VVPolG NRW zu § 35
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Gewahrsam (zu § 35)
35.0
§ 35 regelt den Entzug der Freiheit zur
Gefahrenabwehr. Eine Freiheitsentziehung liegt außerdem in den Fällen
der Durchsetzung einer Vorladung gemäß § 10 Abs. 3 oder Durchführung
einer Identitätsfeststellung gemäß § 12 Abs. 2 Satz 3 vor. Die
Vorschriften über die Freiheitsentziehung in Strafverfahren (Verhaftung
und vorläufige Festnahme, insbesondere nach den §§ 112 ff., 127 und 163b
StPO) bleiben unberührt.
35.1 (zu Absatz 1)
35.11
Bevor eine hilflose Person in Gewahrsam
genommen wird, ist zu prüfen, ob sie - ggf. unter Einschaltung des
Rettungsdienstes - unmittelbar einem Angehörigen oder einer anderen
geeigneten Stelle (Krankenhaus, Heim o. ä.) übergeben werden kann.
Ebenso ist zu verfahren, wenn eine hilflose Person in Gewahrsam genommen
worden ist. Soll eine hilflose Person in das Polizeigewahrsam
eingeliefert werden, ist zuvor die Gewahrsamsfähigkeit durch einen Arzt
feststellen zu lassen. Hilflosigkeit liegt insbesondere vor, wenn bei
einer Person tiefgreifende Störungen des Bewusstseins, der Orientierung,
der Wahrnehmung, der Auffassung oder auch des Denkens einzeln oder in
Kombination auftreten.
35.12
Wird aufgrund des § 35Abs. 1 Nr. 4 eine
gerichtliche Entscheidung gemäß § 36 herbeigeführt, ist die berechtigte
Person unverzüglich zu unterrichten und darauf hinzuweisen, dass sie die
Möglichkeit hat, gemäß § 918 ZPO einen über die Gewahrsamnahme
hinausgehenden Sicherheitsarrest beim Arrestgericht (§ 919 ZPO) zu
beantragen. Die verpflichtete Person ist im Falle eines
Sicherheitsarrestantrages der berechtigten Person durch die Polizei dem
Arrestgericht vorzuführen.
35.2 (zu Absatz 2)
Nicht erforderlich ist, dass von den
Minderjährigen eine konkrete Gefahr ausgeht oder ihnen eine solche
droht.
35.3 (zu Absatz 3)
Die Ingewahrsamnahme ist zulässig, wenn noch
kein Vollstreckungshaftbefehl oder noch kein Ersuchen der
Justizvollzugsanstalt vorliegt. Die Justizvollzugsanstalt ist
unverzüglich zu unterrichten. Für die Zurückbeförderung der betroffenen
Person sind möglichst die Sammeltransporteinrichtungen der
Justizbehörden in Anspruch zu nehmen.
01 Allgemeines zu
§ 35 PolG NRW
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Im Dezember 2018 wurde die
Gewahrsamsbefugnis modifiziert und durch die nunmehr im § 35 Abs. 1 Nr. 6 PolG NRW
(Gewahrsam) enthaltene Regelung erweitert:
(1) Die Polizei kann eine Person
in Gewahrsam nehmen, wenn
6. das
unerlässlich ist, um eine Aufenthaltsanordnung oder ein
Kontaktverbot nach § 34b oder die Anordnung einer elektronischen
Aufenthaltsüberwachung nach § 34c durchzusetzen.
Mehr dazu in einer eigenen Randnummer.
An dieser Stelle sollen zuerst einmal die Zusammenhänge erörtert werden,
die für das Verstehen der Gewahrsamsbefugnis unverzichtbar sind.
Als Gewahrsamnahmen sind
Rechtseingriffe in die persönliche Bewegungsfreiheit von Personen
anzusehen, die zur Gefahrenabwehr erforderlich werden und bei denen es
sich immer um Freiheitsentziehungen handelt.
Die Maßnahme ist dadurch
gekennzeichnet, dass es erklärtes polizeiliches Ziel ist, eine Person im
Rahmen des gesetzlich erlaubten Zeitmaßes an einem Ort so lange
festzuhalten, bis die Gefahr beseitigt ist. Durch die damit verbundene
Verwahrungsnahme der Person wird ein besonderes Gewaltverhältnis
begründet.
Einschlägige Befugnis für die Gewahrsamnahme ist § 35 PolG
NRW (Gewahrsam).
[Keine Gewahrsamnahme:] Bei
anderen Eingriffen in die persönliche Freiheit von Personen, die nicht
auf die Gewahrsamsbefugnis des PolG NRW gestützt werden können, sind
Eingriffe in die Bewegungsfreiheit einer Person nur unter den
Voraussetzungen der speziellen Befugnisse zulässig, die ebenfalls
Eingriffe in die Bewegungsfreiheit einer Person zulassen.
Beispiele:
-
Festhalten und Verbringen
einer Person zur Identitätsfeststellung zur Polizeiwache auf der
Grundlage von § 12 Abs. 2 PolG NRW
-
Identitätsfeststellung auf der
Grundlage von § 163b StPO
-
Vorläufige Festnahme zum Zweck
der Strafverfolgung (§ 127 Abs. 2 in Verbindung mit § 112 StPO)
-
Verbringen einer Person zur
Entnahme einer Blutprobe auf der Grundlage von § 81c StPO u.a.
01.1 Eingriff
in die persönliche Bewegungsfreiheit
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Eine Gewahrsamnahme ist stets mit
einem Eingriff in das Grundrecht auf »körperliche Bewegungsfreiheit«
verbunden, das durch Art. 2 Abs. 2 GG iVm Art. 104 GG besonders
geschützt ist. Der Schutzbereich des Grundrechts umfasst sowohl
freiheitsbeschränkende als auch freiheitsentziehende Maßnahmen.
In der VVPolG NRW zu § 35 heißt es
dazu:
35.0
§ 35 regelt den Entzug der
Freiheit zur Gefahrenabwehr. Eine Freiheitsentziehung liegt außerdem in
den Fällen der Durchsetzung einer Vorladung gemäß § 10 Abs. 3 oder
Durchführung einer Identitätsfeststellung gemäß § 12 Abs. 2 Satz 3 vor.
Die Vorschriften über die Freiheitsentziehung in Strafverfahren
(Verhaftung und vorläufige Festnahme, insbesondere nach den §§ 112 ff.,
127 und 163b StPO) bleiben unberührt.
Bei einer Gewahrsamnahme handelt
es sich immer um eine Freiheitsentziehung. Unabhängig davon sind aber
auch Eingriffe in die persönliche Bewegungsfreiheit von Personen auf der
Grundlage anderer Befugnisse als »Freiheitsentziehungen« anzusenen, wenn
die Voraussetzungen der folgenden Definition gegeben sind.
[Definition
Freiheitsentziehung:] »Eine Freiheitsentziehung als schwerste Form
der Freiheitsbeschränkung ist nur dann gegeben, »wenn die tatsächlich
und rechtlich an sich gegebene körperliche Bewegungsfreiheit durch
staatliche Maßnahmen nach jeder Richtung hin aufgehoben wird« (vgl.
BVerfGE 94, 166, 198)«.[En01] 1
Einer Person wird die Freiheit
entzogen, wenn sie:
-
in eine Gewahrsamszelle der
Polizei eingeliefert wird
-
gegen ihren Willen in ein
Polizeifahrzeug einsteigen muss, um zur Polizeiwache gebracht zu
werden
-
von der Polizei längere Zeit
gegen ihren Willen an einem Ort festgehalten und
-
daran gehindert wird, diesen
»Festhalteort« zu verlassen
-
mit einem Polizeifahrzeug an
einen anderen Ort verbracht und dort möglicherweise sogar frei
gelassen wird.
Andere Begrifflichkeiten, die im
Zusammenhang mit polizeilichem Gewahrsam gebräuchlich sind, sind zum
Verständnis der Gewahrsamnahme nur dann hilfreich, wenn klar ist, welche
Situationen im polizeilichen Berufsalltag damit gemeint sind.
Zu diesen Begriffen zählen:
-
Sicherheitsgewahrsam
-
Vorbeugungsgewahrsam
-
Verhinderungsgewahrsam
-
Unterbindungsgewahrsam
-
Repressivgewahrsam
-
Präventivgewahrsam.
01.2 Hohe
Anforderungen an Freiheitsentziehungen
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»Sowohl Art. 2 GG als auch Art.
104 GG machen deutlich, dass es dem Grundgesetz im Bereich der
Freiheitsentziehungen (hier verstanden im Sinne von
Freiheitsbeschränkung und/oder Freiheitsentziehung = AR) auf eine
besonders rechtsstaatliche, förmliche Regelung ankommt, durch die der
Gesetzgeber selbst dazu gezwungen wird, Freiheitsentziehungen in
berechenbarer, messbarer und kontrollierbarer Weise zu regeln. Nur der
Gesetzgeber soll nach Art. 2 Abs. 2 und Art. 104 Abs. 1 GG darüber
entscheiden, in welchen Fällen Freiheitsentziehungen (Eingriffe in die
Bewegungsfreiheit einer Person = AR) zulässig sein sollen.« [En02]
2
Im Bereich von Eingriffen in die
»körperliche Bewegungsfreiheit einer Person« kommt es dem Grundgesetz
auf die Einhaltung besonderer rechtsstaatlicher formaler Regelungen an.
Inhalt und Reichweite der Formvorschriften eines freiheitsbeschränkenden
Gesetzes sind so auszulegen, dass sie eine der Bedeutung des Grundrechts
angemessene Wirkung entfalten können (vgl. BVerfGE 65, 317 [322 f.]). [En03]
3
Im Beschluss des BVerfG vom 8.
März 2011 (BVerfG 1 BvR 142/05) heißt es:
»Das Einsperren in eine
Gewahrsamszelle auf der Polizeiwache beziehungsweise auf dem
Polizeipräsidium sowie als Verbindungsglied zwischen beiden das
Verbringen dorthin mittels Polizeifahrzeugen stellen eine
Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 104 Abs. 2 GG und nicht lediglich
eine Freiheitsbeschränkung dar.« [En04] 4
In Anlehnung an diese
höchstrichterliche Feststellung handelt es sich immer dann um eine
Freiheitsentziehung, wenn eine Person gegen deren Willen:
-
in eine Gewahrsamszelle
eingesperrt wird
-
zur Gewahrsamszelle verbracht
wird
-
in einem Streifenwagen zur
Polizeiwache transportiert wird.
01.3 Gewahrsam
als Verwaltungsakt
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Eine Gewahrsamnahme ist ein
Verwaltungsakt der Polizei auf der Grundlage von § 35 PolG NRW
(Gewahrsam). Nur wenn die Voraussetzungen dieser Befugnis greifen, ist
eine Ingewahrsamnahme zulässig. Ist das der Fall, dann entfällt im Falle
eines geltend gemachten Rechtsbehelfs (Widerspruch des Betroffenen) die
aufschiebende Wirkung, weil es sich um eine polizeiliche Sofortmaßnahme
handelt (§ 80 Abs. 2 Nr. 2 VwGO).
Eine Gewahrsamnahme setzt voraus,
dass davon betroffenen Personen eröffnet wird, dass sie sich in
Polizeigewahrsam befinden. Insoweit ist bereits das Verbringen von
Personen im Streifenwagen als Gewahrsamnahme zu qualifizieren, wenn das
Verbringen dem Ziel dienen soll, diese Personen in Räumlichkeiten zu
verwahren, die für freiheitsentziehende Maßnahmen im
Polizeidienstgebäude zur Verfügung stehen (Polizeigewahrsamsräume oder
andere dazu geeignete Räume).
[Besonders Gewaltverhältnis:]
Personen, die in Polizeigewahrsam genommen wurden, befinden sich in
einem so genannten »besonderen Gewaltverhältnis«. Dieses besondere
Gewaltverhältnis wird in den Gewahrsamsordnungen der Polizeien näher
definiert.
01.4
Gewahrsamsordnung
TOP
Die Gewahrsamsordnung schreibt
vor, wie mit Personen umzugehen ist, die ins
Polizeigewahrsam eingeliefert werden oder sich darin befinden.
Diese Gewahrsamsordnung ist eine für Polizeibeamte verbindliche Norm.
Missachtungen der Gewahrsamsordnung durch Amtswalter sind
Dienstpflichtverletzungen.
Alle Länderpolizeien verfügen über
Gewahrsamsordnungen.
Wichtige Vorgaben der
Gewahrsamsordnung in NRW im Überblick:
-
Nur gewahrsamsfähige Personen
dürfen in eine Gewahrsamszelle eingeliefert werden
-
Kinder und Jugendliche sind
außerhalb der Gewahrsamsräume zu beaufsichtigen
-
Bei der Aufnahme ist von dem
einliefernden Beamten eine Einlieferungsanzeige vorzulegen
-
Über Verwahrte ist als
Nachweis der Ingewahrsamnahme die Einlieferungsanzeige zu führen
-
Die Personalien der
eingelieferten Person sind festzustellen
-
Dem Verwahrten ist Gelegenheit
zu geben, einen Angehörigen oder eine Person seines Vertrauens zu
benachrichtigen, sofern der Zweck der Verwahrung dadurch nicht
gefährdet wird; hierüber entscheidet die sachbearbeitende
Dienststelle. Die Benachrichtigung soll von Amts wegen durchgeführt
werden, wenn der Verwahrte selbst nicht in der Lage ist und die
Benachrichtigung seinem mutmaßlichen Willen nicht widerspricht. Wenn
der Verwahrte nicht wünscht oder darauf verzichtet, dass jemand
benachrichtigt wird, so ist dem zu entsprechen, falls nicht
besondere Gründe eine Benachrichtigung geboten erscheinen lassen.
Der Grund der Nichtbenachrichtigung ist in der Einlieferungsanzeige
zu dokumentieren. Bei Minderjährigen, entmündigten oder unter
vorläufige Vormundschaft gestellten Personen ist derjenige zu
benachrichtigen, dem die Sorge für die Person obliegt.
-
Die Person ist zu durchsuchen,
dabei sind Gegenstände sicherzustellen, die den Gewahrsam stören
können: Messer, Essbestecke, Schnürsenkel, Rasierklingen,
Nagelfeilen, Werkzeuge, Gürtel, Hosenträger, Feuerzeuge, Zündhölzer,
Stöcke, Schirme, evtl. auch Arzneimittel. Bargeld und sonstige
Wertsachen, die der Sicherstellung nicht unterliegen, sind in
amtliche Verwahrung zu nehmen.
-
Bereits gefertigte
Sicherstellungsprotokolle sind der Einlieferungsanzeige beizufügen.
-
Verwahrte sollen möglichst
einzeln untergebracht werden. Frauen und Männer sind getrennt,
Jugendliche getrennt von Erwachsenen unterzubringen. Bei nahen
Familienangehörigen (Ehegatten, Eltern, Kindern und Geschwister)
sind Ausnahmen zulässig.
-
Als Besucher sollen nur nahe
Familienangehörige (...), Rechtsanwälte und Rechtsbeistände,
Geistliche und konsularische Vertreter zugelassen werden.
-
Verteidigern ist jederzeit der
Kontakt mit seinem Mandanten zu erlauben.
-
Verwahrte sind in angemessenen
Zeitabständen, mindestens stündlich, einer Sichtkontrolle zu
unterziehen.
-
Die Kontrollen sind mit
Uhrzeit und Namenszeichen der kontrollierenden Beschäftigten auf der
Einlieferungsanzeige oder einem gesonderten Kontrollblatt
einzutragen. Das Kontrollblatt ist mit der Einlieferungsanzeige
aufzubewahren
[Hinweis:] Diese, nicht
abschließend aufgelisteten Verpflichtungen, die von Polizeibeamten zu
beachten sind, machen deutlich, dass es sich bei der Ingewahrsamnahme
einer Person bzw. um die Ingewahrsamnahme mehrerer Personen um eine
freiheitsentziehende Maßnahme handelt, bei der ein umfangreiches
Regelwerk zu beachten ist.
01.5 Ort des
Gewahrsams
TOP
Ziel der Ingewahrsamnahme ist es,
die in Gewahrsam genommene Person für die Dauer der Ingewahrsamnahme in
einem speziell dafür vorgesehenen Raum unterzubringen. Diese
Räumlichkeiten sind in der Gewahrsamsordnung näher bezeichnet. Dabei
handelt es sich grundsätzlich um Räumlichkeiten, in denen Personen
unterzubringen sind, denen von der Polizei ihre Freiheit entzogen wurde.
Im § 1 der
Polizeigewahrsamsordnung NRW heißt es:
Polizeigewahrsame dienen der kurzzeitigen, sicheren Unterbringung in
Zellen und allen sonstigen für den Gewahrsamsbetrieb erforderlichen
Räumen (Zugänge, Flure, Nebenräume).
Dazu zählen auch die
Gewahrsamsräume in anderen Polizeibehörden, wenn die Gewahrsamsräume der
Polizeibehörde, in der eine Person in Gewahrsam genommen worden ist,
alle »belegt« sein sollten.
Unter diesen Voraussetzungen kann
die zu verwahrende Person ausnahmsweise auch in einem Haftraum einer
Justizvollzugsanstalt verwahrt werden, welchen der Leiter der Anstalt
der Polizei zu diesem Zweck zur Verfügung stellt (§ 23
Polizeigewahrsamsordnung NRW).
[Andere Räumlichkeiten/Orte:]
Als Polizeigewahrsam im oben beschriebenen Sinne sind auch so genannte
»Gefangenensammelstellen« anzusehen. Dabei handelt es sich um mobile
Vorkehrungen, die sich dazu eignen, in Gewahrsam genommene Personen
sicher verwahren zu können (Gefangenenfahrzeuge, mobile
Gewahrsamsräume).
