01
Allgemeines
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Unter den Voraussetzungen von
§
112a StPO (Haftgrund der Wiederholungsgefahr) lässt es das Gesetz
zu, eine Person vorbeugend in »Sicherrungshaft« zu
nehmen.
Die
Vorschrift ist präventivpolizeilicher Natur.
Ihr Hauptzweck
besteht darin, Gefahren abzuwehren und den Schutz der Allgemeinheit zu
gewährleisten.
Auch die
Menschenrechtskonvention enthält im Art. 5 MRK eine Regelung, die von
der Zulässigkeit des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr ausgeht.
Gemäß Artikel 5 Abs. 1 Satz 2
Buchstabe c) MRK darf die Freiheit nur in den folgenden Fällen und nur
auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden, c) ...,
»wenn hinreichender Verdacht besteht, dass die
betreffende Person eine Straftat begangen hat, oder wenn begründeter
Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der
Begehung einer Straftat oder an der Flucht nach Begehung einer solchen
zu hindern«.
Unabhängig
davon hat sich das BVerfG zum Haftgrund der Wiederholungsgefahr wie
folgt positioniert:
Im Beschluss
des BVerfG vom 30.05.1973 - 2 BvL 4/73 heißt es:
Der Haftgrund
der Wiederholungsgefahr ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
[Rn.
17:] »Die Freiheit der Person nimmt,
als Basis der allgemeinen Rechtsstellung und Entfaltungsmöglichkeit des
Bürgers (...), einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. (...). Die
Entziehung der persönlichen Freiheit muss daher stets durch gewichtige
Gründe gerechtfertigt sein (...). Der Gesetzgeber darf die Einschließung
eines Beschuldigten in einer Haftanstalt nur anordnen, wenn überwiegende
Belange des Gemeinwohls dies zwingend gebieten. Dabei hat er diese
Belange mit dem verfassungsrechtlich geschützten Interesse des Einzelnen
an der Bewahrung seiner persönlichen Freiheit abzuwägen.«
[Rn.
18:] »Das Bundesverfassungsgericht hat
(...) als weiteren Haftgrund die Wiederholungsgefahr anerkannt, obwohl
hierbei nicht die Sicherung des Strafverfahrens, sondern der Schutz der
Allgemeinheit vor weiteren Straftaten, also ein präventiver
Gesichtspunkt, maßgebend ist.«
Obwohl der
Haftgrund ursprünglich nur für Sexualdelikte bestimmt war, stellen die
Richter fest:
[Rn.
19:] »Das schließt indessen nicht aus,
die Wiederholungsgefahr auch bei anderen Delikten als Haftgrund gelten
zu lassen.
Bei dem
wiederholt oder fortgesetzt begangenen »Anlassdelikt« muss es sich um
eine Straftat handeln, die schon nach ihrem gesetzlichen Tatbestand
einen erheblichen, in der Höhe der Strafandrohung zum Ausdruck kommenden
Unrechtsgehalt aufweist und den Rechtsfrieden empfindlich stört. Der
Bereich der »kleinen Kriminalität«, zu dem insbesondere die
Übertretungstatbestände der §§ 360 ff. StGB, aber auch noch die Vergehen
der in § 113 Abs. 1 StPO bezeichneten Art gehören, scheidet
(Wiederholungsgefahr = AR) von vornherein aus.
[Hinweis:] Übertretungstatbestände enthält das StGB
nicht mehr.
Die Bestimmung stellt überdies
sicher, dass die Annahme der Wiederholungsgefahr nicht schon auf bloße
Vermutungen, sondern nur auf bestimmte Tatsachen gestützt werden kann,
wobei in der Regel verlangt wird, dass der Beschuldigte innerhalb der
letzten fünf Jahre wegen einer gleichartigen Straftat rechtskräftig zu
Freiheitsstrafe verurteilt worden ist.« [En01] 1
[Anlasstaten heute:] Zwischenzeitlich
sind die Anlasstaten, die es zulassen, eine Person wegen bestehender
Wiederholungsgefahr in Sicherungsverwahrung zu nehmen, umfänglich
erweitert worden.
