, was es heißt, die Umwelt
zu zerstören, nicht nur, sie zu verschmutzen. Und wer dann noch dazu
bereit ist, sich vorzustellen, welch einen Schaden die
Verbrennung allein der in diesem Abbaugebiet geförderten
Braunkohle in der Atmosphäre bereits angerichtet hat und
weiterhin anrichtet, der wird nachvollziehen
können, welche Faktoren für den Klimawandel nachhaltig
verantwortlich sind, die Verbrennung fossiler Brennstoffe wie:
[Umweltverschmutzung in
den Drittländern:] Den in den Drittländern lebenden Menschen
bleibt oft gar keine andere Wahl, als fossile Brennstoffe
zu verbrennen. Dennoch ist festzustellen, dass die
Industrieländer auch heute noch einen weitaus größeren Anteil an
der Umweltverschmutzung haben.
[Beispiel Kongos
schwarzes Gold:] Mit dem Handel von Holzkohle verdienen die
Rebellen im Kongo Millionen pro Jahr. Dafür holzen sie den
Regenwald ab. Die Nachfrage nach Holzkohle ist enorm. Allein die
Millionenstadt Goma und ihre gigantischen Flüchtlingslager sind
von der Holzkohle abhängig, denn elektrische Energie gibt es
dort kaum. Alles was dort gekocht werden muss benötigt
Holzkohle. [En44] 44
[Energieverbrauch in
der Ersten Welt:] Der Geologe David Archer
(US-amerikanischer Geologe und Professor für Geophysik an der
University of Chicago) hat ausgerechnet, dass in der Ersten Welt
eine Verringerung der Emissionen (Ausströmen von Stoffen in die
Atmosphäre) um rund 80 Prozent, in den Vereinigten Staaten,
Kanada und Astralien sogar um die 90 Prozent erforderlich wäre,
um sich den in Drittländern erzeugten Umweltverschmutzungen
anzupassen.
[Hinweis:] Es ist
kaum vorstellbar, dass Menschen in der westlichen Welt dazu
bewegt werden können, Reduktionen in solch einem Ausmaß zu
akzeptieren.
Wie dem auch immer sei.
Umweltzerstörungen großen
Ausmaßes vernichten menschliche Seelen.
-
das war im Ersten
Weltkrieg so
-
im Zweiter Weltkrieg
so und das
-
ist auch heute noch in
Aleppo oder in Ost-Ghouta, oder in anderen Regionen so, in
denen Krieg herrscht und
-
Naturvölker
vertrieben, Urwälder gebrandrodet oder Monokulturen erzeugt
werden, die nur den Großgrundbesitzern Gewinne bringen,
dafür aber die Heimat von Tausenden von Kleinbauern
zerstören.
Auch grenzenloses
Wachstum zerstört menschliche Seelen.
Aber nicht nur menschliche
Seelen, auch eine Vielzahl von Arten sind dadurch vom Aussterben
bedroht.
Täglich werden durch
Umweltzerstörungen Lebensräume vernichtet.
04.3 Klimaziele im
Koalitionsvertrag 2018
TOP
Deutschland bleibt
Vorreiter beim Klimaschutz, so steht es zumindest im
Koalitionsvertrag 2018.
Doch die nationalen
Klimaziele für 2020 können nicht eingehalten werden. Die Vorgabe
im Koalitionsvertrag heißt nunmehr: schnellstmöglich.
Selbst aus der Industrie
hagelt es diesbezüglich Kritik: Die neue Regierung müsste viel
schneller und konsequenter handeln.
Wie die
Umweltschutzorganisationen den Koalitionsvertrag hinsichtlich
des Klimaschutzes bewerten, kann folgender Stichwortliste
entnommen werden:
-
Stillstand
so die Einschätzung des Umweltinstituts München e.V.
