Das, was am 31.12.2015 in
Köln auf der Domplatte und im Bereich des Kölner Hauptbahnhofs geschah,
führte in der Flüchtlingsfrage zu einem Meinungsumschwung in der
Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland, der auch ein
Jahr später immer noch nicht als abgeschlossen bezeichnet werden
kann.
Am 31.12.2016 verlief die Silvesterparty in Köln weitgehend friedlich.
Dennoch:
Am Kölner Hauptbahnhof setzten Polizisten mehrere hundert
verdächtige Männer fest, die
»augenscheinlich
nordafrikanischer Herkunft« waren. Weitere 300
Personen wurden auf der anderen Rheinseite am Bahnhof Köln-Deutz
aus einem Zug geholt und überprüft. Die Polizei hatte die jungen
Männer, die äußerlich
»dem
Klientel vom vergangen Jahr«
ähnelte, eingekreist und dann überprüft.
Was
die kontrollierten Männer vorgehabt hätten, sei noch unklar,
sagte Kölns Polizeipräsident Jürgen Mathies.
»Sie werden
von uns befragt, und wir werden ihre Identität feststellen. Es
wird keiner zu früh gehen.«
Im Vorfeld der Silvesterfeierlichkeiten sei, so Mathies, eine
»niedrige
Einschrittschwelle«
angeordnet worden. So wurden etwa Personen, die sich nicht
ausweisen konnten, vorläufig festgenommen oder erhielten
Platzverweise. Insgesamt gab es sechs Festnahmen und 900
Platzverweise. [En00]
Zwei Fälle sexueller Übergriffe wurden angezeigt.
[Hinweis:] Was unter einer
»niedrige
Einschrittschwelle«
zu verstehen ist, ließ der Kölner
Polizeipräsident offen. Besser wäre es gewesen, er hätte sich
einer juristisch tragfähigeren Formulierung bedient, denn eine
»niedrige
Einschrittschwelle«
kennt weder das PolG NRW noch die StPO mit ihren einschlägigen
Befugnissen.
Überzeugender wäre es gewesen, wenn gesagt worden wäre,
dass nicht nur der Bereich rund um den Kölner Dom sondern auch
der Hauptbahnhof selbst und der daran angrenzende Busbahnhof aufgrund
der Ereignsse aus dem Vorjahr für die anstehende Silvesterparty zu
»gefährdeten
Ort erklärt worden seien«
und es somit der Polizei an solchen gefährlichen
Orten unter vereinfachten
Voraussetzungen erlaubt sei, Personen zu kontrollieren, um dann
festzustellen: Das gilt insbesondere für Personen und
Personengruppen, die durch ihr Verhalten zu erkennen geben, dass
von ihnen erkennbar Gefahren ausgehen.
Solche Personengruppen hätten auch auf der Grundlage des
Polizeigesetzes NRW eingekreist und festgehalten werden können,
um die Feststellung der Identitäten der eingeschlossenen
Personen feststellen zu können, die sich an den oben skizzierten
gefährlichen Orten aufhalten.
[BVerfG 2016:]
Immerhin hatte das BVerfG bereits im
November 2016 entscheiden, dass Personen, die von der Polizei
zuvor aus einer Versammlung ausgeschlossen worden waren, zum Zweck der
Identitätsfeststellung von der Polizei eingekreist und kurzfristig
festgehalten werden dürfen, wenn von diesen Personen erkennbar
ein aggressives Verhalten und der
Eindruck der Geschlossenheit aggressiven Verhaltens ausgeht.
In Anlehnung an diese Position des BVerfG hätte die Polizei auch
in der Silvesternacht in Köln sich
erkennbar aggressiv verhaltende Gruppen eingekreisen und vorübergehend festgehalten können,
auch zum Zweck der Gefahrenabwehr, denn polizeiliches Ziel war
es ja nur, die Identität der eingekreisten Personen
festzustellen. [En00a]
[Hinweis:]
Unter Verwendung eines korrekten juristischen Sprachgebrauchs
hätte es die Polizei auch vermeiden können, dass ihr gegenüber der
Vorwurf erhoben wurde,
Personen durch angewandtes »racial
profiling« oder »ethnic profiling« diskriminiert zu haben.
Niemand konnte zum Zeitpunkt der polizeilichen Maßnahmen wissen,
aus welchen Herkunftsländern die Personen stammten, die von der
Polizei zum Zweck der Feststellung ihrer Identität eingekreist
worden waren, und was die Polizei nicht wissen kann, das sollte
sie gefälligst auch nicht unterstellen. Auch wenn die
Kontrollorte gut ausgeleuchtet waren dürfte es es an Hellesherei
grenzen, zu behaupten, dass es sich mehrheitlich um
Nordafrikaner handelt.
Dass
»racial profiling« eine Verletzung geltenden Rechts ist,
weiß zwischenzeitlich jede
Polizeibeamtin und jeder Polizeibeamte, siehe z.B.
Beschluss des OVG Rheinland-Pfalz vom 29.10.2012- 7 A
10532/12.OVG.
Und dann auch das noch!
[Nafris:] Sechs Buchstaben reichten für den
ersten von der Polizei selbst ausgelösten Aufreger 2017 aus:
»Nafris«
– eine polizeiinterne Bezeichnung für kriminelle Menschen
nordafrikanischer Herkunft. Eine Polizei, die dieses Wort selbst
über Twitter verbreitet und dadurch einen Shitstorm kassiert,
die sollte nicht so viel über interkulturelle Kompetenz reden,
sondern einfach kulturell akzeptabel handeln.
Der Begriff «Nafris» gehört nicht in eine Mitteilung der
Polizei.
Bei einem Sprachgebrauch, der sich an den Buchstaben des
Gesetzes gehalten hätte, wäre es auch nicht notwendig gewesen,
öffentlich erklären zu müssen, dass es sich bei den
kontrollierten Personen nur um wenige Personen gehandelt habe,
die aus den so genannten Maghreb-Staaten kamen.
Die Polizei wird sich zur Begründung ihrer Maßnahmen deshalb
wohl in Zukunft eine Rhetorik aneignen müssen, die für Polemik und Häme keinen Raum
mehr lässt.
Mit anderen Worten:
Öffentliche Äußerungen sollten zuvor auf ihre
Sozialverträglichkeit überprüft werden. Und für die
Rechtfertigung polizeilichen Einschreitens gibt es keine bessere
Begründung, als die korrekte Anwendung geltenden Rechts. Eine
Polizei die polizeiliches Einschreiten so begründet, wie es das
Gesetz selbt tut, kann nichts
falsch machen.
[Neujahrsrede der
Bundeskanzlerin:] In ihrer Rede zum Jahreswechsel
2016/17 wies
die Kanzlerin auf die schwerste Prüfung des Landes hin, den
islamischen Terrorismus, der auch Deutschland seit vielen Jahren
im Visier hat, um dann - auf unsere Werte Bezug nehmend -
festzustellen, dass diese Werte der Gegenentwurf zur
hasserfüllten Welt des Terrorismus sind und stärker seien werden
als der Terrorismus.
An anderer Stelle
sagte die Kanzlerin wörtlich:
-
Unser Staat tut alles,
um seinen Bürgern Sicherheit in Freiheit zu gewährleisten.
-
2017 werden wir als
Bundesregierung dort, wo politische oder gesetzliche
Veränderungen nötig sind, schnellstens die notwendigen
Maßnahmen in die Wege leiten und umsetzen.
Und zur
parlamentarischen Demokratie sagte die Kanzlerin:
-
Sie ist stark. Sie
ermöglicht Mitwirkung und Mitsprache. Sie akzeptiert, nein
sie fordert Widerspruch und Kritik. Kritik, die friedlich
und im Respekt vor dem einzelnen Menschen daherkommt, die
Lösungen und Kompromisse sucht, und nicht ganze Gruppen
ausgrenzt.
-
2017 ist auch das Jahr
der nächsten Bundestagswahl. Ich werde mich für eine
politische Auseinandersetzung einsetzen, bei der wir über
vieles leidenschaftlich streiten werden, aber stets wie
Demokraten, die nie vergessen, dass es eine Ehre ist,
unserer Demokratie und damit dem Menschen zu dienen.
Es bleibt abzuwarten, inwieweit diese Erwartungshaltung der
Kanzlerin 2017 Wirklichkeit werden wird.
In diesem Essay werden
schwerpunktmäßig die Anlässe thematisiert, die 2016 vom
Gesetzgeber im Zusammenhang mit der so genannten
Flüchtlingskrise aufgegriffen und geltendem Recht zugeführt
wurden.
Dazu gehört insbesondere
die
Modifizierung des
Sexualstrafrechts
Die Übergriffe in der
Kölner Silvesternacht, in der Frauen massenhaft drangsaliert,
ausgeraubt und sexuell bedrängt worden waren, hatten mehr als
1200 Anzeigen zur Folge. 513 Frauen zeigten sexuelle Übergriffe
an. Bisher kam es nur zu zwei Verurteilungen wegen begangener
Sexualdelikte. Daran wird sich auch 2017 nicht mehr viel ändern, denn die
Beweislage auf der Grundlage von schlechten Videoaufzeichnungen
lässt eindeutige Schuldsprüche nicht zu.
Ob sich aber allein durch
die Verschärfung des »Sexualstrafrechts« in Zukunft solche
Ereignisse verhindern lassen, wird abzuwarten sein. Ohne ein
polizeiliches Großaufgebot anlässlich solcher »Silvesterfeiern«
im öffentlichen Raum dürfte sich der gewünschte Erfolg auch in
den Folgejahren wohl kaum
einstellen.
Deshalb waren in der Kölner Innenstadt am 31.12.2016
insgesamt 1500 Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte im Einsatz.
Und ob von der Verschärfung des Sexualstrafrechts eine abschreckende
Wirkung ausgehen wird, bleibt ebenfalls abzuwarten, denn die Zukunft lässt
sich nicht voraussagen.
Anzunehmen ist jedoch,
dass aufgrund der Modifizierung des Sexualstrafrechts durch den
Gesetzgeber die Anzahl angezeigter Sexualdelikte zunehmen wird,
denn ein »Nein ist ein Nein«, so der Kern der Verschärfungen im
Sexualstrafrecht, das im Folgenden punktuell vorgestellt und
erörtert wird. Dieses »Nein« gilt nicht nur für junge Männer aus
dem nordafrikanischen Raum, sondern auch für gleichaltrige
Männer mit deutscher oder einer anderen Staatsangehörigkeit.
[Nein heißt
Nein:] Diese Formel ist ab
sofort anzuwenden, um zu klären, ob der Täter sich über den
erkennbaren Willen des Opfers hinweggesetzt hat. Abzustellen ist
folglich auf den erkennbaren entgegenstehenden Willen des
Opfers, was bereits 2011 im Art. 36 der Istanbul-Konvention
(Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von
Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vom 11.05.2011)
vereinbart wurde und wodurch sich die EU-Staaten dazu
verpflichtet haben, alle nicht einvernehmlichen sexuellen
Handlungen unter Strafe zu stellen und polizeibekannt gewordene
Taten effektiv zu verfolgen.
Im Folgenden wird zuerst
einmal der Wortlaut des Art. 36 der Istanbul-Konvention zitiert:
Artikel 36
Sexuelle Gewalt,
einschließlich Vergewaltigung
(1) Die Vertragsparteien
treffen die erforderlichen gesetzgeberischen oder sonstigen
Maßnahmen, um sicherzustellen, dass folgendes vorsätzliches
Verhalten unter Strafe gestellt wird:
a) nicht
einverständliches, sexuell bestimmtes vaginales, anales oder
orales Eindringen in den Körper einer anderen Person mit einem
Körperteil oder Gegenstand;
b) sonstige nicht
einverständliche sexuell bestimmte Handlungen mit einer anderen
Person;
c) Veranlassung einer
Person zur Durchführung nicht einverständlicher sexuell
bestimmter Handlungen mit einer dritten Person.
(2) Das Einverständnis
muss freiwillig als Ergebnis des freien Willens der Person, der
im Zusammenhang der jeweiligen Begleitumstände beurteilt wird,
erteilt werden.
(3)
Die Vertragsparteien treffen die erforderlichen
gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, um sicherzustellen,
dass Absatz(7) 1 auch auf Handlungen anwendbar ist, die
gegenüber früheren oder derzeitigen Eheleuten oder Partnerinnen
oder Partnern im Sinne des internen Rechts begangen wurden.
[En01] 1
[Hinweis:] Dieser
Verpflichtung ist der deutsche Gesetzgeber nunmehrn nachgekommen und hat
durch das »Fünfzigste Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches
- Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung vom
04.11.2016« das Strafgesetzbuch geändert. Die Änderungen sind am
10.11.2016 in Kraft getreten.
Folgende Änderungen im
Sexualstrafrecht wurden vorgenommen:
-
§ 177 StGB (Sexueller
Übergriff; sexuelle Nötigung; Vergewaltigung) wurde neu
gefasst.
-
§ 178 StGB (Sexueller
Übergriff, sexuelle Nötigung und Vergewaltigung mit
Todesfolge) wurde modifiziert.
-
§ 184i StGB (Sexuelle
Belästigung) wurde in das StGB eingeführt.
-
§ 184j StGB
(Straftaten aus Gruppen) wurde in das StGB eingeführt.
[Hinweis:] Die
anderen, aus formalen Gründen vorgenommenen (geringfügigen)
Anpassungen in anderen Paragrafen des StGB sind nicht Gegenstand
dieses Essays.
01.1 §
177 StGB (Sexueller Übergriff; sexuelle Nötigung;
Vergewaltigung)
TOP
Im Folgenden werden die
Tathandlungen des
§ 177 StGB (Sexueller Übergriff; sexuelle
Nötigung; Vergewaltigung) aufgelistet und mit kurzen Anmerkungen
versehen:
-
§ 177 Abs. 1 StGB:
Voraussetzung für diese Tatbegehung ist, dass der Täter
gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle
Handlungen an dieser Person vornimmt oder von ihr vornehmen
lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller
Handlungen an oder von einem Dritten bestimmt. Hier findet
die so genannte »Nein-heißt-Nein-Formel« Anwendung,
das heißt, der Täter macht sich bereits dann strafbar, wenn
er sich über den erkennbaren entgegenstehenden Willen des
Opfers hinwegsetzt und dadurch dessen Recht auf sexuelle
Selbstbestimmung verletzt. Die Überwindung des
entgegenstehenden Willens des Opfers mit Gewalt oder mit den
Mitteln der Nötigung ist für diese Art der Tatbegehung
nicht mehr erforderlich. Diese
»Nichteinverständnislösung« ist für das deutsche Strafrecht
neu.
-
§ 177 Abs. 2 StGB:
Ist der entgegenstehende Wille des Opfers nicht erkennbar,
macht sich der Täter nur strafbar, solange die in § 177 Abs.
2 StGB genannten Umstände vorliegen. [Hinweis:] §
177 Abs. 2 StGB regelt die Fälle, in denen das Opfer keinen
entgegenstehenden Willen bilden oder äußern kann bzw. zwar
ein »Ja« erklärt, dieses aber etwa wegen einer Drohung nicht
tragfähig ist.
-
§ 177 Abs. 2 Nr. 1
StGB: Der Täter nutzt eine Situation aus, in der das
Opfer nicht dazu in der Lage ist, einen entgegenstehenden
Willen zu bilden oder zu äußern. Diese Neuregelung führte
zur Aufhebung von § 179 Abs. 1 Nr. 2 StGB (Sexueller
Missbrauch widerstandsunfähiger Personen).
-
§ 177 Abs. 2 Nr. 2
StGB: Danach macht sich strafbar, wer erhebliche
körperliche oder psychische Einschränkungen einer Person
ausnutzt, es sei denn, der Täter hat sich der Zustimmung der
Person zu der sexuellen Handlung zuvor versichert.
-
§ 177 Abs. 2 Nr. 3
StGB: Danach wird bestraft, wenn der Täter für die
Tatbegehung ein Überraschungsmoment ausnutzt.
-
§ 177 Abs. 2 Nr. 4
StGB: Danach macht sich strafbar, wer eine Lage
ausnutzt, in der dem Opfer bei Widerstand ein empfindliches
Übel im Sinne von § 240 StGB (Nötigung) angedroht
wird.
