01 Menschenwürde und Grundrechtsbindung
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Artikel 1 GG manifestiert:
- Unantastbarkeit der Menschenwürde
- Achtungs- und Schutzverpflichtung des Staates
- Bekenntnis zu unveräußerlichen und unverletzlichen Menschenrechten
- Grundrechtsbindung der Staatsgewalt als unmittelbar geltendes Recht
Umstritten ist, ob Art. 1 Abs. 1 GG als eigenständiges Grundrecht qualifiziert werden
kann. Zum einen wird die Auffassung vertreten, dass Art. 1 Abs. 1 GG wegen der Regelung in
Art. 1 Abs. 3 GG kein selbstständiges Grundrecht sein könne (formale Auslegung).
Artikel
1 GG
Das Bundesverfassungsgericht bewertet Art. 1 GG jedoch als ein tragendes
Konstruktionsprinzip und bezeichnet die Menschenwürde als einen Wert, der rechtlich
gesehen als ein selbstständiges Grundrecht anzusehen sei, das die allgemeine menschliche
Handlungsfreiheit gewährleiste.
"Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gehört Art. 1 GG zu den
"tragenden Konstruktionsprinzipien", die alle Bestimmungen des Grundgesetzes
durchdringen. Das Grundgesetz sieht die freie menschliche Persönlichkeit und ihre Würde
als höchsten Rechtswert an" (BVerfGE 30, 39).
Auch die wohl herrschende Meinung in der Literatur geht davon aus, dass Art. 1 Abs. 1
GG als ein echtes Grundrecht anzusehen ist.
Zutreffend ist, dass viele Grundrechte Menschenwürde voraussetzen, so dass die aus
Art. 1 Abs. 1 GG abzuleitenden Rechtspositionen über andere Grundrechte erfassbar sind
und ggf. im Wege der Verfassungsbeschwerde eingefordert werden können.
An einer inhaltlichen Konkretisierung von Art. 1 Abs. 1 GG kommt jedoch auch die
formale Auslegung nicht vorbei.
Weil die Menschenwürde als "Leitprinzip der Verfassung" gilt, ist es deshalb
wohl sachgerechter, Art. 1 Abs. 1 GG jedenfalls dann als eigenständiges Grundrecht zu
qualifizieren, wenn neben der zu schützenden Menschenwürde andere Grundrechte keine
selbstständige Bedeutung haben.
02 Allgemeines zur Menschenwürde
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Die Menschenwürde ist der höchste Verfassungswert. Sie ist untrennbar mit dem
Menschsein selbst verbunden.
Schwierigkeiten bereitet es jedoch, den unbestimmten Rechtsbegriff Menschenwürde zu
definieren. Es reicht nicht aus, den Würdebegriff lediglich als ein Merkmal zu verstehen,
durch das sich der Mensch vom Tier unterscheidet.
Anerkannt ist, dass zum Würdebegriff alles gehört, was den Menschen von anderen
Menschen unterscheidet und was ihm als Subjekt individuelle Einmaligkeit verleiht.
Mensch in diesem Sinne ist jedes Wesen, das von Menschen abstammt und geboren wurde.
"Menschenwürde" bedeutet, hüten, das pathetische Wort ausschließlich in
seinem höchsten Sinn zu verwenden, etwa indem man davon ausgeht, daß die Menschenwürde
nur dann verletzt ist, wenn die Behandlung des Menschen durch die öffentliche Hand, die
das Gesetz vollzieht, Ausdruck der Verachtung des Wertes, der dem Menschen kraft seines
Personseins zukommt, also in diesem Sinne eine "verächtliche Behandlung" ist.
Tut man dies dennoch, so reduziert man Art. 79 Abs. 3 GG auf ein Verbot der
Wiedereinführung z.B. der Folter, des Schandpfahls und der Methoden des Dritten Reichs.
Eine solche Einschränkung wird indessen der Konzeption und dem Geist des Grundgesetzes
nicht gerecht. Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 1 GG hat einen wesentlich
konkreteren Inhalt. Das Grundgesetz erkennt dadurch, daß es die freie menschliche
Persönlichkeit auf die höchste Stufe der Wertordnung stellt, ihren Eigenwert, ihre
Eigenständigkeit an" (BVerfGE 30, 39).