§ 112a Abs. 1
Nr. 1 StPO sieht für die nachfolgend aufgeführten Delikte die
Möglichkeit des Haftgrundes der »Wiederholungsgefahr« vor:
-
§ 174 StGB (Sexueller
Missbrauch von Schutzbefohlenen)
-
§ 174a StGB (Sexueller
Missbrauch von Gefangenen, behördlich Verwahrten oder Kranken und
Hilfsbedürftigen in Einrichtungen)
-
§ 176 StGB (Sexueller
Missbrauch von Kindern)
und
-
§ 238 Abs.
2 und 3 StGB (Nachstellung, Stalking)
[Hinweis:] Die herrschende Meinung geht davon aus, dass
eine Tatbegehung ausreicht und die Gefahr der Wiederholung besteht.
112a Abs. 1
Nr. 2 eröffnet den Haftgrund der Wiederholungsgefahr auch bei den
nachfolgend aufgeführten Delikten:
-
§ 89a StGB
(Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat)
-
§ 125a StGB (Besonders
schwerer Fall des Landfriedensbruchs)
-
§ 224 StGB (Gefährliche
Körperverletzung)
-
§ 225 StGB
(Misshandlung von Schutzbefohlenen)
-
§ 226 StGB (Schwere
Körperverletzung)
-
§ 226a
StGB (Verstümmelung weiblicher Genitalien)
-
§ 227 StGB
(Körperverletzung mit Todesfolge)
-
§ 243 StGB (Besonders
schwerer Fall des Diebstahls)
-
§ 244 StGB
(Diebstahl mit Waffen; Bandendiebstahl; Wohnungseinbruchdiebstahl)
-
§ 249 StGB
(Raub)
-
§ 255 StGB (Räuberische
Erpressung)
-
§ 260 StGB (Gewerbsmäßige
Hehlerei, Bandenhehlerei)
-
§ 263 StGB
(Betrug)
-
§ 306 StGB
(Brandstiftung)
-
§ 306c
StGB (Brandstiftung mit Todesfolge)
-
§ 316a StGB (Räuberischer
Angriff auf Kraftfahrer)
-
§ 30a Abs.
1 BtMG: Danach wird mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren
bestraft, wer Betäubungsmittel in nicht geringer Menge unerlaubt
anbaut, herstellt, mit ihnen Handel treibt, sie ein- oder ausführt
(§ 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1) und dabei als Mitglied einer Bande
handelt, die sich zur fortgesetzten Begehung solcher Taten verbunden
hat.
[Hinweis:] Wiederholungsgefahr iSv § 112a Abs. 1 Nr. 2
setzt zwei Taten voraus.
[Erhaltung des Rechtsfriedens:] Die
Erweiterung der im § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO (Haftgrund der
Wiederholungsgefahr) genannten Straftaten hat dazu geführt, dass dieser
Haftgrund heute wohl vorrangig dem Schutz der Gesellschaft dient, also
mit dazu beitragen soll, empfindliche Störungen des Rechtsfriedens
abwehren zu können.
02
Subsidiarität der Wiederholungsgefahr
TOP
Der Erlass eines Haftbefehls auf
der Grundlage von
§
112a StPO (Haftgrund der Wiederholungsgefahr)
kommt nur in Betracht, wenn die Haftgründe von
§ 112 StPO
(Voraussetzungen der U-Haft; Haftgründe) nicht greifen.
Im § 112 Abs. 2
StPO heißt es:
»Absatz 1
findet keine Anwendung, wenn die Voraussetzungen für den Erlass eines
Haftbefehls nach § 112 vorliegen und die Voraussetzungen für die
Aussetzung des Vollzugs des Haftbefehls nach § 116 Abs. 1, 2 nicht
gegeben sind.«
Greifen die
im § 112 StPO genannten Haftgründe:
-
Flucht
-
Fluchtgefahr
-
Verdunkelungsgefahr
kommt ein Haftbefehl auf der Grundlage
von
§
112a StPO (Haftgrund der Wiederholungsgefahr) nicht in
Betracht, und zwar auch dann nicht, wenn Wiederholungsgefahr gegeben
ist.