-
§ 177 Abs. 2 Nr. 5
StGB: Danach macht sich strafbar, wer die Person zur
Vornahme oder Duldung der sexuellen Handlung durch Drohung
mit einem empfindlichen Übel nötigt.
-
§ 177 Abs. 3 StGB:
Dieser Absatz stellt den Versuch unter Strafe.
-
§ 177 Abs. 4 StGB:
Dieser Absatz enthält eine Qualifikation. Auf
Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr ist zu erkennen, wenn
die Unfähigkeit, einen Willen zu bilden oder zu äußern, auf
einer Krankheit oder Behinderung des Opfers beruht.
-
§ 177 Abs. 5 StGB:
Danach begeht ein Verbrechten (Freiheitsstrafe nicht unter
einem Jahr), wenn der Täter 1. gegenüber dem Opfer Gewalt
anwendet, 2. dem Opfer mit gegenwärtiger Gefahr für Leib
oder Leben droht oder 3. eine Lage ausnutzt, in der
das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert
ist.
-
§ 177 Abs. 6 StGB:
Dort sind zwei besonders schwere Fälle benannt, die einen
Strafrahmen nicht unter zwei Jahren zur Folge haben.
Das ist der Fall, wenn 1. der Täter mit dem Opfer den
Beischlaf vollzieht oder vollziehen lässt oder ähnliche
sexuelle Handlungen an dem Opfer vornimmt oder von ihm
vornehmen lässt, die dieses besonders erniedrigen,
insbesondere wenn sie mit einem Eindringen in den Körper
verbunden sind (Vergewaltigung), oder 2. die Tat von
mehreren gemeinschaftlich begangen wird.
-
§ 177 Abs. 7 StGB:
Auf Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren ist zu
erkennen, wenn der Täter 1. eine Waffe oder ein anderes
gefährliches Werkzeug bei sich führt, 2. sonst ein
Werkzeug oder Mittel bei sich führt, um den Widerstand einer
anderen Person durch Gewalt oder Drohung mit Gewalt zu
verhindern oder zu überwinden, oder 3. das Opfer in die
Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung bringt.
-
§ 177 Abs. 8 StGB:
Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren ist zu
erkennen, wenn der Täter 1. bei der Tat eine Waffe oder
ein anderes gefährliches Werkzeug verwendet oder 2.
das Opfer a) bei der Tat körperlich schwer misshandelt
oder b) durch die Tat in die Gefahr des Todes
bringt.
-
Die minder schweren
Fälle sind im § 177 Abs. 9 StGB geregelt.
01.2
Nein heißt Nein
TOP
Diese neue Regelung im
Sexualstrafrecht ist zu begrüßen. Das ändert aber nichts an der
Tatsache, dass tatbestandliches Handeln trotz dieser Neuregelung
auch mit dem Inkrafttreten dieser Neuerungen nicht einfach zu
bestimmen sein wird.
Grund dafür ist der
§ 184h Nr. 1 StGB
(Begriffsbestimmung).
Danach sind sexuelle Handlungen nur
solche, die im Hinblick auf das jeweils geschützte Rechtsgut von
einiger Erheblichkeit sind. Sexuelle Handlungen vor einer
anderen Person sind nur solche, die vor einer anderen Person
vorgenommen werden, die den Vorgang wahrnimmt.
[Anmerkung:] Fehlt
es einer Handlung an der vom Gesetz eingeforderten
Erheblichkeit, dann liegt kein Sexualdelikt vor.
[BGH 2016:] In
einem Urteil des BGH vom 10. März 2016 · Az. 3 StR 437/15 heißt
es zur Art und zur Intensität der einzufordernden sexuellen
Handlung wie folgt:
[Rn. 11:] Als
erheblich in diesem Sinne sind solche sexualbezogenen Handlungen
zu werten, die nach Art, Intensität und Dauer eine sozial nicht
mehr hinnehmbare Beeinträchtigung des im jeweiligen Tatbestand
geschützten Rechtsguts besorgen lassen (...). Dazu bedarf es
einer Gesamtbetrachtung aller Umstände im Hinblick auf die
Gefährlichkeit der Handlung für das jeweils betroffene
Rechtsgut; unter diesem Gesichtspunkt belanglose Handlungen
scheiden aus (...). Unerheblich ist hingegen, ob das Opfer den
sexuellen Charakter der Handlung erkennt. [En02] 2
[Hinweis:] Nach
dieser Rechtsprechung fehlte es bisher, »flüchtigen Berührungen
des Intimbereiches oberhalb der Kleidung« oder kurzes
»Begrabschen« der weiblichen Brust oberhalb der Kleidung an der
Erheblichkeit.
Es wird insoweit
abzuwarten sein, ob der BGH seine oben skizzierte ständige
Rechtssprechung der neuen Gesetzeslage anpassen wird, und ein
zum Beispiel durch Kopfschütteln ausgedrücktes
»Nein« oder eine Formulierung wie »lass mich in Ruhe«, oder »das
Berühren meiner Figur mit den Pfoten ist verboten« als Form der
Tatbegehung ausreichen
lassen wird, wenn es trotz solcher Äußerungen zu Fällen so genannten »Grapschens«
kommt.
Diesbezügliche Zweifel sind bereits heute angebracht,
denn die oben mitgeteilte »Erheblichkeitsformel« ist weiterhin
Bestandteil geltenden Strafrechts. Welche Bedeutung die
»Erheblichkeitsformel« für den neu in das StGB eingefügten
Tatbestand des
§ 184i StGB (Sexuelle
Belästigung) haben wird, bleibt somsit abzuwarten.
Wahrscheinlich werden die Gerichte diese Frage mit Bedacht klären und zwar aus dem
Grunde, weil
§ 184i StGB (Sexuelle
Belästigung) den Opfern selbst die Wahl lässt, zu entscheiden,
wann sie sich sexuell belästigt fühlen und wann nicht. Mehr dazu
in der folgenden Randnummer.
01.3 §
184i StGB (Sexuelle Belästigung)
TOP
§ 184i StGB (Sexuelle
Belästigung) enthält einen neuen Straftatbestand. Ziel dieser
Neuregelung ist es, auch solche Fälle unter Strafe zu stellen,
die zuvor im Einzelfall von den Gerichten als Beleidigung nach
§ 185 StGB (Beleidigung) bewertet wurden.
Bisher war es so, dass
Fälle so genannten »Grabschens« vom Strafrecht nicht erfasst
wurden, wohl aber verbale Entgleisungen als Beleidigungen nach §
185 StGB bestraft werden konnten. Obwohl die mit dem »Grabschen«
verbundenen tätlichen Übergriffe weitaus intensiver in
Persönlichkeitsrechte eingriffen, blieben diese Übergriffe,
solange sie unter der Schwelle der Erheblichkeit im Sinne des
§ 184h Nr. 1 StGB (Begriffsbestimmung) lagen, straffrei,
denn »Grabschen« wurde in diesem Sinne oftmals als nicht
erheblich angesehen.
§ 184i StGB (Sexuelle
Belästigung) soll diese Lücke schließen und auch die Fälle
erfassen, die unterhalb der Schwelle der Erheblichkeit des §
184h Nr. 1 StGB (Begriffsbestimmung) liegen.
Tatbestandlich im Sinne
von § 184i StGB handelt,
-
wer eine andere Person
in sexuell bestimmter Weise körperlich berührt und dadurch
belästigt. Ein besonders schwerer Fall ist
gegeben, wenn,
-
die Tat von mehreren
gemeinschaftlich begangen wird.
[Antragsdelikt:]
Die Tat wird nur auf Antrag verfolgt, es sei denn, dass die
Strafverfolgungsbehörden wegen des besonderen öffentlichen
Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts
wegen für geboten halten. Davon kann ausgegangen, wenn sich die
Ereignisse aus der Silvesternacht vom 31.12.2015 wiederholen
würden.
[Anmerkung:] Die
Ausgestaltung dieser Straftat als Antragsdelikt trägt dem
vergleichsweise geringen Unrechtsgehalt der in Betracht
kommenden Taten Rechnung, denn das Opfer entscheidet in der
Regel allein darüber, ob es einen Eingriff in seine sexuelle
Selbstbestimmung als verfolgenswert empfindet oder nicht.
Die damit verbundenen
Schwierigkeiten für die Strafverfolgungsorgane und die
Rechtsprechung dürften offenkundig sein, zumindest dann, wenn
persönliche »Befindlichkeiten« darüber entscheiden, ob ein
Verhalten als Straftat zu verfolgen ist oder nicht.
Die
Schwierigkeit, die sich im Zusammenhang mit dem neu in das
Strafgesetzbuch eingefügten Paragrafen stellen, hat die
Abgeordnete Eva Högel (SPD) in ihrer Rede im Deutschen Bundestag
am 07.07.2016 wie folgt ausgedrückt:
»Bei der sexuellen
Selbstbestimmung gibt es ganz häufig Situationen, in denen nur
zwei Personen beteiligt sind, und natürlich produziert das auch
Beweisschwierigkeiten. Aber das ist schon jetzt so, und das wird
sich durch unsere Reform nicht verändern. Ich vertraue ganz
ausdrücklich auf die guten Staatsanwältinnen und Staatsanwälte,
auf die Strafgerichte, die mit hoher Kompetenz in der Lage sind,
die Aussagen gegenüberzustellen und zu bewerten und dann auch
die richtigen Urteile zu sprechen.« [En03] 3
[Anmerkung:] Dem
ist nur hinzuzufügen, dass auch die Ermittlungsarbeit der
Polizei durch diese Neuregelung nicht gerade einfacher geworden
ist, denn immer dann, wenn eine Frau eine sexuelle Belästigung
anzeigt, hat die Polizei eine entsprechende Strafanzeige
aufzunehmen und Ermittlungen einzuleiten. Wie hoch der Anteil
von Anzeigen den »Anforderungen einer sexuellen Belästigung«
nicht genügt, kann zurzeit noch nicht eingeschätzt werden.
Tatbestandlich im Sinne
von
§ 184i StGB (Sexuelle Belästigung) handelt, »wer eine andere
Person in sexuell bestimmter Weise körperlich berührt und
dadurch belästigt«.
Eine körperliche Berührung
für sich allein reicht aber nicht aus. Es muss sich um eine Berührung
handeln, die in »sexuell bestimmter Weise körperlich«
wahrnehmbar ist und durch diese Berührung muss sich das Opfer
belästigt fühlen.
Es bleibt insoweit
abzuwarten, in wie vielen Fällen Anzeigen auf der Grundlage von
§ 184i StGB (Sexuelle Belästigung)
sich im Laufe der polizeilichen Ermittlungen dann doch eher als
falsche Verdächtigungen im Sinne von
§ 164 StGB
herausstellen werden.
[Videobilder entlasten junge Afghanen:] Unter
dieser Überschrift berichteten die Westfälischen Nachrichten vom
31.12.2016 über zwei Mädchen, die sich wohl über einen jungen
Afghanen geärgert hatten, der mit den beiden im gleichen Bus in
die Stadt gefahren war. Der Ausflug muss aber wohl nicht ganz im
Sinne der Mädchen gewesen sein, die - aus welchen Gründen auch
immer - danach behaupteten, von dem Flüchtling sexuell belästigt
und angegrapscht worden zu sein. Erst die Auswertung der
Überwachungskamera in dem Bus brachte Aufklärung. Die Bilder
belegten, dass es keinerlei Übergriffe gegeben hatte.
[Hinweis:] In Münster sind 80 Prozent der
Stadtwerk-Busse mit Kameras ausgestattet. Die Aufnahmen werden
jeweils 72 Stunden gespeichert.
Es kann davon ausgegangen werden, dass es Fälle geben wird, in
denen solche entlastenden Videos
Tatverdächtigen nicht zur Verfügung stehen werden.
Mit anderen Worten:
In diesem Zusammenhang gesehen wird diese gesetzliche Neuerung
oftmals die Frage aufwerfen, welches Gehirn - das männliche oder
das weibliche - eher zur Wahrheit neigt. Ich bin mir sicher,
dass diese Frage nicht einmal Neurologen beantworten können.
01.4 §
184j StGB (Straftaten in Gruppen)
TOP
Der ebenfalls neu in das
Strafgesetzbuch eingeführte
§ 184j StGB (Straftaten in
Gruppen) stellt Fälle unter Strafe, in denen Personen in einer
Gruppe zusammen eine andere Person bedrängen, um an ihr die
Begehung einer sexuellen Straftat zu ermöglichen.
§ 184j StGB setzt eine
Straftat nach
§ 177 StGB (Sexueller
Übergriff; sexuelle Nötigung; Vergewaltigung) oder
§ 184i
StGB (Sexuelle Belästigung) voraus,
siehe BT-Drs. 18/9097, S. 3. [En04] 4
Sexuelle Übergriffe durch
oder aus Gruppen heraus sollen durch diesen Straftatbestand
angemessen erfasst und geahndet werden können. Das bedeutet
aber, dass jeder, der sich an einer Gruppe »beteiligt«, aus der
heraus sexuelle Übergriffe vorgenommen werden, sich künftig als
Täter eines Sexualdeliktes wird verantworten müssen, wenn er
»zur Gruppe gehörte«.
Mit anderen Worten:
Künftig wird sich als
Täter eines Sexualdeliktes auch derjenige verantworten müssen,
der selbst keine sexuellen Handlungen vorgenommen hat bzw. dem
solche Handlungen nicht nachgewiesen werden können.
Dieser neue
Straftatbestand enthält deutliche Parallelen zu
§ 231 StGB
(Beteiligung an einer Schlägerei), denn unter einer
»Beteiligung« im Sinne von § 231 StGB ist ein »Beteiligen im Sinne des gewöhnlichen
Lebens« zu verstehen.
Mit anderen Worten:
Anwesenheit reicht aus,
denn es wird gar kein Zusammenwirken verlangt. Nicht erforderlich ist, dass
der Beteiligte sich an der Schlägerei beteiligt (mitschlägt).
Anfeuernde Aufforderungen oder das Verhindern, dass Hilfskräfte
die Situation bereinigen können (Abhalten von Hilfskräften)
reichen zur Tatbegehung aus.
Aber auch für
§ 231
StGB (Beteiligung an einer Schlägerei) gilt, dass der
(beteiligte) Täter nicht ohne sein Verschulden in die »Sache«
hineingezogen worden sein muss.
Sein persönliches Verschulden
ist ihm folglich nachzuweisen.
Die mit der gesetzlichen
Neuregelung verbundenen Schwierigkeiten hat die Abgeordnete
Katja Keul vom Bündnis 90/Die Grünen in
ihrer Rede im Deutschen Bundestag am 07.07.2016 wie folgt
beschrieben:
»Nach unserer Verfassung
kann jede und jeder nur für seine eigene individuelle Schuld
bestraft werden, sei es, weil er selbst Mittäter ist, sei es,
weil er Beihilfe geleistet hat, sei es, weil er zu einer Tat
angestiftet hat. Wenn all diese Voraussetzungen nicht vorliegen,
können wir nicht darauf ausweichen, jemanden wegen der
Zugehörigkeit zu einer Gruppe, also quasi wegen Sippenhaft, zu
verurteilen. Was die Beteiligung an einer Gruppe überhaupt
bedeutet, bleibt völlig nebulös. Zur Beruhigung schreiben Sie in
Ihrer Gesetzesbegründung, dass reine Ansammlungen von Menschen
nicht gemeint sind. Ich zitiere wörtlich aus der
Gesetzesbegründung: Zum Beispiel macht sich nicht strafbar, wer
in der überfüllten U-Bahn mitfährt, in der eine andere Person
sexuelle Handlungen vornimmt.
Jetzt sind wir aber echt beruhigt, dass wir noch U-Bahn fahren
dürfen!« [En05] 5
[BGH zur Beteiligung an
einer Schlägerei 2015:] Mit Urteil vom 22. Januar 2015, BGH
3 StR 233/14, heißt es zum Tatbestandsmerkmal der »Beteiligung«
wie folgt:
[Rn. 44:] In dieser
Konstruktion des Straftatbestandes (gemeint ist die Beteiligung
an einer Schlägerei = AR) kommt zum Ausdruck, dass das
sozialethisch verwerfliche Verhalten bereits in der Beteiligung
an einer Schlägerei oder einem Angriff mehrerer besteht, weil
dadurch erfahrungsgemäß so häufig die Gefahr schwerer Folgen
geschaffen wird, dass die Beteiligung als solche schon
strafwürdiges Unrecht darstellt (...).