03 Menschenwürde - Definitionsbereich
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"Die Menschenwürde lässt sich nur zeit- und situationsabhängig beschreiben, was
in jedem Fall eine Bewertung des Einzelfalls erforderlich macht. "Achtung und Schutz
der Menschenwürde gehören zu den Konstitutionsprinzipien des Grundgesetzes. Die freie
menschliche Persönlichkeit und ihre Würde stellen den höchsten Rechtswert innerhalb der
verfassungsmäßigen Ordnung dar. Der Staatsgewalt ist in allen ihren Erscheinungsformen
die Verpflichtung auferlegt, die Würde des Menschen zu achten und sie zu schützen.^Dem
liegt die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde, das darauf
angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und zu entfalten. Diese Freiheit
versteht das Grundgesetz nicht als diejenige eines isolierten und selbstherrlichen,
sondern eines gemeinschaftsbezogenen und gemeinschaftsgebundenen Individuums. Sie kann im
Hinblick auf diese Gemeinschaftsgebundenheit nicht "prinzipiell unbegrenzt"
sein. Der Einzelne muß sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen
lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den
Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht; doch muß die
Eigenständigkeit der Person gewahrt bleiben" (BVerfGE 45, 227, 228, 229).
Der Mensch hat Würde, weil er als vernunftbegabtes Wesen die Fähigkeit besitzt, sein
eigenes Handeln zu reflektieren und an bestimmten Wertvorstellungen auszurichten. Der
Mensch zeichnet sich insbesondere auch durch seine Sozialbezogenheit aus, zumal es gerade
die sozialen Umwelteinflüsse sind, die sein Wesen prägen und bestimmen.
Der Mensch ist das einzige Wesen, das lachen und weinen kann.
04 Verletzung der Menschenwürde
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Unter welchen Umständen die Menschenwürde verletzt ist, lässt sich nicht generell
beantworten. In früheren Entscheidungen ging das Bundesverfassungsgericht von der so
genannten Objektformel aus.
Danach ist die Menschenwürde verletzt, wenn Menschen zum bloßen Objekt staatlichen
Handelns gemacht werden. Doch wann ist das der Fall? Schließlich gibt es mannigfache
Beispiele, in denen sich der Staat ohne Rücksicht auf den Willen von Betroffenen
durchsetzt und ohne dass deswegen ernsthaft Verletzungen der Menschenwürde behauptet
werden (Steuereintreibung, Verurteilung zu Strafen, Durchsuchung von Wohnungen, Festnahme
von Personen, Anwendung von Zwang).
In der Literatur ist deshalb der Vorwurf erhoben worden, dass die reine Objektformel
"wenig fassbar" und deshalb eine "Leerformel" sei.
Seit Ende der sechziger Jahre verwendet das Bundesverfassungsgericht die Objektformel
in modifizierter Form "nur in Ansehung des konkreten Falles".
Eine allgemeine Formel, wonach der Mensch nicht zum bloßen Objekt der Staatsgewalt
herabgewürdigt werden dürfe, könnte "lediglich die Richtung andeuten, in der
Fälle der Verletzung der Menschenwürde gefunden werden können".
Allein der Umstand, dass der Mensch als Objekt behandelt wird "insofern er ohne
Rücksicht auf seine Interessen sich fügen muss", verletzt danach die Menschenwürde
(noch) nicht.
Damit die Menschenwürde verletzt ist, müssen hinzukommen:
- eine Behandlung, die die Subjektqualität des Menschen prinzipiell in Frage stellt oder
- eine Behandlung, die eine willkürliche Missachtung der Würde des Menschen zum Inhalt
hat oder
- eine verächtliche Behandlung, die den Wert, "der dem Menschen kraft seines
Personseins zukommt", missachtet.