Grund dafür
ist die Subsidiarität der Wiederholungsgefahr.
[Hinweis:] Wegen der schwierigen
Handhabbarkeit hat Wiederholungsgefahr gemäß § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO
bisher in der polizeilichen Praxis nur eine geringe Bedeutung gehabt.
Möglicherweise ändert sich das aber aufgrund der zunehmenden Aktivitäten
salafistischer Gruppen und durch den
kontinuierlichen Zuwachs von Unterstützern verbotener islamistischer
Vereinigungen sowie durch Gefahren, die von so genannten »Gefährdern«
ausgehen. Damit sind gewaltbereite Dschihadisten gemeint, die aus
Krisengebieten in die Bundesrepublik zurückkehren oder sich erneut auf
den Weg dorthin machen.
03
Dringender Tatverdacht
TOP
Eine Person kann von der Polizei
nur dann auf der Grundlage von§
112a StPO (Haftgrund der Wiederholungsgefahr) vorläufig
festgenommen werden, wenn die festzunehmende Person einer Tat dringend
verdächtig ist und der Haftgrund der Wiederholungsgefahr gegeben ist.
[Dringender Tatverdacht:] Ein solcher
Verdacht besteht, wenn nach den zur Zeit der vorläufigen Festnahme
erkennbaren Umständen die hohe Wahrscheinlichkeit begründbar ist, dass
der Verdächtige als Täter oder Teilnehmer einer Straftat in Betracht
kommt.
Das ist
offensichtlich der Fall, wenn eine Person auf frischer Tat betroffen
oder verfolgt wird.
Dringender
Tatverdacht kann aber auch unabhängig von Betreffen oder Verfolgen auf
frischer Tat gegeben sein, dann nämlich, wenn erkennbare Umstände mit
hoher Wahrscheinlichkeit auf Täterschaft schließen lassen.
Solche
Umstände können z. B. sein:
Bloße
Vermutungen reichen zur Begründung dringenden Tatverdachts nicht aus.
Mit dem Wort »dringend« wird ein
deutlich intensiverer Tatverdacht eingefordert, als das beim so
genannten »einfachen« Anfangsverdacht im Sinne von
§ 160 Abs. 1 StPO
(Ermittlungsverfahren) bzw.
§ 152 Abs. 2 StPO (Offizial- und
Legalitätsprinzip) der Fall ist.
[Herrschende Meinung zum dringenden Tatverdacht:]
Nach herrschender Meinung ist »dringender
Tatverdacht« auch voraussetzungsvoller als ein »hinreichender«
Tatverdacht, der im Hinblick auf die Eröffnung eines Hauptverfahrens im
Sinne von
§ 203 StPO (Eröffnung des Hauptverfahrens) einzufordern
ist und der dadurch gekennzeichnet ist, dass mit einer gewissen
Wahrscheinlichkeit im Hauptverfahren mit einer Verurteilung zu rechnen
ist.
Diese
Sichtweise ist aber unzureichend, denn ein Beschuldigter kann bereits
dann vorläufig festgenommen werden, wenn an eine Verfahrenseröffnung
noch gar nicht zu denken ist. Außerdem kommt auch noch nach einer
Verfahrenseröffnung eine Festnahme in Betracht, dann nämlich, wenn sich
im Laufe des Verfahrens die Verdachtsintensität entsprechend verschärft.
Deshalb sollte
bei der Begründung von dringendem Tatverdacht stets der »Schwerpunkt des
besonderen Tatverdachts« begründet werden.
[Schwerpunkt des dringenden Tatverdachts:]
Dringender Tatverdacht ist gegeben, wenn mit
einer gewissen Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen ist, dass die
vorläufig festgenommene Person tatsächlich
-
einem
Richter vorgeführt wird
-
dieser aufgrund der
Verdachtslage einen Haftbefehl ausstellen wird
und
-
mit einer
Verurteilung des Beschuldigten zu rechnen ist.