02
Ermächtigungsvoraussetzungen im Überblick
TOP
Der § 35 PolG NRW
(Gewahrsam) ist sprachlich so gelungen, dass das Lesen des
Gesetzestextes ausreicht, sich einen Überblick darüber verschaffen zu
können, unter welchen Voraussetzungen Personen von der Polizei in
Gewahrsam genommen werden können.
Dort heißt es:
(1) Die Polizei kann eine Person
in Gewahrsam nehmen, wenn
1. das zum Schutz der Person gegen
eine Gefahr für Leib oder Leben erforderlich ist, insbesondere weil die
Person sich erkennbar in einem die freie Willensbestimmung
ausschließenden Zustand oder sonst in hilfloser Lage befindet,
2. das unerlässlich ist, um die
unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder
einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit
zu verhindern,
3. das unerlässlich ist, um eine
Platzverweisung nach § 34 durchzusetzen,
4. das unerlässlich ist, um eine
Wohnungsverweisung oder ein Rückkehrverbot nach § 34a durchzusetzen,
5. das unerlässlich ist, um
private Rechte zu schützen, und eine Festnahme und Vorführung der Person
nach den §§ 229, 230 Abs. 3 des Bürgerlichen Gesetzbuches zulässig ist,
6. das unerlässlich ist, um eine
Aufenthaltsanordnung oder ein Kontaktverbot nach § 34b oder die
Anordnung einer elektronischen Aufenthaltsüberwachung nach § 34c
durchzusetzen.
(2) Die Polizei kann
Minderjährige, die sich der Obhut der Sorgeberechtigten entzogen haben,
in Gewahrsam nehmen, um sie den Sorgeberechtigten oder dem Jugendamt
zuzuführen.
(3) Die Polizei kann eine Person,
die aus dem Vollzug von Untersuchungshaft, Freiheitsstrafen oder
freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung entwichen
ist oder sich sonst ohne Erlaubnis außerhalb der Justizvollzugsanstalt
aufhält, in Gewahrsam nehmen und in die Anstalt zurückbringen.
[Hinweis:] In den folgenden
Randnummern werden die Voraussetzungen, unter denen Personen in
Gewahrsam genommen werden können, in der oben aufgeführten Reihenfolge,
mit gebotener fachlicher Gründlichkeit erörtert.
02.1
Schutzgewahrsam, Abs. 1 Nr. 1
TOP
Im § 35 Abs. 1 Nr. 1 PolG NRW
(Gewahrsam) heißt es:
(1) Die Polizei kann eine Person
in Gewahrsam nehmen, wenn
1. das zum Schutz der
Person gegen eine Gefahr für Leib oder Leben erforderlich ist, insbesondere weil die
Person sich erkennbar in einem die freie Willensbestimmung
ausschließenden Zustand oder sonst in hilfloser Lage befindet.
Sinn und Zweck dieser Regelung ist
es, Personen den erforderlichen Schutz zukommen zu lassen, weil sie
selbst nicht mehr dazu in der Lage ist, entsprechende Vorsorge für sich
selbst zu treffen.
Der unbestimmte Rechtsbegriff »Gefahr für Leib oder
Leben« ist selbsterklärend.
[Freie Willensbestimmung
ausschließender Zustand:] Auch ohne medizinische Vorkenntnisse
können Polizeibeamte davon ausgehen, dass sich Personen in einem die
freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand befinden, wenn Personen:
-
unter Schockeinwirkung stehen
und Gefahren gar nicht mehr wahrnehmen
-
aufgrund von starkem Alkohol-
oder Drogengebrauch Gefahren ignorieren
-
einen Suizid versucht haben
und von der Polizei daran gehindert wurden
-
nicht mehr wissen, wie sie
heißen oder wo sie wohnen (Demenzerkrankungen etc.)
-
sich völlig apathisch
verhalten und auf Zureden nicht reagieren
-
ihr Verhalten so
außergewöhnlich ist, dass jeder vernünftige Mensch davon ausgeht,
dass diese Person vor sich selbst geschützt werden muss.
Besinnungslose Personen befinden
sich in einer lebensbedrohlichen Lage, die sofortige erste Hilfe und das
Hinzuziehen eines Notarztes erforderlich macht. Besinnungslose Personen
dürfen nicht in Polizeigewahrsam genommen werden. Besinnungslose
Personen sind nicht gewahrsamsfähig.
[Sonst in hilfloser Lage:]
Diese Formulierung ist als Ergänzung zu dem zuvor beschriebenen Zustand
der Hilflosigkeit zu verstehen. Dadurch wird lediglich das Spektrum
möglicher Situationen erweitert, in denen Personen zu ihrem eigenen
Schutz in Gewahrsam genommen werden können.
Sind die Voraussetzungen für den
Schutzgewahrsam einer Person gegeben, wird eine Person von der Polizei
nur dann in eine polizeiliche Gewahrsamszelle eingeliefert, wenn diese
Person »gewahrsamsfähig« ist.
Dazu heißt es in der AVV zum PolG
NRW wie folgt:
35.1 (zu Absatz 1)
35.11
Bevor eine hilflose Person in
Gewahrsam genommen wird, ist zu prüfen, ob sie - ggf. unter Einschaltung
des Rettungsdienstes - unmittelbar einem Angehörigen oder einer anderen
geeigneten Stelle (Krankenhaus, Heim o. ä.) übergeben werden kann.
Ebenso ist zu verfahren, wenn eine hilflose Person in Gewahrsam genommen
worden ist. Soll eine hilflose Person in das Polizeigewahrsam
eingeliefert werden, ist zuvor die Gewahrsamsfähigkeit durch einen Arzt
feststellen zu lassen. Hilflosigkeit liegt insbesondere vor, wenn bei
einer Person tiefgreifende Störungen des Bewusstseins, der Orientierung,
der Wahrnehmung, der Auffassung oder auch des Denkens einzeln oder in
Kombination auftreten.
Im Folgenden werden typische Fälle
des so genannten »Schutzgewahrsams« problemorientiert vorgestellt.
[Beispiel:] In einer kalten Winternacht (- 5 Grad), wird von der
Polizei ein betrunkener Stadtstreicher im Eingangsbereich eines
Kaufhauses aufgefunden. Der Mann schläft dort, eingewickelt in die Reste
einer Tageszeitung. Der Mann kann von den Polizeibeamten »geweckt«
werden, ist aber nicht dazu in der Lage, aufzustehen. Vielmehr stellen
die Beamten fest, dass der Mann sich selbst »eingenässt« hat, ansonsten
aber einen durchaus lebendigen Eindruck macht, denn er beschimpft die
Beamten auf das Übelste. Der Mann wird zur Ausnüchterung in Gewahrsam
genommen. Rechtslage?
Offenkundig ist, dass der Mann
alkoholbedingt nicht mehr dazu in der Lage ist, sich so zu verhalten,
wie das die menschliche Vernunft in einer kalten Winternacht einfordert,
um nicht zu erfrieren oder Schaden an der Gesundheit zu nehmen. Es
handelt sich folglich um einen Anwendungsfall von § 35 Abs. 1 Nr. 1 PolG
NRW.
Ob in diesem Fall die
Gewahrsamsfähigkeit durch einen Arzt festgestellt werden muss, ist
Tatfrage. Hier wird davon ausgegangen, dass darauf bei Personen
verzichtet werden kann, die eine besondere Affinität zum Alkohol haben
und zu deren Lebensgewohnheiten es gehört, sich entsprechenden Gefahren,
»wann immer sich die Möglichkeit dazu bietet«, mit voller Hingabe
hinzugeben.
[Beispiel:] Passanten haben die Polizei darüber in Kenntnis gesetzt,
dass auf einer öffentlichen Toilette ein Drogensüchtiger liegt. Vor Ort
wird von der Polizei festgestellt, dass es sich um einen jungen Mann
handelt, der mit verdrehten Augen und kaum noch ansprechbar in seinem
eigenen Erbrochenen liegt. Rechtslage?
Offensichtlich ist, dass der junge
Mann sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand
bzw. in einer hilflosen Lage befindet. Erkennbar ist auch, dass er
dringend ärztlicher Hilfe bedarf. Die Polizei wird diese Person folglich
nur dann in Polizeigewahrsam nehmen, wenn ein Arzt die
Gewahrsamsfähigkeit dieser Person attestiert hat. Die Beamten werden
folglich einen Rettungswagen anfordern, um von einem Notarzt feststellen
zu lassen, ob medizinische Hilfe erforderlich ist oder der Mann in
Gewahrsam genommen werden kann.
In eine polizeiliche
Gewahrsamszelle wird solch eine Person nur dann eingeliefert, wenn ein
Arzt die Unbedenklichkeit einer Gewahrsamnahme attestiert.
[Beispiel:] Einem demenzkranken alten Mann ist es gelungen, sich aus
dem Pflegeheim zu entfernen, in dem für ihn gesorgt wird. Stunden später
wird der Mann von der Polizei auf einer Bank in der Innenstadt
angetroffen. Der Mann weiß nicht, wie er heißt und wo er wohnt. Die
Beschreibung passt aber genau auf die Person, die von der
Pflegeheimleitung bei der Vermisstenmeldung der Polizei mitgeteilt
wurde. Der Mann weigert sich, in den Streifenwagen einzusteigen.
Behutsam sorgen die Beamten dafür, dass der Mann in den Streifenwagen
einsteigt, damit er in die Obhut des Pflegeheims zurückgebracht werden
kann. Rechtslage?
Auch wenn die Person nur
kurzfristig mit einem Streifenwagen an einen anderen Ort verbracht wird,
handelt es sich um eine Gewahrsamnahme im Sinne der Befugnis. Dieser
kurzfristige Eingriff in die Bewegungsfreiheit einer Person diente dem
Schutz des Mannes, denn er befindet sich in einem Zustand, der sowohl
für ihn selbst, aber auch für andere, gefährlich sein kann.
Festzustellen ist, dass der Mann in seiner Hilflosigkeit nicht dazu in
der Lage ist, für sich selbst zu sorgen. Folglich kann er auf der
Grundlage von § 35 Abs. 1 Nr. 1 PolG NRW NRW in Gewahrsam genommen und
der Stelle zugeführt werden, wo für ihn »gesorgt« wird.
[Hinweis:] Die
Ingewahrsamnahme zum Schutz einer Person setzt nicht voraus, dass diese
Person in eine Gewahrsamszelle der Polizei eingeliefert werden muss.
Auch das »Verbringen einer Person zu einem Angehörigen oder einer
anderen geeigneten Stelle (Krankenhaus, Heim o. ä.) ist als
Gewahrsamnahme anzusehen, wenn damit die Zwecke verfolgt werden, die in
der Gewahrsamsbefugnis aufgeführt sind.
Da die Befugnis nur
»unerlässliche« Maßnahmen zulässt, kommt ein Einschließen in einer
Gewahrsamszelle nicht in Betracht, wenn die Person in die Obhut der
Familie (Frau, Kinder) oder in die Obhut des Jugendamtes gegeben werden
kann.
02.2
Verhinderung von Straftaten, Abs. 1 Nr. 2
TOP
Im § 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW
(Gewahrsam) heißt es:
(1) Die Polizei kann eine Person
in Gewahrsam nehmen, wenn
2. das
unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder
Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von
erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit zu verhindern.
Diese Alternative der
Gewahrsamsbefugnis regelt den so genannten Präventiv- oder
Unterbindungsgewahrsam.
[Präventivgewahrsam:]
Diese Form des polizeilichen Gewahrsams war in den zurückliegenden 10
Jahren mehrfach Anlass verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen.
Präventivgewahrsam bedeutet: eine Person vorbeugend bzw. »verhütend« in
Gewahrsam zu nehmen oder einen bestimmten, mit Strafe oder Geldbuße
bedrohten Tatbestand zu verhindernd.
Einer dieser Streitfälle wurde
2013 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mit dem Tenor
entschieden, dass es sich bei dem zur Entscheidung anstehenden
Sachverhalt um eine zulässige Form des polizeilichen Präventivgewahrsams
gehandelt habe.
Dazu später mehr.
Tatsache ist, dass es sich bei der
im § 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW enthaltenen Befugnis um eine äußerst
komplexe Ermächtigung handelt, die nicht aus sich selbst heraus zu
verstehen ist, sondern nur dadurch Konturen gewinnt, indem die Anwendung
dieser Befugnis am Beispiel nachvollzogen werden kann. Zuvor ist es aber
erforderlich, die in dieser Befugnisalternative selbst benannten
unbestimmten Rechtsbegriffe zu klären:
-
unmittelbar bevorstehende
Begehung oder Fortsetzung
-
Straftat im Sinne der Befugnis
-
Ordnungswidrigkeit von
erheblicher Bedeutung (siehe folgende Randnummer)
-
Unerlässlichkeit der
Ingewahrsamnahme.
[Unmittelbar bevorstehende
Begehung oder Fortsetzung:] Der Begriff der »unmittelbar
bevorstehenden Begehung« (einer Straftat oder OWi) setzt voraus, dass
mit hoher Wahrscheinlichkeit mit dem Eintritt eines Schadens zu rechnen
ist. Der Begriff ist somit gleichzusetzen mit dem einer »unmittelbar
bevorstehenden Gefahr« bzw. dem einer »gegenwärtigen Gefahr«. In jedem
Fall aber fordert dieser unbestimmte Rechtsbegriff strenge Anforderungen
an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts. Das wiederum setzt
voraus, dass anhand nachvollziehbarer bestimmter Tatsachen die Annahme
gerechtfertigt ist, dass der Schaden sofort oder in allernächster Zeit
mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist.« [En05]
5
Eine Straftat steht dann nicht
unmittelbar bevor, wenn zur erneuten Tatbegehung dem Täter sozusagen die
dafür erforderlichen Tatmittel fehlen.
[Beispiel:] Im Januar 2008 wurde von der Polizei eine
Anti-Atomkraft-Aktivistin in Gewahrsam genommen, weil sie über den
Gleiskörper, auf dem ein Castor-Transporter transportiert wurde, eine
Seilkonstruktion gespannt hatte, in der sie sich selber einbezogen
hatte. Da die Frau auch nach mehrmaliger Zwangsandrohung nicht dazu
bereit war, diese »Seilblockade« zu verlassen, wurde sie von
Polizeibeamten »befreit« und in Gewahrsam genommen. Die Seile wurden
entfernt. Nach ca. 5 Stunden wurde die Frau aus dem Polizeigewahrsam
entlassen. Rechtslage?
2011 wurde ein vergleichbarer Fall
vom OVG NRW behandelt. Im Beschluss vom 08.12.2011 stellten die Richter
des OVG NRW fest, dass die Ingewahrsamnahme rechtswidrig gewesen sei.
In der Begründung heißt es
sinngemäß:
Die Aktion wurde durch
Polizeibeamte beendet. Schon mit Blick auf den Vorbereitungsaufwand, der
notwendig gewesen wäre, um diese Straftat (oder eine andere
Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinzeit) zu
wiederholen, bestand kein Grund, der die Annahme gerechtfertigt hätte,
dass in allernächster Zeit erneut mit einer solchen Störung zu rechnen
war. Nach Beendigung der Seilaktion konnten im Rahmen der Aufklärung
weder im Bereich der Bahnhöfe noch im Verlauf der Bahnstrecke Störer
festgestellt werden. Selbst wenn man zu Gunsten der Polizei unterstellt,
die Ausrüstung der Aktivistin sei nicht schon mit Abschluss der Bergung
sichergestellt worden, fehlte der Aktivisten jedenfalls jegliches
Material, um etwaige Seile an weiteren Bäumen befestigen zu können.
An anderer Stelle heißt es:
Als Orientierungshilfe (für die
Annahme einer unmittelbar bevorstehenden Tatwiederholung) setzten die
Richter des OVG voraus, dass der Betreffende
-
eine Wiederholung angekündigt
hat
-
zur Tatwiederholung
aufgefordert hat
-
Waffen oder sonstige verbotene
Gegenstände mitführt
oder
-
als Person anzusehen ist, die
bereits aus vergleichbaren Anlässen als Störer angetroffen worden
ist, soweit nach den Umständen eine Wiederholung dieser
Verhaltensweise unmittelbar zu erwarten ist. [En06] 6
»Nach einem das Polizei- und
Ordnungsrecht beherrschenden Rechtsgedanken, der auch dem
Verhältnismäßigkeitsprinzip entspricht, sind an die Wahrscheinlichkeit
des Schadenseintritts um so geringere Anforderungen zu stellen, je
größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist.« [En07]
7
[Straftat im Sinne der
Befugnis:] Die Befugnis eröffnet den polizeilichen
Präventivgewahrsam zur Verhütung von Straftaten. Besonderen
Anforderungen muss die jeweils in Betracht kommende Straftat nicht
entsprechen. Insoweit muss es sich nicht um »erhebliche Straftaten«
handeln, die es zu verhindern gilt.
[BVerfG 1974:] In
einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE) vom 26.02.1974 (I C
31.72) heißt es:
»Die Freiheit der Person nimmt
einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Die Entziehung der
persönlichen Freiheit muss daher stets durch gewichtige Gründe
gerechtfertigt sein (...). Zu den Belangen des Gemeinwohls, gegenüber
denen die Freiheit des Einzelnen unter Umständen zurücktreten muss,
gehört der Schutz der Allgemeinheit und einzelner vor mit hoher
Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Straftaten. Die öffentliche Sicherheit
und das berechtigte Sicherheitsbedürfnis der Gemeinschaft wären
ungenügend geschützt, wenn die Polizei ernstlich zu befürchtende
Straftaten erforderlichenfalls nicht auch durch unmittelbare
Einschränkung der persönlichen Freiheit verhindern dürfte. Die
Ingewahrsamnahme aus präventiv-polizeilichen Gründen ist daher ein
notwendiges Mittel zum Schutz der rechtsstaatlichen Ordnung vor
Rechtsbrüchen.« [En08] 8
[Beispiel:] Nachdem eine
Versammlung von der Polizei aufgelöst wurde, weil sie einen
unfriedlichen Verlauf annahm, werden Polizeibeamte von gewaltbereiten
Personen mit Steinen und Molotow-Cocktails beworfen. Mehrere Personen
können ergriffen werden. Die Personen werden so lange in
Polizeigewahrsam genommen, bis geklärt ist, was mit ihnen geschehen
soll. Rechtslage?