" Der Mensch ist nicht selten bloßes Objekt
nicht nur der Verhältnisse und der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern auch des
Rechts, insofern er ohne Rücksicht auf seine Interessen sich fügen muß. Eine Verletzung
der Menschenwürde kann darin allein nicht gefunden werden. Hinzukommen muß, daß er
einer Behandlung ausgesetzt wird, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt,
oder daß in der Behandlung im konkreten Fall eine willkürliche Mißachtung der Würde
des Menschen liegt. Die Behandlung des Menschen durch die öffentliche Hand, die das
Gesetz vollzieht, muß also, wenn sie die Menschenwürde berühren soll, Ausdruck der
Verachtung des Wertes, der dem Menschen kraft seines Personseins zukommt, also in diesem
Sinne eine "verächtliche Behandlung" sein" (BVerfGE 30, 25).
05 Verletzungen der Menschenwürde - Fallgruppen
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Berücksichtigt man die zuvor mitgeteilten Grundsätze, kann z.B. in den nachfolgend
aufgeführten Fällen von einer Verletzung der Menschenwürde ausgegangen werden:
- Versklavung
- Unterdrückung
- Vertreibung
- Einsatz von Lügendetektoren
- rassistisch begründete Diskriminierungen
- unangemessene oder grausame Strafen
- Erklärungen als "vogelfrei"
- Jagd auf Ausländer
- Besteuerung des Existenzminimums
- Folter und Misshandlung
- aktive Sterbehilfe
- Tötung Unschuldiger zur Rettung Dritter
In Bezug auf Folter und Misshandlung sei auf § 136 a StPO hingewiesen.
§
136a StPO
Danach darf die Freiheit der Willensentschließung und der Willensbetätigung des
Beschuldigten nicht beeinträchtigt werden u.a. durch Misshandlung oder durch
körperlichen Eingriff. Zwang darf nur angewandt werden, soweit das Strafverfahrensrecht
dies zulässt. Gem. Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG dürfen festgehaltene Personen weder
seelisch noch körperlich misshandelt werden. Die Regelungen über verbotene
Vernehmungsmethoden gelten entsprechend auch im Bereich der Gefahrenabwehr.
Für die Polizei des Landes NRW folgt dies auch aus § 55 Abs. 2 PolG NRW, wonach
unmittelbarer Zwang zur Abgabe einer Erklärung ausgeschlossen ist.
§ 55 PolG NRW
Das bedeutet, dass Auskünfte im Rahmen der Gefahrenabwehr nicht auf die in § 136 a
StPO beschriebene Weise, also z.B. nicht durch Drohung mit Schmerzzufügung, erlangt
werden dürfen. Dies gilt auch dann, wenn die Androhung zu dem Zweck erfolgt, eine als
akut eingestufte Lebensgefahr Dritter abzuwenden. Die Voraussetzungen der Nothilfe (§ 32
StGB) und des rechtfertigenden Notstandes (§ 34 StGB) rechtfertigen Folter nicht, weil
jede Form von Folter die Menschenwürde verletzt.
Beispiel
Am Freitag, dem 27.9.2002, wurde der 11jährige Jakob Metzler entführt. Am 1.10.2002
wurde dem festgenommenen Tatverdächtigen, der beharrlich zum Aufenthaltsort des Jungen
schwieg, auf Weisung des stellvertretenden Polizeipräsidenten D angedroht, dass ihm
Schmerzen zugefügt werden sollten, die er nicht vergessen werde. Wenige Minuten nach der
Androhung gab der Tatverdächtige das Versteck preis, in dem sich der tote Jakob Metzler
befand. Gegen den ehemaligen stellvertretenden Frankfurter Polizeipräsidenten D wurde
wegen des Verdachts auf Verleitung eines Untergebenen zu einer Straftat und gegen den
mitangeklagten Kriminalhauptkommissar E wegen des Verdachts auf Nötigung im Amt ein
Strafverfahren eingeleitet. Das Verfahren endete am 20. Dezember 2004 mit einem
Schuldspruch gegen beide Angeklagten. Die Strafkammer kam zu dem Urteil, die angeordnete
Androhung von Schmerzen mit dem Ziel, eine Aussage zu erzwingen, rechtswidrig sei, da auch
die Androhung von Folter bereits die Verletzung der Menschenwürde des Täters in Kauf
genommen habe und eine Verletzung des fundamentalsten Menschenrechts überhaupt durch
nichts zu rechtfertigen sei.