[SK-StPO II:] Dort heißt es
hinsichtlich des dringenden Tatverdachts: »Der
Schluss, der Beschuldigte sei an der Tat in einer
verurteilbaren Weise beteiligt, muss sich sozusagen aufdrängen.«
An anderer Stelle heißt es: »Die Praxis gibt sich nicht selten mit
deutlich »weniger« zufrieden, so dass man sagen kann, ein Tatverdacht
sei nach ihr bereits dann ein »dringender«, wenn der Haftrichter ihn
aufgrund der bestehenden Beweislage »als dringend« bezeichnen würde.
Eine Prognose, dass eine Verurteilung wahrscheinlich sei, verlange der
»dringende Tatverdacht« nicht. Es genüge die Möglichkeit der
Verurteilung«. [En02]
2
04
Begründung von Wiederholungsgefahr
TOP
Um
Wiederholungsgefahr begründen zu können, sind die nachfolgend
aufgeführten Tatbestandsmerkmale nachzuweisen:
-
wiederholt
und fortgesetzt
-
schwerwiegende Straftat
-
Tatsachen
im Hinblick auf die zu erstellende Gefahrenprognose
-
Haft ist zur
Abwendung der drohenden Gefahr erforderlich
-
Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr ist zu erwarten.
[Hinweis:] Die im
§
112a Abs. 1 Nr. 1 StPO aufgeführten Straftaten brauchen weder wiederholt noch fortgesetzt
begangen worden zu sein. Schon eine einmalige Verfehlung kann,
jedenfalls bei erwachsenen Tätern, auf schwere Persönlichkeitsmängel
hinweisen, die weitere Taten ähnlicher Art befürchten lassen.
Diese
Rechtsauffassung entspricht der herrschenden Meinung.
[Wiederholt und fortgesetzt:] Bei den im
§
112a Abs. 1 Nr. 2 StPO genannten
Delikten müssen ausnahmslos mindestens zwei rechtlich
selbständige Handlungen im Sinne von
§ 53 StGB (Tatmehrheit)
vorliegen, die sich gegen den gleichen Tatbestand richten.
Eine
Anlasstat ist als »wiederholt« anzusehen,
[BGH
zum Tatbestandsmerkmal »fortgesetzt«:]
Auch nach der Neufassung von
§ 112a StPO im Jahre
2015 (Einführung der staatsgefährdenden Delikte) dürfte im Hinblick auf das Tatbestandsmerkmal »fortgesetzt« ein
Beschluss des BGH vom 03.05.1994 - BGHSt 40, 138 weiterhin Bestand haben.
In Bezug auf
vorhandene grundsätzlichen Bedenken gegen »fortgesetzte Delikte« weisen die
Richter darauf hin, dass diesbezügliche gesetzliche Regelungen des
materiellen Rechts für den Täter sowohl vorteilhaft als auch
nachteilhaft sein können und somit Ergebnisse möglich sind, die dem
»Gerechtigkeitsempfinden nur schwer hinnehmbar erscheinen«.
Um diesen
Nachteilen Rechnung tragen zu können, heißt es in dem Beschluss:
[Rn.
62:] Am Deliktstatbestand, der die
Voraussetzungen seiner Verwirklichung festlegt und damit die
»tatbestandsmäßige Handlung« bestimmt, ist zu messen, ob es zur
sachgerechten Erfassung des verwirklichten Unrechts und der Schuld
geboten ist, wiederholte Tatbestandsverwirklichungen in ihrer Gesamtheit
als eine Tat im Rechtssinne zusammenzufassen. Maßgebend ist der
spezielle Deliktscharakter.