Zuerst einmal ist zu klären, ob im
Beispielsfall um polizeiliches Einschreiten zum Zweck der Gefahrenabwehr
oder zum Zweck der Strafverfolgung handelt. Diese Entscheidung ist
oftmals nicht leicht zu beantworten. Aus diesem Grunde ist anerkannt,
dass die Polizei den Zweck ihrer Maßnahmen in Zweifelsfällen selbst
bestimmen kann.
Im oben aufgeführten Beispiel
dürfte es zuerst einmal darauf ankommen, gewaltbereite Störer sozusagen
aus dem Verkehr zu ziehen, damit sie keine weiteren Straftaten im Sinne
von § 113 StGB (Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte) und §
114 StGB (Tätlicher Angriff auf
Vollstreckungsbeamte) begehen können.
Bei dieser Sichtweise handelt es
sich dann um die Ingewahrsamnahme einer Person zur Verhütung der
Begehung oder Fortsetzung weiterer Straftaten, die unmittelbar
bevorstehen, wenn der Gewalt durch eine unerlässliche Gewahrsamnahme kein Ende bereitet wird.
02.3
Verhinderung von OWi von erheblicher Bedeutung, Abs. 1 Nr. 2
TOP
Im § 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW
(Gewahrsam) heißt es:
(1) Die Polizei kann eine Person
in Gewahrsam nehmen, wenn
2. das
unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder
Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von
erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit zu verhindern.
[Ordnungswidrigkeit von
erheblicher Bedeutung:] Welche Ordnungswidrigkeiten damit gemeint
sind, kann weder der Befugnis noch der dazu ergangenen »Allgemeinen
Verwaltungsvorschrift (AVV zum PolG NRW)« entnommen werden. Hier wird
davon ausgegangen, dass es sich dabei nur um Ordnungswidrigkeiten
handelt, die auf unzumutbare Art und Weise Einzelpersonen oder die
Allgemeinheit berühren.
In Betracht kommen zum Beispiel
Ordnungswidrigkeiten aus dem Umweltrecht (Verschmutzung von Gewässern,
unzulässige Entsorgung von Abfällen, Verbrennen von Müll etc.),
unerlaubtes Abbrennen pyrotechnischer Gegenstände außerhalb der vom
Gesetz erlaubten Zeiten, zum Beispiel in Fußballstadien oder auf dem Weg
dahin (§ 23 iVm § 46 SprengV), Mitführen von Vermummungsmitteln
anlässlich von Versammlungen (§ 29 VersG) sowie erhebliche Störungen der
Nachtruhe im Sinne von § 117 OWiG bzw. § 9 LImschG NRW.
Für die Polizei ist der
Präventivgewahrsam zur Abwehr ruhestörenden Lärms zur Nachtzeit ein häufiger
Grund zum Einschreiten.
[Ruhestörender Lärm als OWi von
erheblicher Bedeutung:] Die Störung der Nachtruhe ist im
polizeilichen Berufsalltag oftmals Anlass dafür, eine Person
vorübergehend in Polizeigewahrsam zu nehmen.
Ruhestörender Lärm kann
verursacht werden durch:
-
Tongeräte (diese dürfen nur in
einer solchen Lautstärke betrieben werden, dass kein Unbeteiligter
dadurch gestört wird).
-
Hundegebell während der
Nachtruhe
-
Lautstarke Ehestreitigkeiten
nach 22.00 Uhr, wenn diese Streitigkeiten länger als eine halbe
Stunde andauern.
Kurzfristige lautstarke
Wortgefechte sind von den Nachbarn hinzunehmen. Wegen wiederholter
lautstarker Ehestreitigkeiten verurteilte das AG Düsseldorf zum Beispiel
die Verursacher zu einer Geldbuße von 500 Euro.[En09] 9
[Wichtig:] Kurzfristige
Störungen der Nachtruhe sind nicht als Ordnungswidrigkeiten von
erheblicher Bedeutung anzusehen. Es muss sich schon um Störungen
handeln, die sowohl im Hinblick auf ihre Intensität als auch im Hinblick
auf ihre Dauer bedeutsam sind. Dazu später mehr.
[Unerlässlichkeit der
Ingewahrsamnahme:] »Unerlässlich im Sinne von § 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW
bedeutet, dass das Mittel der polizeilichen Ingewahrsamnahme nur
angewendet werden darf, wenn es zur Verhinderung der zu erwartenden
Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung geeignet und erforderlich
ist. Wenn die mit Geldbuße bedrohte Handlung durch eine polizeiliche
Maßnahme unterbunden werden kann, die den Einzelnen und die
Allgemeinheit weniger beeinträchtigt, ist die polizeiliche
Ingewahrsamnahme nicht erforderlich und daher auch nicht unerlässlich.«
[En10] 10
[Hinweis:] Weniger
einschneidend kann es zum Beispiel sein, die Lautsprecher einer
Musikanlage sicherzustellen, um die Nachtruhe der Hausbewohner
wieder herzustellen. Die Polizei muss sich aber nicht mit »mindermäßigen«
Maßnahmen begnügen, wenn der Störer die Nachtruhe seiner Mitbewohner
auch anderweitig nicht zu akzeptieren bereit ist.
Polizeibeamte können zur Regelung
polizeilicher Anlässe die Maßnahmen anordnen und durchsetzen, die nach
»pflichtgemäßem Ermessen« erforderlich sind, den Rechtsfrieden wieder
herzustellen.
02.4
Durchsetzung einer Platzverweisung, Abs. 1 Nr. 3
TOP
Im § 35 Abs. 1 Nr. 3 PolG NRW
(Gewahrsam) heißt es:
(1) Die Polizei kann eine Person
in Gewahrsam nehmen, wenn
3. das unerlässlich ist, um eine
Platzverweisung nach § 34 durchzusetzen.
Voraussetzung dieser Form einer
Ingewahrsamnahme ist ein rechtmäßig ergangener Platzverweis bzw. ein
rechtmäßig ergangenes Aufenthaltsverbot im Sinne von § 34 PolG NRW
(Platzverweisung).
[Durchsetzung:] Nach der
hier vertretenen Rechtsauffassung handelt es sich nur dann um die
Durchsetzung eines Platzverweises durch Ingewahrsamnahme, wenn das Ziel
polizeilichen Einschreitens darin besteht, die Person in das »Gewahrsam
der Polizei« einzuliefern.
Wird eine Person lediglich
zurückgedrängt oder durch Polizeibegleitung dazu gebracht, einen Bereich
zu verlassen, um im Anschluss daran wieder sich selbst überlassen zu
sein, handelt es sich nicht um einen Anwendungsfall der o.g. Befugnis,
sondern um einen Realakt, der darin besteht, einem rechtmäßig erlassenen
Verwaltungsakt (Platzverweis) Geltung zu verschaffen, indem die Person,
erforderlichenfalls unter Anwendung von Zwang, dazu bewegt wird, einen
bestimmten Ort zu verlassen.
Meist reicht dafür ein mit
geringem Kraftaufwand verbundenes Zurückdrängen aus, was nicht als Zwang
zu bewerten ist und von betroffenen Personen nicht als »Zwang«
wahrgenommen wird.
Im Folgenden werden Beispiele
erörtert, die zur Durchsetzung einer Platzverweisung erforderlich sind.
[Beispiel:] Polizeibeamte werden um Einschreiten ersucht, weil ein
Mann an einem Tag der offenen Tür im Kreishaus einer Stadt Flugblätter
mit der Aufschrift »Gegen Korruption und Vetternwirtschaft im Kreishaus«
verteilt. Der am Einsatzort anwesende Vertreter der Stadt
(Hausrechtsinhaber) fordert im Beisein der Polizei den Mann auf, das
Kreishaus und das dazugehörige befriedete Besitztum zu verlassen. Als
der Mann der Aufforderung nicht nachkommt, erteilt der anwesende
Polizeibeamte im Anschluss an eine erfolgte »Gefährdungsansprache« dem
Mann ebenfalls einen Platzverweis. Da der Mann der Weisung nicht
nachkommt, wird er von der Polizei zur Polizeiwache gebracht.
Rechtslage?
Der Platzverweisung ist eine so
genannte Gefährdungsansprache vorausgegangen, die darin besteht, dass
dem Mann polizeiliche Ratschläge aber auch Empfehlungen und Warnungen
erteilt wurden, so dass der Betroffene weiß, was von ihm erwartet wird.
Ein solchermaßen begründeter
Platzverweis ist rechmäßig, wenn er zur Abwehr einer Gefahr erforderlich
ist.
In diesem Fall bestand eine
andauernde Störung für die Rechtsordnung (Hausfriedensbruch als
Dauerdelikt). Dieser rechtmäßige ergangene Platzverweis, der auf der
Grundlage von § 34 PolG NRW (Platzverweisung) erlassen wurde,
wurde von dem Betroffenen nicht befolgt. Da der Mann den andauernden
rechtswidrigen Zustand nicht beenden will, wird er gegen seinen Willen
mit einem Streifenwagen zur Polizeiwache gebracht. Dies ist rechtlich
gesehen bereits eine Ingewahrsamnahme, so dass es sich um einen
Anwendungsfall von § 35 Abs. 1 Nr. 3 PolG NRW (Gewahrsam)
handelt.
Wäre der Mann lediglich von dem
Polizeibeamten an einen anderen Ort geleitet worden, indem der
Polizeibeamte den Mann zum Beispiel an der Schulter ergriffen und ihn
dann behutsam aus dem vom Hausrecht umfassten Bereich geleitet hätte,
dann wäre dafür keine Ingewahrsamnahme erforderlich gewesen.
Eine solche Vorgehensweise hätte
aber aller Voraussicht nach nicht ausgereicht, den Mann davon
abzuhalten, an Orten seine Flugblätter weiter zu verteilen, die vom
Hausrecht geschützt sind. Dazu gehören auch alle vom Hausrecht umfassten
Bereiche außerhalb des Kreishauses (befriedetes Besitztum).
[Beispiel:] Polizeibeamte kontrollieren anlässlich eines
Bundesligaspiels in der Nähe des Stadions Fußballfans, die sich
besonders aggressiv zeigen. Bei der Überprüfung von zwei Fans stellen
die Polizeibeamten fest, dass diesen Personen untersagt wurde, sich an
Bundesligaspieltagen an Orten aufzuhalten, an denen es zu
Ausschreitungen kommen könnte (Stadion, Nähe des Stadions, Bahnhof,
Anmarschwege etc.). Die Personen werden daraufhin in Gewahrsam genommen
und von den Beamten zur Polizeiwache gebracht und eine Stunde nach
Spielende auf freien Fuß gesetzt. Rechtslage?
Die Zulässigkeit solcher
Aufenthaltsverbote wurde im August 2013 vom Verwaltungsgericht
Braunschweig mit der Begründung für zulässig erklärt, dass es für die
Begründung eines Betretungsverbotes nicht erforderlich sei, dass der
Betroffene bereits wegen einer Straftat verurteilt worden sei, vielmehr
genüge es, dass er z.B. in der gewaltbereiten Fußballfan-Szene selbst
auffällig geworden sei. Außerdem gingen die Richter von der Annahme aus,
dass Straftaten durch Mitglieder dieser Szene immer wieder zeigen, dass
die Gegenwart Gleichgesinnter die Gewaltbereitschaft erhöht.
Solche Aufenthaltsverbote können
auch heute noch auf der Grundlage von § 34 Abs. 2 PolG NRW angeordnet
werden, weil der im Dezember 2018 neu in das PolG NRW aufgenommene §
34b PolG NRW (Aufenthaltsvorgabe und Kontaktverbot) diese Fälle
nicht erfasst.
In seinen Entscheidungen stellt
das Verwaltungsgericht vor allem auf die gewalttätigen Ausschreitungen
ab, zu denen es am 19. Mai 2013 nach dem Zweitligaspiel zwischen
Eintracht Braunschweig und FSV Frankfurt in der Braunschweiger
Innenstadt gekommen war. Seinerzeit hatten Eintracht-Anhänger die
eingesetzten Polizeibeamten wiederholt angegriffen. Dabei hatten sie
Tische, Stühle und andere Einrichtungsgegenstände auf die Beamten
geworfen. 29 Beamte waren verletzt oder schwer verletzt worden. [En11]
11
Grundlage für dieses
Aufenthaltsverbot ist im Bundesland Niedersachsen der § 17 Abs. 4 Nds.
SOG (Platzverweisung, Aufenthaltsverbot).
Dort heißt es:
(4) Rechtfertigen Tatsachen die
Annahme, dass eine Person in einem bestimmten örtlichen Bereich eine
Straftat begehen wird, so kann ihr für eine bestimmte Zeit verboten
werden, diesen Bereich zu betreten oder sich dort aufzuhalten, es sei
denn, sie hat dort ihre Wohnung. Örtlicher Bereich im Sinne des Satzes 1
ist ein Ort oder ein Gebiet innerhalb einer Gemeinde oder auch ein
gesamtes Gemeindegebiet. Die Platzverweisung nach Satz 1 ist zeitlich
und örtlich auf den zur Verhütung der Straftat erforderlichen Umfang zu
beschränken. Die Vorschriften des Versammlungsrechts bleiben unberührt.
Diese Befugnis ist vergleichbar
mit § 34 Abs. 2 PolG NRW, in dem es heißt:
(2) Rechtfertigen Tatsachen die
Annahme, dass eine Person in einem bestimmten örtlichen Bereich eine
Straftat begehen oder zu ihrer Begehung beitragen wird, kann ihr für
eine bestimmte Zeit verboten werden, diesen Bereich zu betreten oder
sich dort aufzuhalten, es sei denn, sie hat dort ihre Wohnung oder nimmt
dort berechtigte Interessen wahr. Örtlicher Bereich im Sinne des Satzes
1 ist ein Gemeindegebiet oder ein Gebietsteil innerhalb einer Gemeinde.
Die Maßnahme ist zeitlich und örtlich auf den zur Verhütung der Straftat
erforderlichen Umfang zu beschränken. Sie darf die Dauer von drei
Monaten nicht überschreiten.
[Ingewahrsamnahme:] Werden
an Orten Personen kontrolliert, an denen sie sich aufgrund eines
rechtmäßig verfügten Aufenthaltsverbotes nicht aufhalten dürfen, können
diese Personen auf der Grundlage von § 35 Abs. 1 Nr. 3 PolG NRW zur
Durchsetzung einer Platzverweisung in Gewahrsam genommen werden. Der
Grund für die Ingewahrsamnahme entfällt, wenn die anlassbezogenen
Aktivitäten der Fußballfans beendet sind. Davon kann in der Regel etwa
eine Stunde nach Spielende ausgegangen werden.
Anderes Beispiel:
[Beispiel:] Gegen einen Kleindealer wurde von der Polizei ein
Aufenthaltsverbot erlassen, sich an einem Ort aufzuhalten, der als
Umschlagplatz für Drogen bekannt ist. Der Mann hält sich nicht an dieses
Aufenthaltsverbot. Die Folge davon ist, dass Polizeibeamte ihn immer
dann in Gewahrsam nehmen, wenn er sich dort aufhält. Rechtslage?
Ist offenkundig, dass eine
polizeiliche Maßnahme nicht mit gesetzlich zugelassenen »polizeilichen
Mitteln« erreicht werden kann, stellt sich zwangsläufig die Frage der
Geeignetheit einer solchen Maßnahme.
Da in diesem Beispiel ein
Aufenthaltsverbot offensichtlich nicht geeignet ist, den Kleindealer
davon abzuhalten, einen Ort aufzusuchen, an dem ihm der Aufenthalt
vorübergehend verboten wurde, kommt eine Ingewahrsamnahme zur
Durchsetzung dieses Aufenthaltsverbots grundsätzlich nicht in Betracht.
In solchen Fällen dürfte es
zielführender sein, durch die Festsetzung eines Zwangsgeldes dafür zu
sorgen, dass das Aufenthaltsverbot beachtet wird.
Sollte das nicht der Fall sein,
ist dieses Zwangsgeld einzutreiben, was im Falle der Zahlungsunfähigkeit
der Person damit verbunden sein kann, dass ein Richter Beugehaft
anordnet.
02.5
Durchsetzung einer Wohnungsverweisung, Abs. 1 Nr. 4
TOP
Im § 35 Abs. 1 Nr. 4 PolG NRW
(Gewahrsam) heißt es:
(1) Die Polizei kann eine Person
in Gewahrsam nehmen, wenn
4. das unerlässlich ist, um eine
Wohnungsverweisung oder ein Rückkehrverbot nach § 34a durchzusetzen.
Eine Wohnungsverweisung bzw. ein
Rückkehrverbot kommt nur dann in Betracht, wenn das zur Abwehr einer
gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person
erforderlich ist (§ 34a PolG NRW). Ist das der Fall, können Personen,
die häusliche Gewalt ausüben, sowohl aus der Wohnung als auch aus der
unmittelbaren Umgebung gefährdeter Personen verwiesen werden.
Bei einer Wohnungsverweisung bzw.
einem ausgesprochenen Rückkehrverbot handelt es sich um einen
Verwaltungsakt, bei dem im Falle eines Widerspruchs die aufschiebende
Wirkung eines geltend gemachten Rechtsbehelfs entfällt (§ 80 Abs. 2
Nr. 2 VwGO).
Das heißt:
Eine solche Maßnahme kann (weil es
sich um eine polizeiliche Sofortmaßnahme handelt) sofort vollzogen
werden.