Umstritten ist, ob auch die Gewährung von Sterbehilfe die
Menschenwürde verletzt. Offensichtlich ist hier ein Grenzbereich des rechtlich
Zugänglichen erreicht. Die Frage ist, ob insbesondere unheilbare Komapatienten ein
"Recht auf einen würdigen Tod" haben.
Im Gegensatz zu den Niederlanden, wo die Sterbehilfe gesetzlich geregelt ist, wird in
Deutschland nach wie vor eine aktive Sterbehilfe mit der Würde des Menschen (Art. 1 Abs.
1 GG) für nicht vereinbar gehalten.
Die Tötung Unschuldiger zur Rettung Dritter ist nicht nur eine Verletzung des
Grundrechts auf Leben, sondern auch eine Verletzung der Menschenwürde.
Mit Urteil vom 15. Februar 2006 (1 BvR 357/05) hat das Bundesverfassungsgericht deshalb
entschieden, dass § 14 Abs. 3 des Luftsicherungsgesetzes verfassungswidrig ist. Dieses
Gesetz sah vor, dass im Falle eines terroristischen Angriffs unter Verwendung eines
Flugzeuges, dieses auch dann abgeschossen werden dürfe, wenn sich Passagiere an Bord
befinden.
"Die Ermächtigung der Streitkräfte, gemäß § 14 Abs. 3 des
Luftsicherheitsgesetzes durch unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt ein Luftfahrzeug
abzuschießen, das gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, ist mit dem Recht
auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie des
Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar, soweit davon tatunbeteiligte Menschen an Bord des
Luftfahrzeugs betroffen werden" (BVerfG 1 BvR 357/05).
Die das Urteil tragenden Gründe zum Komplex "Menschenwürde", sind demnach
wohl auch zu beachten, wenn Straftäter nicht ein Flugzeug, sondern andere Fahrzeuge mit
Geiseln oder anderen Unschuldigen als Tatwaffe für Anschläge zu Lasten Dritter
einsetzen.
06 Rechtmäßige Maßnahmen und Menschenwürde
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Rechtmäßige Maßnahmen können die Menschenwürde nicht verletzen. Sind z.B. die
Voraussetzungen für eine vorläufige Festnahme oder für eine Durchsuchung einer Person
gegeben, ist die Menschenwürde nicht verletzt, wenn es zur Eigensicherung der handelnden
Amtswalter oder zum Schutz Unbeteiligter geboten ist, die Straftäter aufzufordern, sich
mit erhobenen Händen und gegrätschten Beinen an eine Wand oder an ein Fahrzeug zu
stellen, um die Person nach Waffen oder gefährlichen Gegenständen absuchen zu können.
Gleiches gilt, wenn Schwerverbrecher ohne erhebliche Gefahr für einschreitende Amtswalter
nur überwältigt werden können, indem sie aufgefordert werden, sich auf den Bauch zu
legen, damit sie nach Waffen durchsucht und an Händen und Füßen gefesselt werden
können. Andererseits ist auch die Menschenwürde von Schwerstverbrechern zu achten.
Insbesondere darf ihre Willensentschließung und Willensbetätigung nicht durch unerlaubte
Vernehmungsmethoden beeinträchtigt werden.
07 Würde und materielle Grundlagen
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Die Würde des Menschen setzt auch das Vorhandensein materieller Grundlagen voraus,
ohne die ein menschenwürdiges Leben nicht möglich ist. Voraussetzung für ein
würdevolles menschliches Leben ist deshalb im Geltungsbereich des Grundgesetzes der
Schutz vor Hunger und Obdachlosigkeit. Ein Grundrecht des Einzelnen auf angemessene
Versorgung kann jedoch nicht unmittelbar aus Art. 1 GG abgeleitet werden. In BVerfGE 1,
104 heißt es u.a.: "Wenn Art. 1 Abs. 1 sagt: "Die Würde des Menschen ist
unantastbar", so will er sie nur negativ gegen Angriffe abschirmen. Der zweite Satz;
" ... sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt"
verpflichtet den Staat zwar zu dem positiven Tun des "Schützens", doch ist
dabei nicht Schutz vor materieller Not, sondern Schutz gegen Angriffe auf die
Menschenwürde durch andere, wie Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw.
gemeint."