[Rn:
63:] Das geltende Strafrecht kennt eine
Reihe von Tatbeständen, die zwar jeweils schon durch eine Einzelhandlung
verwirklicht sein können, die aber ihrem Sinne nach in erster Linie ein
über den Einzelfall hinausreichendes, auf gleichartige Tatwiederholungen
gerichtetes Verhalten, somit ganze Handlungskomplexe treffen solle. [En03]
3
[Hinweis:] Diesen Anforderungen an den
jeweiligen Nachweis einer Fortsetzungstat dürfte auch dann zu
entsprechen sein, wenn es sich bei dem Tatvorwurf um eine Straftat im
Sinne von
§ 89a StGB (Vorbereitung einer schweren
staatsgefährdenden Gewalttat) handelt.
[Schwerwiegende Straftat:] Ob es sich
bei der »Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat« um
eine schwerwiegende Straftat handelt, kann dem Wortlaut von § 89a
StGB nicht unbedingt entnommen werden, zumal § 89a StGB für minder
schwere Fälle einen geringeren Strafrahmen zulässt und im Übrigen das
Gericht die Strafe nach seinem Ermessen mildern (§ 49 Abs. 2) oder von
einer Bestrafung nach dieser Vorschrift absehen kann, wenn der Täter
freiwillig die weitere Vorbereitung der schweren staatsgefährdenden
Gewalttat aufgibt und eine von ihm verursachte und erkannte Gefahr, dass
andere diese Tat weiter vorbereiten oder sie ausführen, abwendet oder
wesentlich mindert oder wenn er freiwillig die Vollendung dieser Tat
verhindert.
Wird ohne
Zutun des Täters die bezeichnete Gefahr abgewendet oder wesentlich
gemindert oder die Vollendung der schweren staatsgefährdenden Gewalttat
verhindert, genügt sein freiwilliges und ernsthaftes Bemühen, dieses
Ziel zu erreichen.
Diesbezüglich
ironisierend heißt es in einem Kommentar zur StPO:
»Als jüngste »Errungenschaft« des Katalogs
(von § 112a StPO = AR) darf man den Zugewinn um § 89a StGB feiern (...).
Der vermutliche Hauptzweck dieser Norm ist es (neben der Ermöglichung
anderer strafprozessualer Grundrechtseingriffe), zu ermöglichen,
mutmaßliche Terroristen längerfristig wegsperren zu können, wenn wir sie
denn schon in Deutschland einer Water-Boarding-Prozedur (derzeit immer
noch) nicht unterwerfen dürfen«.
[En04] 4
Tatsache ist,
dass die Untersuchungshaft von Personen, denen vorgeworfen wird,
staatsgefährdende Gewalttaten im Sinne von § 89a StGB vorzubereiten, zu
fördern oder zu unterstützen, eine Vielzahl von Beweisproblemen
aufwirft.
Dazu später
mehr.
05
Gefahrenprognose Wiederholungsgefahr
TOP
Die Prognose
einer Wiederholungsgefahr, also die Annahme, der Beschuldigte werde vor
rechtskräftiger Aburteilung der Tat, der er dringend verdächtig ist,
weitere erhebliche Straftaten gleicher Art begehen oder die Straftat
fortsetzen, muss sich auf eine hohe Wahrscheinlichkeit stützen können.
Diese mit
hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartende Gefahr ist durch bestimmte
Tatsachen zu belegen.
Die in diesem
Zusammenhang zu erstellende und zu begründende Prognose muss
nachvollziehbar sein und belegen, dass die Gefahr der Tatwiederholung
tastsächlich besteht (verdichtete Wahrscheinlichkeit).
Die
Beweisführung dieser Wahrscheinlichkeit ist im Freibeweis zu erbringen.
[Freibeweis bei Wiederholungsgefahr:]
Die Beweisführung der Wahrscheinlichkeit, dass der Beschuldigte vor der
rechtskräftigen Aburteilung weitere erhebliche Straftaten gleicher Art
begehen oder die Straftat fortsetzen werde, geschieht in Form des
Freibeweises. Darunter wird ein Beweisverfahren verstanden, das ohne
Bindung an das förmliche Beweisverfahren (Strengbeweis) alle
Erkenntnisquellen ausschöpfen kann, die zur Verfügung stehen und die
dazu geeignet sind, eine beweisbedürftige Tatsache begründen zu können.