Wie aber ist zu verfahren, wenn
der Betroffene dieser Maßnahme nicht nachkommt und sich den Zugang zu
der Wohnung zu einem späteren Zeitpunkt erzwingen will, was einer
Missachtung des Rückkehrverbotes gleichkommt?
[Beispiel:] Vor zwei Tagen wurde Herr Jedermann
von der Polizei anlässlich häuslicher Gewalt für einen Zeitraum von 10
Tagen der Wohnung verwiesen, die er bis dahin mit seiner Lebenspartnerin
teilte. Heute steht er laut schimpfend im Flur vor seiner Wohnung und
droht seiner dort verbliebenen »Lebensgefährtin« an, sie zu erwürgen,
wenn sie nicht sofort die Tür öffnet. Außerdem schlägt er wie von Sinnen
gegen die Wohnungstür. Um Einschreiten ersuchte Polizeibeamte können
Herrn Jedermann kaum bändigen, so wütend ist er. Im
Beisein der Polizei wiederholt der Mann seine Drohungen. Er steht
erheblich unter Alkoholeinwirkung. Die Beamten wissen, dass gegen den
Mann eine Wohnungsverweisung ergangen ist. Sie nehmen ihn in Gewahrsam
und bringen ihn zur Polizeiwache. Rechtslage?
Der Mann wurde auf der Grundlage
von § 34a PolG NRW (Wohnungsverweisung und Rückkehrverbot zum
Schutz vor häuslicher Gewalt) vor zwei Tagen aus seiner Wohnung
verwiesen. Da er dieser rechtmäßig ergangenen Maßnahme nicht nachkommt,
sonder unter Anwendung von Gewalt und mittels Drohungen versucht, den
Zugang zur Wohnung (aus der er verwiesen wurde) zu erzwingen, ist es
erforderlich, den Mann zur »Durchsetzung dieser Wohnungsverweisung« in
Gewahrsam zu nehmen (§ 35 Abs. 1 Nr. 4 PolG NRW), um so dem
Rückkehrverbot Geltung zu verschaffen. Danach kann die Polizei eine
Person in Gewahrsam nehmen, wenn das unerlässlich ist, um eine
Wohnungsverweisung oder ein Rückkehrverbot nach § 34a PolG NRW
durchzusetzen.
Diese Voraussetzungen sind im
vorliegenden Beispiel offensichtlich gegeben.
Der Mann wird so lange in
eine Gewahrsamszelle eingeliefert, bis die Wirkung des Alkohols
nachgelassen hat. Im Anschluss daran wird ihm, vor seiner Freilassung, erneut eröffnet, dass er
für die Dauer der erlassenen Wohnungsverweisung kein Recht hat, diese zu
betreten.
Sollte es zu einem späteren
Zeitpunkt erneut zu Missachtungen des Rückkehrverbotes kommen, ist unter
besonderer Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit erneut zu
entscheiden, ob der Mann in Gewahrsam genommen wird.
Eine erneute
Gewahrsamnahme dürfte in solch einem Fall dann unvermeidlich sein, wenn
nur so unmittelbar bevorstehende Straftaten verhindert werden können.
02.6 Gewahrsam
zum Schutz privater Rechte, Abs. 1 Nr. 5
TOP
Im § 35 Abs. 1 Nr. 5 PolG NRW
(Gewahrsam) heißt es:
(1) Die Polizei kann eine Person
in Gewahrsam nehmen, wenn
5. das
unerlässlich ist, um private Rechte zu schützen, und eine
Festnahme und Vorführung der Person nach den §§ 229, 230 Abs. 3 des
Bürgerlichen Gesetzbuches zulässig ist.
Der Schutz privater Rechte obliegt
der Polizei nur dann, wenn gerichtlicher Schutz nicht rechtzeitig zu
erlangen ist und wenn ohne polizeiliche Hilfe die Verwirklichung des
Rechts vereitelt oder wesentlich erschwert werden würde, siehe § 1
Abs. 2 PolG NRW (Aufgaben der Polizei).
Der Schutz privater Rechte im
Sinne von § 35 Abs. 1 Nr. 5 PolG NRW beschränkt sich darauf, eine Person
festzunehmen, um sie einem Richter beim Amtsgericht vorzuführen, damit
die Person in »persönlichen Arrest« genommen werden kann, falls sich der
Anspruchsberechtigte nicht damit begnügt, dass die Identität der von ihm
festgehaltenen Person von der Polizei festgestellt wird. Durch eine
Gewahrsamnahme soll verhindert werden, dass sich eine Person ins Ausland
absetzen kann, um sich dadurch der Verpflichtung zu entziehen, im Inland
bestehende Schulden zu begleichen. Gleiches gilt, wenn der Schuldner im
Inland häufig den Wohnort wechselt.
Das folgende Beispiel beschreibt,
welcher Weg normalerweise zu begehen ist, um einen »persönlichen Arrest«
zu erwirken.
[Beispiel:] Im Januar 2014 hat die BMW-Hauptaktionärin Susanne
Klattens die Erzwingungshaft ihres Ex-Liebhabers durch einen
Gerichtsbeschluss erwirkt. Als der Mann nach verbüßter Haft das
Gefängnis verlassen wollte, wurde er zum Schutz privater Rechte erneut
ergriffen und in ein anderes Gefängnis gebracht. Der Ex-Liebhaber
schuldete Frau Klattens eine Geldsumme in Höhe von 7 Millionen Euro.
Durch die richterliche Anordnung eines »persönlichen Arrestes« sollte
die Flucht des Mannes in die Schweiz verhindert werden.
Immer dann, wenn private Rechte
auf dem üblichen Weg, also durch Gerichte und durch die Inanspruchnahme
eines Gerichtsvollziehers geltend gemacht werden können, fällt der
»Schutz privater Rechte« nicht in den Zuständigkeitsbereich der Polizei.
Nur in den Fällen, in denen nur durch sofortiges Einschreiten ansonsten
gefährdete »private Rechtsansprüche« durch die Polizei gesichert werden
müssen, kann eine Person »zum Schutz privater Rechte in Gewahrsam
genommen werden«.
[Beispiel:] Herr Flucht schuldet Herrn Anspruch einen Geldbetrag in
Höhe von 100 000 Euro. Bisher hat sich Herr Flucht beharrlich geweigert,
seine Schulden zu begleichen. Als das gerichtliche Mahnverfahren gegen
ihn betrieben wird, bekommt Herr Flucht »kalte Füße«. Zurzeit, es ist
ein Sonntag, befindet sich Herr Flucht am Ticketschalter eines
Flughafens, um sich ins Ausland abzusetzen. Herr Anspruch hat davon
Kenntnis erhalten und bittet die Polizei, seine Rechtsansprüche zu
sichern. Die Beamten können Herrn Flucht im Bereich des Flughafens
ergreifen, als dieser sich gerade einchecken will. Wäre die Polizei
nicht rechtzeitig zur Stelle gewesen, hätte Herr Anspruch durch
Inanspruchnahme von Selbsthilfe (§§ 229, 230 BGB) Herrn Flucht bis zum
Eintreffen der Polizei festhalten können. Da die Polizei rechtzeitig zur
Stelle ist, wird Herr Flucht von der Polizei dem zuständigen Richter
vorgeführt, damit der Mann in persönlichen Arrest genommen werden kann.
Rechtslage?
Für die Sicherung privater
Rechtsansprüche ist die Polizei nur dann zuständig, wenn folgende
Voraussetzungen greifen:
-
Die Polizei muss um ein
Einschreiten ersucht werden und ein durchsetzbarer privatrechtlicher
Anspruch muss hinreichend glaubhaft gemacht worden sein.
-
Außerdem darf
zivilgerichtliche Hilfe nicht rechtzeitig erreichbar sein, so dass,
ohne die Inanspruchnahme polizeilicher Hilfe, die Verwirklichung des
Rechts vereitelt oder wesentlich erschwert ist.
Diese Voraussetzungen sind an
einem Sonntag gegeben, denn Gerichte sind sonntags nicht zu erreichen.
Es ist somit Aufgabe der Polizei, dafür zu sorgen, die »privaten
Rechtsansprüche« von Herrn Anspruch zu sichern. Das geht in diesem Fall
nur, indem Herr Flucht ergriffen und einem Amtsrichter vorgeführt wird,
damit dieser den persönlichen Arrest des Mannes anordnen kann. Würden
sich die einschreitenden Beamten damit begnügen, lediglich die Identität
des Mannes festzustellen, um ihn im Anschluss daran wieder frei zu
lassen, könnte er das Land verlassen.
Da bis zum Eintreffen der Polizei
die Voraussetzungen des § 229 BGB (Selbsthilfe) und des § 230
BGB (Grenzen der Selbsthilfe) greifen, könnte Herr Anspruch bis zum
Eintreffen der Polizei Herrn Flucht auch gegen dessen Willen festhalten.
Dieses Selbsthilferecht entfällt aber, sobald obrigkeitliche Hilfe
verfügbar ist (Eintreffen der Polizei).
Beim Eintreffen der Polizei am
Einsatzort geht die Verpflichtung »geltend gemachte private Rechte zu
sichern«, sozusagen auf die Polizei über. Diese wird Herrn Flucht
unverzüglich einem Amtsrichter vorführen, damit dieser den persönlichen
Arrest anordnen kann.
[Persönlicher Arrest:] Ein
Richter kann auf der Grundlage von § 916 ZPO (Arrestanspruch)
gegen den Schuldner den so genannten »persönlichen Arrest« verfügen. Der
persönliche Arrest sichert eine bestehende Forderung dadurch, dass der
Schuldner durch Verhaftung daran gehindert wird, die künftige
Vollstreckung der Schuld dadurch zu vereiteln, dass er sich zum Beispiel
ins Ausland absetzt, oder seinen Wohnsitz ständig ändert.
Ein Arrestgrund für den
»persönlichen Arrest« ist wegen der Schwere des mit ihm verbundenen
Eingriffs in die persönliche Freiheit des Schuldners gem. § 918 ZPO
(Arrestgrund bei persönlichem Arrest) nur gegeben, wenn eine
Freiheitsentziehung zur Sicherung der Forderung erforderlich ist.
Das setzt voraus, dass zum
Zeitpunkt der Anordnung handfeste Verdachtsmomente für eine mögliche
Vereitelung einer möglichen Zwangsvollstreckung gegeben sind. Das ist
zum Beispiel dann der Fall, wenn die Gefahr besteht, dass der Schuldner
ständig seinen Wohnsitz ändert oder aber Anstalten trifft, sich ins
Ausland abzusetzen.
[Beispiel:] Anlässlich eines Verkehrsunfalls mit erheblichem
Sachschaden stellt eine Polizeibeamtin fest, dass das Fahrzeug des
Unfallverursachers einem Ausländer gehört. Die Ermittlungen begründen
den Verdacht, dass das Fahrzeug nicht versichert sein kann, weil sich am
Unfallfahrzeug Kennzeichen befinden, die nicht für den Pkw ausgegeben
wurden. Der Ausländer hatte den Pkw in Düsseldorf gekauft und mit
Kennzeichen versehen, die er sich aus seiner Heimat mitgebracht hat. Der
Geschädigte verlangt von der Beamtin, seine privaten Rechtsansprüche zu
sichern. Rechtslage?
Da der Fahrzeugführer im Verdacht
steht, Verkehrsstraftaten begangen zu haben (Kennzeichenvergehen,
Verstoß gegen das Pflichtversicherungsgesetz), ist bereits zum Zwecke
der Strafverfolgung eine Personalienfeststellung geboten, außerdem ist
der Strafanspruch des Staates zu sichern (Festsetzung einer
Sicherheitsleistung).
Falls der Geschädigte zur
»Sicherung seiner privaten Rechtsansprüche« mit einem
Personalienaustausch nicht zufrieden ist, kann er die für die
Festsetzung der Sicherheitsleistung erforderliche Zeit nutzen (das kann
durchaus längere Zeit in Anspruch nehmen), um die Entscheidung eines
Richters zu einem persönlichen Sicherheitsarrest herbeizuführen (§ 230
Abs. 3 BGB). Ein richterlicher Beschluss kann auch telefonisch eingeholt
werden. Auf Anordnung des Gerichtes ist die festgehaltene Person dann
allerdings dem Gericht vorzuführen.
Falls die zur Abwicklung der
Erhebung und Festsetzung einer Sicherheitsleistung erforderliche Zeit
nicht ausreicht, um bei Gericht einen »persönlichen Arrest« zu erwirken,
kann der Ausländer gemäß § 35 Abs. 1 Nr. 5 PolG NRW in Gewahrsam
genommen werden, weil zugunsten des Geschädigten die Voraussetzungen von
§§ 229, 230 Abs. 3 BGB gegeben
sind und die Gewahrsamnahme zum Schutz seiner privaten Rechte dann
unerlässlich ist.
02.7
Durchsetzung Aufenthaltsanordnung - Kontaktverbot, Abs. 1 Nr. 6
TOP
Im § 35 Abs. 1 Nr. 6 PolG NRW
(Gewahrsam) heißt es:
(1) Die Polizei kann eine Person
in Gewahrsam nehmen, wenn
6. das
unerlässlich ist, um eine Aufenthaltsanordnung oder ein
Kontaktverbot nach § 34b oder die Anordnung einer elektronischen
Aufenthaltsüberwachung nach § 34c durchzusetzen.
Aufenthaltsanordnung und
Kontaktverbot:
§ 34b PolG NRW
(Aufenthaltsvorgabe und Kontaktverbot) trat im Dezember 2018 in Kraft.
Im Wesentlichen geht es darum, zur
Verhütung terroristischer Gefahren oder zur Verhütung von Gefahren für
Leib, Leben oder Freiheit anderer Personen oder für den Bestand oder die
Sicherheit des Bundes oder des Landes Aufenthaltsvorgaben bzw.
Kontaktverbote zu verfügen.
Während Aufenthaltsvorgaben Orte
betreffen, die eine Person nicht verlassen bzw. nicht aufsuchen darf,
schränken Kontaktverbote den Personenkreis ein, zu dem persönliche
Kontakte nicht gepflegt werden dürfen. Untersagte Kontakte beziehen sich
auch auf das Telefonieren, das Chatten und andere Formen der
Kommunikation mit Personen, die im jeweils verfügten Kontaktverbot
namentlich benannt sein müssen.
Mit anderen Worten:
Bei § 34b PolG NRW
(Aufenthaltsvorgabe und Kontaktverbot) handelt es sich um einen
schwerwiegenden und tiefgreifenden Eingriff in persönliche Freiheiten.
Die Maßnahme setzt deshalb in der
Regel, Ausnahme bei Gefahr im Verzug, einen Antrag der Behördenleitung
oder deren Vertretung an das Amtsgericht voraus, in dessen Bezirk die
Polizeibehörde ihren Sitz hat. Der richterliche Beschluss ist, auch wenn
die Befugnis dazu keine ausdrückliche Regelung enthält, der Person
auszuhändigen/zuzustellen, die von der Maßnahme betroffen ist.
Bei Gefahr im Verzug kann die
Anordnung auch durch die zuständige Behördenleiterin oder den
Behördenleiter oder deren Vertretung getroffen werden. In solch einem
Fall ist die richterliche Entscheidung unverzüglich nachzuholen.
Soweit die Anordnung des
Behördenleiters nicht binnen drei Tagen durch das Gericht bestätigt
wird, tritt sie außer Kraft.
[Hinweis:] Um eine Person
auf der Grundlage von § 35 Abs. 1 Nr. 6 PolG NRW (Gewahrsam) in
Gewahrsam nehmen zu können, um erlassene Aufenthaltsvorgaben
durchzusetzen, müsste es sich, nach der hier vertretenen
Rechtsauffassung, bei dieser Maßnahme um einen
Verwaltungsakt handeln, der sofort vollziehbar ist.
Das ist, im Gegensatz zu § 34c
PolG NRW (Elektronische Aufenthaltsüberwachung)
nicht der Fall. Dort heißt es im Absatz 8 wie folgt:
»(8) Die Anordnung [elektronische Fußfesseln zu
tragen = AR] ist sofort vollziehbar und auf höchstens drei Monate zu
befristen.«
Eine vergleichbare Regelung enthält § 34b PolG NRW
(Aufenthaltsvorgabe und Kontaktverbot) nicht. Das hat nach der
hier vertretenen Rechtsauffassung zur Folge, dass für sich allein
gesehen das »Missachten von Aufenthaltsvorgaben und Kontaktverboten«
eine Gewahrsamnahme nur dann zulässt, wenn es sich bei der
Gewahrsamnahme und der durch die Gewahrsamnahme durchzusetzenden
Aufenthaltsvorgabe um so genannte unaufschiebbare Maßnahmen im Sinne von
§ 80 Abs. 2 Nr. 2 VwGO (Aufschiebende
Wirkung, vorläufiger Rechtsschutz) handelt.
Das ist aber bei
»Aufenthaltsvorgaben« nicht der Fall, die im Übrigen schriftlich ergehen
und denen der davon Betroffene entnehmen kann, was von ihm erwartet
wird. Und wenn in dieser schriftlichen Verfügung nichts zum »sofortigen
Vollzug« geregelt ist, dann kommt eine Gewahrsamnahme im Sinne von §
35 Abs. 1 Nr. 6 PolG NRW (Gewahrsam) zur Durchsetzung einer solchen
Anordnung wohl nur in seltenen Fällen in Betracht.
Elektronische
Aufenthaltsüberwachung:
§ 34c PolG NRW (Elektronische
Aufenthaltsüberwachung) trat ebenfalls im Dezember 2018 in Kraft.