Der Staat muss jedoch die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein
sichern. Diese Verpflichtung hat der Gesetzgeber mit dem Bundessozialhilfegesetz erfüllt.
Die Hartz-IV Gesetze regeln die Ansprüche von unterstützungsbedürftigen Personen. Die
Zahlungen sollen die Führung eines Lebens ermöglichen, das der Würde des Menschen
entspricht.
Der in diesen Regelungen enthaltene Rechtsanspruch auf ein menschenwürdiges
Existenzminimum ergibt sich unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 GG.
Asylanten sind keine Menschen zweiter Klasse
Das Bundesverfassungsgericht hat im Juli 2012 entschieden, dass sich die Zuwendung, die
die Bundesrepublik Deutschland Asylanten gewährt, an der Höhe der Harz-4-Sätze zu
orientieren hat. Für eine Übergangszeit setzte das Gericht die Höhe des an Asylanten zu
zahlenden Geldleistung auf 336 Euro fest. Bisher wurden 275 Euro gezahlt.
Der Gesetzgeber wurde aufgefordert, die Zuwendung für Asylanten gesetzlich neu zu
regeln.
Pressemitteilung Nr. 56/2012 des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012
Urteil vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 - 1 BvL 2/11
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, dass die Regelungen
zu den Grundleistungen in Form der Geldleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz mit
dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1
Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG unvereinbar sind. Die Höhe dieser
Geldleistungen ist evident unzureichend, weil sie seit 1993 trotz erheblicher
Preissteigerungen in Deutschland nicht verändert worden ist. Zudem ist die Höhe der
Geldleistungen weder nachvollziehbar berechnet worden noch ist eine realitätsgerechte, am
Bedarf orientierte und insofern aktuell existenzsichernde Berechnung ersichtlich.
Der Gesetzgeber ist verpflichtet, unverzüglich für den Anwendungsbereich des
Asylbewerberleistungsgesetzes eine Neuregelung zur Sicherung des menschenwürdigen
Existenzminimums zu treffen.
Zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums ist dann im Jahr 2011 anstelle
von Sachleistungen für einen Monat von einer Geldleistung in Höhe von 206 und
einem zusätzlichen Geldbetrag für die persönlichen Bedürfnisse des täglichen Lebens
in Höhe von 130 auszugehen.
Urteil im Volltext
08 Menschenwürde in der Arbeitswelt
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Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts kann eine "Verfassung, welche die
Würde des Menschen in den Mittelpunkt des Wertsystems stellt, bei der Ordnung
zwischenmenschlicher Beziehungen grundsätzlich niemandem Rechte an der Person eines
anderen einräumen, die nicht zugleich pflichtgebunden sind und die Menschenwürde des
anderen respektieren".
Auch in der Arbeitswelt muss die Menschenwürde "gegen alle möglichen
Angreifer" geschützt werden.
09 Antastung der Menschenwürde
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Die Würde des Menschen ist unantastbar, aber "tastbar".
Diese Aneinanderreihung von Worten ist mehr als ein Wortspiel, denn überall dort, wo
Menschen Konflikte miteinander austragen, sind unbedachte Worte, Gesten und verletzende
Positionen Realitäten des täglichen Lebens. Da das Bundesverfassungsgericht
Würdeverletzungen bereits annimmt, wenn der Einzelne durch staatliche Organe verächtlich
behandelt und dadurch sein Personenwert in Frage gestellt wird, ist die damit verbundene
Aufforderung nach angemessenem Verhalten für jede Polizeibeamtin und jeden Polizeibeamten
Herausforderung und Verpflichtung zugleich.
10 Funktionen des Artikel 1 Abs. 1 GG
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Aus dem Wortlaut des Artikels selbst ergeben sich objektivrechtlich folgende
Funktionen:
- Schutzpflicht des Staates (schützen)
- Verbot rechtswidriger Eingriffe (achten)
Art. 1 Abs. 1 GG manifestiert nach Rspr. und h. M. jedoch nicht nur objektive
Verpflichtungen des Staates, sondern gewährleistet dem Einzelnen als subjektive
Berechtigungen auch gerichtlich durchsetzbare
- Abwehrrechte (Unterlassungsansprüche) gegen die Menschenwürde verletzende staatliche
Eingriffe und
- Leistungsrechte (Forderungsrechte) auf Schutzgewährung.