[BVerfG
zum Freibeweis:] Was »Freibeweis« aus Sicht des Beschuldigten bedeutet, kann einem Urteil des BVerfG vom
02.07. 2009 - 2 BvR 1691/07 entnommen werden.
[Anlass:]
Das BVerfG hatte darüber zu entscheiden, ob Informationen, die
anlässlich von Observationen gewonnen wurden, auch dann
gerichtsverwertbar sind, wenn dazu eine richterliche Anordnung
erforderlich gewesen wäre. Rechtslage?
[Rn
68:] Lässt sich die Dauer einer
längerfristigen Observation nicht mehr rekonstruieren und aus diesem
Grund nicht verlässlich beurteilen, ob eine bestimmte Beobachtung eine
richterliche Anordnung notwendig machte, dürfen diese Unsicherheiten
nicht zu Lasten des Beschuldigten gehen, wenn sie bei rechtmäßigem
Ermittlungsverhalten nicht entstanden wären. Das Gericht muss Zweifel an
der Maßnahmendauer zu Gunsten des Betroffenen gelten lassen und deshalb
annehmen, dass die Maßnahme dem Richtervorbehalt unterlag.
Aber:
[Rn.
69:] Dies ändert nichts an dem -
verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden - Grundsatz, dass bei der
im Freibeweisverfahren erfolgenden Klärung der tatsächlichen
Voraussetzungen von Verwertungsverboten die Entscheidungsregel in dubio
pro reo nicht gilt, so dass Zweifel, die nach der (...) Sachaufklärung nicht
zu beseitigen sind, grundsätzlich zu Lasten des Angeklagten gehen (...).
Das hier vom Angeklagten grundsätzlich zu tragende Risiko der
Unaufklärbarkeit des Sachverhalts findet (...) seine Grenze dort, wo die
Unaufklärbarkeit des Sachverhalts und dadurch entstehende Zweifel des
Gerichts ihre Ursache im Unterlassen der Dokumentation der
Ermittlungsmaßnahme in den Akten trotz gesetzlich angeordneter
Dokumentationspflicht haben.
[En05]
5
Mit
anderen Worten:
Auch
ein Freibeweis lässt
es nicht zu, Behauptungen aufzustellen, die nicht glaubhaft belegt
werden können.
[Freibeweis - Zusammenfassung:] Diese
Form der Beweisführung bezieht sich auf Tatsachen, die nicht die Schuld-
oder Straffrage betreffen. Insoweit sind alle Beweismittel zulässig. Es
besteht auch keine Bindung an die Regelungen der StPO, die das
Beweisverfahren betreffen (§§ 244 - 256 StPO).
Die
Revisionsgerichte sind nicht an die im Freibeweis vorgebrachten
Tatzusammenhänge gebunden.
[Freibeweis im Zusammenhang mit § 89a StGB:]
Die Bedeutung, die
§ 89a StGB (Vorbereitung einer schweren
staatsgefährdenden Gewalttat) im Rahmen der vielfältigen polizeilichen
Aktivitäten im Zusammenhang mit der Terrorismusbekämpfung seit Ende 2014
eingenommen hat (Verhinderung der Ausreise von Rückkehrern in
Kampfgebiete der IS etc. und die dazu führte, dass § 112a StPO im Jahre
2015 entsprechend modifiziert wurde), macht es erforderlich, zum Freibeweis
folgende Anmerkungen hinzuzufügen.
Im
Zusammenhang mit dem Vorwurf der Vorbereitung einer schweren
staatsgefährdenden Gewalttat im Sinne von § 89a StPO kommen zum Beispiel
folgende Beweisanzeichen im Sinne des Freibeweises in Betracht:
-
Zugehörigkeit zur Szene
-
Äußerung
von radikalen Positionen zur Rechtfertigung extremistischer
Gewalttaten in der Öffentlichkeit, im Internet, in Foren etc.
-
Ausreise
in ein Terrorcamp
-
Einschlägige öffentliche Meinungsäußerung auf Websites, im Facebook
oder anderen sozialen Netzwerken.