-
Enttäuschend
WWF
-
Offenbarungseid
Friends of the Earth Germany
-
Beschämend
Greenpeace Mit anderen Worten:
-
keine Fahrverbote
-
kein Datum für den
Ausstieg aus der Braunkohle
-
keine verbindlichen
Vorgaben, um die Klimaziele 2030 und 2050 zu erreichen. [En45]
45
[Hinweis:]
Klimaschutz im Koalitionsvertrag 2018 heißt: weiter so wie
bisher, oder: Wenn erst die Digitalisierung greift, einem der
wichtigsten Themen im Koalitionsvertrag, dann verbessert sich
auch das Klima.
Glaube versetzt
bekanntermaßen Berge.
05 Was für Lebewesen sind
wir?
TOP
[Davos 1929:] Bereits vor 89 Jahren ging es in
dem berühmten Streitgespräch zwischen dem Philosophen Ernst
Cassirer (1874 bis 1945) und dem Philosophen Martin Heidegger
(1889 bis 1976) in Davos, anlässlich des II. Internationalen
Davoser Hochschulkurses, um die folgende Frage:
Was ist der Mensch?
Dieses Streitgespräch gilt heute als das einschneidendste
Ereignis in der Geschichte des modernen Denkens. Während
Cassirer das von Kant als methaphysisches Rätsel bezeichnete
Menschsein verteidigte, nämlich das Wesen, das sich Fragen
stellt, die es letztlich nicht beantworten kann, das über die
Existenz Gottes nachdenkt, das versucht, das Rätsel der
menschlichen Freiheit zu lösen oder das an die Unsterblichkeit
der Seele glaubt, konzentrierte sich Heidegger auf die
Urangst des Menschen, seiner Sterblichkeit in der Zeit.
Nach Cassier ist der Mensch vor allem ein zeichenverwendendes
und zeichenhervorbringendes Wesen, also ein Wesen, das sich
selbst und seine Welt durch die Verwendung von Zeichen,
insbesondere durch den Gebrauch seiner Muttersprache, Sinn, Halt
und Orientierung zu geben versucht.
Auch im Denken Heideggers nimmt die Sprache , insbesondere die
der Muttersprache, eine bedeutende Rolle ein.
Die eigentliche Grundlage für das metaphysische Wesen des
Menschen sieht Heidegger aber nicht in einem allgemein geteilten
Zeichensystem, sondern in einem höchst individuellen Gefühl -
und zwar in dem Gefühl der Angst.
Genauer gesagt:
In der Angst, die den einzelnen erfasst, wenn er oder sie sich
der Endlichkeit der menschlichen Existenz voll bewusst wird.
Dieses, für die Zeit seiner Existenz »in die Welt geworfen
sein«, um dort zu sterben, ist die zentrale Frage, der Heidegger
versucht auf den Grund zu gehen.
Nach Heidegger ist der Mensch erst dann frei, wenn er die wahren
Abgründe seiner Angst versteht und sich dadurch sozusagen von
seiner Angst befreien kann, denn wer den Grund seiner Angst
kennt, der kann mit ihr umgehen.
Aber selbst Heidegger zweifelte später an der Fähigkeit des
Menschen, sich aus seiner Auswegslosigkeit selbst befreien zu
können. In einem Interview, das Rudolf Augstein und Georg Wolff
mit Martin Heidegger in dessen Haus in Freiburg am 23. September
1966 führten, sagte Martin Heidegger:
»Inzwischen dürfte in den vergangenen
dreißig Jahren deutlich geworden sein, dass die planetarische
Bewegung der neuzeitlichen Technik eine Macht ist, deren
Geschichte bestimmende Größe kaum überschätzt werden kann. Es
ist für mich heute eine entscheidende Frage, wie dem technischen
Zeitalter überhaupt ein - und welches - politisches System
zugeordnet werden kann. Auf diese Frage weiß ich keine Antwort:
Ich bin nicht überzeugt, dass es die Demokratie ist.« [En45a]
Das Interview wurde am 31. Mai 1976 in DER SPIEGEL unter der
Überschrift: Nur noch ein Gott kann uns retten,
veröffentlicht.