Und an anderer Stelle in
der gleichen Randnummer heißt es:
Dass bereits die
Beteiligung an der Schlägerei oder dem Angriff mehrerer bestraft
wird, hat seinen Grund im Übrigen in Beweisschwierigkeiten, die
bei körperlichen Auseinandersetzungen mehrerer erfahrungsgemäß
auftreten, wenn es darum geht, eine bestimmte schwere Folge
einem oder mehreren der Beteiligten einwandfrei zuzuordnen; es
sollen Strafbarkeitslücken vermieden werden, die dadurch
auftreten können, dass eine Verurteilung wegen eines
Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts wegen der genannten
Beweisschwierigkeiten ausscheiden muss (...). Kann der
erforderliche Nachweis indes geführt werden, ist eine
tateinheitliche Verurteilung wegen eines Tötungs- oder
Körperverletzungsdelikts und der Beteiligung an einer Schlägerei
möglich (..).
Und im Hinblick auf die
Mittäterschaft heißt es im Urteil:
[Rn. 68:] Bei
Beteiligung mehrerer Personen, von denen nicht jede sämtliche
Tatbestandsmerkmale verwirklicht, handelt mittäterschaftlich,
wer seinen eigenen Tatbeitrag so in die gemeinschaftliche Tat
einfügt, dass er als Teil der Handlung eines anderen Beteiligten
und umgekehrt dessen Tun als Ergänzung des eigenen Tatanteils
erscheint. Ob ein Beteiligter ein so enges Verhältnis zur Tat
hat, ist nach den gesamten Umständen, die von seiner Vorstellung
umfasst sind, in wertender Betrachtung zu beurteilen.
Wesentliche Anhaltspunkte können dabei der Grad des eigenen
Interesses am Taterfolg, der Umfang der Tatbeteiligung und die
Tatherrschaft oder wenigstens der Wille zur Tatherrschaft sein
(...). [En06] 6
[Hinweis:] Wendet
man diese Rechtsprechung auf tatbestandliches Handeln im Sinne
von
§ 184j StGB (Straftaten in Gruppen) an, dann stellt
sich tatsächlich die Frage, wie solche »Gruppenbeteiligung« in
einer Situation nachgewiesen werden soll, in der sich zum
Beispiel Tausende von Menschen in einer Silvesternacht auf der
Domplatte in Köln oder in der Nähe des Kölner Hauptbahnhofs oder
auch anderswo zusammenfinden, die auch das geschulte Auge eines
Polizeibeamten nur als eine zusammengehörige »Masse von
Menschen« wahrnehmen kann, die sich zudem in steter Bewegung
befindet.
In solchen Situationen
eine »Gruppe« zu lokalisieren und einzugrenzen, deren Absicht es
ist, eine Straftat - die eine andere Person begeht - dadurch zu
fördern, dass die Gruppe den Täter zur Tatbegehung drängt oder
die Taten mehrerer Personen unterstützt,
dürfte nicht nur observationsgeschulten Polizeibeamten, sondern
auch einer optimierten Videoüberwachung nur in seltenen Fällen
möglich sein.
Eine Gruppenzugehörigkeit dürfte auch dann schwerlich
unterstellt werden können, wenn die Polizei anlassbezogen
Personengruppen zum Zweck ihrer Identitätsfeststellung
einschließt.
Diejenigen, die dann nicht eingeschlossen wurden können dann nur
sagen: Glück gehabt.
02
Änderung des Aufenthaltsgesetzes
TOP
Als Ergänzung zu den
gesetzlichen Neuregelungen im Strafgesetzbuch, siehe
insbesondere
§ 100i StGB (Sexuelle
Belästigung) und
100j StGB (Straftaten in Gruppen), wurde
auch der
§ 54 AufenthG (Ausweisungsinteresse)
modifiziert.
Im § 54 Abs. 2 Nr. 1a
heißt es:
(2) Das
Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt schwer,
wenn der Ausländer
1. wegen einer oder
mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer
Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist,
1a.
wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das
Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle
Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen
Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder
Jugendstrafe verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit
Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder
Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach
§ 177 des Strafgesetzbuches ist; bei serienmäßiger
Begehung von Straftaten gegen das Eigentum wiegt das
Ausweisungsinteresse auch dann schwer, wenn der Täter keine
Gewalt, Drohung oder List angewendet hat.
[Hinweis:] Die oben
skizzierten gesetzgeberischen Reaktionen auf die Ereignisse in
der Silvesternacht (31.12.2015) in Köln traten 11 Monate danach
in Kraft. Sie sind als ein Versuch zu bewerten, auf
gesetzgeberischem Wege Phänomenen zu begegnen, um in Zukunft
massenweise Übergriffe auf Frauen zu unterbinden.
In diesem
Zusammenhang gesehen stimmt es aber nachdenklich, dass erst
»junge Täter aus dem nordafrikanischen Raum« in Aktion treten
mussten, um die Abgeordneten im Deutschen Bundestag davon zu
überzeugen, dass das Nein einer Frau tatsächlich als ein
Nein zu verstehen ist.
Ob die Männerwelt, egal ob
es sich dabei um einen Deutschen oder einen Ausländer handelt,
diese gesetzgeberische Nein verstanden, verinnerlicht und
in Unterlassen umsetzen wird, bleibt abzuwarten.
02.1
Ausreisezentren beim Bund und in den Ländern
TOP
Als erstes Bundesland hat
die Freie und Hansestadt Hamburg auf dem Gelände des dortigen
Flughafens ein Ausreisegewahrsam eingerichtet. In
Nordrhein-Westfalen befindet sich solch ein »Ausreisezentrum« in
der ehemaligen JVA Büren.
[Abschiebezentrum in
Berlin:] Auf der Website der Berliner-Zeitung.de vom
05.12.2016 heißt es, das Bund und Länder in Berlin ein
Abschiebezentrum für schnellere Ausweisungen einrichten wollen.
In der Meldung heißt es
weiter:
Die neue Stelle soll dem
Bericht zufolge beim Bundesinnenministerium angesiedelt werden
und beispielsweise durch die Beteiligung des Auswärtigen Amtes
die Rückkehr abgelehnter Asylbewerber in die jeweiligen
Heimatländer beschleunigen. Ausländerbehörden oder
Polizeidienststellen in den Bundesländern sollen auf diese Weise
unbürokratische Hilfe etwa bei fehlenden Reisedokumenten
erhalten können. [En07] 7
[Leitantrag der CDU auf
dem Parteitag in Essen im Dezember 2016:] Auf Spiegel.de
heißt es: »Der Haftgrund für Abschiebehaft muss erweitert
werden, wenn von dem Ausreise-Pflichtigen eine Gefahr ausgeht.«
Ferner müsse die Möglichkeit für den Ausreisegewahrsam von vier
Tagen auf vier Wochen verlängert werden. Wer falsche Angaben
mache oder die Mitwirkung etwa bei der Feststellung der
Identität verweigere, müsse den Status eines Geduldeten und die
Erlaubnis zur Beschäftigung verlieren, Leistungen müssten dann
gekürzt werden.« [En08] 8
[Hinweis:] Der sich
verschärfende Ton bei der Frage, wie mit Ausländern umzugehen
ist, denen kein Aufenthaltsrecht eingeräumt wird, darf nicht so
verstanden werden, dass für solch einen strengen bzw.
unnachgiebigen Umgang bereits das geltende Recht die dafür
erforderlichen Befugnisse enthält.
Dem ist nämlich nicht so.
Welche Befugnisse zurzeit die Frage der Durchsetzung von
Abschiebung regeln, soweit es sich dabei um Abschiebehaft oder
Abschiebegewahrsam handelt, wird in der folgenden Randnummer
thematisiert.
02.2
Abschiebehaft und Abschiebegewahrsam
TOP
Die Befugnisse, die es der
Polizei zurzeit zum Zweck der Durchsetzung einer Abschiebung erlauben,
Personen die Freiheit zu entziehen, sind in den nachfolgend
benannten Paragrafen geregelt:
Eine freiheitsentziehende
Maßnahme auf der Grundlage der o.g. Befugnisse setzt in jedem
Fall eine richterliche Anordnung voraus. Diesbezüglich ist der
Wortlaut der Eingriffsbefugnisse eindeutig.
Landesrechtliche
Vorschriften, auf deren Grundlage Personen in Polizeigewahrsam
genommen werden können, siehe z. B.
§ 35 PolG NRW
(Gewahrsam) finden keine Anwendung, »wenn die
freiheitsentziehenden Maßnahmen ausschließlich auf die
Anordnungen oder Vollziehung der Abschiebungshaft gerichtet
sind.«
Mit anderen Worten:
Ausländerrechtliche
Dauerdelikte werden erst durch Vollziehung der Ausreisepflicht
(vollendete Ausreise aus dem Bundesgebiet) beendet. Das
polizeiliche, mithin gesetzliche Ziel der Gewahrsamnahme kann
durch solch eine polizeiliche Maßnahme nicht erreicht,
allenfalls vorbereitet werden.
Die Vorbereitung der
Durchsetzung der Ausreisepflicht ist aber nicht legitimes Ziel
der polizeirechtlichen Gewahrsamsbefugnis, sondern nur durch
z.B.
§ 62 Abs. 5 AufenthG abgedeckt. [En09] 9
[OLG Zweibrücken 2001:]
Das OLG Zweibrücken hat mit Urteil vom 14.12.2001 - 1 Ss 227/01
zum polizeilichen Freiheitsentzug eines zur Ausreise
verpflichteten Ausländers nach Polizeirecht wie folgt Stellung
bezogen:
[Anlass:] Ein Ausländer kam einer rechtskräftigen
Ausreiseanordnung der Ausländerbehörde nicht nach. Daraufhin
wandte sich die Ausländerbehörde mit einem »Ersuchen um
vorläufige Festnahme« an die Polizei. Durch die verschlossene
Wohnungstür wurde der Ausreisepflichtige von der Polizei
aufgefordert, freiwillig mitzukommen, da er dem Haftrichter zum
Zwecke der Abschiebung vorzuführen sei. Da der Mann sich
weigerte, drangen die Polizeibeamten gewaltsam in die Wohnung
ein. Der Festnahme widersetzte sich der Ausländer mit Schlägen
und Tritten. Der Ausländer wurde überwältigt und unter Anwendung
unmittelbaren Zwangs in das Gewahrsam der Polizei eingeliefert.
Die Polizei rechtfertigte ihr Vorgehen allein mit dem
Vollzugshilfeersuchen der Ausländerbehörde. Eine Durchsuchungs-,
Vorführungs- oder Haftanordnung lag nicht vor.
Im Urteil heißt es:
Die Durchsuchung der
Wohnräume und die Festnahme des Angeklagten hätten nur auf der
Grundlage einer entsprechenden richterlichen Anordnung erfolgen
dürfen, von deren Vorliegen die Polizeibeamten sich hätten
überzeugen müssen.
Und an anderer Stelle
heißt es:
Die landesrechtlichen
Bestimmungen finden neben den bundesrechtlichen Vorschriften des
Ausländerrechts [...] keine Anwendung, wenn die
freiheitsentziehenden Maßnahmen (...) ausschließlich auf die
Anordnung und Durchführung von Abschiebehaft gerichtet sind.
Insoweit enthält das FEVG [jetzt AufenthG = AR] spezielle
bundesgesetzliche Regelungen (...), neben denen die
landesrechtlichen Bestimmungen zum Polizeigewahrsam nur insoweit
anwendbar sind, als die Ingewahrsamnahme einer Person zur Abwehr
spezifischer polizeirechtlicher Gefahren erforderlich ist. Dies
kann [...] beispielsweise zum Schutz einer Person gegen eine
Gefahr für Leib oder Leben, zur Abwehr einer unmittelbar
bevorstehenden Straftat oder zur Verhinderung einer
Ordnungswidrigkeit von erheblicher Gefahr der Fall sein,
Voraussetzungen, unter denen die gegen den Angeklagten
ergriffenen Zwangsmaßnahmen nicht ergangen sind. [En10]
10
[BVerfG 2009:] Auch
dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 04.09.2009 - 2
BvR 2520/07 kann entnommen werden, dass Polizeirecht - wenn
überhaupt - eine Gewahrsamnahme nur stundenweise rechtfertigen
kann, weil die Dauer des Gewahrsams nach Polizeirecht, siehe
§ 38 PolG NRW (Dauer der Freiheitsentziehung) für die
Verhinderung von Dauerdelikten nicht gedacht ist.
Im Beschluss heißt es:
[Rn. 27:]
Unverzüglich [gemeint als Zeitvorgabe für die Vorführung vor
einen Richter = AR] ist dahin auszulegen, dass die richterliche
Entscheidung ohne jede Verzögerung, die sich nicht aus
sachlichen Gründen rechtfertigen lässt, nachgeholt werden muss
(...). Nicht vermeidbar sind zum Beispiel Verzögerungen, die
durch die Länge des Weges, Schwierigkeiten beim Transport, die
notwendige Registrierung und Protokollierung, ein renitentes
Verhalten des Festgenommenen oder vergleichbare Umstände bedingt
sind (...).
[Rn. 29:] Das
Amtsgericht hat angenommen, dass die richterliche Entscheidung
unverzüglich herbeigeführt worden sei. Dabei hat es jedoch
lediglich darauf abgestellt, dass die richterliche Entscheidung
spätestens am Tag nach der Festnahme erfolgt sei. Ob eine nicht
sachlich begründete Verzögerung vorgelegen habe, untersucht es
nicht. Dem Begriff „unverzüglich" ist damit ein
verfassungsrechtlich unzutreffender Inhalt beigelegt worden. [En11]
11
Mit anderen Worten:
Ein Ausländer, der
abgeschoben werden soll, sollte von der Polizei nur dann
festgehalten werden, wenn ein vollziehbarer Aufenthaltstitel und
ein richterlicher Beschluss vorliegen.
Ausländer, die zur
Vorbereitung solcher Anordnungen von der Polizei nach
Polizeirecht in Gewahrsam genommen werden, um die »Fortsetzung
eines festgestellten Dauerdelikts« zu unterbinden, müssen, falls
noch keine richterliche Anordnung besteht, unverzüglich einem
Richter vorgeführt werden.
Gemeint ist hier mit
unverzüglich eine
Zeitspanne von
wenigen Stunden. Ein solches stundenweises Festhalten ist aber
spezialgesetzlich geregelt, siehe
§ 62 Abs. 5 AufenthG.
Im Übrigen wäre die Polizei auch gar nicht zuständig für die
Stellung eines Haftantrages im Sinne von § 62 Abs. 5 AufenthG.
Das fällt allein in den Zuständigkeitsbereich der
Ausländerbehörde.
Inwieweit eine Person, deren
Abschiebung von einer obersten Landesbehörde oder im Falle der
Übernahme der Zuständigkeit für die Abschiebung durch das
Bundesministerium des Innern auf der Grundlage von
§ 58a Abs. 1 AufenthG
(Abschiebungsanordnung) verfügt wurde, von der Polizei
festgehalten werden kann, ist eine Frage, der hier
nicht weiter nachgegangen wird. Es scheint so zu sein, dass von
dieser Form einer möglichen
»Abschiebeanordnung«
bisher noch kein Gebrauch gemacht wurde.
[Zusammenfassung:] In
Fällen der unerlaubten Einreise / des unerlaubten Aufenthalts
durch Nichtbesitz des erforderlichen Aufenthaltstitels nach den
einschlägigen Bestimmungen des AufenthG können diese
Dauerdelikte erst durch Vollziehung der Ausreisepflicht
(vollendete Ausreise aus dem Bundesgebiet) beendet werden.
Das polizeiliche, mithin
gesetzliche Ziel der Gewahrsamnahme nach Polizeirecht, kann
dadurch nicht erreicht, allenfalls vorbereitet werden. Die
Vorbereitung der Durchsetzung der Ausreisepflicht ist aber kein
legitimes Ziel der polizeirechtlichen Gewahrsamsvorschrift,
sondern allein auf der Grundlage von
§ 62 AufenthG
zulässig.