Mit anderen
Worten:
Als Tatsachen
kommen somit nicht nur das Vorleben des Beschuldigten, seine
Lebensumstände, sein Freundeskreis und seine Zugehörigkeit zur
extremistischen Szene, sondern auch seine Aktivitäten in sozialen
Netzwerken in Betracht.
Kurzum:
Alles, was
»Big Data« über den Beschuldigten weiß und rechtmäßig von der Polizei
erhoben und ausgewertet werden kann, darf im Wege des Freibeweises gegen
ihn verwendet werden.
06
Weitere Ermächtigungsvoraussetzungen
TOP
Dazu zählen:
-
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Haft zur Abwehr der drohenden
Gefahr erforderlich)
-
Zu erwartende Freiheitsstrafe von mehr als 1 Jahr
-
Die Befugnis kann auch auf Minderjährige angewendet werden.
[Verhältnismäßigkeit - Erforderlichkeit:] Sicherungsverwahrung auf der Grundlage von
§
112a StPO (Haftgrund der
Wiederholungsgefahr) ist unzulässig, wenn sich die
Wiederholungsgefahr durch andere, den Rechtskreis des Beschuldigten
weniger belastende Maßnahmen wirksam begegnen lässt (z.B. freiwillige
Anstaltsbehandlung bei Sittlichkeitsdelikten oder im Hinblick auf
»Terrorverdacht«: Teilnahme an einer Therapie etc.).
Solche Möglichkeiten entziehen
sich aber der polizeilichen Beurteilungsmöglichkeiten, diese »milderen«
Mittel stehen jedoch einem Richter auf der Grundlage von
§ 116 StPO
(Aussetzung des Vollzugs) zur Verfügung.
[Forderungen des BGH:] Mit Urteil vom
8.5.2014 - 3 StR 243/13 geht der BGH davon aus, dass
§ 89a StGB
(Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat)
verfassungskonform auszulegen ist. [En06]
6
[Verfassungskonforme Auslegung:] In
diesem Zusammenhang gesehen äußern sich die Richter umfangreich zur
Geeingnetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit von § 89a StGB
(Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat).
[Zu
erwartende Mindestfreiheitsstrafe:]
Diese Frage, ob auf der Grundlage des bestehenden Tatverdachts mit einer
Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr zu rechnen ist, wird nur ein
Richter beurteilen können, der darüber zu entscheiden hat, ob ein
Beschuldigter auf der Grundlage von § 112a StPO wegen
Wiederholungsgefahr in U-Haft genommen wird.
Diesbezügliche
Einschätzungen der Polizei bzw. der Staatsanwaltschaft können somit nur
insoweit von Bedeutung sein, vage beurteilen zu können, ob die Einholung
einer richterlichen Anordnung überhaupt Erfolg haben kann oder erfolglos beleiben
wird.
[Jugendstrafrecht:] Sollte es sich bei
dem Beschuldigten um einen Minderjährigen handeln, kann § 112a StPO
ebenfalls zur Anwendung kommen. Nach h.M. kommt allerdings die weniger
einschneidende Reaktion der einstweiligen Unterbringung nach
§ 71
Abs. 2 JGG (Vorläufige Anordnung über die Erziehung) in Betracht, wenn dadurch der Wiederholungsgefahr
(Neigung zu Gewaltdelikten) ausreichend begegnet werden kann.
07 OLG
Hamm und Wiederholungsgefahr
TOP
Mit Beschluss
vom Beschluss vom 01.04.2010 - III WS 161/10 hat sich das OLG Hamm zum
Haftgrund der Wiederholungsgefahr wie folgt positioniert:
Im Beschluss
heißt es:
Der Haftgrund
nach § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO verlangt (...), dass durch die wiederholt
begangene Anlasstat die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigt wird
und dass aufgrund bestimmter Tatsachen die Gefahr der Begehung weiterer
erheblicher Straftaten gleicher Art besteht, wobei bei einer bereits
erfolgten, noch nicht rechtskräftigen Verurteilung die durch diese
Verurteilung erkannte Strafe in der Regel für die Prüfung der
Straferwartung als maßgebend anzusehen ist.