Durch diese Befugnis wird die
Polizei dazu in die Lage versetzt, den Aufenthaltsort einzelner Personen
nunmehr auch zum Zweck der Gefahrenabwehr (Verhinderung und Verhütung
von terroristischen Straftaten) mittels elektronischer Fußfesseln
überwachen zu lassen. Das geschieht durch die
»Gemeinsame elektronische Überwachungsstelle
(GÜL)« in Bad Vilbel, Hessen. Läuft dort ein Alarm auf, wird die jeweils
zuständige Stelle (Polizei oder Justiz) von den Mitarbeitern der GÜL
informiert.
Bisher konnten nur Beschuldigte nur auf der
Grundlage strafprozessualer Eingriffsbefugnisse zum Tragen
elektronischer Fußfesseln verpflichtet werden, siehe § 68b
StGB (Weisungen) in Verbindung mit § 463a StPO (Zuständigkeit
und Befugnisse der Aufsichtsstellen).
In NRW können nunmehr Personen
auch auf
der Grundlage von § 34c PolG NRW (Elektronische
Aufenthaltsüberwachung) dazu verpflichtet werden, elektronische
Fußfesseln zu tragen. Das sind die technischen Mittel, die eine
elektronische Aufenthaltsüberwachung zulassen, wenn das, vereinfacht
ausgedrückt, zur Verhinderung »terroristischer Gefahren« erforderlich
ist, um die »Fußfesselträger« durch die Überwachung und die
Datenverwendung der Geodaten, die von diesen technischen
Überwachungsgeräten ausgehen, von der Begehung solcher Straftaten
abzuhalten.
[Hinweis:] Um eine Person
auf der Grundlage von § 35 Abs. 1 Nr. 6 PolG NRW (Gewahrsam) in
Gewahrsam nehmen zu können, muss es sich bei der Anordnung,
elektronische Fußfesseln zu tragen, ebenfalls um eine vollziehbare
(Anordnung des Behördenleiters) bzw. um eine vollstreckbare Weisung
(richterlicher Beschluss) handeln.
Davon kann ausgegangen werden, denn
im § 34c Abs. 8 PolG NRW (Elektronische
Aufenthaltsüberwachung) heißt es: (8) Die
Anordnung ist sofort vollziehbar und auf höchstens drei Monate zu
befristen.
02.8 Gewahrsam
von Minderjährigen, Abs. 2
TOP
Im § 35 Abs. 2 PolG NRW
(Gewahrsam) heißt es:
(2) die
Polizei kann Minderjährige, die sich der Obhut der Sorgeberechtigten
entzogen haben, in Gewahrsam nehmen, um sie den Sorgeberechtigten oder
dem Jugendamt zuzuführen.
In der VVPolG NRW zu § 35 heißt
es:
35.2 (zu Absatz 2)
Nicht erforderlich ist, dass von
den Minderjährigen eine konkrete Gefahr ausgeht oder ihnen eine solche
droht.
Personen, die sich der Obhut von
Sorgeberechtigten entziehen, begehen weder eine Straftat noch eine
Ordnungswidrigkeit.
Damit das
Aufenthaltsbestimmungsrecht der Sorgeberechtigten dennoch durchgesetzt
werden kann, lässt es das Polizeigesetz zu, Minderjährigen in Gewahrsam
zu nehmen, um sie entweder dem Sorgeberechtigten oder dem Jugendamt
zuzuführen.
[Sorgerecht:] Das
Sorgerecht umfasst das Recht, den Aufenthaltsort des Minderjährigen zu
bestimmen und ist Teil der elterlichen Sorge (§ 1626 BGB -
Elterliche Sorge, Berücksichtigung der wachsenden Selbständigkeit des
Kindes).
Inhalt und Grenzen der
Personensorge sind im § 1631 BGB (Inhalt und Grenzen der
Personensorge) geregelt. Danach umfasst die Personensorge insbesondere
die Pflicht und das Recht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu
beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen.
[Aufenthaltsbestimmungsrecht:]
»Das Aufenthaltsbestimmungsrecht ist in § 1631 Abs. 1 BGB
geregelt. Minderjährige stehen danach unter der elterlichen Sorge bzw.
der sorgeberechtigten Personen, die neben der Bestimmung des Wohnsitzes
des Minderjährigen, auch den tatsächlichen Aufenthaltsort bestimmen
dürfen. Dies umfasst auch die Bestimmung des Umgangs mit anderen
Personen nach § 1632 Abs. 2 BGB.« [En12] 12
Ein Minderjähriger hat sich der
Obhut von Sorgeberechtigten entzogen, wenn er sich ohne Wissen des
Sorgeberechtigten entfernt hat und der momentane Aufenthaltsort des
Minderjährigen dem Sorgeberechtigten nicht bekannt ist. Nach der hier
vertretenen Rechtsauffassung ergibt sich aus § 35 Abs. 2 PolG NRW aber
auch dann einen Anspruch auf polizeiliches Einschreiten, wenn den
Erziehungsberichtigten der Aufenthaltsort ihres Kindes zwar bekannt ist,
sie aber nicht dazu in der Lage sind, das ihnen zustehende
Aufenthaltsbestimmungsrecht durchsetzen zu können.
[Welche Gefahr ist abzuwehren?]
Bei der Ingewahrsamnahme von Minderjährigen auf der Grundlage von § 35
Abs. 2 PolG NRW geht es nach dem Wortlaut der Befugnis darum, »einen
privaten Rechtsanspruch von Personen zu sichern, deren Erziehungsrechte
bedroht sind«. Mit keinem Wort erwähnt die Befugnis den Minderjährigen
selbst und die ihm drohenden Gefahren, die abgewehrt werden sollen. Eine
solche Sichtweise lässt sich mit der polizeilichen Aufgabenzuweisung
nicht in Einklang bringen, so dass hier die Rechtsauffassung vertreten
wird, dass nicht vorrangig die elterliche Sorge, sondern nur das Subjekt
dieser Sorge (das Kind, das sich in einer gefahrenbegründenden Situation
befindet) polizeiliches Einschreiten zu rechtfertigen vermag.
Davon geht auch das
Jugendschutzgesetz aus, denn unabhängig von den Voraussetzungen des § 35
Abs. 2 PolG NRW davon kann die Polizei Kinder und Jugendliche auch dann
in Gewahrsam nehmen, wenn diese sich an jugendgefährdenden Orten
aufhalten. In solchen Fällen ergibt sich die Verpflichtung zur
Gewahrsamnahme aus § 8 JuSchG.
Dort heißt es u.a.:
Hält sich ein Kind oder eine
jugendliche Person an einem Ort auf, an dem ihm oder ihr eine
unmittelbare Gefahr für das körperliche, geistige oder seelische Wohl
droht, so hat die zuständige Behörde oder Stelle die zur Abwendung der
Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Wenn nötig, hat sie das Kind
oder die jugendliche Person zum Verlassen des Ortes anzuhalten, der
erziehungsberechtigten Person (...) zuzuführen oder, wenn keine
erziehungsberechtigte Person erreichbar ist, in die Obhut des
Jugendamtes zu bringen.
In solchen Fällen dient
polizeiliches Einschreiten zwei Zielen:
-
Abwehr einer Gefahr, in der
sich das Kind oder der Minderjährige befindet
-
Realisierung des elterlichen
Sorgerechts.
[Beispiel:] Polizeibeamte kontrollieren zur Nachtzeit einen etwa 10
Jahre alten Jungen, der auf dem Bahnhofsvorplatz Personen anbettelt. Es
stellt sich heraus, dass der Junge von zu Hause weggelaufen ist.
Rechtslage?
Offenkundig ist, dass sich das
Kind zu einem Zeitpunkt auf dem Bahnhofsvorplatz aufhält, der um diese
Zeit als ein jugendgefährdender Ort anzusehen ist. Da das Kind von zu
Hause weggelaufen ist und die Sorgeberechtigten nicht wissen, wo sich
ihr Kind zurzeit aufhält, kann das Kind von der Polizei in Gewahrsam
genommen werden, um es den Sorgeberechtigten oder dem Jugendamt
zuzuführen.
Die Polizei wird das Kind den
Sorgeberechtigten zuführen, wenn diese in der Nähe wohnen. Denkbar wäre
es aber auch, das Kind so lange auf der Polizeiwache festzuhalten, bis
dass die von der Polizei benachrichtigten Sorgeberechtigten ihr Kind bei
der Polizei selbst abholen.
Ist es nicht möglich, ein auf der
Grundlage von § 35 Abs. 2 PolG NRW in Gewahrsam genommenes Kind
kurzfristig den Sorgeberechtigten zu übergeben, ist das Kind in die
Obhut des örtlich zuständigen Jugendamtes zu geben.
Unabhängig davon könnte das Kind
auch auf der Grundlage von § 8 JuSchG in Gewahrsam genommen
werden, weil dem Kind am Antreffort eine unmittelbare Gefahr für das
körperliche, geistige oder seelische Wohl droht, so dass die zuständige
Behörde oder Stelle die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen
Maßnahmen zu treffen hat.
[Beispiel:] Passanten haben die Polizei um Einschreiten ersucht,
weil vier Jungen im Alter von 10 bis 12 Jahren im Stadtpark Alkohol
trinken. Als Polizeibeamte am Einsatzort eintreffen, nimmt einer der
Jungen gerade einen tiefen Schluck aus einer Wodkaflasche. Die anderen
bestreiten, Alkohol getrunken zu haben, obwohl sie erkennbar unter
Alkoholeinwirkung stehen. Von den Beamten werden die vier Kinder zur
Polizeiwache gebracht, wo ihre Identität festgestellt werden kann. Dort
werden zwei Jungen von ihren Eltern abgeholt, die beiden anderen werden
von der Polizei in die Obhut der Eltern gebracht. Rechtslage?
Offenkundig ist, dass
Polizeibeamte in diesem Falle nicht untätig bleiben dürfen, sondern von
Gesetzes wegen dazu verpflichtet sind, geeignete gefahrenabwehrende
Maßnahmen zu treffen.
In Betracht kommt in diesem Fall
ein »Verbringen der Kinder in die Obhut sorgeberechtigter Personen«.
Als Befugnis kommt § 35 Abs. 1 Nr.
1 PolG NRW in Betracht. Danach kann die Polizei eine Person in Gewahrsam
nehmen, wenn 1. das zum Schutz der Person gegen eine Gefahr für Leib
oder Leben erforderlich ist, insbesondere weil die Person sich erkennbar
in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand oder sonst
in hilfloser Lage befindet.
Im Beispielsfall kann davon
ausgegangen werden, dass den Kindern durch den Alkoholgenuss
Gesundheitsgefahren drohen. Ziel der polizeilichen Maßnahme ist es aber
nicht, die Kinder zur Abwehr dieser Gefahr in eine polizeiliche
Gewahrsamszelle einzuliefern. Vielmehr kann es nur das Ziel der Polizei
sein, die Kinder der Obhut ihrer Sorgeberechtigten zuzuführen.
Diesbezüglich enthält der § 35
Abs. 2 PolG NRW folgende Regelung: »Die Polizei kann Minderjährige, die
sich der Obhut der Sorgeberechtigten entzogen haben, in Gewahrsam
nehmen, um sie den Sorgeberechtigten oder dem Jugendamt zuzuführen.«
Diese Befugnis würde
ausschließlich greifen, wenn sich ein Minderjähriger der Obhut der
Sorgeberechtigten »entzogen« hat. Davon kann im Beispielsfall jedoch
nicht ausgegangen werden, denn möglicherweise wohnen die Kinder ja ganz
in der Nähe des Antreffortes.
Deshalb wird hier die
Rechtsauffassung vertreten, dass § 35 Abs. 2 PolG NRW es der Polizei
auch dann erlaubt, Minderjährige ihren Sorgeberechtigten zuzuführen,
wenn der Anlass der Zuführung im unmittelbaren Zusammenhang mit der
Ausübung des Sorgerechtes steht, das zurzeit von den Eltern nicht
ausgeübt werden kann, weil ihre »Sprösslinge von den Freiheitsrechten
Gebrauch machen, die ihnen zustehen«.
Davon kann hier ausgegangen
werden, denn ab einem bestimmten Alter können Eltern gar nicht wissen,
wo sich ihre Kinder zurzeit aufhalten. Außerdem müssen Polizeibeamte
sorgeberechtigten Personen in solchen Fällen davon in Kenntnis setzen,
unter welchen Voraussetzungen sie das Kind angetroffen haben.
[Beispiel:] Um 20.00 h ersucht ein besorgter Vater die Polizei um
Einschreiten, weil seine 14-jährige Tochter von zu Hause weggelaufen ist
und sich zurzeit im Haus ihres Freundes aufhält, der bei seinem Vater
wohnt. Dort, so sagt der besorgte Vater, habe er seine Tochter vor ein
paar Minuten angesprochen und aufgefordert, mit ihm nach Hause zu
kommen. Daraufhin sei seine Tochter zurück ins Haus ihres Freundes
gerannt. Der Wohnungsinhaber habe ihm daraufhin die »Tür vor der Nase«
zugeschlagen. Der Vater verlangt von der Polizei, dafür zu sorgen, dass
er das ihm zustehende Aufenthaltsbestimmungsrecht über seine
minderjährige Tochter ausüben kann. Rechtslage?
Tatsache ist, dass das
Aufenthaltsbestimmungsrecht des Vaters zurzeit gefährdet ist, denn es
ist ihm nicht möglich, von seinem Recht Gebrauch zu machen, obwohl er
weiß, wo sich seine Tochter zurzeit befindet. Die Frage, die sich in
diesem Zusammenhang stellt, lautet, ist es aus polizeilicher Sicht
erforderlich, dafür zu sorgen, dass das »Aufenthaltsbestimmungsrecht des
Vaters« jetzt und sofort durchgesetzt werden muss.
Geht man davon aus, dass ein
Anspruch auf polizeiliches Einschreiten immer dann besteht, wenn ein
Rechtsgut gegenwärtig gefährdet ist, dann müsste die Polizei in diesem
Beispiel einschreiten, denn immerhin ist die »Rechtsordnung« so lange
gegenwärtig bedroht, wie dieser Schaden andauert.
[Fazit:] Die rechtliche
Lösung eines solchermaßen komplizierten Sachverhalts macht es aber
erforderlich, unterschiedlichste Aspekte zu prüfen und zu bewerten.
Tatsache ist, dass sich die Polizei beim Bekanntwerden eines solchen
Sachverhalts nicht einfach mit der Begründung vom Einsatzort entfernen
kann, dass es sich hier um eine »Privatangelegenheit« handelt, für die
sie nicht zuständig ist. Vielmehr wird sie sorgfältig abzuwägen haben,
ob der Minderjährigen in der in Frage kommenden Wohnung Gefahren drohen
oder nicht. Von dieser Gefahrenprognose wird es letztendlich abhängig
sein, ob die Wohnung, in der sich die Minderjährige zurzeit befindet,
auch gegen den Willen des Wohnungsberechtigten betreten werden kann.
[Durchsuchung zur Tageszeit:]
Gemäß § 41 Abs. 1 Nr. 1 PolG NRW (Betreten und Durchsuchung von
Wohnungen) kann die Polizei eine Wohnung ohne Einwilligung des Inhabers
betreten und durchsuchen, »wenn 1. Tatsachen die Annahme rechtfertigen,
dass sich in ihr eine Person befindet, die nach § 10 Abs. 3 vorgeführt
oder nach § 35 in Gewahrsam genommen werden darf«. Diese Voraussetzungen
sind gegeben, denn »Minderjährige, die sich dem
Aufenthaltsbestimmungsrecht ihrer Eltern entzogen haben«, können von der
Polizei in Gewahrsam genommen werden, um sie in die Obhut
sorgeberechtigter Personen zurückzuführen.
[Nachtzeitregelung:] Gemäß
§ 104 Abs. 3 StPO (Durchsuchung von Räumen zur Nachtzeit) umfasst
diese in dem Zeitraum vom ersten April bis dreißigsten September die
Stunden von neun Uhr abends bis vier Uhr morgens und in dem Zeitraum vom
ersten Oktober bis einunddreißigsten März die Stunden von neun Uhr
abends bis sechs Uhr morgens. Diese Regelung gilt auch für
Durchsuchungen zum Zweck der Gefahrenabwehr.
Auf der Grundlage von § 41 Abs. 1
Nr. 4 PolG NRW ist das nur zulässig, wenn 4. das zur Abwehr einer
gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder für
Sachen von bedeutendem Wert erforderlich ist.
[Fazit:] Während um 20.00 h
die Polizei die Wohnung notfalls auch gegen den Willen des
Wohnungsinhabers betreten kann, wenn dieser sich weigern sollte, die
Minderjährige in die Obhut des Vaters zu übergeben, ist das bereits eine
Stunde später rechtlich durchaus bedenklich, es sei denn, dass Fakten
bekannt sind, die die Annahme rechtfertigen, dass der Minderjährigen in
der Wohnung gegenwärtige Gefahren für »Leib, Leben oder Freiheit«
drohen.
02.9 Gewahrsam
von entwichenen Gefangenen - § 35 PolG NRW Abs. 3
TOP
Im § 35 Abs. 3 PolG NRW
(Gewahrsam) heißt es:
(3) Die Polizei kann eine Person,
die aus dem Vollzug von Untersuchungshaft, Freiheitsstrafen oder
freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung entwichen
ist oder sich sonst ohne Erlaubnis außerhalb der Justizvollzugsanstalt
aufhält, in Gewahrsam nehmen und in die Anstalt zurückbringen.
Die Polizei kann auf der Grundlage
von zwei Befugnissen entwichene Gefangene oder diesen gleichgestellte
Personen in Gewahrsam nehmen, um diese in eine JVA oder in ein
Landeskrankenhaus zurückzubringen, in denen diese entwichenen Personen
untergebracht sind.
[Auf Ersuchen der Anstalt:]
Die Polizei kann entwichene Gefangene oder Gefangenen gleichgestellte
Personen auf der Grundlage von § 87 StVollzG auf Ersuchen der
Anstalt festnehmen, aus deren Gewahrsam sich die Person unerlaubt
entfernt hat (Flucht aus JVA, keine Rückkehr vom Freigang etc.).