Eine nach Polizeirecht
nicht geeignete Maßnahme ist unverhältnismäßig und verstößt
daher gegen
Art. 20 Abs. 3 GG, da das Grundprinzip der
Verhältnismäßigkeit staatlicher Maßnahme Verfassungsrang besitzt
und ein Wesensmerkmal der Rechtsstaatlichkeit darstellt. [En12]
12
02.3
Abschiebung nach Ungarn »Nein« - nach Afghanistan »Ja«
TOP
Abschiebungen nach
Afghanistan sind zulässig, Abschiebungen in das EU-Land Ungarn
nicht.
Wer das versteht, versteht
die Welt.
[OVG Lüneburg 2016:]
Am 29.11.2016 entschied das OVG Lüneburg, Az., 8 LB 92/15, dass
Flüchtlinge, die vor ihrer Ankunft in Deutschland Ungarn
durchqueren, nicht wieder nach Ungarn abgeschoben werden dürfen.
In der Pressemitteilung
des OVG Niedersachsens vom 29.11.2016 heißt es u.a.:
»Das Niedersächsische
Oberverwaltungsgerichts hat mit Urteil vom 15. November 2016
(Az. 8 LB 92/15) entschieden, dass ein kosovarischer
Asylbewerber nicht nach Ungarn zur Durchführung eines
Asylverfahrens rücküberstellt werden darf. [...]. Der Senat ist
davon überzeugt, dass der Zugang zum Asylverfahren in Ungarn,
dessen Ausgestaltung und die Aufnahmebedingungen während des
Asylverfahrens im November 2016 systemische Mängel aufweisen,
die für den Kläger die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer
drohenden unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung
begründen. Bei einer Rücküberstellung nach Ungarn droht dem
Kläger eine Inhaftierung ohne individualisierte Prüfung von
Haftgründen. Die Haftbedingungen in den ungarischen
Asylhaftanstalten lassen erhebliche Mängel und Missstände
erkennen. Es ist auch nicht auszuschließen, dass Ungarn
Dublin-Rückkehrer ohne inhaltliche Prüfung ihrer Asylanträge
weiter nach Serbien als »sicheren Drittstaat« abschiebt, wo ein
Asylverfahren, das eine inhaltliche Prüfung der Fluchtgründe
garantiert, nicht existiert. Unabhängig von diesen systemischen
Mängeln sieht der Senat die Ablehnung des Antrags auf
Durchführung eines weiteren Asylverfahrens auch deshalb als
rechtswidrig an, weil eine realistische Möglichkeit, dass der
Kläger innerhalb von sechs Monaten nach Rechtskraft nach Ungarn
überstellt werden könnte, nicht besteht.« [En13] 13
[Abschiebungen nach
Afghanistan am 14. 12.2016:] Die ersten 34 abgelehnten
afghanischen Asylbewerber sind nach einem Nachtflug aus
Frankfurt am Main am 15.12.2016 in der afghanischen Hauptstadt
Kabul angekommen.
Am gleichen Tag verteidigte
Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) die umstrittene
Sammelabschiebung abgelehnter afghanischer Asylbewerber. Auf
Tagesspiegel.de wird der Minister wie folgt zitiert: »Solche
Rückführungsaktionen sind richtig und notwendig, um unser
Asylsystem funktionsfähig zu halten.« Die Praxis solle
»verantwortungsvoll und behutsam« fortgesetzt werden.
Dennoch:
Wenn sich der
Bundesinnenminister beim Besuch in Afghanistan dort nur in
schusssicherer Weste bewegt, obwohl »ein Heer von
Sicherheitspersonal für seine Sicherheit sorgt«, dann stellt
sich tatsächlich die Frage, wie sicher ist es in Afghanistan
tatsächlich?
Anlässlich der Abschiebung
versammelten sich am Flughafen Frankfurt mehrere hundert
Menschen, um gegen die Sammelabschiebung zu demonstrieren. In
Sprechchören forderte die Menge: »Abschiebung ist Folter,
Abschiebung ist Mord, Bleiberecht für alle, jetzt sofort!«
Und in der Neuen Züricher
Zeitung vom 17.12.2016 heißt es:
Ein Charterflug nach Kabul
mit abgewiesenen Asylbewerbern wühlt die deutsche Politik und
Öffentlichkeit auf. Was für die einen die Durchsetzung des
Rechtsstaates ist, erscheint den anderen unmenschlich. [En14]
14
Und was haben die Richter
des Bundesverfassungsgerichts dazu zu sagen?
[Beschluss des BVerfG
vom 14.12.2016:] Mit Beschluss vom 14. Dezember 2016 - 2 BvR
2557/16, 2 BvR 2564/16 haben die Richter des
Bundesverfassungsgerichts die Abschiebung eines afghanischen
Staatsangehörigen aufgrund der besonderen Umstände des
Einzelfalls ausgesetzt.
Dabei hat die Kammer die Frage, ob
angesichts der aktuellen Lage in Afghanistan Abschiebungen
derzeit verfassungsrechtlich vertretbar sind, ausdrücklich
offen gelassen.
In der Begründung heißt
es:
Würde sich nach erfolgter
Abschiebung herausstellen, dass diese rechtswidrig war, wäre dem
Antragsteller eine Fortführung seines Asylfolgeantrags
angesichts der angespannten Lage in Afghanistan kaum möglich.
Diese Folgen wiegen erheblich schwerer als die Folgen, die
eintreten würden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung
erlassen würde, sich später aber herausstellen würde, dass die
Abschiebung ohne Rechtsverstoß hätte durchgeführt werden können.
[En15] 15
[Hinweis:] Nach
Angaben des Bundesinnenministers lebten am Stichtag, gemeint ist
der 30.
September 2016 rund 12 500 zur Ausreise verpflichtete Afghanen in
Deutschland. Es dürften noch viele Flüge nach Afghanistan unter
Protest das Land verlassen. Der Flug vom Mittwoch dürfte somit
nur der erste von mehr als 10 000 weiteren Flügen nach
Afghanistan sein, wenn pro Flug 38 bis 50 Personen ausgewiesen
werden.
Am 16.12.2016 sprach sich
die Mehrheit der Abgeordneten im Deutschen Bundestag gegen
einen Abschiebestopp für Flüchtlinge nach Afghanistan aus.
Bereits im Januar sollen die Abschiebungen wieder fortgeführt
werden.
[Hinweis:] In
»Berlin direkt« vom 18.12.2016 hieß
es, dass der oben beschriebene Flug nach Afghanistan gut 350 000
Euro gekostet hat. Überträgt man diesen Kostenaufwand auf die
noch ausstehenden 10 000 Flüge, dann dürfte das bei Weitem die
Rücklage der Energieunternehmen übersteigen, die diese für den
Atomausstieg zu zahlen bereit sind.
Wie dem auch immer sei.
Zurzeit sind ca. 97 000
Klagen gegen Asylanträge des Bundesamtes für Migration und
Flüchtlinge (BAMF) angängig.
Das sind gut 21 % aller angängigen
Verwaltungsgerichtsstreitigkeiten. Diesbezüglich fand Lars
Castellucci (SPD) am 16.12.2016 im Deutschen Bundestag mahnende
Worte: »Wir haben einen immensen Druck auf dieses Bundesamt
ausgeübt. Die Verfahren sollen schneller laufen. Die Zahl der
Mitarbeiter wurde mehr als verdoppelt. Das war richtig so. Aber
jetzt müssen wir auch auf die Qualität der Arbeit achten und die
Qualität der Arbeit sichern, denn ordentliche Verfahren sind die
Basis.«
Mit anderen Worten:
Die
Richter der Verwaltungsgerichte werden sich über Arbeitsmangel
nicht beklagen können und sich wahrscheinlich an einen
48-Stunden-Tag gewöhnen müssen.
03 BVerfG
zur Einkesselung von Personengruppen zur ID-Feststellung
TOP
Im Juni 2013 wurden in
Frankfurt, anlässlich einer Demonstration, insgesamt 943 Personen
von der Polizei durch einen sogenannten Polizeikessel zur
Feststellung ihrer Identität eingeschlossen.
Über die Rechtmäßigkeit
dieser polizeilichen Maßnahme hat das Bundesverfassungsgericht
mit Beschluss vom 02.11.2016 - 1 BvR 289/15 entschieden:
[Anlass:] Als eine große Gruppe von Teilnehmern unfriedlich
wurde und Personen mit Hilfe von mitgebrachten Seilen und
Holzstangen, Schutzschilden, zusammengeknoteten Transparenten
und Regenschirmen sich nach außen hin abschotteten und
Pyrotechnik und mit Farbe gefüllte Flaschen und Beutel auf
polizeiliche Einsatzkräfte warfen, wurden diese von der
Versammlung zuvor bereits ausgeschlossenen Personen von der Polizei
»eingekesselt«.
Der Beschwerdeführer
konnte die Einkesselung nach 4 Stunden an einer der 15 mit einer
Videoüberwachung versehenen Durchlassstellen nach Feststellung
seiner Identität, der Durchsuchung seiner mitgeführten Sachen
sowie einer erkennungsdienstlicher Behandlung (Videografierung)
wieder verlassen.
Seine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht blieb ohne
Erfolg.
Die Verfassungsrichter
stellten fest, dass der Beschwerdeführer nicht in seinen
Grundrechten verletzt worden sei.
Im Beschluss heißt es:
[Rn. 13:] Die
Verfassung gewährleistet lediglich das Recht, sich »friedlich
und ohne Waffen zu versammeln«. Das ist Vorbedingung für die
Gewährleistung der Versammlungsfreiheit als Mittel zur aktiven
Teilnahme am politischen Prozess und für eine freiheitliche
Demokratie unverzichtbar (...). Steht kollektive Unfriedlichkeit
nicht zu befürchten, ist also nicht damit zu rechnen, dass eine
Demonstration im Ganzen einen gewalttätigen oder aufrührerischen
Verlauf nimmt oder dass der Veranstalter oder sein Anhang einen
solchen Verlauf anstreben oder zumindest billigen, dann muss für
die friedlichen Teilnehmer der von der Verfassung jedem
Staatsbürger garantierte Schutz der Versammlungsfreiheit auch
dann erhalten bleiben, wenn einzelne andere Demonstranten oder
eine Minderheit Ausschreitungen begehen (...).
[Rn. 14:] Besteht
danach für eine Versammlung trotz Ausschreitungen nur einer
Minderheit der Teilnehmer der Schutz des Art. 8 GG fort, muss
sich dies auf die Anwendung grundrechtsbeschränkender
Rechtsnormen auswirken. Dies gilt insbesondere auch für die
Anwendung des
§ 163b StPO und des
§ 163c StPO,
wenn es zu Abspaltungen eines Teils der Versammlung vom
restlichen Demonstrationszug kommt, um eine spätere
Strafverfolgung zu ermöglichen. Zwar schließt es die unter
Gesetzesvorbehalt stehende Versammlungsfreiheit nicht aus, gegen
Teile der Versammlung repressive Maßnahmen der Strafverfolgung
zu ergreifen. Bei solchen Grundrechtseingriffen haben die
staatlichen Organe aber die grundrechtsbeschränkenden Normen der
StPO im Lichte der grundlegenden Bedeutung der
Versammlungsfreiheit im freiheitlich demokratischen Staat
auszulegen und sich bei ihren Maßnahmen auf das zu beschränken,
was zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter notwendig ist (...).
[Rn. 15:] Konkret
bedeutet dies für
§ 163b Abs. 1 Satz 1 und 2 StPO, wonach
die Beamten des Polizeidienstes die zur Feststellung der
Identität erforderlichen Maßnahmen treffen dürfen, wenn jemand
einer Straftat verdächtig ist, und der Verdächtige festgehalten
werden darf, wenn die Identität sonst nicht oder nur unter
erheblichen Schwierigkeiten festgestellt werden kann, dass der
Verdacht auf einer hinreichenden objektiven Tatsachengrundlage
beruhen sowie individuell bezogen auf den konkreten
Versammlungsteilnehmer bestehen muss. Nicht genügend für den
Verdacht ist die bloße Teilnahme an einer Versammlung, aus der
heraus durch einzelne andere oder eine Minderheit Gewalttaten
begangen werden (...). Da sich Gewalttätigkeiten bei
Großdemonstrationen kaum jemals ganz ausschließen lassen, träfe
andernfalls nahezu jeden Versammlungsteilnehmer das Risiko,
allein wegen des Gebrauchmachens von der Versammlungsfreiheit -
schon während der Versammlung - Strafverfolgungsmaßnahmen
ausgesetzt zu werden (...). Die Notwendigkeit eines auf den
konkreten Versammlungsteilnehmer bezogenen Verdachts schließt es
allerdings nicht aus, auch gegen eine ganze Gruppe von
Versammlungsteilnehmern nach
§ 163b Abs. 1 Satz 1 und 2 StPO
vorzugehen, wenn sich aus deren Gesamtauftreten ein Verdacht
auch gegenüber den einzelnen Mitgliedern der Gruppe ergibt und
das Vorgehen die übrigen Versammlungsteilnehmer so weit wie
möglich ausspart.
[Rn. 19:] Geht die
Polizei gegen eine sich dergestalt mittels dichtgedrängter
Staffelung, Sichtschutz und Vermummung vom übrigen
Versammlungsgeschehen abhebende Gruppe, aus der heraus eine
Vielzahl von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten begangen
werden, auf Grundlage des
§ 163b Abs. 1 Satz 1 und 2 StPO
vor, da sie einen Anfangsverdacht gegen alle Mitglieder dieser
Gruppe als begründet ansieht und bestätigen die Fachgerichte
dieses Vorgehen, verstößt dies nicht gegen verfassungsrechtliche
Vorgaben. Die zu diesem Teil des Aufzugs
gehörenden Personen zeigen ein planvoll-systematisches
Zusammenwirken mit einer Vielzahl von Gewalttätern und erwecken
den Eindruck der Geschlossenheit, so dass die Einsatzkräfte
davon ausgehen durften, dass Gewalttäter in ihren Entschlüssen
und Taten gefordert und bestärkt würden und nur eine sehr
geringe Zahl friedlicher Versammlungsteilnehmer durch die
Einkesselung vom Rest der Versammlung ausgeschlossen und
festgehalten werde. Dies ist verfassungsrechtlich
hinnehmbar, wenn die Polizei - wie vorliegend - ohne Aufschub
nach der Kesselbildung in Verhandlungen mit der
Versammlungsleitung eintritt, um eine Fortsetzung des Aufzugs
sowohl für den vom Polizeikessel betroffenen friedlichen
Versammlungsteil als auch für einzelne friedliche
Versammlungsteilnehmer innerhalb der eingeschlossenen
Demonstrationsgruppe zu ermöglichen.
[Rn. 21:] Die
angegriffenen Entscheidungen verletzen auch nicht Art. 2 Abs.
2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 GG, indem sie
gemäß
§ 163c Abs. 1 Satz
2 StPO davon ausgegangen sind,
dass eine unverzügliche Vorführung vor den Richter zum Zwecke
der Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer der
Freiheitsentziehung unterbleiben konnte, da die Herbeiführung
der richterlichen Entscheidung voraussichtlich längere Zeit in
Anspruch nehmen würde, als zur Feststellung der Identität
notwendig wäre.
[Rn. 22:]
Art. 104 Abs.
2 Satz 2 GG gebietet für jede nicht auf richterlicher
Anordnung beruhende Freiheitsentziehung, die richterliche
Entscheidung unverzüglich nachzuholen, wobei »unverzüglich«
dahin auszulegen ist, dass die richterliche Entscheidung ohne
jede Verzögerung, die sich nicht aus sachlichen Gründen
rechtfertigen lässt, nachgeholt werden muss (...). Die Ausnahme
von der Vorführpflicht nach § 163c Abs. 1 Satz 2 StPO für den
Fall, das bis zur Erlangung der richterlichen Entscheidung
voraussichtlich längere Zeit vergeht als bis zur Feststellung
der Identität, ist danach verfassungsrechtlich nicht zu
beanstanden.