Auch in der
amtlichen Gesetzesbegründung (BT-Drucksache VI/3248, S. 4) ist zu
§ 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO ausgeführt, dass die zu erwartende Freiheitsstrafe
in den Fällen der Nr. 2 mehr als ein Jahr betragen müsse und dass damit
zugleich die Anwendbarkeit der Vorschrift in den Fällen ausgeschlossen
werde, in denen eine Strafaussetzung zur Bewährung erwartet werden
könne.
Die Frage einer etwaigen
Strafaussetzung zur Bewährung ist jedoch bei mehreren Straftaten eines
Täters nur hinsichtlich der in diesem Fall zu bildenden
Gesamtfreiheitsstrafe und nicht auch bezüglich der vorab festgesetzten
Einzelfreiheitsstrafen zu prüfen.
§ 112a Abs. 1
Nr. 2 StPO erfasst mit seiner 2. Alternative, wonach der dringende
Tatverdacht einer wiederholten Begehung einer Katalogtat erforderlich
ist, gerade eine Fallgestaltung, bei der in der Regel die Bildung einer
Gesamtstrafe zu erfolgen hat, da eine wiederholte Begehung einer
Katalogtat das Vorliegen von zumindest zwei Straftaten voraussetzt.
Für den Haftgrund des § 112a Abs. 1 Nr. 2
StPO ist es erforderlich, dass die fortgesetzte bzw. wiederholt
begangene Anlasstat zu einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der
Rechtsordnung geführt hat, wobei bei einer wiederholten Begehung der
Anlasstat der erforderliche Schweregrad grundsätzlich bei jeder
einzelnen Tat vorliegen muss (...). Erforderlich sind Anlasstaten, die
einen überdurchschnittlichen Schweregrad und Unrechtsgehalt aufweisen
(...). Es muss sich um solche Taten handeln, die mindestens in der
oberen Hälfte der mittelschweren Straftaten liegen (...). Maßgebend bei
der Bewertung sind insbesondere auch Art und Umfang des jeweils
angerichteten Schadens. [En07]
7
Ende des Kapitels
TOP
§ 112a StPO
(Haftgrund der Wiederholungsgefahr)
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08
Quellen
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Die Quellen wurden am angegebenen Zeitpunkt
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Endnote_01
Haftgrund Wiederholungsgefahr BVerfGE 35, 185
BVerfG, Beschluss vom 30.05.1973 - 2 BvL 4/73
http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv035185.html
Aufgerufen am 21.04.2015
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Endnote_02
Dringender Tatverdacht
SK-StPO II
Paeffgen, § 112 StPO
Seite 710 Rn. 9
Zurück
Endnote_03
Fortgesetzt und wiederholt
BGH, Beschluss vom 03.05.1994 - BGHSt 40, 138
http://www.hrr-strafrecht.de/hrr/2/93/gsst-2-93.php
Aufgerufen am 25.01.2015
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Endnote_04
Allgemeines zur Wiederholungsgefahr
SK-StPO II - Paeffgen - § 112a - S. 767, Rn.
14a
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Endnote_05
Freibeweis
http://www.bundesverfassungsgericht.de/
entscheidungen/rk20090702_2bvr169107.html
Aufgerufen am 25.01.2015
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Endnote_06
Verfassungskonforme Auslegung von
Wiederholungsgefahr
BGH 3 StR 243/13 - Urteil vom 8. Mai 2014 (LG
Frankfurt a.M.)
http://www.hrr-strafrecht.de/hrr/3/13/3-243-13-1.php
Aufgerufen am 25.01.2015
Zurück
Endnote_07
Wiederholungsgefahr
OLG Hamm, Beschluss vom 01.04.2010 - III WS
161/10
http://www.burhoff.de/insert/?/asp_beschluesse/
beschluesseinhalte/1205.htm
Aufgerufen am 25.01.2015
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§ 112a StPO
(Haftgrund der Wiederholungsgefahr)
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