Einer Veröffentlichung zu Lebzeiten hatte Heidegger nicht
zugestimmt.
Aber nicht nur aus philosophischer Sicht,
nein auch aus naturwissenschaftlicher Sicht sind Zweifel
hinsichtlich der menschlichen Leistungsfähigkeit angebracht, mit
existenzbedrohenden (Angst erzeugenden) Situationen vernünftig
umgehen zu können.
Warum ist das so?
Diese Fragen machen es
notwendig, sich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen
auseinanderzusetzen, die Zweifel daran aufkommen lassen, wer im
Menschen tatsächlich entscheidet, seie Vernunft bzw. sein »freier Wille« oder sein
»Darm«.
Wie auch immer Menschen
Entscheidungen herbeiführen und treffen, das, was dabei
herauskommt, nennen wir Freiheit.
Die folgende Tatsache ist
aus wissenschaftlicher Sicht unbestreitbar:
Wir denken nicht
nur mit dem Gehirn,
sondern auch mit dem
Darm.
Wirbeltiere, und zu dieser
Gattung gehören die Menschen, besitzen ein »zweites Gehirn«,
nämlich das »Bauchgehirn«. Dabei handelt es sich um das
Nervensystem des Darms, »einem unabhängigen Ort neuraler
Integration und Verarbeitung.« Seine Struktur und die Zellen,
aus denen es zusammengesetzt ist, Ȋhnlich denen des Gehirns
mehr als denen irgendeines anderen peripheren Organs.«
In den Eingeweiden
befinden sich sogar mehr Nervenzellen als im Rückgrat, ja sogar
als im gesamten Rest unseres peripheren Nervensystems - 100
Millionen davon allein im Dünndarm.
Das Bauchgehirn ist
außerdem ein riesiges chemisches Lager, in dem jede einzelne der
Klassen von Neurotransmittern vertreten ist, die man auch im
Gehirn findet, und in dem eine interne Kommunikation
stattfindet, die reich und in ihrer Komplexität mit der im
Gehirn durchaus vergleichbar ist.
Der Darm ist das einzige
Organ, das ein eigenständiges Nervensystem enthält, das fähig
ist, Reflexe in vollständiger Abwesenheit von Input durch das
Gehirn oder das Rückenmark zu vermitteln.
Das Gehirn in den
Eingeweiden hat sich synchron mit dem Gehirn im Kopf entwickelt.
So wurde es zu einem dynamischen, modernen
Datenverarbeitungszentrum, das uns dazu befähigt, ohne geistige
Anstrengung einige sehr wichtige und unangenehme Aufgaben zu
bewältigen, und wenn wir Glück haben, dies auch effizient und
ohne Beteiligung unseres Bewusstseins zu tun. [En46]
46
Was kann daraus
geschlossen werden?
Das sowohl das Gehirn als
auch das Bauchgehirn noch nicht zur Kenntnis genommen haben,
dass Freiheit, so wie sie Menschen heute noch verstehen,
dringend einer Neubewertung bedarf.
Zurzeit scheint es noch so
zu sein, dass die Vernunft sich weigert, erforderliche Veränderungen als
existenzerhaltende Veränderungen wahrzunehmen, die - wenn sie
unterlassen werden - bereits in naher Zukunft keine Wirkung mehr erzielen können. Zwar reden »alle« vom Klimawandel und
von den bevorstehenden Folgen, mehr aber auch nicht.
Es bleibt
abzuwarten, welches der beiden oben skizzierten Gehirne als
Erstes gravierende Verhaltensänderungen einfordern wird.
Es ist zu
vermuten, dass es sich dabei um das Bauchgefühl handeln wird.
Der Vernunft verbleibt dann sicherlich nur die Aufgabe, auf
diejenigen zu schimpfen, die in den Jahren zuvor auf ihr
Bauchgefühl nicht haben hören wollen.