[Rn. 26:]
Nach der nicht zu beanstandenden
Rechtsauffassung der Fachgerichte musste ein Verdacht im Sinne
des
§ 163b Abs. 1 StPO gegen den Beschwerdeführer nicht
daran scheitern, dass dieser tatsächlich keine Straftaten oder
Ordnungswidrigkeiten begangen hat. Ausreichend war insoweit
bereits seine Zugehörigkeit zu einer sich vom übrigen
Demonstrationsgeschehen deutlich abhebenden Gruppe, aus der
heraus eine Vielzahl von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten
begangen wurden. [En16] 16
04
Vereinigungsverbot »Lies-Mich«
TOP
Am 15. November 2016 hat
der Bundesinnenminister ein Organisationsverbot gegen die
Vereinigung »Die wahre Religion (DWR)« alias »LIES! Stiftung« /
«Stiftung LIES« erlassen.
Das Verbot gegen die
Vereinigung DWR stützt sich auf § 3 Absatz 1 Satz 1
Alternative 2 und 3 VereinsG in
Verbindung mit
§ 17 Nummer 3 VereinsG.
In der Begründung heißt
es:
Die DWR verbreitet ihre
verfassungsfeindlichen und gegen den Gedanken der
Völkerverständigung verstoßenden Botschaften anlässlich von
Seminaren, öffentlichen Veranstaltungen sowie der Verteilung von
Koranübersetzungen in Fußgängerzonen. Tausende von Videos dieser
Aktionen wurden über das Internet veröffentlicht. Durch sie wird
eine verfassungsfeindliche Einstellung und
kämpferisch-aggressive Grundhaltung bei den überwiegend jungen,
zum Teil minderjährigen Anhängern geschaffen und geschürt. Dies
reicht bis zu einer Befürwortung von und einem Aufruf zu Gewalt
und der Ausreise von bisher mindestens 140 Aktivisten und
Unterstützer nach Syrien bzw. in den Irak, um sich dort dem
Kampf terroristischer Gruppierungen anzuschließen. Unter
Berufung auf den Islam und seine religiösen Quellen wird ein
extremistisches politisch-soziales Regelwerk von absoluter
Verbindlichkeit vermittelt.
Und an anderer Stelle:
Das heutige Verbot zielt
nicht auf die Werbung für und die Verbreitung des islamischen
Glaubens oder die Verteilung von Koranen oder
Koranübersetzungen. Die Koranübersetzungen bleiben bei ihren
Besitzern. Verboten wird der Missbrauch einer Religion durch
Personen, die unter dem Vorwand, sich auf den Islam zu berufen,
extremistische Ideologien propagieren und terroristische
Organisationen unterstützen. [En17] 17
[Hinweis:]
Personen, die diesem Verbot zuwiderhandeln und weiterhin im
öffentlichen Raum »Lies-Aktionen« durchführen, handeln
tatbestandlich im Sinne von
§ 20 VereinsG
(Zuwiderhandlungen gegen Verbote). Bei der Tat handelt es sich
um ein Vergehen, das von Amts wegen zu verfolgen ist.
ABER:
Gegen dieses Verbot hat
der Organisator der Koran-Verteilungsaktion »Lies« Klage beim
Bundesverwaltungsgericht eingelegt. Ohne diesen Widerspruch, der
am 15.12.2016 geltend gemacht wurde, wäre das Verbot des DWR mit
Ablauf dieses Tages in Kraft getreten, siehe
§ 70 VwGO.
Das Vereinigungsverbot war am 15.11.2016 verfügt worden und wäre
am 15.12.2016 in Kraft getreten, wenn keine Klage erhoben worden
wäre.
Bis zur Entscheidung des
Bundesverwaltungsgerichts wird das Verbot des
Bundesinnenministers nunmehr nicht in Kraft treten
können.
04.1 We
love Mohammed
TOP
14 Tage nach dem Verbot
des Netzwerkes »Wahre Religion« verteilten Salafisten in NRW
Mohammed-Biografien. Die Aktion wurde von dem Verein »We love
Muhammad« durchgeführt, an der sich zum Teil dieselben Personen
beteiligten, die die Korane anlässlich der Lies-Mich-Aktion
verteilt hatten.
Die Verteilaktionen
führten dazu, dass sich die Abgeordneten im Landtag NRW am
01.12.2016 mit dieser Verteilaktion beschäftigten, weil dieses
Thema bereits aufgrund einer Anfrage von CDU und FDP auf der
Tagesordnung stand.
Landtag NRW - Drucksache
16/13540 vom 22.11.2016
Nach Verbot des Netzwerks
»Die wahre Religion«: Nachfolgeorganisationen rechtzeitig in den
Blick nehmen und radikale Moscheevereine überprüfen!
In dem Antrag von CDU und
FDP heißt es u.a.:
»[...] Neben »Lies!« hat
sich in Nordrhein-Westfalen ein weiteres
Koranverteilungsnetzwerk gebildet. Unter dem Namen »Das Siegel
der Propheten« existiert ein Netzwerk, das schwerpunktmäßig im
Raum Düsseldorf agiert. Als »Siegel der Propheten« wird der von
den Muslimen als Prophet Mohammed verehrte Religionsstifter des
Islam bezeichnet. Bei diesem Netzwerk handelt es sich um eine
Abspaltung von »Lies!« Im Unterschied zu »Lies!-Ständen« werden
andere religiöse Schriften unter dem ebenfalls
extremistisch-salafistischen Label »Way to Allah« (Der Weg zu
Allah) verteilt. [...]«
Ferner stehen nach Angaben
des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) etwa 90
Moscheegemeinden in der gesamten Bundesrepublik unter
Beobachtung der Verfassungsschützer. Nach Angaben von
BfV-Präsident Maaßen handele es sich dabei um meist
arabischsprachige »Hinterhofmoscheen«, wo selbst ernannte Imame
mit Hassreden zum Dschihad aufgewiegelten.
Diese Problematik besteht
entsprechend auch in Nordrhein-Westfalen. Es kann nicht
verlässlich ausgeschlossen werden, dass zumindest über einzelne
der betroffenen Gemeinden ebenfalls Kämpfer für den Krieg in
Syrien oder den radikalen Dschihad angeworben werden. Ebenso
erscheint es geboten, die betroffenen Gemeinden daraufhin zu
überprüfen, ob sie als Auffangbecken für bisherige Aktive des
Netzwerks DWR fungieren.
Der Antrag enthielt
folgende Beschlussempfehlung:
II. Der Landtag stellt
fest:
1. Der Landtag
Nordrhein-Westfalen begrüßt das vom Bundesministerium des Innern
ausgesprochene Verbot des Vereins/Netzwerks »Die wahre Religion«
als wichtigen Schritt zur Bekämpfung des religiösen Extremismus
und Fundamentalismus auch in Nordrhein-Westfalen.
2. Der Rechtsstaat kann
extremistische Einstellungen und Ideologien durch ein
Vereinsverbot zwar nicht beseitigen, sehr wohl aber die
organisierte Ausübung radikaler Aktivitäten und Aktionen
insbesondere in der Öffentlichkeit erheblich erschweren und
damit diejenigen schützen, die die Extremisten zu ihrer
Ideologie zu verführen gedenken.
3. Insofern gilt es, auch
nach dem Verbot von DWR verfassungsfeindlichen Aktivitäten der
bisherigen DWR-Aktivisten organisatorisch und strukturell mit
sämtlichen zur Verfügung stehenden rechtsstaatlichen Mitteln
entgegenzutreten, um eine Fortsetzung der bisherigen Aktivitäten
durch mögliche Nachfolge- oder Ausweichorganisationen zu
vermeiden. Zu diesem Zweck müssen derartige Organisationen und
Vereinigungen im Blick gehalten werden.
4. Zugleich gilt es, die
Aktivitäten anderer salafistischer oder dschihadistischer
Vereinigungen und Organisationen als der bisher im Lichte der
Öffentlichkeit stehenden dahin zu überprüfen, ob auch sie den
Strafgesetzen zuwiderlaufen, sich gegen die verfassungsmäßige
Ordnung wenden oder sich gegen den Gedanken der
Völkerverständigung richten. Erforderlichenfalls sind die
entsprechenden Konsequenzen – insbesondere ein Vereinsverbot –
auch insoweit zu ziehen.
5. Ein entschiedenes
Vorgehen des Rechtsstaats gegen salafistische und
dschihadistische Umtriebe entspricht dem Gedanken der wehrhaften
Demokratie und schützt die gesamte Bevölkerung vor deren auf
Verführung zum Extremismus und zu menschenverachtender Ideologie
angelegte Strategie. Dieses Vorgehen richtet sich ausdrücklich
nicht gegen den Islam oder andere Religionen und
Weltanschauungen, sondern gegen diejenigen, deren Absicht es
ist, die freiheitlich-demokratische Grundordnung in unserem Land
zu beseitigen.
6. Sofern wirtschaftliche
Betätigung mit extremistischen Anwerbe- und Verführungsversuchen
zusammentrifft, sollten über ein Vereinsverbot hinaus auch
Maßnahmen auf gewerbe-, steuer- oder verwaltungsrechtlicher
Grundlage erwogen werden, die zu einer Eindämmung der radikalen
Aktivitäten führen können.
[Hinweis:] Soweit zum Antrag von CDU und FDP im
Landtag NRW.
III. Beschlussfassung
1. Der Landtag fordert die
Landesregierung auf, mögliche Nachfolge- oder
Ausweichorganisationen des verbotenen Netzwerks »Die wahre
Religion« zu identifizieren und auf eine Fortführung der
Aktivitäten von DWR hin zu überprüfen sowie
a) im Falle der positiven
Feststellung einer Fortführung der Aktivitäten von DWR durch auf
das Gebiet des Landes Nordrhein-Westfalen beschränkte
Organisationen auch insoweit Vereinsverbote zu erwägen und
b) im Falle einer positiven Feststellung einer Fortführung der
Aktivitäten von DWR durch eine über Nordrhein-Westfalen hinaus
agierende Organisation beim Bundesministerium des Innern auf die
gebotene Prüfung und mögliche Verhängung eines Vereinsverbots im
Rahmen ihrer politischen Möglichkeiten hinzuwirken. [En18]
18
Diesem Antrag entsprach
die Mehrheit des Landtages NRW nicht.
Im Beschlussprotokoll zum
o.g. Antrag heißt es:
Beschluss
Der Antrag - Drucksache
16/13540 (Neudruck) - wurde nach Beratung in direkter Abstimmung
mit den Stimmen der Fraktionen von SPD, GRÜNEN, PIRATEN und des
fraktionslosen Abgeordneten Stüttgen gegen die Stimmen der
Fraktionen von CDU, FDP und des fraktionslosen Abgeordneten
Schulz abgelehnt. [En19] 19
[Anmerkung:]
Aufgrund der eingelegten Klage der Organisatoren von DWR dürfte
mit einer endgültigen Klärung der Frage, ob es rechtlich
überhaupt zulässig ist, auf diese Art und Weise die
Religionsfreiheit einzuschränken, noch längere Zeit dauern.
Ach ja: Und sollten die Organisatoren der DWR
mit seiner Klage gegen das Verbot der DWR beim Bundesverwaltungsgericht unterliegen, dann bleibt
den Organisatoren
immer noch der Weg zum Bundesverfassungsgericht.
Mit anderen
Worten:
So schnell, wie sich
Politiker das hin und wieder wünschen, lassen sich
Veränderungen in einem Rechtsstaat nicht herbeizaubern, es sei
denn, dass mit dafür erforderlicher Zweidrittelmehrheit das
Grundgesetz entsprechend geändert wird und Religion nur noch
privat zu Hause oder in (staatlich anerkannten) Gotteshäusern praktiziert werden darf.
Das gälte dann aber für alle Religionsgemeinschaften und somit
auch für Prozessionen im katholischen Bayern.
Scharia-Police, ein
harmloser Streich
Was im September 2014 in
Wuppertal den Volkszorn zum Kochen brachte, als 7
Scharia-Polizisten mit ihren gelben Leuchtwesten in Wuppertal
für Ordnung sorgen wollten, was mit der ganzen Härte des
Gesetzes geahndet werden musste, ist zwischenzeitlich auf die
Größe eines dummen Jungenstreichs zusammengeschrumpft.
Schon 2014 wurde an dieser
Stelle darauf hingewiesen, dass es sich bei dem Auftritt
höchstens um eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung handeln
könne, die mit den Mitteln des Polizeirechts von Polizeibeamten
problemlos sozialverträglich hätte geregelt werden können, ohne
dass dafür zwei Mal Gerichte hätten bemüht werden müssen.
Aber Staatsanwaltschaften
haben so ihre Probleme mit Humor, und als dann auch noch im
Dezember 2015 das Landgericht Wuppertal die Zulassung der
Anklage abgelehnte, wurde durch eine Beschwerde beim
Oberlandesgericht dafür gesorgt, dass das Landgericht in
gleicher Sache noch einmal zu entscheiden hatte. Offensichtlich
konnte oder wollte die Staatsanwaltschaft die Ablehnung der
Klage nicht akzeptieren, weil eine Straftat sein muss, was eine
Straftat zu sein hatte. Basta!
Nunmehr haben die Richter
des Landgerichts Wuppertal der Sache ein unrühmliches Ende
bereitet. Im Urteil heißt es: »Nicht einmal die Polizei habe
zunächst einen Anfangsverdacht gegen die Männer gesehen«. Und an
anderer Stelle heißt es: »Ein Gesetz, das hier gegriffen hätte,
gibt es nicht.« [En20] 20
Es bleibt abzuwarten, ob
die Staatsanwaltschaft gegen diese Entscheidung erneut Revision
einlegen wird, um aus einer
selbstverschuldeten Blamage eine perfekte Blamage zu machen. Auf
Spiegelonline.de vom 21.11.2016 heißt es, dass die
Staatsanwaltschaft Revision angekündigt hat.
Mit anderen Worten:
Ein Rechtsstaat, der über
ungeregelte »Flegeleien« nicht zu lachen versteht, läuft Gefahr,
dass die von ihm eingeforderte »ganze Härte des Gesetzes« ihn
sozusagen zum zahnlosen Tiger werden lässt.
Anders ausgedrückt:
Die Aktion der
Scharia-Polizei war aus rechtlicher Sicht nichts anderes als ein
provokanter Scherz! Die Tat, die mit der ganzen Härte des Gesetzes
strafrechtlich verfolgt werden sollte, nein musste, kennt das
deutsche Strafrecht nicht.
So viel Unkenntnis geltenden Rechts verleiht
der Staatsanwaltschaft, die beharrlich auf strafrechtliche
Verfolgung von Unrecht besteht,
bedauerlicherweise nur die Größe eines
Scheinriesens, einer Sprachfigur, mit der Michael Ende in
seinem 1960 erschienenen Kinderbuch »Jim Knopf und Lukas der
Lokomotivführer« einen furchterregenden Riesen beschrieb, der
nur aus der Distanz groß und gefährlich erschien, aber immer
kleiner wurde, je mehr man sich ihm näherte.
Nunmehr wissen wir, dass
die angebliche Straftat der »Scharia Police« so klein und
unbedeutend ist, dass nicht einmal das Strafrecht sie kennt.
Vielleicht sehen das die Richter des Oberlandesgerichtes ja
anders, denn die Staatsanwaltschaft hat angekündigt, in Berufung
zu gehen.
04.2
Islamfeindlichkeit in Deutschland
TOP
Im neuen
Integrationsbericht, der im November 2016 veröffentlicht wurde,
heißt es: Das Klima ist rauer geworden. 41 Prozent gegen
Zuwanderung von Muslimen.
[Integrationsbericht
2016:] Im 11. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung
für Migration, Flüchtlinge und Integration-, Teilhabe,
Chancengleichheit und Rechtsentwicklung in der
Einwanderungsgesellschaft Deutschland (Dezember 2016) heißt es
diesbezüglich auf Seite 215 des Berichts in der Langfassung wie
folgt:
Muslimfeindlichkeit und
Islamkritik
Das Phänomen
Muslimfeindlichkeit wurde im Neunten
Lagebericht ausführlich dargestellt. Muslimfeindliche und
islamkritische Einstellungen in der Bevölkerung haben sich im
Berichtszeitraum weiter gefestigt. Im Berichtszeitraum
hat die Friedrich-Ebert-Stiftung in einer weiteren
»Mitte-Studie« differenziert muslimfeindliche und islamkritische
Einstellungen untersucht. Nach der Studie teilen 50 % bis 60 %
der Befragten muslimfeindliche Aussagen. Noch höher sind die
Werte bei der Islamkritik. Die Zustimmungswerte liegen bei weit
über 60 %. Nach den Ergebnissen des im Jahr 2013 von der
Bertelsmann Stiftung veröffentlichten Religionsmonitors wird der
Islam in Westdeutschland von 49 %, in Ostdeutschland sogar von
57 % der Befragten als Bedrohung wahrgenommen.