11 Schutzverpflichtung des Staates
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Der Staat muss die Würde des Menschen schützen. Die Verpflichtung zum Schutz der
Würde ist umfassend. Sie bedeutet nicht nur eine Pflicht zur Abwehr von
Würdebeeinträchtigungen, sondern verlangt auch vorbeugende Maßnahmen, damit
Würdebeeinträchtigungen nicht entstehen.
Adressat der Schutzverpflichtung ist die gesamte Staatsgewalt in allen
Untergliederungen, also
- Gesetzgebung,
- Vollziehende Gewalt und
- Rechtsprechung.
Der Gesetzgeber ist seiner Schutzverpflichtung umfassend nachgekommen.
Beispiele
- Hartz-IV Gesetz zur Gewährleistung des Existenzminimums
- Datenschutzgesetze zum Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung
- § 136 a StPO, wonach die Würde verletzende Vernehmungsmethoden verboten sind und ein
Beweisverwertungsverbot festgelegt ist
In der Arbeitswelt wird der Schutz der Würde u. a. durch folgende
Gesetze gewährleistet:
Betriebsverfassungsgesetz
Gem. § 75 müssen alle Beschäftigten nach Recht und Billigkeit behandelt werden. Eine
unterschiedliche Behandlung von Personen wegen ihrer Abstammung, Religion, Nationalität,
Herkunft, politischen oder gewerkschaftlichen Betätigung oder Einstellung oder wegen
ihres Geschlechts hat zu unterbleiben.
Gem. § 87 hat der Betriebsrat u. a. mitzubestimmen über Fragen der Ordnung des
Betriebs und des Verhaltens im Betrieb, über Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit,
über Einführung und Anwendung von technischen Einrichtungen, die dazu bestimmt sind, das
Verhalten oder die Leistung der Arbeitnehmer zu überwachen und über Regelungen über die
Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten.
Beschäftigtenschutzgesetz vom 24. 6.1994
Gem. § 4 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes ist der Arbeitgeber verpflichtet, bei sexueller
Belästigung die im Einzelfall angemessenen arbeitsrechtlichen Maßnahmen zu ergreifen.
Ziel des Beschäftigtenschutzgesetzes ist es, die Würde von Frauen und Männern durch
den Schutz vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz zu wahren.
Das Gesetz gilt auch für Beamte. Durch diese Regelung wird erstmalig ein Teil des
"Dienstrechtes für Beamte" nicht in einem ausschließlich nur auf Beamte
anwendbaren Gesetz geregelt. Auf diese formalrechtliche Besonderheit wird hingewiesen,
weil alle anderen arbeitsrechtlichen Spezialgesetze auf Beamte nicht anwendbar sind. Das
Beschäftigtenschutzgesetz gilt für Arbeiter, Angestellte und Beamte gleichermaßen.
Arbeitszeitgesetz (ArbZG) vom 6. 6. 1994 mit Regelungen über Arbeitszeit, Ruhepausen,
Ruhezeit, Nacht- und Schichtarbeit und gefährliche Arbeiten.
Jugendarbeitsschutzgesetz (JArbSchG) mit Schutzvorschriften, die im Falle der
Beschäftigung von Kindern und Jugendlichen zu beachten sind.
Auch die vollziehende Gewalt (u. a. Polizei) muss im Rahmen ihrer Befugnisse etwa zur
Verhinderung von Folterung, Misshandlungen, rassistischen Handlungen oder
diskriminierenden Gebärden tätig werden. Weil die Würde des Menschen höchster
Verfassungswert ist, muss der Staat seine Schutzverpflichtung besonders ernst nehmen.
"Die Schutzpflicht des Staates muß um so ernster genommen werden, je höher der
Rang des in Frage stehenden Rechtsgutes innerhalb der Werteordnung des Grundgesetzes
anzusehen ist. Das menschliche Leben stellt, wie nicht näher begründet werden muß,
innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert dar; es ist die vitale Basis der
Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte" (BVerfGE 39, 42).