06 Auf der Suche nach
einer neuen Gesellschaft
TOP
In seinem wegweisenden
Buch »Der Weg - Für die Zukunft der Menschheit« ruft der
französische Philosoph und emeritierter Forschungsdirektor am
Centre national de la recherche scientifique (CNRS), Edgar
Morin, dazu auf, neue Wege des Zusammenlebens zu entwickeln.
Edgar Morin schreibt:
»Wir
halten uns für zivilisiert, während sich die Barbarei innerlich
unser bemächtigt, in Egoismus, Neid, Ressentiment, Verachtung,
Wut, Hass. Unser Leben ist beschädigt und verpestet durch das
jämmerliche und oft unheilvolle Niveau der Beziehungen zwischen
Individuen, Geschlechtern, Klassen, Völkern. Die Blindheit
gegenüber sich selbst und anderen ist eine alltägliche
Erscheinung.« [En47] 47
Morin stellt fest, dass
Unmenschlichkeit und Barbarei in jedem zivilisierten Menschen
jederzeit erneut auftauchen und sein Verhalten bestimmen können.
Als Gründe dafür führt er
an:
»Unser westliches Leben
ist degradiert, vergiftet durch den zwanghaften Drang nach
Besitz, Konsum oder Destruktion.
Der Geist des Erfolges,
der Leistung, des Ertrages, der Effizienz ist hypertrophiert und
hypertropiert auch den egozentrischen Charakter des Individuums.
Die menschlichen
Beziehungen verkümmern in der Anonymität der großen Städte, der
öffentlichen Transporte. Im selben Haus wohnende Mieter grüßen
sich oft nicht.
Für
Nichts regnet es von allen Seiten »Arschloch«, »Mistvieh«,
Schlampe«! [En48] 48
[Hinweis:] Edgar
Morin schrieb diese Zeilen, als die sozialen Medien noch nicht
die Bedeutung hatten, die sie heute als »Hassportal«
auszeichnet. Facebook gibt es erst seit 2012 und war noch
relativ unbekannt, als Edgar Morins Buch im gleichen Jahr in
Deutschland erschien.
Wie dem auch immer sei.
Unsere Zivilisation
erzeugt Unwohlsein.
Und nicht nur das:
»Der Prozentsatz der
Depressiven in Frankreich ist von 1970 bis 2006 um das
Siebenfache gestiegen; der Selbstmord ist die erste Todesursache
bei den 25-40-Jährigen, die zweite bei den
15-24-Jährigen.«
»Wonach sich Menschen
heute tatsächlich sehnen, ist«, so Edgar Morin, »die Sehnsucht
nach Harmonie, nach einer Heimat, nach Zugehörigkeit.«
Diese Sehnsucht wird
wachsen, wenn Krisen und Katastrophen eine »degenerierte«
Gesellschaft heimsuchen.
Als Weg aus diesem Dilemma
fordert Edgar Morin eine »zivile Ethik«, womit er die Ethik des
Bürgers meint, der in der Gesellschaft, in der er Rechte
genießt, auch seine Pflichten für die Gemeinschaft übernehmen
muss. [En49] 49
[Hinweis:] Es würde
zu weit führen, an dieser Stelle mehr als Überschriften
aufzulisten, in denen »zivile Ethik« im Sinne von Edgar Morin
grundlegend anders definiert und gelebt werden muss, als das
heute der Fall ist.
Gemeint sind Neuordnungen
in folgenden Bereichen:
-
Familie
-
Geschlechterverhältnis
-
Jugend
-
Altern und Alter
-
Tod.
Eine solche Neuausrichtung
hält Morin für unverzichtbar, wenn Hoffnung kein Synonym für
Illusion sein soll.