Auswirkungen des
Bildungsgrades auf die Einstellung sind nur bei der
Muslimfeindlichkeit festzustellen.
-
88,1 % der
muslimfeindlich eingestellten Befragten haben einen
niedrigen Bildungsgrad.
-
Mit steigendem
Lebensalter ist auch ein Anstieg der Muslimfeindlichkeit
festzustellen.
-
Bei der Islamkritik
sind die Zustimmungswerte durch alle Altersgruppen und
Bildungsgrade hindurch gleichmäßig verteilt.
-
Die höchste Zustimmung
ist nach dieser Studie in Ostdeutschland festzustellen.
-
Interessant ist die
Feststellung der Studie, dass die Muslimfeindlichkeit mit
den Einkommensgruppen steigt, wie auch die Islamkritik die
höchsten Zustimmungswerte bei den Höherverdienenden findet.
Nach Auffassung der
Beauftragten sollten muslimfeindliche Einstellungen weiterhin
wissenschaftlich erforscht und ausgewertet werden. [En21]
21
[Hinweis:]
Wissenschaft war noch nie dazu in der Lage, die »Wahrheit« zu
erkennen. Nicht einmal die Physiker behaupten, dass ihre
Forschungsergebnisse wahr sind. So lange, wie ihre
Forschungsergebnisse nicht mit der herrschenden Theorie in
Konflikt geraten, ist auch die wissenschaftliche Welt von Physikern
in Ordnung. Sollte sich in Zukunft etwas daran ändern, dann wird
halt eine alte Theorie aufgegeben und an eine neue Theorie
geglaubt.
Zurzeit scheint die Welt
sogar bei den Gipfelstürmern
der Naturwissenschaft in Unruhe geraten zu sein, denn
einige Forschungsergebnisse wollen sich einfach nicht mit der
Theorie vertragen, die man für die Wahrheit hält. Übrigens, die
wissenschaftliche Theorie der Physik basiert auf den bekannten 5
Prozent erkennbarer Materie, wohl wissend, dass die 95 Prozent
schwarze Materie, die nach der herrschenden Theorie existieren muss, bisher
aber noch von keinem Physiker verifiziert werden konnte.
Wie dem auch immer sei.
Wissenschaftler, die auf der Grundlage von Meinungsumfragen und
mit Hilfe von Fragebögen »gesellschaftliche Wahrheiten« valide
erheben
wollen, haben es ungleich schwieriger, denn wer stellt schon die
richtigen Fragen? Und vor allen Dingen, wie formuliert man die?
Populistisch, so dass sie jeder versteht, oder in soziologischen
Fachjargon, dessen Vokabular von Schule zu Schule
unterschiedliche Bedeutungsinhalte hat?
Übrigens:
In einer am 14.12.2016
veröffentlichten Studie des Meinungsforschungsinstitut Ipsos
schätzten die Befragten den prozentualen Anteil von Muslimen an
der Gesamtbevölkerung im Durchschnitt auf 21 Prozent.
Tatsächlich liegt er aber nur etwas über 5 Prozent. [En22]
22
05
Wiedergeburt romantischer Staatsphilosophien in Deutschland?
Die folgenden Ausführungen
gehen der Frage nach, welche staatsphilosophischen
Vorstellungen über das Volk und die Nation heute
auch in Deutschland wieder salonfähig werden. Es handelt sich dabei um Vorstellungen, die vor mehr als 200 Jahren erdacht
wurden, sich als zukunftsuntauglich erweisen haben und nachweislich den Weg in die
beiden großen Weltkriege des 20. Jahrhunderts vorbereiteten.
[Hinweis:] Um die
Fehler der Vergangenheit nicht noch einmal zu begehen, ist es
unverzichtbar, sich mit den staatsphilosophischen Vorstellungen
der Aufklärung zumindest punktuell
auseinanderzusetzen.
Mit anderen Worten:
Was für eine Philosophie
verbirgt sich hinter den Worten Volk, Nation und Staat?
[Montesquieu:]
Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède de Montesquieu,
bekannt unter dem Namen Montesquieu (1689-1755) verstand unter
einer Nation einen Organismus mit einer bestimmten Wesensgestalt
(esprit générale).
Mehrere Dinge, so seine Überzeugung, bestimmen die Wesensart der Menschen.
Dazu gehört das Klima, die Religion, die Gesetze, die Grundsätze
der Regierung, die Vergangenheit, die Sitten und die
Verhaltensweisen der Menschen, die sich zu dieser Wesensgestalt
zusammengefunden haben.
[Möser:] Justus
Möser (1720-1794), ein deutscher Staatsmann und Philosoph, griff
die Vorstellungen Montesquieus auf und vertiefte diese in seiner
»Osnabrücker Geschichte«.
Eine Nation, das war für
Justus Möser:
-
Die Einheit von
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
-
Der organische
Zusammenhang aller Teile zu einem Ganzen, in dem aber auch
der Einzelne ohne das Ganze nicht zu existieren vermochten
-
Die Einheit des Ganzen,
so Möser,
besteht in der Vielfalt seiner Bürger
-
Diese denken deutsch,
handeln deutsch sind deutsch.
Justus Möser verstand
die Nation als eine Art Traditionsgemeinschaft. [En23]
23
[Herder:] Auch
Johann Gottfried von Herder (1744-1803) stimmte mit der
Montesquieu-Möserschen Idee der Nation weitgehend überein. Er
schrieb zum Beispiel: Eine Gemeinschaft ohne Gemeingeist krankt
und stirbt; ein Vaterland ohne Einwohner, die es lieben, wird
zur Wüste. Dieser Gemeingeist, also der esprit général, sei
durch das Volk und seinen besonderen Charakter geprägt. Jedes
Volk habe seine Regel des Rechts und sein Maß an Glückseligkeit
in sich.
Für Herder war der
»natürliche Staat« ein Volk mit einem Nationalcharakter. Was das
deutsche Volk betreffe, so bestehe es zwar aus vielen Völkern,
nämlich Stämmen, aber es gäbe dennoch einen deutschen
Nationalgeist und diesen werde es auf ewigen Zeiten geben. Und
in Bezug auf die Sprache schreibt Herder: Die Sprache drückt den
Charakter einer Nation aus. [En24] 24
[W. v.
Humboldt:] Wilhelm von Humboldt (1767-1835), preußischer
Gelehrter und Staatsmann, ging mit seinen Vorstellungen über
Staat und Nation noch einen Schritt weiter. Für ihn waren Staat
und Nation Naturprodukte. Naturprodukte, denen eine besondere
geistige Verfassung ebenso eigentümlich ist, wie Menschen
bestimmte Fähigkeiten und Eigenschaften angeboren sind.
Dazu gehören u.a.:
-
Denk- und
Empfindungskräfte der Menschen
-
Gemeinsame
Vorstellungen hinsichtlich Religion, Verfassung,
öffentliches, häusliches und einsames Leben als
Schriftsteller, Künstler, Maler etc.
Die Nationen haben, so
Humboldt, wie die Individuen, ihre durch keine Politik
abzuändernden Richtungen, die sozusagen als von vornherein als
Ganzes angelegt sein müssen, auch wenn sie sich, wie wachsende Pflanzen, erst im Laufe der Zeit voll entfalten
können.
Nationen, das waren für Humboldt »göttliche Naturprodukte«.
[Fichte:] Johann
Gottlieb Fichte (1762-1814) war der wohl wichtigste Vertreter
des deutschen Idealismus. Er kam zu der Einsicht, dass im
Werdeprozess einer Nation die gemeinsame Sprache das Ergebnis
einer Nationalerfahrung sei.
Das Volk, so Fichte, das
aus diesem Born (gemeint ist die gemeinsame Sprache) ungestört
schöpft, ist zugleich im Besitz der wahren Freiheit, nämlich
eines unverfälschten Selbstseins. Freiheit sei ja nicht mit
einem unentschiedenen Wanken und Schwanken zu verwechseln. Nur
der, dessen von seiner Sprache bestimmtes Leben unmittelbar aus
Gott geworden ist, der ist frei und glaubt an Freiheit in sich
und anderen.
Am Ende überschlägt sich
aber auch Fichtes verstiegener Nationalismus, wenn er am
deutschen Wesen die Welt »genesen« lassen möchte. [En25]
25
In seinen berühmten »Reden
an die deutsche Nation«, die er 1807 und 1808 gehalten wurden,
äußerte sich Fichte zum Wesen einer Nation.
Seine siebte Rede
trägt die Überschrift: Noch tiefere Erfassung
der Ursprünglichkeit und Deutschheit eines Volkes
Dort
heißt es, dass »der Geist des Auslandes auch in unser
gewöhnliches [deutsches] Leben und [in] die Regeln desselben
[einfließt]; damit aber dieses klar, und das Vorhergehende noch
klarer werde, ist es nötig, zuvörderst das Wesen des
ursprünglichen [deutschen] Lebens oder der [deutschen] Freiheit
mit tieferem Blicke zu durchdringen.« [En26] 26
Und in seiner vierzehnten
Rede, der Schlussrede heißt es:
»Die
alte Welt mit ihrer Herrlichkeit und Größe, so wie mit ihren
Mängeln ist versunken, durch die eigne Unwürde
und durch die Gewalt eurer Väter. Ist in dem, was in diesen
Reden dargelegt worden Wahrheit, so seid unter allen neueren
Völkern ihr es, in denen der Keim der menschlichen
Vervollkommnung am entschiedensten liegt, und denen der
Vorschritt in der Entwicklung derselben
aufgetragen ist. Gehet ihr in dieser eurer
Wesenheit zu Grunde, so gehet mit euch
zugleich alle Hoffnung des gesamten Menschengeschlechts auf
Rettung aus der Tiefe seiner Übel zu Grunde. Es ist daher kein
Ausweg: Wenn ihr versinkt, so versinkt die ganze Menschheit mit,
ohne Hoffnung einer einstigen Wiederherstellung.« [En27]
27
[Novalis:] Novalis,
eigentlich Georg Philipp Friedrich von Hardenberg (1772-1801),
ein deutscher Philosoph und Schriftsteller der Frühromantik,
verstand Staat und Nation ebenfalls als einen individuellen
Organismus. Das Verhältnis der Bürger zum Staat war für ihn
durch die Andacht zum Altertum, die Anhänglichkeit an die
geschichtliche Verfassung, die Liebe zu den Denkmälern der
Altväter und der alten glorreichen Staatsfamilie geprägt. Es
wird eine Zeit kommen und das bald, so Novalis, wo man allgemein
überzeugt sein wird, dass ein König ohne Republik, und eine
Republik ohne König nur Worte ohne Bedeutung sind.
Novalis war aber auch wohl
der Erste, der auf der Grundlage der christlichen Religion das
Abendland in all seiner Mannigfaltigkeit als eine europäische
einheitliche Kulturgestalt herbeisehnte. Novalis vertrat die
Auffassung, dass
so lange Blut über Europa strömen werde, bis die Nationen ihren
fürchterlichen Wahnsinn erkennen werden (gemeint sind die vielen
Kriege). Nur die Religion kann Europa wieder aufwecken und die
Völker sichern, und die Christenheit mit neuer Herrlichkeit
sichtbar auf Erden in ihr altes friedensstiftendes Amt
installieren. [En28] 28
[Schleiermacher:]
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834), ein
evangelischer Theologe und Philosoph, war einer der
wichtigsten Autoren seiner Zeit.
Jedes Volk stellt für ihn
eine besondere Seite des göttlichen Ebenbildes dar. Nur wer in
Liebe am eigenen Volke hängt, wird auch die anderen zu schätzen
wissen, die in Liebe an ihrem, dem anderen Volk hängen. [En29]
29
[Müller:] Die
»Elemente der Staatskunst« von Adam Heinrich Müller (1779-1829, der zu den bedeutendsten Vertretern der romantischen
Staats- und Gesellschaftslehre zu zählen ist, gehören sozusagen
zum Höhepunkt der romantischen Staatsphilosophie.
Unter Berufung
auf Aristoteles vertritt Müller folgende Positionen:
Der Mensch existiert nicht
außerhalb des Staates.
Die Existenz der Nation
ist überzeitlich und eng mit der Idee der Familie
verbunden.
Die Nation hat auch etwas Dynamisches, das niemals auf starre, fest
umrissene Begriffe reduziert werden kann. Man wird ihr daher nur
dann gerecht, wenn man sie in ihrer Bewegung begreift, und das
ist - nach Müller - nur auf eine Weise denkbar: in der Idee.
Nur die Idee erfasse die
Dialektik von Wechsel und Dauer, erfasse die Dialektik des
Fließenden.
Jeder Staat bedarf, so
Müller, um sich selbst zu fühlen, um sich selbst zu erkennen und
um sich selbst zu messen, beständig seinesgleichen. Damit es
einen Staat, damit es einen Menschen geben könne, sind mehrere
Staaten und mehrere Menschen nötig. So muss es mehrere Staaten
geben und einen nie nachlassenden lebendigen Umgang dieser
Staaten.
Alle Staaten sollen
unabhängig und frei sein wie die Individuen im einzelnen Staate
in ihren eigentümlichen, nationalen Formen und wie Menschen sollen
sie wachsen und leben. Müller vertritt die Auffassung, dass der Staat nur im
nationalen Gemeinsinn die Garantie seiner Dauer hat, was das
Vorhandensein tiefer innerer Bindungskräfte voraussetzt. [En30]
30
Aphorismen von Adam
Heinrich Müller:
Der folgende Spruch
von Adam Heinrich Müller schmeichelte im besonderen Maße der deutschen Seele und schürte
Ängste bei unseren Nachbarn.
»Der
große Föderalismus europäischer Völker, welcher dereinst kommen
werde, so wahr wir lebten, werde auch deutsche Farben tragen,
denn alles Große, Gründliche und Ewige in allen europäischen
Institutionen sei ja deutsch.«
[Hegel:] Für Georg
Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) deutscher Philosoph und
einer namhafter Vertreter des deutschen Idealismus war die
Existenz einer Einzelperson ohne deren Relation zu anderen
Personen genauso undenkbar, wie der Staat als staatliches
Individuum im Verhältnis zu anderen Staaten.
Das Leben eines Volks, so
Herder, bringt eine Frucht zur Reife; denn seine Tätigkeit geht
dahin, sein Prinzip zu vollführen. Und in Anlehnung an den
Werdeprozess einer Pflanze heißt es bei Herder, dass zum Werden
und Erblühen auch das Absterben und Vergehen gehört. [En31]
31
Mit anderen Worten:
Herder ging davon aus,
dass Staaten sich bilden, wachsen und gedeihen aber irgendwann
auch absterben und vergehen.
[300 Jahre Leibnitz:]
2016 jährte sich der Todestag von Gottfried Wilhelm Leibniz
(1646-1716) zum 300. Mal. Es ist somit angemessen, diesem
Vordenker der Aufklärung und dem letzten deutschen
Universalgelehrten, sozusagen das letzte Wort zum Schicksal
Deutschlands zu gewähren.
Obwohl Leibnitz ein
leidenschaftlicher Patriot war, verfiel er dennoch nicht dem
machiavellistischen Nationalmythos, weil er zugleich auch Europa
als Ganzes stets im Auge behielt.
Für Leibnitz war nämlich das
Schicksal Europas mit dem Schicksal Deutschlands aufs engste
verflochten.
Europa kann, so seine visionäre Einsicht, ohne
seine kraftvolle Mitte (Deutschland) zu keiner Blüte gelangen,
aber auch Deutschland kann ohne Europa nicht das werden, was es
sein soll.
05.1
Nationalromantik, die sich schon einmal zum Albtraum entwickelte
TOP
Die Staatsrechtler und
Philosophen der Romantik schufen die Voraussetzungen dafür, dass
sich nicht nur ein Nationalbewusstsein, sondern auch ein
gesteigertes und überzogenes Nationalbewusstsein entwickeln
konnte.
Ohne die grundlegenden
Aussagen einer romantischen und idealisierten Staatsphilosophie
über das Volk, den Staat und die Nation, wären die Auswüchse
nationalen Wahns nicht möglich gewesen.