[Ohne Festnahmeersuchen:]
Gemäß § 35 Abs. 3 PolG NRW (Gewahrsam) kann die Polizei eine
Person in Gewahrsam nehmen, die aus dem Vollzug von Untersuchungshaft,
Freiheitsstrafen oder freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und
Sicherung entwichen ist oder sich sonst ohne Erlaubnis außerhalb der
Justizvollzugsanstalt aufhält.
[Definition Gefangener:]
Gefangene sind Personen, die entweder von der Polizei selbst
festgenommen bzw. in Gewahrsam genommen wurden oder aber aufgrund eines
richterlichen Beschlusses in einer JVA einsitzen, bzw. sich in einem
Landeskrankenhaus in Sicherungsverwahrung befinden.
[Beispiel:] Im Januar 2010 konnten aus der Justizvollzugsanstalt in
Münster zwei Insassen ausbrechen. Die beiden Insassen konnten über ein
Oberlicht in der Toilette eines zum Gefängnis gehörenden
Produktionsbetriebs entkommen. Erst im November hatte ein Ausbruch von
zwei Schwerkriminellen aus der Justizvollzugsanstalt (JVA) Aachen eine
Diskussion um die Sicherheit der Gefängnisse in Nordrhein-Westfalen
ausgelöst. Die unter anderem wegen Mordes und Mordversuchs zu
lebenslanger Haft und anschließender Sicherungsverwahrung verurteilten
Männer waren mit zwei Pistolen geflohen und hatten vorübergehend mehrere
Geiseln genommen, bevor sie wieder festgenommen werden konnten. Die
Polizei wurde in beiden Fällen um Fahndung ersucht. Rechtslage?
Sobald der Polizei ein
Fahndungsersuchen vorliegt, einen Gefangenen festzunehmen, der aus einer
JVA entflohen ist, erfolgt die Festnahme des entwichenen Gefangenen auf
der Grundlage von § 87 StVollzG.
[Beispiel:] An einem Sonntagnachmittag wird die Polizei davon in
Kenntnis gesetzt, dass ein wegen Mordes und Vergewaltigung im
Landeskrankenhaus einsitzender Mann, vom Freigang nicht zurückgekommen
ist. Rechtslage?
In Sicherungsverwahrung
einsitzende »Gewalttäter« sind Gefangenen gleichgestellt. Da ein
Festnahmeersuchen der Anstalt vorliegt, handelt es sich um eine
Festnahme im Sinne von § 87 StVollzG.
[Beispiel:] An einem schönen Sonntagnachmittag fällt einer Streife
ein Mann auf, der vom äußeren Erscheinungsbild »Insasse« des
Landeskrankenhauses sein könnte, das sich im Zuständigkeitsbereich der
Polizeibehörde befindet. Als die Beamten den Mann ansprechen, bestätigt
sich diese Annahme. Die Beamten wissen aufgrund der Häufigkeit solcher
Vorkommnisse, dass sich Freigänger in dem Landeskrankenhaus in der Regel
spätestens um 17.00 h wieder zurückmelden müssen. Da es bereits 17.30 h
ist, bringen Sie den Mann kurzerhand zum Landeskrankenhaus. Die Beamten
kommen dadurch dem Pförtner zuvor, der gerade die Polizei davon in
Kenntnis setzen wollte, dass ein »Freigänger« vom Freigang nicht
zurückgekommen ist. Rechtslage?
Da zum Zeitpunkt der Ergreifung
des Mannes kein Festnahmeersuchen des Landeskrankenhauses vorliegt, wird
die Person in diesem Fall auf der Grundlage von § 35 Abs. 3 PolG NRW
in Gewahrsam genommen und zum Landeskrankenhaus gebracht.
03 Gewahrsam und
Formvorschriften
TOP
Die wichtigsten im Zusammenhang
mit Freiheitsentziehungen auf der Grundlage des Polizeigesetzes zu
beachtenden Formvorschriften werden in Kapiteln erörtert, die auf dieser
Website zur Verfügung stehen.
-
§ 36 PolG NRW (Richterliche
Entscheidung)
-
§ 37 PolG NRW
(Behandlung festgehaltener Personen)
-
§ 38 PolG NRW (Dauer
der Freiheitsentziehung).
Insbesondere im Hinblick auf die
Dauer der Freiheitsentziehung hat der Landesgesetzgeber ein neues
Regelwerk geschaffen.
Diesbezüglich wird auf die
einschlägigen Kapitel verwiesen.
Personen, die von der Polizei in
Gewahrsam genommen wurden, sind unverzüglich einem Richter vorzuführen,
damit dieser über die Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsentziehung
entscheiden kann, siehe § 36 PolG NRW (Richterliche
Entscheidung).
Das setzt voraus, dass
-
in der Regel die Identität der
Person bekannt sein muss, denn ein Richter muss wissen, welche
Person von seiner Entscheidung betroffen ist
-
die Person dazu in der Lage
ist, überhaupt vorgeführt werden zu können. Stark alkoholisierte
Personen können erst dann vorgeführt werden, wenn sie zumindest
ansprechbar sind und wahrnehmen können, wo sie sind und was mit
ihnen gerade geschieht
-
zurzeit ein Richter verfügbar
ist, dem die Person vorgeführt werden kann. Lässt es der Zeitplan
eines Richters erst nach einigen Stunden zu, ihm eine Person
vorzuführen, dann ist das kein Verschulden der Polizei. Werden viele
Personen in Gewahrsam genommen, dann können sich allein daraus
unvermeidliche Verzögerungen ergeben. Es besteht aber die
Möglichkeit, bereits getroffene Richterentscheidungen auf ähnlich
gelagerte Fälle (die noch zur Entscheidung anstehen) anzuwenden.
Dies gilt insbesondere für die Fälle (Personen), die auf
Richteranordnung freigelassen werden mussten
-
eine Richtervorführung
entfällt, wenn der Grund der Gewahrsamnahme bereits vorher entfallen
ist. Nur zur Wahrung von Formvorschriften lässt es das Gesetz nicht
zu, einer Person die Freiheit länger zu entziehen, als das
erforderlich ist.
Die weiteren zu beachtenden
Formvorschriften sind im § 37 PolG NRW (Behandlung festgehaltener
Personen) enthalten. Der Wortlaut der Befugnis ist einschlägig. Im
Folgenden werden nur die wichtigsten Regelungen dieser Norm aufgelistet.
-
Der Person ist unverzüglich
der Grund ihrer Ingewahrsamnahme bekannt zu geben.
-
Festgehaltenen Personen ist
unverzüglich Gelegenheit zu geben, einen Angehörigen oder eine
Person ihres Vertrauens zu benachrichtigen, soweit dadurch der Zweck
der Freiheitsentziehung nicht gefährdet wird.
-
Die festgehaltene Person soll
gesondert, insbesondere ohne ihre Einwilligung nicht in demselben
Raum mit Straf- oder Untersuchungsgefangenen untergebracht werden.
-
Männer und Frauen sind
getrennt unterzubringen.
-
Festgehaltenen Personen dürfen
nur solche Beschränkungen auferlegt werden, die der Zweck der
Freiheitsentziehung oder die Ordnung im Gewahrsam erfordert.
-
Zum Schutz der Person kann die
festgehaltene Person mittels Bild- und Tonübertragung offen
beobachtet werden.
§ 38 PolG NRW (Dauer der
Freiheitsentziehung) wurde im Dezember 2018 modifiziert und bietet
nunmehr einem Richter die Möglichkeit, freiheitsentziehende Maßnahmen
zum Zweck der Gefahrenabwehr für einen längeren Zeitraum anordnen zu
können, als das bisher der Fall gewesen ist.
Für die Polizei selbst bleibt aber
alles beim bisher schon geltenden Recht.
Mit anderen Worten:
Für einschreitende Polizeibeamte
vor Ort reicht es aus, zu wissen, was im § 38 Abs. 1 PolG NRW
(Dauer der Freiheitsentziehung) steht.
Dort heißt es:
§ 38 Abs. 1 PolG NRW (Dauer der
Freiheitsentziehung)
(1) Die festgehaltene Person ist
zu entlassen,
1. sobald der Grund für die
Maßnahme der Polizei weggefallen ist,
2. wenn die Fortdauer der
Freiheitsentziehung durch richterliche Entscheidung für unzulässig
erklärt wird,
3. in jedem Falle spätestens bis
zum Ende des Tages nach dem Ergreifen, wenn nicht vorher die Fortdauer
der Freiheitsentziehung auf Grund dieses oder eines anderen Gesetzes
durch richterliche Entscheidung angeordnet ist.
Wichtig ist es auch, zu wissen,
dass eine Freiheitsentziehung zum Zwecke der Feststellung der Identität
auch heute noch im Normalfall die Dauer von insgesamt zwölf Stunden
nicht überschreiten darf.
Ist es in dieser Zeitspanne nicht möglich, die
Identität einer Person zweifelsfrei festzustellen, dann ist vor Ablauf
der 12-Stunden-Frist eine richterliche Entscheidung auf der Grundlage
von § 38 Abs. 2 Nr. 5 PolG NRW (Dauer der Freiheitsentziehung)
einzuholen.
Neuerungen im § 38 Abs. 2 PolG NRW (Dauer der Freiheitsentziehung)
Im Dezember 2018 wurde § 38 Abs. 2 PolG NRW (Dauer der
Freiheitsentziehung) modifiziert.
§ 38 Abs. 2 PolG NRW hat nunmehr folgenden Wortlaut:
(2) Durch die in Absatz 1 Nummer 3
vorgesehene richterliche Entscheidung kann in folgenden Fällen eine
abweichende Frist des polizeilichen Gewahrsams bestimmt werden:
1. gemäß § 35 Absatz
1 Nummer 2 bis zu 14 Tagen, wenn es sich um eine Straftat nach § 12
Absatz 1 StGB (Verbrechen) handelt. Durch weitere richterliche
Entscheidung ist eine einmalige Verlängerung um bis zu 14 Tage zulässig,
2. gemäß § 35 Absatz
1 Nummer 3, wenn eine Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person
besteht, bis zum Ablauf der nach § 34 angeordneten Maßnahme, maximal
jedoch bis zu sieben Tagen,
3. gemäß § 35 Absatz
1 Nummer 4 bis zum Ablauf der nach § 34a Absatz 5 angeordneten Maßnahme,
maximal jedoch bis zu zehn Tagen,
4. gemäß § 35 Absatz
1 Nummer 6 bis zu sieben Tagen,
5. zum Zwecke der
Feststellung der Identität bis zu insgesamt zwölf Stunden, wenn nicht
vorher die Fortdauer der Freiheitsentziehung auf Grund dieses oder eines
anderen Gesetzes durch richterliche Entscheidung angeordnet wurde.
Sofern Tatsachen die Annahme begründen, dass die Identitätsfeststellung
innerhalb der Frist nach Satz 1 vorsätzlich verhindert worden ist,
genügt es, wenn die richterliche Entscheidung über die Fortdauer des
Gewahrsams zum Zwecke der Identitätsfeststellung spätestens bis zum Ende
des Tages nach dem Ergreifen herbeigeführt wird. In diesem Fall darf die
Freiheitsentziehung die in Nummer 2 genannte Frist nicht überschreiten.
Das bedeutet:
Freiheitsentziehungen, die über das im § 38 Abs. 1 PolG NRW genannte
Zeitmaß hinausgehen, können nur von einem Richter angeordnet werden.
Nähere Ausführungen dazu stehen in in einem eigenen Kapitel auf dieser
Website zur Verfügung.
04 Sonderfälle
des Gewahrsams
TOP
Unter dieser Überschrift werden
Fälle thematisiert, die sich in die vorgegebene Ordnung der
Gewahrsamsbefugnis nur schwerlich einfügen lassen, ohne dass dadurch die
Übersichtlichkeit der Ermächtigungsvoraussetzungen zerstört wird.
Dennoch sind Ausführungen zu den
nachfolgend aufgeführten Gliederungspunkten für das Verständnis einer
Gewahrsamnahme nach Polizeirecht unverzichtbar. Diese Gliederungspunkte
werden im Folgenden zuerst einmal nur aufgelistet:
-
Inobhutnahme gem. § 42 SGB
VIII
-
Psychisch kranke Personen
-
Sonderfälle Schutzgewahrsam
-
Präventivgewahrsam
-
EGMR 2013 Urteil im Überblick
-
EGMR 2013 Minderheitenvotum
-
OVG Niedersachsen 2014
-
Kesselgewahrsam
-
BVerfG - Präventivgewahrsam
zur Verhütung von Straftaten zulässig
-
BVerfG 2016 - Festhalten zur
ID-Feststellung bei Tumultdelikten
-
Abschiebehaft und
Ausreisegewahrsam.
Im Folgenden werden diese
»Sonderfälle einer polizeilichen Gewahrsamnahme« in der o.g. Reihenfolge
erörtert.
04.1
Inobhutnahme gem. § 42 SGB VIII
TOP
Die Jugendämter sind dazu
verpflichtet, Kinder oder Jugendliche in Obhut zu nehmen, wenn diese
Personen aufgrund von Gewalt, Sucht, Verwahrlosung oder Unterernährung
in Gefahr sind. Auch Ausreißer und Flüchtlinge gehören zu diesem
Personenkreis. Zur sogenannten Inobhutnahme kann es auf Wunsch der
Kinder und Jugendlichen selbst oder aufgrund begründeter Hinweise von
Polizei, Schule, Erziehern, Ärzten und Bekannten der Familie kommen. [En13]
13
Gemäß § 42 Abs.1 SGB VIII
ist das Jugendamt dazu berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen
Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn
1. das Kind oder der Jugendliche
um Obhut bittet oder
2. eine dringende Gefahr für das
Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert und
a) die Personensorgeberechtigten
nicht widersprechen oder
b) eine familiengerichtliche
Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann oder
3. ein ausländisches Kind oder ein
ausländischer Jugendlicher unbegleitet nach Deutschland kommt und sich
weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten.
[Ersuchen bei der Polizei:]
Wie ist zu verfahren, wenn zu Zeiten, in denen die Jugendämter nicht zu
erreichen sind, Kinder oder Jugendliche die Polizei darum bitten, in
Obhut genommen zu werden?
[Beispiel:] Eine 12-Jährige kommt nachts um 02.45 h verweint zur
Polizei und gibt an, von ihrem Vater geschlagen und sexuell missbraucht
worden zu sein. Nach Hause will sie in keinem Fall zurück. Rechtslage?
Zuständige Behörde zur Abwehr
einer Gefahr im Sinne des Jugendschutzgesetzes ist die Polizei immer
dann, wenn Sofortmaßnahmen zu treffen sind, weil die originär zuständige
Jugendschutzbehörde zurzeit nicht regelnd eingreifen kann, weil sie
nicht zugegen oder nicht erreichbar ist oder sich deren Mitarbeiter
zurzeit nicht im Dienst befinden.
In diesem Falle ersucht ein
12-jähriges Mädchen Schutz vor sexuellem Missbrauch und vor der Gewalt
ihres Vaters. Diesem Ersuchen hat die Polizei insoweit nachzukommen, bis
die originär zuständige Jugendbehörde über den weiteren Verbleib des
Mädchens entschieden hat. Das bedeutet, dass in solch einem Fall
polizeilicher Eilzuständigkeit die Polizei, auf der Grundlage von § 42
SGB VIII, dem Mädchen Schutz gewähren kann, bis die originär zuständige
Behörde die erforderlich werdenden Maßnahmen getroffen hat.
Da Kinder nicht in eine
polizeiliche Gewahrsamszelle untergebracht werden dürfen, ist ihnen so
lange in geeigneten Räumen Schutz zu gewähren, bis die Jugendbehörde
benachrichtigt und bei der Polizei eingetroffen ist.
[Hinweis:] Auch auf der
Grundlage von § 35 Abs. 1 Nr. 1 PolG NRW wäre es möglich, im o.g.
Beispiel die Kinder zu deren Schutz kurzfristig in polizeilichen
Gewahrsam zu nehmen, bis die zuständige Jugendbehörde über den Verbleib
der Kinder entschieden hat.
Unabhängig davon wird durch das
Kind auch eine Straftat angezeigt, die von Amts wegen zu verfolgen ist
(§ 176 StGB - Sexuelle Misshandlung von Kindern, §
223 ff. StGB - Körperverletzung). Da die Polizei von solchen Straftaten
Kenntnis erhält, hat sie, unabhängig von den Regelungen, die das
Jugendamt trifft, strafrechtliche Ermittlungen einzuleiten.
04.2 Psychisch
kranke Personen
TOP
Im polizeilichen Berufsalltag gibt
es Fälle, in denen Personen von der Polizei kurzfristig in
Polizeigewahrsam genommen werden müssen, damit die zuständige
Ordnungsbehörde in die Lage versetzt werden kann, eine Soforteinweisung
auf der Grundlage von § 14 PsychKG NRW (Sofortige
Unterbringung) verfügen zu können.
Psychisch kranke Personen gehören
nicht in eine Gewahrsamszelle der Polizei und ein Festhalten der Person
durch die Polizei lässt das Gesetz nur für die Zeit zu, die von der
zuständigen Ordnungsbehörde benötigt wird, um psychisch kranke Personen
(ohne richterlichen Beschluss nur bis zum Ablauf des Tages, der der
Einweisung folgt), in eine Psychiatrie oder ein Landeskrankenhaus
einzuweisen.