»Aber«, so Morin,
»Hoffnung ist Illusion, wenn sie ignoriert, dass alles, was sich
nicht generiert, degeneriert.«
»Wie alles, was lebt, wie
alles, was menschlich ist, unterliegen auch die notwendigen
gesellschaftlichen Veränderungen dem Verfall, der Entwertung,
der Verknöcherung. Auch dieses Bewusstsein ist unerlässlich für
einen gesellschaftlichen Neubeginn.« [En50] 50
07 Die Hydra der
Verweigerer
TOP
Die Hydra, dieses
vielköpfige, schlangenähnliche Ungeheuer der griechischen
Mythologie ist unsterblich. Wenn die Hydra einen ihrer Köpfe verliert,
wachsen an anderer Stelle gleich zwei neue nach.
Übertragen auf das
Verhalten von Verweigerern in Krisenzeiten bedeutet das, dass
sich die Köpfe der Unzufriedenen, nicht wahrgenommener, nicht
hinreichend bedachter Menschen genauso schnell vermehren, wie
das Vertrauen in diejenigen abnimmt, die bis zu dem Zeitpunkt,
als die Krise nicht mehr schöngeredet werden konnte, die zur
Krise führenden Entscheidungen entweder getroffen oder Maßnahmen
unterlassen haben, die die Krise noch hätten verhindern können.
Mit anderen Worten:
Gut 70 Jahre nach dem Ende
des Zweiten Weltkrieges haben es deutsche Politiker (und nicht
nur die) es tatsächlich geschafft, dass ihnen kaum noch jemand
vertraut. Und dass in solch einem Klima die so genannten
Volksparteien von ihren Wählerinnen und Wählern abgestraft
werden, weil in ihnen die Interessen derjenigen, die sich eine
andere Politik wünschen, nicht mehr oder nur unzureichend
vertreten fühlen, bedarf keiner aufwendigen soziologischen
Studie.
Solch eine Entwicklung ist
unvermeidbar, wenn Volksparteien sich darauf beschränken,
Politik für Wenige zu machen und mehr oder weniger untätig
bleiben, wenn es um die Armen oder weniger Erfolgreichen geht.
Heute ist es so, dass
sogar der Mittelstand befürchten muss, durch das Netz der
sozialen Sicherung zu fallen.
Vom Wohlstand nach
Hartz-IV ist es oftmals nur ein kleiner Schritt.
Aber das ist nur ein
Aspekt.
Verweigerer,
Protestwähler, Andersdenkende, Enttäuschte, sich zurückgesetzt
fühlende Menschen werden in einer parlamentarischen Demokratie
dann zur Gefahr für die etablierten Parteien, wenn diese
Enttäuschten es den etablierten Parteien nicht mehr zutrauen,
Entscheidungen zu treffen, die dem Allgemeinwohl dienen.
Auf Sueddeutsche.de vom
25.12.2017 heißt es:
Die Zeit der Volksparteien
ist vorbei. Das war der einstimmige Tenor nach der
Bundestagswahl im September 2017. Zusammen erhielten SPD und
Union gerade einmal 53,5 Prozent der Stimmen. In den 70er Jahren
kamen diese Parteien zusammen noch auf mehr als 90 Prozent der
Stimmen. [En51] 51
Gründe dafür sind u.a.:
-
Die Gesellschaft
zersplittert
-
Die Volksparteien
unterscheiden sich kaum voneinander (die sind doch alle
gleich)
-
Die unvorstellbar
große Schere zwischen Arm und Reich in einem der reichsten
Länder dieser Welt öffnet sich immer weiter.
Wählerschwund im
Überblick:
Wie sich die Volksparteien
von 1953 bis heute entwickelt haben, kann der folgenden
Aufstellung entnommen werden:
CDU und SPD
-
1953 45,2 28,8
-
1957 50,2 31,8
-
1961 45,3 36,2
-
1965 47,6 39,3
-
1969 46,1 42,7
-
1972 44,9 45,8
-
1976 48,6 42,2
-
1980 44,5 42,9
-
1983 48,8 38,2
-
1987 44,3 37,0
-
1990 43,8 33,5
-
1994 41,5 36,4
-
1998 35,1 40,9
-
2002 38,5 38,5
-
2005 35,2 34,2
-
2009 33,8 23,0
-
2013 34,1 25,7
-
2017 26,8 20,5
Verhindert werden kann der
Wählerschwund nur dann, wenn es den noch existierenden und sich
selbst noch für Volksparteien haltenden Parteien tatsächlich
gelingt, auf dringend zu lösende Fragen möglichst schnell
passende Antworten zu finden.