Das gilt auch für die
Rassenlehre.
Im Folgenden soll
nationales Denken, das die romantische Staatsphilosophie
vorbereitete, am Beispiel des Philosophen Friedrich Nietzsche
fortgeführt und die sich daraus ergebenden katastrophalen Folgen
im Anschluss daran an zwei Diktatoren aufgezeigt werden, denen
es gelang, sich das überhöhte Nationalbewusstsein der Völker
nutzbar zu machen, die diese Diktatoren - um jeden Preis - in
eine »goldene« Zukunft führen wollten«, was ihnen aber nicht
gelang.
Näheres dazu in den
folgenden Randnummern.
05.2
Nietzsches Übermensch
TOP
Obwohl Friedrich
Nietzsches Sprache gewöhnungsbedürftig ist, wird schnell
deutlich, dass Nietzsche (1844-1900) sich mit grundlegenden
staatstragenden Begrifflichkeiten auseinandersetzte:
[Jenseits von Gut und
Böse:] Worte sind Tonzeichen für Begriffe; Begriffe aber
sind mehr oder weniger bestimmte Bildzeichen für oft
wiederkehrende und zusammenkommende Empfindungen, für
Empfindungs-Gruppen. Es genügt noch nicht, um sich einander zu
verstehen, dass man dieselben Worte gebraucht: Man muss
dieselben Worte auch für dieselbe Gattung innerer Erlebnisse
gebrauchen, man muss zuletzt seine Erfahrung miteinander gemein
haben. Deshalb verstehen sich die Menschen eines Volkes besser
untereinander, als die Zugehörigen verschiedener Völker, [die in
einem Staat zusammenleben], selbst wenn sie sich der gleichen
Sprache bedienen. [...]. Wenn Menschen lange unter ähnlichen
Bedingungen (des Klimas, des Bodens, der Gefahr, der
Bedürfnisse, der Arbeit) zusammengelebt haben, so entsteht
daraus »Etwas«, das »sich versteht«, ein Volk. In allen Seelen
[dieses Volkes] hat eine gleiche Anzahl oft wiederkehrender
Erlebnisse die Oberhand gewonnen. [...] Die Geschichte der
Sprache ist die Geschichte eines Abkürzungs-Prozesses. Auf dies
schnelle Verstehen hin verbindet man sich, enger und immer
enger. Je größer die Gefährlichkeit, um so größer ist das
Bedürfnis, schnell und leicht über »das, was nottut«
übereinzukommen; sich in der Gefahr nicht misszuverstehen, das
ist es, was die Menschen [...] schlechterdings nicht entbehren
können. [En32] 32
[Das Wesen des
Menschen:] Nach Nietzsche ist darunter dessen Willen zur
Macht zu verstehen. Der ständige Kampf der Starken mit den
Schwachen, verbunden mit der Ablehnung der Demokratie, denn die
erzeugt nach Überzeugung Nietzsches nur ein Mittelmaß.
Was Nietzsche tatsächlich
einfordert, das beschreibt er in seinem Essay »Genealogie der
Moral«.
Als Extrakt aus diesem
Essay reicht eigentlich ein Wort aus: Herrenmensch.
[Genealogie der Macht:]
Im vierten Kapitel dieses Essays heißt es: »Ich gebrauchte das
Wort »Staat«: Es versteht sich von selbst, wer damit gemeint ist
– irgendein Rudel blonder Raubtiere, eine Eroberer- und
Herren-Rasse, welche, kriegerisch organisiert und mit der Kraft,
zu organisieren, unbedenklich ihre furchtbaren Tatzen auf eine
der Zahl nach vielleicht ungeheuer überlegene, aber noch
gestaltlose, noch schweifende Bevölkerung legt. Dergestalt
beginnt ja der »Staat« auf Erden: Ich denke, jene Schwärmerei
ist abgetan, welche ihn [den Staat] mit einem »Vertrage«
beginnen ließ. Wer befehlen kann, wer von Natur »Herr« ist, wer
gewalttätig in Werk und Gebärde auftritt – was hat der mit
Verträgen zu schaffen! Mit solchen Wesen rechnet man nicht, sie
kommen wie das Schicksal, ohne Grund, Vernunft, Rücksicht,
Vorwand, sie sind da, wie der Blitz da ist, zu furchtbar, zu
plötzlich, zu überzeugend, zu »anders«, um selbst auch nur
gehasst zu werden. [En33] 33
Und in seinem Essay »Die
Geburt der Tragödie« heißt es:
Jene neue Partei des
Lebens, welche die größte aller Aufgaben, die Höherzüchtung der
Menschheit in die Hände nimmt, eingerechnet die schonungslose
Vernichtung aller Entartenden und Parasitischen, wird jenes
Zuviel von Leben auf Erden wieder möglich machen, aus dem auch
der dionysische Zustand (hier im Sinne von
Männlichkeitskonstruktion = AR) wieder erwachsen muss. [En34]
34
Und in Nietzsches Nachlass
aus den Achtzigerjahren heißt es:
Der große Mensch fühlt
seine Macht über ein Volk, [...] es drängt ihn nach Mitteln der
Mitteilung. Alle großen Menschen sind erfinderisch in solchen
Mitteln. Jene ungeheure Energie der Größe zu gewinnen, um, durch
Züchtung und andrerseits durch Vernichtung von Millionen
Missratener, den zukünftigen Menschen zu gestalten und nicht
zugrunde zu gehn an dem Leid, das man schafft und dessen
gleichen noch nie da war! [En35] 35
[Anmerkung:] Bei
der kurzen folgenden Auseinandersetzung mit dem desaströsen Wirken zweier
Staatsmänner (Hitler und Stalin) drängt sich sozusagen der
Gedanke auf, dass sie Nietzsche nicht nur gelesen, sondern auch
verinnerlicht hatten. Die Vernichtung Missratener gehörten
sowohl bei Hitler als auch bei Stalin zum politisch gewollten
Programm.
05.3
Hitlers Rassenwahl
TOP
Was Adolf Hitler
(1889-1945) über das deutsche Volk tatsächlich dachte, kann den
folgenden Zitaten aus »Mein Kampf« entnommen werden, die
unkommentiert wiedergegeben werden.
[Seite 197:] Jede
Propaganda hat volkstümlich zu sein und ihr geistiges Niveau
einzustellen nach der Aufnahmefähigkeit des Beschränktesten
unter denen, an die sie sich zu richten gedenkt. Damit wird ihre
rein geistige Höhe um so tiefer zustellen sein, je größer die zu
erfassende Masse der Menschen sein soll.
Handelt es sich aber, wie bei der Propaganda für die
Durchhaltung eines Krieges, darum, ein ganzes Volk in ihren
Wirkungsbereich zu ziehen, so kann die Vorsicht bei der
Vermeidung zu hoher geistiger Voraussetzungen gar nicht groß
genug sein.
[Seite 234:] Volk
und Vaterland für was wir zu kämpfen haben, ist die Sicherung
des Bestehens und der Vermehrung unserer Rasse und unseres
Volkes, die Ernährung seiner Kinder und Reinhaltung des Blutes,
die Freiheit und Unabhängigkeit des Vaterlandes, auf dass unser
Volk zur Erfüllung der auch ihm vom Schöpfer des Universums
zugewiesenen Mission heranzureifen vermag.
[Seite 444:] Nein,
es gibt nur ein heiligstes Menschenrecht, und dieses Recht ist
zugleich die heiligste Verpflichtung, nämlich: dafür zu sorgen,
dass das Blut rein erhalten bleibt, um durch die Bewahrung des
besten Menschentums die Möglichkeit einer edleren Entwicklung
dieser Wesen zu geben. Ein völkischer Staat wird damit in erster
Linie die Ehe aus dem Niveau einer dauernden Rassenschande
herauszuheben haben, um ihr die Weihe jener Institution zu
geben, die berufen ist, Ebenbilder des Herrn zu zeugen und nicht
Missgeburten zwischen Mensch und Affe.
[Seite 446:] Er
[der Staat = AR] hat
die Rasse in den Mittelpunkt des allgemeinen Lebens zu setzen.
Er hat für ihre Reinhaltung zu sorgen. Er hat das Kind zum
kostbarsten Gut eines Volkes zu erklären. Er muss dafür Sorge
tragen, dass nur, wer gesund ist, Kinder zeugt; dass es nur eine
Schande gibt: bei eigener Krankheit und eigenen Mängeln dennoch
Kinder in die Welt zu setzen; doch eine höchste Ehre: darauf zu
verzichten. Umgekehrt aber muss es als verwerflich gelten,
gesunde Kinder der Nation vorzuenthalten. Der Staat muss dabei
als Wahrer einer tausendjährigen Zukunft auftreten, der
gegenüber der Wunsch und die Eigensucht des Einzelnen als nichts
erscheinen und sich zu beugen habe.
[Seite 474:] Wer
sein Volk liebt, beweist es einzig durch die Opfer, die er für
dieses zu bringen bereit ist. Nationalgefühl, das nur auf Gewinn
ausgeht, gibt es nicht. Nationalismus, der nur Klassen
umschließt, gibt es eben so wenig. Hurraschreien bezeugt nichts
und gibt kein Recht, sich national zu nennen, wenn dahinter
nicht die große lebende Sorge für die Erhaltung eines
allgemeinen, gesunden Volkstums steht. Ein Grund zum Stolz auf
sein Volk ist erst dann vorhanden, wenn man sich keines Standes
mehr zu schämen braucht. Ein Volk aber, von dem die eine Hälfte
elend und abgehärmt oder gar verkommen ist, gibt ein so
schlechtes Bild, dass niemand Stolz darüber empfinden soll. Erst
wenn ein Volkstum in allen seinen Gliedern, an Leib und Seele
gesund ist, kann sich die Freude, ihm anzugehören, bei
allen mit Recht zu jenem hohen Gefühl
steigern, das wir mit Nationalstolz bezeichnen. Diesen höchsten
Stolz aber wird auch nur der empfinden, der eben die Größe
seines Volkstums kennt.
[Seite 490:] Der
völkische Staat teilt seine Bewohner in drei Klassen: in
Staatsbürger, Staatsangehörige und Ausländer. [En36]
36
05.4
Stalins Volk im Großen Vaterländischen Krieg
TOP
Es ist unbestritten, dass
Josef Wissarionowitsch Stalin (1878-1953) den Leninismus
weiterentwickelte. Das gilt insbesondere für Begriffe wie:
Stalin verwendete diese
Begriffe um aufzeigen zu können, wie sich der Sozialismus zum Kommunismus hin entwickeln sollte.
»In Bezug auf die Lehre
vom Staat hat Stalin gezeigt, dass die Engels´sche Formel vom
»Aussterben« des Staates zwar richtig, ist, aber den Sieg des
Sozialismus in der ganzen Welt voraussetzt: Solange die
»kapitalistische Einkreisung« andauert, so Stalin, ist auch die
Beibehaltung des Staatsapparates nötig; unter dieser
Voraussetzung aber ist die Errichtung des Kommunismus auch in
nur einem Lande möglich.«
Und an anderer Stelle
heißt es:
»Die
Aufrechterhaltung des Sozialismus in der UdSSR bedeutet völlige
Vernichtung aller ausbeutenden Klassen (als Letzter des
»Kulakentums« auf dem Lande); die sozialistische Gesellschaft
der Sowjetunion besteht dann nur noch aus zwei Klassen, aus der
Arbeiterschaft und dem Bauerntum; zwischen diesen beiden besteht
jedoch kein Antagonismus, da ihre Natur eine grundlegende
Umformung erfahren hat; die Sowjetintelligenz bildet keine
eigene Klasse mehr. Erst in Zukunft unter dem Kommunismus werden
die Klassenunterschiede gänzlich beseitigt sein.« [En37]
37
[Der Große
Vaterländische Krieg:] Mit solchen abstrakten Gedanken
ließen sich aber im Vielvölkerstaat der Sowjetunion die dort
lebenden Menschen nicht dazu bewegen, im »Großen Vaterländischen
Krieg 1941 - 1945« zu Millionen ihr Leben zu opfern.
Dazu bedurfte es einer
anderen Propaganda und eines anderen Bedeutungsinhalts von Staat
und Nation, einer Propaganda, die der russischen Seele
entsprach.
[Stalins
Nationenbegriff:] Den für den »Großen Vaterländischen Krieg«
benötigten volkstauglichen Nationenbegriff definiert Stalin in
seinem Werk »Marxismus und nationale Frage« wie folgt:
»Eine Nation ist eine historisch entstandene stabile
Gemeinschaft von Menschen, entstanden auf der Grundlage der
Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, des
Wirtschaftslebens und der sich in der Gemeinsamkeit der Kultur
offenbarenden psychischen Wesensart.« [En38] 38
Das verstanden auch die
einfachen Bauern.
Auffallend ist, dass
dieser Nationenbegriff mehr oder weniger deckungsgleich ist mit
den Vorstellungen, die bereits Adam Heinrich Müller, Ritter von
Nitterdorf (1779 - 1829), deutscher Staats- und
Wirtschaftsphilosoph und bedeutendster Vertreter der
romantischen Staats- und Gesellschaftslehre, mehr als 100 Jahre
zuvor beschrieben hatte. Auch für Adam Heinrich Müller stand
fest, dass der Mensch nicht außerhalb des Staates zu denken ist.
Die Nation wird von Stalin
als ein Ganzes dargestellt, innerhalb dessen Klassen und
Klassengegensätze auftreten. Gäbe es dieses in der Sprache und
in der Nation manifeste Ganze nicht, würde sich überhaupt keine
Gesellschaft konstituieren, nicht einmal eine in sich
widersprüchliche.
Die geschichtliche
Entwicklung der Erkenntnis [darüber, was unter einer Nation zu
verstehen ist = AR] bedingt eine stets fortschreitende
inhaltliche Bereicherung des Begriffes, d.h. eine ständig
anwachsende Konkretisierung, denn der Atombegriff der heutigen
Physik unterscheidet sich zum Beispiel vom Atombegriff der alten
Griechen nicht nur durch einen größeren Inhalt, sondern auch
durch größere Tiefe und Bestimmtheit. [En39] 39
[Fazit:] Auch
Stalin räumte dem nationalen Faktor eine besondere Bedeutung
ein. Für heldenhafte Taten an der Front wurden im Großen
Vaterländischen Krieg die Soldaten mit dem »Orden des
Vaterländischen Krieges« auch »Kriegsorden der UdSSR« benannt,
ausgezeichnet, die sich unter Einsatz ihres Lebens dem Feind
entgegengeworfen hatten. Diese Auszeichnung wurde am 20. Mai
1942 durch das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR
beschlossen.
06
Rückkehr des Nationalstaates?
TOP
George Santayana
(1863-1952) schrieb: »Wer sich nicht an die Vergangenheit
erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.« (Those
who cannot remember the past are condemned to repeat it.) [En40]
40
Santayana ging sogar noch
weiter und forderte seine Leser eindringlich dazu auf, sich an
die gesellschaftlichen Irrtümer zu erinnern, damit sie sich
nicht wiederholen müssen. Für gleichermaßen verwerflich hielt
es Santayana aber auch, die gesellschaftlichen Erfolge zu
ignorieren.
Zurzeit scheint es sowohl
am Erinnerungsvermögen an die deutsche Geschichte als auch an
der Einsicht zu fehlen, dass 70 Jahre Frieden in Europa nach dem
Ende des II. Weltkrieges, in Europa wirklich Seltenheitswert
haben.
Wie dem auch immer sei.
Es reicht einfach nicht
aus, lediglich drauf hinzuweisen, dass nationales Denken
eines aufgeklärten, weltoffenen Menschen unwürdig ist und somit
höchstens den bornierten Mythen der Vergangenheit angehören
kann, denn der Nationalstaat ist, so wie er oben beschrieben
wurde, als durch die »Geschichte widerlegt« anzusehen.
Trotzdem bewegt nationales
Denken zurzeit die Menschen nicht nur in Europa, sondern auch in
Deutschland.
Und auch der 45. Präsident der USA, Donald J. Trump, sagte
anlässlich seiner Vereidigung am 20.01.2017:
America first.
Wie dem auch immer sei.