Dies gilt insbesondere dann, wenn eine Gefahr für Leib oder Leben besteht,
gleichgültig, ob die Gefahr von Dritten oder von dem Gefährdeten selbst ausgeht.
Generell gilt, dass Gefahren für bedeutsame Rechtsgüter durch den Staat abzuwehren
sind. Den Sicherheitsbehörden (Polizei) stehen dazu nach Gefahrenabwehrrecht umfangreiche
Befugnisse zur Verfügung. Dabei handelt es sich in der Regel um Ermessensvorschriften.
Zur Abwehr von Gefahren für bedeutsame Rechtsgüter ist jedoch im Regelfall das Ermessen
reduziert, so dass eine Verpflichtung zu unverzüglichen Einschreiten besteht.
12 Bindung der Staatsgewalten an die Grundrechte
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Die Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als
unmittelbar geltendes Recht. Daraus folgt, dass die Exekutive nur unter Beachtung des
geltenden Rechts in die Rechte von Personen eingreifen darf. Soweit es sich bei den von
staatlichen Organen veranlassten Maßnahmen um Ermessensentscheidungen handelt, dürfen
nur geeignete und erforderliche Rechtsfolgen getroffen werden. In jedem Fall aber muss im
Rahmen einer Güterabwägung geprüft werden, ob der Eingriff verhältnismäßig ist.
Unverhältnismäßige Eingriffe in die Rechte anderer sind in keinem Fall mit der
Grundrechtsordnung vereinbar.
13 Würdeschutz in Alten- und Pflegeheimen
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In einer älter werdenden Gesellschaft gewinnt im zunehmenden Maße der Würdeschutz
alter und pflegebedürftiger Menschen an Bedeutung.
Im Urteil vom 28. April 2005 - III ZR 399/04 nahm der BGH zu dieser Problematik
Stellung.
In der Entscheidung ging es um die Erstattung von Behandlungskosten durch ein
Altenpflegeheim, dem die klageführende Ortskrankenkasse Berlin vorwarf, nicht hinreichend
Vorsorge getroffen zu haben, um eine alte Frau vor Stürzen zu schützen.
Diese war am 27. Juni 2001 während der Mittagsruhe aus ihrem Bett gefallen und hatte
sich dabei eine Oberschenkelhalsfraktur zugezogen. Die Klägerin war der Auffassung, daß
der Unfall auf eine Pflichtverletzung der Beklagten (Altenheim) zurückzuführen sei. Sie
lastete der Beklagten insbesondere an, diese habe es versäumt, die sturzgefährdete
Bewohnerin in ihrem Bett zu fixieren, zumindest aber unterlassen, die Bettgitter
hochzufahren. Außerdem hätte die Beklagte der Bewohnerin Hüftschutzhosen
(Protektorhosen) anlegen müssen, durch die die Gefahr eines Knochenbruchs bei einem Sturz
gemindert worden wäre.
Der III. Zivilsenat wies die Klage zurück.
In der Pressemitteilung des BGH vom 28.4.2005 heißt es u. a.:
"Zwar erwuchsen der beklagten Heimträgerin aus den jeweiligen Heimverträgen
Obhutspflichten zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit der ihr anvertrauten
Heimbewohner. Ebenso bestand eine inhaltsgleiche allgemeine Verkehrssicherungspflicht zum
Schutz der Bewohner vor Schädigungen, die diesen wegen Krankheit oder einer sonstigen
körperlichen oder geistigen Einschränkung durch sie selbst oder durch die Einrichtung
und bauliche Gestaltung des Altenheims drohten. Diese Pflichten sind allerdings begrenzt
auf die in Pflegeheimen üblichen Maßnahmen, die mit einem vernünftigen finanziellen und
personellen Aufwand realisierbar sind. Maßstab müssen das Erforderliche und das für die
Heimbewohner und das Pflegepersonal zumutbare sein, wobei insbesondere auch die Würde und
die Selbständigkeit der Bewohner zu wahren sind."