08 Der starke Staat soll
es richten
TOP
Passende Antworten auf den
Verlust von Wählerstimmen, auf zunehmende Wahlverweigerung bzw.
auf fortschreitenden Zulauf radikaler Parteien bzw. radikaler
Bewegungen soll der starke Staat finden.
Was ist damit gemeint?
-
Ein Staat, der für
Recht und Ordnung eintritt und der dafür sorgt, dass die
ganze Härte des Gesetzes zur Anwendung kommt?
-
Ein Staat, der dazu in
der Lage ist, den Terrorismus erfolgreich zu bekämpfen?
-
Oder doch eher ein
Staat, der Terroristen erst gar nicht ins Land lässt?
-
Ein Staat, der seine
Grenzen schützt?
-
Ein Staat, für den die
eigene Nation an erster Stelle steht?
-
Ein Staat, der über
eine Polizei verfügt, die hochgerüstet und mit modernstem
Gerät ausgestattet ist und die dazu in der Lage ist,
aufgrund von flächendeckend eingeführten Videokameras Täter
nicht nur erkennen, sondern auch identifizieren zu können
(Gesichtserkennungssoftware).
Oder ist unter einem
starken Staat doch eher eine Institution zu verstehen, die aktiv
in politische und wirtschaftliche Prozesse eingreift?
Zum Beispiel ein Staat:
-
Der die Interessen von
Unternehmen beschränkt, wenn diese dem Verbraucherschutz
entgegenstehen?
-
Der dazu verpflichtet
ist, Unternehmen sorgfältig zu kontrollieren und die dabei
gewonnenen Kontrollergebnisse zu veröffentlichen, um
transparent zu machen, dass sich die
Nahrungsmittelindustrie, die autoproduzierende Industrie,
die Fleisch verarbeitende Industrie, die Landwirtschaft und
andere Industriezweige, die bisher einen mehr oder weniger
großen Bogen um »Umweltschutz, Gesundheitsschutz und
Tierschutz« gemacht haben, sich an die Regeln halten?
-
Der sowohl auf
nationaler, europäischer als auch auf globaler Ebene die
individuellen Rechte der Verbraucher, zum Beispiel
Schadensersatz- und Informationsansprüche nachhaltig stärkt?
-
Märkte im Sinne des
Verbraucherschutzes reguliert?
-
Die Produktion von
Gütern in so genannten Drittländern (Verbot der Einfuhr von
Produkten durch Kinderarbeit, angemessene Entlohnung, Schutz
der Umwelt in Drittländern etc.) nicht nur einfordert,
sondern auch mit hohen Sanktionen belegt, wenn Verstöße
festgestellt werden?
[Hinweis:] Solch
einen starken Staat wird sich aber kaum jemand wünschen wollen,
denn solche Veränderungen mindern die Gewinne erheblich und sie
bedrohen Arbeitsplätze in Deutschland.
Und warum auch?
In den Drittländern sind
die Menschen ja daran gewöhnt, am Rande des Existenzminimums zu
leben. Und auch in den Industrieländern leben die Armen doch gar
nicht so schlecht, zumindest wenn man ihre Lebenssituation mit
der von Menschen in den Drittländern vergleicht. Verzichten wir
doch lieber auf einen solchermaßen starken (und gerechteren)
Staat, denn die Opfer, die der wohlhabende Teil der Bevölkerung
zu erbringen hätte, wären einfach zu groß: nicht
zumutbar.
09 Zukunftsmodell
totalitäre Demokratie?
TOP
Dieses Zukunftsmodell wird
spätestens dann realisiert sein, wenn die totale Digitalisierung
Wirklichkeit geworden ist.