[Beispiel:] Ein Mann kommt zur Polizeiwache und legt eine Axt auf
den Wachtisch. Der Mann sagt: »Nehmen sich mich bitte sofort in
Gewahrsam. Wenn Sie das nicht tun, dann werde ich meine Frau noch heute
erschlagen. Ich meine es ernst. Ich kann es nicht ertragen, dass mich
meine Frau verlassen hat.«
Nachdem der Polizeibeamte, die
Axt, die auf dem Wachtisch liegt, an sich genommen hat, stellt sich
heraus, dass die Frau des Mannes, der in »Schutzgewahrsam« genommen
werden will, ihn verlassen hat, weil dieser Mann unter Depressionen und
Wahnvorstellungen leidet. Als der Mann Anstalten macht, die Polizeiwache
zu verlassen, wird er von der Polizei so lange in Gewahrsam genommen,
bis die zuständige Ordnungsbehörde darüber entscheiden hat, ob die
Voraussetzungen für eine »Sofortige Unterbringung in ein
Landeskrankenhaus« gegeben sind. Rechtslage?
Das Verhalten des Mannes ist mehr
als ungewöhnlich. In diesem Beispiel könnte es sich bei dem gezeigten
Verhalten sogar um das »Verhalten eines Menschen handeln, der sich in
einer Geistesverfassung befindet, die nicht nur für den Mann selbst,
sondern erst recht für andere gefährlich ist«. Um das richtig
einschätzen zu können, sind Fachkenntnisse erforderlich, über die Ärzte,
nicht aber Polizeibeamte verfügen.
Dennoch wird in solchen bzw.
vergleichbaren Situationen von Polizeibeamten erwartet, dass sie
»gefahrenabwehrend« tätig werden, und zwar auch dann, wenn ihnen die
Situation »suspekt« erscheint. Grund dafür ist, dass die Ursache des
gezeigten »besonders auffälligen Verhaltens« psychische Störungen sein
können, die lebensgefährliche Auswirkungen haben können. Von dieser
»Unkalkulierbarkeit des Verhaltens psychisch kranker Personen« geht auch
das PsychKG NRW aus.
Im § 11 Abs. 2 PsychKG NRW heißt es:
»Von einer gegenwärtigen Gefahr
(...) ist dann auszugehen, wenn ein schadenstiftendes Ereignis
unmittelbar bevorsteht oder sein Eintritt zwar unvorhersehbar, wegen
besonderer Umstände jedoch jederzeit zu erwarten ist.«
Eine solche Gefahrenlage ist
gegeben, wenn mögliches zukünftiges Verhalten von psychisch kranken
Personen aus gefahrenabwehrender Sicht im Sinne dieser Definition zu
bewerten ist. Da das Verhalten solcher Personen nicht kalkulierbar ist,
lässt es das Gesetz zu, von einer gegenwärtigen Gefahr bereits dann
ausgehen zu können, wenn eine psychisch kranke Person ein Verhalten
ankündigt, oder bereits versucht hat, das mit den Kategorien so
genannten »normalen menschlichen Verhaltens« nicht nachvollziehbar ist.
[Ergebnis:] Auf der
Grundlage von § 35 Abs. 1 Nr. 1 PolG NRW kann der Mann, der androht,
seine Frau erschlagen zu wollen, so lange in Polizeigewahrsam genommen
werden, bis durch die zuständige Ordnungsbehörde die »Sofortige
Unterbringung im Sinne von § 15 PsychKG NRW« verfügt hat.
Vergleichbar ist in folgenden
Fällen zu verfahren:
[Beispiel:] Eine Person kann von der Polizei daran gehindert werden,
nicht vom Dach eines Hochhauses zu springen. Speziell dafür ausgebildete
Polizeibeamte ist es gelungen, den Mann von seinem Suizid abzuhalten.
Als der Mann nicht mehr springen kann, wird er von den Polizeibeamten
ergriffen und so lange in Polizeigewahrsam genommen, bis die zuständige
Ordnungsbehörde darüber entschieden hat, ob die Voraussetzungen für eine
»Sofortige Unterbringung in ein Landeskrankenhaus« gegeben sind.
Rechtslage?
Personen, die von der Polizei
daran gehindert wurden, einen Suizid zu begehen, dürfen im Anschluss
daran von der Polizei nicht einfach sich selbst überlassen werden.
Diesbezügliche Entscheidungen fallen in den Zuständigkeitsbereich der
Ordnungsbehörde, die bei der Klärung der Frage, ob eine sofortige
Unterbringung in ein Landeskrankenhaus erforderlich ist, immer
fachärztlichen Rat einholen wird.
[Beispiel:] In einer kalten Novembernacht wird ein verwirrter Mann,
nur in Unterhosen bekleidet, am Stadtrand angetroffen. Der Mann wird von
der Polizei in das nahe gelegene Krankenhaus gebracht. Während der Arzt
den Mann untersucht, zeigt dieser plötzlich alle Symptome eines
Alkoholdeliriums. Dabei handelt es sich um eine potenziell
lebensbedrohende Komplikation einer bereits länger bestehenden
Alkoholkrankheit, die durch einen Alkoholentzug aber auch durch einen
Alkoholrausch ausgelöst werden kann. Der behandelnde Krankenhausarzt
sieht sich außerstande, den Patienten aufzunehmen. Für ihn ist das ein
Fall für die Psychiatrie. Der Krankenhausarzt ist aber damit
einverstanden, dass der Mann von der Polizei so lange in einem dafür
geeigneten Raum des Krankenhauses festgehalten wird, bis die
Ordnungsbehörde über die »Sofortige Unterbringung« entschieden hat.
Rechtslage?
Eine Person befindet sich auch
dann im polizeilichen Gewahrsam, wenn sie an einer Örtlichkeit
festgehalten wird, bei der es sich nicht um einen Gewahrsamsraum in
einer Polizeidienststelle handelt. In diesem Beispiel wird die Person in
einem Raum des Krankenhauses so lange festgehalten, bis die zuständige
Ordnungsbehörde darüber entschieden hat, was mit dem Mann, nachdem
fachärztlicher Rat eingeholt wurde, geschehen soll. Bis zu dieser
Entscheidung befindet sich der Mann auf der Grundlage von § 35 Abs. 1
Nr. 1 PolG NRW im Gewahrsam der Polizei.
04.3
Sonderfälle Schutzgewahrsam
TOP
Eine Person kann auch dann in
Schutzgewahrsam genommen werden, wenn sie aus nachvollziehbarem Grund
Gefahren für Leib und Leben befürchtet und zur Abwehr dieser Gefahr
selbst um Schutzgewahrsam ersucht.
Dabei handelt es sich um Fälle so
genannten »unechten Gewahrsams«, für die es eigentlich keiner
Ermächtigung bedarf, weil durch rechtfertigende Einwilligung eine Person
auf ihr Grundrecht auf Freiheit (vorübergehend) verzichtet.
[Beispiel:] Bei einem Pokalspiel hat ein Schiedsrichter eine
Fehlentscheidung getroffen. Die Fans der von dieser Fehlentscheidung
betroffenen Fußballmannschaft sind darüber so wütend, dass der
Schiedsrichter mit Angriffen auf seine Person rechnet, sobald er das
Stadion verlässt. Er bittet die Polizei darum, ihn in Schutzgewahrsam zu
nehmen. Rechtslage?
Um eine Ingewahrsamnahme würde es
sich handeln, wenn eine Person gegen ihren Willen in einem
Polizeifahrzeug zur Polizeiwache gebracht wird. In diesem Fall bittet
die Person aber darum, von der Polizei in Gewahrsam genommen zu werden.
Folglich liegt kein Grundrechtseingriff vor. Unabhängig davon ist
aufgrund der bekannten Fehlentscheidung nachvollziehbar, dass dem
Schiedsrichter Gefahren an Leib und Leben drohen, wenn ihm in dieser
Situation polizeilicher Schutz verwehrt wird. Deshalb wird die Polizei
diesem Ersuchen nachkommen. Ein Ersuchen würde aber abgelehnt, wenn dazu
kein nachvollziehbarer Grund gegeben ist.
[Beispiel:] Bei starkem Regen kommt ein Stadtstreicher zur
Polizeiwache und bittet, in Gewahrsam genommen zu werden, weil ihm seine
Regenkleidung gestohlen worden ist. Rechtslage?
In solch einem Fall sind die
Voraussetzungen für einen »Schutzgewahrsam auf Verlangen nicht gegeben.«
In Bezug auf diesen »unechten
Gewahrsam« stellt sich nicht vorrangig die Frage des »rechtlichen
Dürfens«, sondern vielmehr die Frage, ob diesem Wunsch zu entsprechen
ist.
Das ist nicht der Fall.
[Beispiel:] Im Anschluss an eine Betriebsversammlung, in der die
Geschäftsleitung die Belegschaft darüber informierte, dass Hunderte in
den kommenden Wochen ihren Arbeitsplatz verlieren werden, wurde der
Geschäftsführer von der erbosten Belegschaft mit Gegenständen beworfen,
so dass er sich den Zugriffen der wütenden Menschen entziehen musste.
Von der Polizei verlangt der Geschäftsführer, dafür zu sorgen, dass er
gefahrlos das Betriebsgelände verlassen kann. Die Emotionen sind jedoch
so »hochgekocht«, dass die Polizei mit verhältnismäßigen Mitteln sich
außerstande sieht, der Geschäftsleitung sicheres Geleit »durch die
aufgebrachte Belegschaft« zu ermöglichen. Gegen den Willen des
Geschäftsführers nimmt deshalb die Polizei den Geschäftsführer in
Schutzgewahrsam und verbringt den Mann, für die Belegschaft unbemerkt,
aus dem Firmengelände. 15 Minuten später wird der Geschäftsführer an
einem für ihn ungefährlichen Ort freigelassen. Rechtslage?
Solch eine Form des
Schutzgewahrsams kommt nur dann in Betracht, wenn nur so und nicht
anders ein so genannter polizeilicher Notstand »sozialverträglich«
gelöst werden kann.
Ein solcher polizeilicher Notstand
(§ 6 PolG NRW) setzt voraus, dass:
-
eine gegenwärtige erhebliche
Gefahr abzuwehren ist
-
Maßnahmen gegen Verhaltens-
oder Zustandsstörer nicht oder nicht rechtzeitig möglich sind oder
keinen Erfolg versprechen,
-
die Polizei die Gefahr nicht
oder nicht rechtzeitig selbst oder durch Beauftragte abwehren kann
und
-
dass die Inanspruchnahme von
Notstandsstören ohne erhebliche eigene Gefährdung und ohne
Verletzung höherwertiger Pflichten möglich ist und
-
die Abwehr der Gefahr auf
andere Weise nicht möglich ist.
Im geschilderten Sachverhalt ist
die kurzfristige Ingewahrsamnahme des Geschäftsführers offensichtlich
»sozialverträglicher« als mit »Polizeigewalt« dafür zu sorgen, dem
Geschäftsführer »freies Geleit durch die Reihen der aufgebrachten
Belegschaft« zu ermöglichen.
04.4
Präventivgewahrsam
TOP
Beim Präventivgewahrsam handelt es
sich um eine besondere Art der Gewahrsamnahme zum Zweck der
Gefahrenabwehr.
Diese Alternative setzt immer eine
Gefahrenprognose voraus.
Im Hinblick auf die
Gefahrenprognose, die anlässlich dieser Gewahrsamsalternative von der
Polizei zu erbringen ist, hat besonderen Anforderungen zu entsprechen,
die von den Gerichten formuliert wurden. 2013 äußerte sich der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu den Anforderungen
einer solchen Gefahrenprognose abschließend.
Europäisches Recht muss somit mit
in die Begründung der Gefahrenprognose einfließen!
Einschlägige Vorschrift ist Art. 5
EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention) und die
dazu ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte (EGMR).
[Rang der EMRK:] Die EMRK
hat in Deutschland den Rang eines Bundesgesetzes und muss folglich von
den Behörden bei der Auslegung von Befugnissen berücksichtigt werden.
Gleiches gilt für Urteile des EGMR.
[Urteil des EGMR aus 2013:]
Im Urteil v. 07.03.2013, Az. 15598/08, stellten die Richter des EGMR
fest, dass Fußball-Hooligans unter Voraussetzungen, die in diesem Urteil
näher erläutert werden, zur Verhinderung von Straftaten die
Bewegungsfreiheit kurzfristig entzogen werden darf.
[Anlass:]
Am 10. April 2004 wurde von der Polizei in Frankfurt am Main ein Mann in
Gewahrsam genommen. Außerdem wurde sein Mobiltelefon sichergestellt. Bei
dem Mann handelte es sich um einen polizeibekannten Hooligan. Dem Mann
wurde vorübergehend die Freiheit entzogen, weil damit zu rechnen gewesen
sei, dass es sonst zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit anderen
Hooligans gekommen wäre. Bei dem Hooligan war die Polizei davon
ausgegangen, dass er sich der polizeilichen Überwachung habe entziehen
wollen, um eine Hooliganauseinandersetzung zu verabreden. Er sei zudem
der Polizei als ein „Rädelsführer“ der Hooligans bekannt gewesen. Um die
Verabredung von Auseinandersetzungen zwischen den Hooligangruppen zu
verhindern, sei es unerlässlich gewesen, den Beschwerdeführer in
Gewahrsam zu nehmen und ihn so von den übrigen Gruppenmitgliedern zu
trennen. Deshalb habe man ihn erst eine Stunde nach Spielende entlassen
können, als die Hooligans das Stadion und dessen räumliches Umfeld
bereits verlassen hatten.
[2004:] Nach der mündlichen
Verhandlung wies das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main die Klage des
Beschwerdeführers am 14. Juni 2005 ab. Es stellte fest, dass die
Ingewahrsamnahme des Beschwerdeführers vom 10. April 2004 und die
Sicherstellung seines Mobiltelefons rechtmäßig gewesen seien.
[2013:] Neun Jahre später
entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte über die
Zulässigkeit der Ingewahrsamnahme, die er im Übrigen ebenfalls für
zulässig hielt. Dazu gleich mehr, denn zum besseren Verständnis der
Rechtslage ist es erforderlich, zuvor kurz die »Rechtsentwicklung zum
Präventivgewahrsam in der Bundesrepublik Deutschland« darzustellen..
[Rechtsprechung zum
Präventivgewahrsam:] In der Zeit von 2004 bis 2013 hat es in der
Bundesrepublik mehrere Fälle des so genannten Präventivgewahrsams
gegeben, die von bundesdeutschen Gerichten unterschiedlich entschieden
wurden.
Rechtsprechung 2011
[Beispiel:] Anlässlich eines Bundesligaspiels zwischen Hannover 96
und dem VfL Wolfsburg wurde 2011 in Hannover eine Person in Gewahrsam
genommen, die mit anderen Ultrafans der Heimmannschaft eine Kneipe mit
Steinen beworfen hatten, in der sich die Fans des VfL Wolfsburg
aufhielten. Polizeibeamten zerstreuten die Angreifer und nahmen einige
der Ultrafans fest. Ein Ultrafan wurde um 10.30 h von der Polizei
ergriffen und bis zum Ende des Bundesligaspiels (18.00 h) in
Polizeigewahrsam genommen. Außerdem wurden die personenbezogenen Daten
dieses Ultrafans von der Polizei in der Datei »Gewalttäter Sport«
gespeichert. Gegen den Mann wurde ein Strafverfahren eingeleitet, das
aber von der StA eingestellt wurde, weil dem Mann keine konkrete
Tatbeteiligung nachgewiesen werden konnte. Als der Ultrafan für die
Kosten seiner Ingewahrsamnahme (25 Euro) herangezogen wurde, beschritt
er den Rechtsweg mit der Begründung, dass keinerlei sachliche
Anhaltspunkte für eine Ingewahrsamnahme vorgelegen hätten. Rechtslage?
[Zulässigkeit des
Präventivgewahrsams:] Im Urteil des VG Hannover vom 04.07.2012, 10 A
1994/11, in dem das o.g. Beispiel verhandelt wurde, stellten die Richter
fest, dass der Ultrafan für die Kosten seiner Ingewahrsamnahme
aufzukommen habe, weil der Präventivgewahrsam rechtmäßig gewesen sei.
Hinsichtlich der Vorgaben, die
sich anlässlich solcher Maßnahmen aus der Menschenrechtskonvention
ergeben (Art. 5 MRK) heißt es in dem Urteil sinngemäß, dass es zu den
Pflichten des Staates gehört, zum Schutz des Lebens und der körperlichen
Unversehrtheit gegenüber der Allgemeinheit vorbeugende Maßnahmen zu
treffen. »Zu diesen vorbeugenden Maßnahmen gehört auch der in den
deutschen Polizeigesetzen normierte Unterbindungsgewahrsam, der dem
Schutz potentieller Opfer vor konkreten Straftaten dient.«
An anderer Stelle heißt es:
Gewaltsame Auseinandersetzungen
verfeindeter Fußballfangruppen rechtfertigen die Annahme, »dass von den
Angehörigen der jeweiligen Gruppe eine Gefahr ausgeht, die polizeiliche
Maßnahmen erforderlich macht«. [En14] 14
[Berufung 2014:] Gegen
dieses Urteil legte der Beschwerdeführer Berufung ein, die vom
Niedersächsischen OVG mit Urteil vom 24. Februar
2014 · Az. 11 LC 228/12 zurückgewiesen wurde. In diesem Urteil wurde
bereits in der Begründung auf die neue Rechtsprechung des EGMR Bezug
genommen (Urteil aus 2013), die in den folgenden Randnummern
hinsichtlich ihrer Kernaussagen dargestellt werden, bevor die
Rechtsprechung des OVG erneut aufgegriffen wird.
Zuvor noch ein Beispiel aus 2012.
[Beispiel:] Anlässlich des G8-Gipfels in Heiligendamm wurde am
6.6.2007 von der Polizei einem Mann die Freiheit entzogen, der sich in
einer Gruppe von 50 bis 60 Personen in überwiegend dunkel gekleideten
und teilweise mit Sturmhauben, dunklen Tüchern und Sonnenbrillen
vermummt Personen befand, die damit begonnen hatten, auf öffentlichen
Straßen Paletten zu zerschlagen. Bei der Person wurde ein Motorradfließ
(Sturmhaube) gefunden. Dabei handelt es sich um eine Kopfbedeckung aus
Baumwolle, die den Hals und den Kopf mit Ausnahme des Augenbereichs
enganliegend bedeckt. Nach polizeilicher Aktenlage wurde die Person
festgenommen.