Tatsache ist, dass die
Globalisierung zunehmend auf Widerstände stößt und auch die
Zivilgesellschaften im Westen erkennen, dass eine Welt ohne
Grenzen irgendwie doch nicht so funktionieren will, wie das die
Marketingmanager der Globalisierung immer noch zu vermitteln versuchen: Die
Welt ist ein (kein) Dorf und wir haben (nicht) alles (nicht
einmal das Meiste) fest im
Griff.
Richtiger ist:
Die Welt ist in Unordnung.
Sie befindet sich in einem Krisenmodus, der Menschen dazu
bewegt, sich wieder ihrem Volk, ihrer Nation, ihrer
Wertegemeinschaft anschließen zu wollen, weil sie erahnen, dass
die Krise nur gemeinsam bewältigt werden kann.
Die Wirklichkeit, die wir
Staat nennen, ist aber nicht die natürlich entstandene
Gemeinschaft von Menschen, die durch Blutsverwandtschaft
verbunden sind, denn »der Staat fängt an, wenn durch Geburt
getrennte Gruppen zum Zusammenleben gezwungen werden. Dieser
Zwang ist keine nackte Gewalt; er setzt vielmehr als treibende
Kraft ein gemeinsames Vorhaben voraus, eine Aufgabe, die den
zerstreuten Gruppen gestellt wird. Vor allem aber ist der Staat
das Projekt und Programm einer Zusammenarbeit. Man ruft die
Leute, damit sie gemeinsam etwas tun. Der Staat ist weder
Blutsverwandtschaft, noch sprachliche oder territoriale Einheit
noch Nachbarschaft der Wohnplätze. Er ist nichts Materielle,
Ruhendes, Gegebenes und Begrenztes. Er ist ein reines
Kräftespiel - der Wille, etwas gemeinsam zu tun - und darum ist
der Staatsidee keine physische Grenze gesetzt. Er steigt und fällt. Das
ist der Staat.« (Das Nationale - Kurt Hübner - S. 193/194).
Dennoch:
Der Staat ist immer,
welches auch seine Verfassung sei, ob primitiv, mittelalterlich
oder modern, eine Einladung, die eine Gruppe von Menschen an
andere menschliche Gruppen zur gemeinsamen Ausführung eines
Unternehmens ergehen lässt. Dieses Unternehmen besteht letzten
Endes, wie immer seine Zwischenstufen auch sein mögen, darin,
eine gewisse Art des Gemeinschaftslebens zu schaffen.
[Renan:] Am 11.
März 1882 hielt Ernest Renan in der Sorbonne einen Vortrag zum
Thema:
Was ist eine Nation?
Eine Nation ist eine
Seele, ein geistiges Prinzip. Zwei Dinge, die in Wahrheit nur
eins sind, machen diese Seele, dieses geistige Prinzip aus.
Eines davon gehört der Vergangenheit an, das andere der
Gegenwart. Das eine ist der gemeinsame Besitz eines reichen
Erbes an Erinnerungen, das andere ist das gegenwärtige
Einvernehmen, der Wunsch zusammenzuleben, der Wille, das Erbe
hochzuhalten, welches man ungeteilt empfangen hat. Der Mensch
improvisiert sich nicht. Wie der Einzelne ist die Nation der
Endpunkt einer langen Vergangenheit von Anstrengungen, von
Opfern und von Hingabe. Der Kult der Ahnen ist von allen am
legitimsten; die Ahnen haben uns zu dem gemacht, was wir sind.
Eine heroische Vergangenheit, große Männer, Ruhm (ich meine den
wahren) - das ist das soziale Kapital, worauf man eine nationale
Idee gründet. Gemeinsamer Ruhm in der Vergangenheit, ein
gemeinsames Wollen in der Gegenwart, gemeinsam Großes vollbracht
zu haben und es noch vollbringen wollen - das sind die
wesentlichen Voraussetzungen, um ein Volk zu sein. [En41]
41
[Anmerkung:] Bei so
viel Romantik fließt einem ja schlichtweg das Herz über. Im
Übrigen wäre es richtiger, in der Rede von Ernest Renan den
Chauvinismus der damaligen Zeit nicht nur zu erkennen, sondern
auch beim Namen zu benennen.
Chauvinismus, darunter ist ein
aggressiv übersteigerter Nationalismus [militaristischer
Prägung] verbunden mit Nichtachtung anderer Nationalitäten zu
verstehen (Duden). Dieses Denken bestimmte die Epoche des
europäischen Imperialismus (1882- 1914), nicht nur in
Frankreich, sondern überall in Europa. In einem Gedicht von
Emanuel Geibel »Deutschlands Beruf« aus dem Jahre 1861 heißt es
im Schlusssatz:
»Und es mag am deutschen
Wesen, einmal noch die Welt genesen.«
Diese Denkweise war der
perfekte Nährboden für zukünftige Konflikte innerhalb Europas.
Auch die Franzosen hielten sich für eine überlegene Rasse und
eine überlegene Zivilisation. Auch französische Patrioten waren
davon überzeugt: so viele Frankreich, wie es nur eben geht.
Noch einmal José Ortega y
Gasset:
»Wenn die Nation nur aus Vergangenem und Gegenwärtigem bestünde,
würde sich niemand damit befassen, sie gegen einen Angriff zu
verteidigen. Die das Gegenteil behaupten, sind Heuchler oder
Narren. Wir wollen eine Zukunft, in der unsere Nation
weiterbesteht, darum rühren wir uns zu ihrer Verteidigung und
nicht des Blutes, der Sprache oder der gemeinsamen Vergangenheit
wegen. Wenn wir unsere Nation verteidigen, dann verteidigen wir
unser Morgen, nicht unser Gestern.«
[En42] 42
06.1
Wir sind das Volk
TOP
Wenn wir ehrlich sind,
dann haben die politischen Philosophen der Gegenwart in
Deutschland, gemeint sind aber auch die Staatsrechtler, die
Soziologen und die Politiker, nach dem Ende des II. Weltkrieges
Begriffe wie »Volk« und »Nation« weitgehend verdrängt.
Stattdessen sprach und schrieb man lieber von der
»Zivilgesellschaft«.
Das, was die Romantiker über den Staat gedacht
und geschrieben hatten existierte einfach gar nicht mehr, denn
das, was der Nationalsozialismus mit Begriffen wie »Volk« und
»Nation« angerichtet hatte, machte diese Begriffe nicht nur zu
unwissenschaftlichen, sondern zu eher anstößlichen Begriffen.
Heute wendet sich das
Blatt.
Mit anderen Worten:
Die Idee der Nation war
und sollte der blinde Fleck in der politischen
Auseinandersetzung in der Gegenwart bis zur Wiedervereinigung
Deutschlands beleiben, denn dieses historische Ereignis förderte auf
einmal ein Vokabular an die Oberfläche auf dem bis dahin »still
ruhenden See«, der der Weltöffentlichkeit zeigte, dass die
Menschen »hüben wie drüben«, sich tortz einer Jahrzehnte
dauernden Trennung immer noch als eine Nation verstanden.
Wir sind das Volk!
Wann diese Parole in der
ehemaligen DDR wirklich erstmalig öffentlich skandiert wurde,
mögen die Historiker herausfinden. Tatsache ist, dass am Montag,
den 9. Oktober 1989, in Leipzig 3100 Volkspolizisten, acht
Hundertschaften Kampfgruppen, alle Mitarbeiter der
Staatssicherheit und 5000 »gesellschaftliche Kräfte« von der
Staatsmacht aufgeboten worden waren, um die zu erwartende
neuerliche Montagsdemonstration aufzuhalten, »wenn es sein muss,
mit der Waffe in der Hand«. Doch gegen 70.000 Demonstranten war
man machtlos. Sie stellten erstens klar: »Wir sind keine
Rowdys!«, um dann hinzuzufügen: »Wir sind das Volk!« [En43]
43
Das war der Vorabend des
Mauerfalls.
Video bei YouTube
Wir sind das Volk – Leipzig im Oktober 1989
[Grundgesetz 1949:]
Im Mai 1949 ging es im Parlamentarischen Rat darum im
Grundgesetz eine Formulierung zu finden, die dazu geeignet war,
die nationale Zugehörigkeit zu einer Nation, die natürlich nur
in enger Wechselwirkung mit anderen Nationen denkbar war,
möglichst unauffällig zum Ausdruck zu bringen.
Im Parlamentarischen Rat
einigte man sich auf folgende Formulierung:
»Im Bewußtsein seiner
Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt,
seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als
gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden
der Welt zu dienen, hat das Deutsche Volk in den Ländern [...]
um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue
Ordnung zu geben, kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses
Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen. Es
hat auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt
war. Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier
Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu
vollenden.«
[Einigungsvertrag
1990:] Im »Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung
der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag) vom 31.08.1990«
wurde die Präambel neu gefasst, siehe
Art 4 Einigungsvertrag (Beitrittsbedingte
Änderungen des Grundgesetzes).
[Gültige Fassung der Präambel gemäß Einigungsvertrag vom
31.08.1990:]
»Im
Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von
dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem
vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das
Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses
Grundgesetz gegeben. Die Deutschen in den Ländern [...] haben in
freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands
vollendet. Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte
Deutsche Volk.«
Im Übrigen verwendet das
Grundgesetz das Wort »Volk« sehr sparsam und zurückhaltend.
Zurück zur Entstehung
der Präambel.
Was die Mitglieder des Parlamentarischen Rates
(65), unter ihnen auch 4 Frauen (6 %) über »Volk« und »Nation«
dachten, kann dem stenographischen Bericht des Parlamentarischen
Rates entnommen werden.
An dieser Stelle seien nur
die Gedanken wiedergegeben, die Theodor Heuss im
Parlamentarischen Rat äußerte.
»Er warnte vor der Gefahr
einer nur »historisch-leitartikelmäßigen Darstellung«, die der
Präambel etwas von der Würde des Bleibenden, Überzeitlichen
raube, und fuhr fort: »In der Theologie gibt es das Wort von dem
»Numinosen«, von dem, was das Geheimnisvolle, das Zeichenhafte
ist. Und etwas Numinoses muss in der Präambel drin sein; um
Gottes willen nicht in der ganzen Verfassung, denn dann
verunklart es die Rechtsdinge, aber gehobene Sprache,
feierlicher Duktus der Worte, Kadenz der Sätze.
Die Präambel
muss eine gewisse Magie des Wortes besitzen.
Man könnte auch von
einer profanen Liturgie sprechen, die in einem solchen
Staatsgrundgesetz ihren Platz finden will. Das Numinos flieht
aber vor einer Ortsbezeichnung wie Bonn, vor einer
Datumsbezeichnung wie dem 1. September 1948 [erste Sitzung des
Parlamentarischen Rates = AR] und vor der Bezeichnung
»Parlamentarischer Rat«. Parlamentarischer Rat ist eine ganz
nette Bezeichnung; aber sie ist doch eigentlich eine historische
Notiz und markiert nur die geschichtliche Situation. Das alles
ist ohne das Sakrale zu wenig.« [En44] 44
Mit anderen Worten:
Die Worte
»Deutsches Volk« enthalten so viel Mythologie,
dass man darin ertrinken kann.
[DDR-Verfassung:]
In der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7.
Oktober 1949 wird das »Volk« 12 Mal und das Wort »Volksteile«
zwei Mal verwendet. Wortverbindungen wie »Volkskammer« oder
»Volkseigentum« oder andere Wortverbindungen werden weitaus
häufiger verwendet.
In der Präambel heißt es:
»Von dem Willen erfüllt, die Freiheit
und die Rechte des Menschen zu verbürgen, das Gemeinschafts- und
Wirtschaftsleben in sozialer Gerechtigkeit zu gestalten, dem
gesellschaftlichen Fortschritt zu dienen, die Freundschaft mit
allen Völkern zu fördern und den Frieden zu sichern, hat sich
das Deutsche Volk diese Verfassung gegeben.«
[Pegida ist nicht
das Volk:] Pegida ist nicht das Volk.
Die Vereinnahmung der Parole »Wir
sind das Volk«durch die »Pegida« ist nicht nur eine
Selbstüberschätzung, sondern auch eine Anmaßung.
»Etwas, das geschichtlichen Atem hat,
geschichtliche Würde und Wichtigkeit, wird nun, 25 Jahre danach,
instrumentalisiert, damit die zornigen Bürger von heute am Glanz
jener deutschen Revolution partizipieren können, sich darin
sonnen und damit dem eigenen Widerstandswunsch Bedeutung
verleihen.
Während im DDR-Widerstand das Wort „Volk“
vertikal definiert war, als Scheidung der vielen da unten von
den wenigen da oben, wird es nun im Sinne einer anderen
Abgrenzung gebraucht. Es spielt Volk gegen Völker aus, das
deutsche Volk gegen andere Völker. Damit verlässt die Parole im
Grunde den Raum der Protestkultur und wird zu einem Statement im
Dienst eines falsch verstandenen Patriotismus.«
[En45] 45
[Hinweis:] PEGIDA,
das ist die Abkürzung für: »Patriotische Europäer gegen die
Islamisierung des Abendlandes«. Auf der Website der
US-Fan-Gruppe für Pegida steht: »Damit der Politik ein Licht
aufgeht.« [En46] 46
06.2
Postfaktisch in die Zukunft
TOP
Am 09.12.2016 hieß es auf
Spiegel.de: »Postfaktisch« ist das Wort des Jahres 2016. Die
Jury wolle damit das Augenmerk auf einen »tiefgreifenden
politischen Wandel« richten, begründete die Gesellschaft der
Deutschen Sprache (GfdS) die Wahl.
[Postfaktisch:]
Wenn gefühlte Wahrheiten wichtiger sind als Fakten.
Was bedeutet das für die
Zukunft?
Natürlich ist die Zukunft
eine Illusion. Sie ist weder postfaktisch, noch planbar, noch
vorhersehbar. Jeder weiß das. Dennoch hält es Politik für ihre
Aufgabe, »Zukunft zu gestalten«. Das ist auch richtig so, wenn
nicht ausschließlich in der Vergangenheit nach
zukunftstauglichen Lösungen gesucht wird.
Geschieht das, dann wird
Zukunftsgestaltung zu einem »Rückspiegeldenken«, das nichts
Gutes erahnen lässt.
Marshall McLuhan
(1911-1980), ein kanadischer Philosoph und
Geisteswissenschaftler, hat dieses »Rückspiegeldenken« wie folgt
beschrieben:
»Wir alle«, sagte er, »bewegen uns mit hoher
Geschwindigkeit auf einer Autobahn und haben unseren Blick dabei
auf den Rückspiegel fixiert; der aber kann uns nur sagen, wo wir
waren, nicht, was vor uns liegt.« [En47] 47
Zukunftsforscher von heute
wagen den Blick nach vorn und zeichnen dabei ein Zukunftsbild
des Planeten Erde, das nichts Gutes erwarten lässt. Man glaubt
ihnen aber nicht, insbesondere nicht den Friedens-, Klima- und
Gerechtigkeitsforschern und erst recht nicht den
Wirtschaftswissenschaftlern, die den Raubtierkapitalismus
selbst vehement kritisieren.
Heute, so der unterstellte
Commonsense (der gesunde Menschenverstand) vieler Politiker,
kann in Verbindung mit modernster Technik die Zukunft gestaltet
werden. Wir können das. Basta!
Henry David Thoreau sagte
dazu: »All unsere Erfindungen sind nichts als verbesserte Mittel
zu einem nicht verbesserten Zweck.«
Zurück zur nahen Zukunft
Deutschlands, sozusagen seiner »postfaktischen« Zukunft.
[Anmerkung:] Worum
es wirklich geht, das hat Erhard Eppler anlässlich seines 90.
Geburtstages im Dezember 2016 mit folgender Frage auf den Punkt
gebracht:
»Wie führt man eine
Gesellschaft, die in viele Arme und wenige Reiche
auseinanderstrebt, wieder zusammen?«
Mit anderen Worten:
Das, was wir
Flüchtlingskrise nennen, wäre in einem Europa wahrscheinlich
kein die Gesellschaft teilendes Problem gewesen, wenn es in den einzelnen Mitgliedsländern in den
zurückliegenden Jahren nicht zu gesellschaftlichen Verwerfungen
gekommen wäre, die es erforderlich machen, dafür einen
Sündenbock zu finden.
Und wie jedermann weiß, Not macht
erfinderisch.
Die Flüchtlinge sind an
allem schuld.
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