Bis dahin wird aber
sicherlich mehr als eine Legislaturperiode vergehen müssen.
Dennoch:
Es kann davon ausgegangen
werden, dass die Devise »Digitalisierung First«, die Bestandteil
des Koalitionsvertrages 2018 ist, schon in
absehbarer Zeit Bürger dazu bringen wird,
ihren Protest auf der Straße auszuleben.
Solche Proteste werden
nicht ausbleiben, wenn Tausende von Büroangestellten nicht mehr
benötigt werden, weil Computer ihre Arbeit günstiger, fehlerfrei
und ohne Krankheitsausfälle erledigen können, oder einfache
Verwaltungstätigkeiten in Banken, Versicherungen, Unternehmen,
Behörden sowie überall dort, wo menschliche Arbeit durch
effektivere Workflows ersetzt werden können, nicht mehr benötigt
werden.
Mit anderen Worten:
Es kann davon ausgegangen
werden, dass eine starke Polizei benötigt wird, um den
Protestaktionen ein Ende zu bereiten, die nicht ausbleiben
werden, wenn es zum massenhaften Abbau von Arbeitsplätzen kommt.
Aber auch andere Folgen
der Digitalisierung sind zu erwarten.
Als Beispiele seien an
dieser Stelle nur einige exemplarisch genannt:
-
die durch die
Digitalisierung erzeugte Ungleichheit
-
die Arbeitswelt wird
die Grenzen zwischen Privatbereich und Arbeitswelt noch mehr
verwischen, als das bisher schon der Fall ist
-
die Arbeitswelt wird
noch flexibler werden als bisher
-
Führungsstrukturen
werden sich ändern und Führungsaufgaben bis zum mittleren
Führungsmanagement ganz wegfallen
-
der Anteil der
Cyberkranken wird rapide ansteigen
-
Stress,
Empathieverlust, Depressionen sowie Schlaf- und
Aufmerksamkeitsstörungen werden die Zusammenarbeit
erschweren
-
Kinder werden in ihrer
Motorik und Wahrnehmungsfähigkeit geschädigt werden
-
Computersucht dürfte
zur Volkskrankheit werden und:
Big Data wird auch darüber entscheiden:
-
wer eingestellt wird
und wer nicht
-
wer kreditwürdig ist
und mit wem überhaupt eine Versicherung abgeschlossen werden
kann
-
wer studieren darf und
wer nicht.
Auch die Selbstmordrate
wird ansteigen. Allein im Jahr 2014 starben in Deutschland 10.209
Menschen durch Suizid (12,6 je 100.000 Einwohner). Die meisten
Menschen bereiten ihrem Leben ein Ende, weil sie ihre Depression
nicht mehr ertragen können, eine Volkskrankheit, die
unvermeidbar zunehmen wird, wenn die Zukunft Digitalisierung
erst einmal Wirklichkeit geworden ist. [En52] 52
Mit anderen Worten:
Das, was die
Digitalisierung mit sich bringen wird, lässt uns die Gewalt, die
durch diese Technik den Menschen der Zukunft sozusagen ganz
einnehmen wird, nicht auf den ersten Blick erkennen.
Viele halten die
Digitalisierung auch für eine positive Entwicklung, weil sie
sich als Freiheit darstellt: als ein »Mehr« an Freiheit.
Macht und Gewalt sind in
dem Wort »Digitalisierung« auch deshalb schwer auszumachen, weil
die in digitalisierten Systemen enthaltene Gewalt unpersönlich
ausgeübt und der Feind nicht zu erkennen sein wird, von dem
diese Gewalt ausgeht.
Mit anderen Worten:
Das neue Gefängnis
»Digitalisierung« trägt möglicherweise schon bald den Namen
»Freiheit«. Dieses neue Gefängnis wird einem Arbeitslager
gleichen, wo man Gefangener und Aufseher zugleich ist.
Totaler kann in einer
Demokratie - wenn alles digitalisiert ist - Macht nicht ausgeübt
werden.
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