Der Tatvorwurf lautete:
•
§ 125a StGB (Schwerer
Landfriedensbruch)
•
§ 29 1 Nr. 1a VersG (Tragen von
Vermummungsmitteln)
Ca. 6 Stunden später wurde der
Mann einem Richter vorgeführt. Zu diesem Zeitpunkt ging auch die Polizei
davon aus, dass es sich bei der freiheitsentziehenden Maßnahme nicht
mehr um eine Festnahme auf der Grundlage der StPO, sondern um eine
Gewahrsamnahme auf der Grundlage des PolG handelte.
Dieser Rechtsauffassung folgte der
Richter und sah die Fortdauer des Gewahrsams als unerlässlich an, weil
der Betroffene den Eindruck erweckt habe, dass er weiterhin Straftaten
begehen werde. Er habe den Eindruck gemacht, nur zum Zwecke von
“Ausschreitungen“ zum G8-Gipfel angereist zu sein.
Gegen diesen Beschluss legte der
Beschwerdeführer Beschwerde beim Landgericht Rostock ein.
[Urteil LG Rostock:] Im
Urteil des LG Rostock vom 19.04.2012 - 3 T 13/10 - heißt es u.a., dass
ein Präventivgewahrsam außerhalb eines Strafverfahrens nicht im Einklang
mit der EMRK stehe und somit die lngewahrsamnahme
des Betroffenen gegen Artikel 5 EMRK verstößt.[En25]
Begründung:
Artikel 5 Abs. 1 EMRK führt
abschließend die Fälle auf, bei denen es gestattet ist, einer Person
ihre Freiheit zu entziehen.
Nach der einzig in Frage kommenden
Alternative des Artikels 5 Abs. 1 EMRK, nämlich Buchstabe c), wäre eine
rechtmäßige Freiheitsentziehung zur Vorführung vor die zuständige
Gerichtsbehörde nur dann zulässig gewesen, wenn begründeter Anlass zu
der Annahme bestanden hätte, die Person an der Begehung einer Straftat
zu hindern.
Der Präventivgewahrsam auf der
Grundlage von § 55 Abs. 1 Ziffer 2 SOG M-V stand jedoch nicht im
Zusammenhang mit einem Strafverfahren.
[Fazit:] Das LG Rostock
bewertete aus diesem Grund den polizeilichen Präventivgewahrsam als
einen rechtswidrigen Eingriff in die Freiheit einer Person. Zum
Zeitpunkt der Entscheidung des LG Rostock entsprach diese »Sicht der
Dinge« durchaus der bis dahin vom Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte vertretenen Rechtsauffassung.
Diese Rechtsauffassung änderte der
EGMR im Jahre 2013.
04.5 EGMR 2013
Urteil Präventivgewahrsam
TOP
Im Urteil v. 07.03.2013, Az.
15598/08 stellten die Richter des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte (EGMR) fest, dass Fußball-Hooligans zur Verhütung von
Straftaten - unter den im Urteil näher bezeichneten Voraussetzungen auf
der Grundlage von Art. 5 EMRK, die Bewegungsfreiheit kurzfristig
entzogen werden darf.
Die Mehrheit der Richter gehen im
o.g. Urteil davon aus, dass auf der Grundlage von Art. 5 Abs. 1 Satz 2
Buchstabe b) EMRK eine Person vorsorglich in Präventivgewahrsam genommen
werden kann, wenn die Freiheitsentziehung unverzichtbar sei, »um die
Einhaltung bestimmter gesetzlicher Pflichten« sicherstellen zu können.
Eine Mindermeinung rechtfertigte
den Präventivgewahrsam durch Rückgriff auf Art. 5 Abs. 1 Satz 2
Buchstabe c) EMRK. Danach darf einer Person die Freiheit nur entzogen
werden, »wenn hinreichender Verdacht besteht, dass die betreffende
Person eine Straftat begangen hat, oder wenn begründeter Anlass zu der
Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer
Straftat oder an der Flucht nach Begehung einer solchen zu hindern.«
[Fazit:] Alle Richter des
EGMR gingen - trotz unterschiedlicher Begründung - davon aus, dass bei
dem zur Entscheidung anstehenden Fall dem Beschwerdeführer von der
Polizei zurecht die Freiheit vorübergehend entzogen worden war.
[Anlass
für das Urteil des EGMR:] Im April 2004 war der Beschwerdeführer,
bei dem es sich um einen gewaltbereiten Hooligan handelte, mit etwa
vierzig gleichgesinnten Fußballfans mit der Bahn nach Frankfurt am Main
gereist, um dort ein Fußballspiel zu besuchen. Der Polizei war bekannt,
dass es sich bei der anreisenden Gruppe um so genannte Hooligans der
Kategorie C handelte. Dieser Kategorie gehören Fußballfans an, die von
der Polizei als »gewaltsuchende Hooligans« bekannt sind und mit diesem
Merkmal in der Datei »Gewalttäter Sport« gespeichert sind. Beim
Eintreffen der Gruppe in Frankfurt wurde die Identität der Mitglieder
dieser Fangruppe festgestellt. Im Rahmen dieser Kontrollmaßnahme wurde
auch der Beschwerdeführer kontrolliert. Bei ihm wurden ein Mundschutz
und mehrere mit Quarzsand gefüllte Handschuhe gefunden. Im Anschluss an
die Kontrolle besuchte die nunmehr unter Polizeiaufsicht stehende Gruppe
ein Lokal. Da beim Verlassen des Lokals der identifizierte Rädelsführer
fehlte, wurde nach dieser Person in dem Lokal gesucht. Der Mann wurde
von Polizeibeamten in einer verschlossenen Kabine der Damentoilette des
Lokals entdeckt, um 14.30 Uhr in Gewahrsam genommen und eine Stunde nach
Spielende, gegen 18.30 h, aus dem Gewahrsam entlassen.
Der von der Maßnahme betroffene
Hooligan beschritt den Rechtsweg, der im Folgenden kurz skizziert wird:
September 2004
Das VG Frankfurt weist die Klage
des Beschwerdeführers ab.
Februar 2006
Der Hessische
Verwaltungsgerichtshof bestätigt das Urteil der Erstinstanz.
März 2006
Die vom Beschwerdeführer
eingereichte Verfassungsbeschwerde wird vom BVerfG ohne Angabe von
Gründen abgelehnt.
März 2008
Die Individualbeschwerde Nr.
15598/08 wird von Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zur
Entscheidung angenommen.
März 2013
Urteil des EGMR vom 7. März 2013
zu der Individualbeschwerde 15598/08.
[Tenor des Urteils:] Alle
am Urteil beteiligten Richter des EGMR vertreten die Rechtsauffassung,
dass dem Beschwerdeführer von der Polizei auf der Grundlage von Art. 5
EMRK die Freiheit kurzfristig entzogen werden durfte. Mehrheitlich
entschieden sich die Richter dafür, dass es sich um einen Fall von Art.
5 Abs. 1 Buchstabe b) der EMRK handelt. Eine Mindermeinung sieht darin
einen Anwendungsfall von Art. 5 Abs. 1 Buchstabe c) EMRK. Alle Richter
stimmen aber vom Ergebnis dahingehend überein, dass der kurzfristige
Freiheitsentzug des Beschwerdeführers im zu entscheidenden Fall mit Art.
5 EMRK vereinbar ist.
Da dieses Urteil für alle Fälle
polizeilichen Präventivgewahrsams von Bedeutung ist, werden im Folgenden
die das Urteil tragenden Aussagen der Mehrheitsmeinung kurz skizziert.
[Mehrheitsmeinung im
Überblick:] Der EGMR geht davon aus, dass es sich um eine
Freiheitsentziehung handelt, wenn jemand gegen seinen Willen auf eine
Polizeistation verbracht und dort in einer Zelle festgehalten wird, auch
wenn dieser Eingriff nur von verhältnismäßig kurzer Dauer ist (4
Stunden).
-
Um einen Anwendungsfall von
Art. 5 Abs. 1 Buchstabe c) EMRK handelt es sich nach Ansicht der
Mehrheitsmeinung aber nur dann, wenn der Freiheitsentzug
erforderlich wird, um eine Straftat zu verhindern, die hinsichtlich
des Tatortes, der Tatzeit und ihrer Opfer konkret bezeichnet werden
kann. Außerdem muss eine freiheitsentziehende Maßnahme, die auf
diese Alternative des Art. 5 EMRK gestützt wird, dem Zweck dienen,
die Person einem Richter vorzuführen. Daher, so der EGMR »ist die
Freiheitsentziehung nach Buchstabe c) nur in Verbindung mit einem
Strafverfahren zulässig.« Außerdem habe eine vorgeführte Person
einen Anspruch auf ein Urteil innerhalb einer angemessenen Frist.
-
Nach der ständigen
Rechtsprechung des EGMR regelt die Art. 5 Abs. 1 Buchstabe c) EMRK
folglich die Untersuchungshaft, nicht den Präventivgewahrsam.
-
Auf der Grundlage von Art. 5
Abs. 1 Buchstabe b) ist im Gegensatz dazu nach der Mehrheitsmeinung
der entscheidenden Richter eine freiheitsentziehende Maßnahme
zulässig, wenn diese »zur Erzwingung der Erfüllung einer
gesetzlichen Verpflichtung« unumgänglich ist. Solchermaßen zulässige
Freiheitsentziehungen dürfen keinen Strafcharakter haben. Außerdem
entfällt der Grund für die freiheitsentziehende Maßnahme sofort,
wenn die Person ihrer gesetzlichen Verpflichtung nachkommt.
-
Für die Richter des EGMR steht
außer Frage, dass der Beschwerdeführer von Anfang an aus rein
präventiven Gründen in Gewahrsam genommen wurde, denn der
Beschwerdeführer war keiner Straftat verdächtig und hatte auch keine
nach deutschem Recht strafbare Vorbereitungshandlungen getroffen.
»Sein Polizeigewahrsam hatte nur den (präventiven) Zweck,
sicherzustellen, dass er bei einer unmittelbar bevorstehenden
Hooliganauseinandersetzung keine Straftaten begehen werde. Er war zu
entlassen, sobald die Gefahr einer solchen Auseinandersetzung
weggefallen war; sein Gewahrsam zielte folglich nicht darauf ab, ihn
im Rahmen der Untersuchungshaft einem Richter vorzuführen und ein
Strafverfahren gegen ihn zu eröffnen.«
[Verpflichtung, den Frieden zu
wahren:] Dabei handelt es sich um eine anerkannte gesetzliche
Verpflichtungen. Zur Begründung des im Art. 5 Abs. 1 Buchst. b)
genannten Tatbestandsmerkmals »Erfüllung einer gesetzlichen
Verpflichtung« bezieht sich der EGMR dabei auf Fälle, die er bisher als
zulässige gesetzliche Verpflichtungen anerkannt hat.
Dazu gehören zum Beispiel folgende
gesetzliche Pflichten:
-
Pflicht, einen Platzverweis zu
befolgen
-
Pflicht, als Zeuge auszusagen
-
Freiheitsentziehung zur
Durchsetzung einer gesetzlichen Pflicht
-
Verbringen zur Polizei zur
Feststellung der Identität einer Person
-
Sicherstellung der Anwesenheit
einer Person in einer Gerichtsverhandlung
-
Verpflichtung zur Ableistung
des Zivildienstes.
Diese Verpflichtungen, so der
EGMR, zeigen, dass »Verpflichtungen im Sinne von Art. 5 Abs. 1 buchst.
b) eng auszulegen sind.
Konsequenz:
»Daraus folgt, dass die hier in
Rede stehende Verpflichtung, friedlich zu bleiben und eine Straftat
nicht zu begehen, nur dann »als spezifisch und konkret« (...) angesehen
werden kann, wenn Ort und Zeitpunkt der bevorstehenden Begehung der
Straftat sowie ihr potenzielles Opfer/ihre potenziellen Opfer
hinreichend konkretisiert wurden.«
Hinzukommen muss:
Die Person muss im Vorfeld ihrer
Ingewahrsamnahme die Erfüllung ihrer Verpflichtung, »den Frieden durch
die Nichtbegehung einer spezifischen und konkreten Straftat zu wahren«,
versäumt haben. Dazu reicht es aus, wenn die Person eindeutige und
aktive Schritte unternommen hat, die darauf hindeuten, dass er seine
Verpflichtung nicht erfüllen wird.
Im Urteil heißt es dazu:
»Um unter solchen Umständen den
Schutz des Einzelnen vor willkürlicher Freiheitsentziehung gemäß dem
Zweck von Artikel 5 zu gewährleisten, muss der Betroffene – bevor der
Schluss gezogen wird, dass er seine in Rede stehende Verpflichtung nicht
erfüllt hat – auf die konkrete Handlung, die er zu unterlassen hatte,
hingewiesen worden sein und sich unwillig gezeigt haben, diese zu
unterlassen.«
An anderer Stelle heißt es:
»Im vorliegenden Fall war dem
Beschwerdeführer vor seiner Ingewahrsamnahme von den Polizeibeamten
angeordnet worden, bei der Fangruppe zu bleiben, mit der er (...)
angereist war und die von der Polizei ins Fußballstadion begleitet
werden sollte. Außerdem war er deutlich auf die Konsequenzen der
Nichtbefolgung dieser Anordnung hingewiesen worden, da die Polizei
angekündigt hatte, jede sich von der Gruppe entfernende Person in
Gewahrsam zu nehmen. Die Gruppe war überdies bereits während der
Zugfahrt (...) nach Frankfurt begleitet und am Hauptbahnhof Frankfurt am
Main durchsucht worden, wobei festgestellt worden war, dass sie
Gegenstände mit sich führte, die typischerweise von Hooligans bei
Auseinandersetzungen eingesetzt werden. Der Gerichtshof ist der Ansicht,
dass dem Beschwerdeführer durch diese Maßnahmen verdeutlicht worden war,
dass die Polizei eine Hooliganschlägerei verhindern wollte und für (die
in Präventivgewahrsam genommene Person = AR) eine spezifische
Verpflichtung bestand, die Verabredung beziehungsweise Teilnahme an
einer solchen Auseinandersetzung in oder in der Nähe von Frankfurt an
dem fraglichen Tag zu unterlassen.«
Maßnahme darf keinen
Strafcharakter haben!
Das bedeutet, dass ein
Präventivgewahrsam nicht dem Ziel dienen kann und darf, gegen die in
Gewahrsam genommene Person ein Strafverfahren einzuleiten.
Wegfall des Festhaltegrundes
Der Grund des Festhaltens
entfällt, sobald die entsprechende Verpflichtung erfüllt wurde.
Diesbezüglich heißt es in dem Urteil: »Der Gerichtshof schließt nicht
aus, dass (...) eine Person vor dem für die fragliche Straftat
angesetzten Zeitpunkt zeigen kann, dass sie nicht länger vorhat, diese
Straftat zu begehen, indem sie beispielsweise anbietet, sich zu
entfernen und dem Ort der geplanten Straftat fernzubleiben, und dies
auch belegt. Um mit Artikel 5 Abs. 1 Buchst. b) vereinbar zu sein,
müsste die Freiheitsentziehung dieser Person unter solchen Umständen
unverzüglich beendet werden.«
Verhältnismäßigkeit
Die Richter des EGMR gehen
übereinstimmend davon aus, dass von gewaltbereiten Hooligans eine
erhebliche Gefahr für die Sicherheit unbeteiligter Dritter ausgeht und
dass es eine wichtige Pflicht gewaltbereiter Personen ist, sich weder zu
Straftaten zu verabreden, noch sich daran zu beteiligen. Im Hinblick auf
die etwa vierstündige Dauer des Gewahrsams ist der Gerichtshof (...) der
Ansicht, dass der Beschwerdeführer nicht länger festgehalten wurde, als
notwendig war, um ihn daran zu hindern, weitere Schritte zur Verabredung
einer Hooliganschlägerei in oder in der Nähe von Frankfurt zu
unternehmen. Der in Rede stehende Gewahrsam des Beschwerdeführers war
daher in Bezug auf das Ziel, die sofortige Erfüllung der in Rede
stehenden Verpflichtung zu erzwingen, verhältnismäßig.
[Ergebnis:] Die
Freiheitsentziehung (Präventivgewahrsam) des Beschwerdeführers auf der
Grundlage von Art. 5 Abs. 1 Buchst. b) EMRK ist gerechtfertigt.
04.6 EGMR 2013
Minderheitenvotum zum Präventivgewahrsam
Die das Minderheitenvotum
tragenden Gründe in aller Kürze:
-
Vom EGMR wurde bisher noch nie
festgestellt, dass eine Verpflichtung, keine Straftaten zu begehen,
eine »Verpflichtung« im Sinne von Artikel 5 Abs. 1 buchst. b) EMRK
sein kann.
-
Eine derartig weite Auslegung
würde zu Ergebnissen führen, die mit dem Gedanken der
Rechtsstaatlichkeit, unter dem die gesamte EMRK steht, unvereinbar
sind.
-
Die einzige zu erfüllende
Verpflichtung, so die Vertreter des Minderheitenvotums, bestand in
der allgemeinen - vom Gesetz, nicht von einer individuellen Maßnahme
vorgeschriebenen - Pflicht, bestimmte Straftaten und
Ordnungswidrigkeiten nicht zu begehen.
-
(Diese allgemeine
Verpflichtung, die Gesetze zu achten, ermöglicht es zum Beispiel der
Polizei, Personen anzusprechen und daran zu erinnern, dass sie sich
gesetzeskonform verhalten müssen, um Folgemaßnahmen zu vermeiden -
Anmerkung AR, Näheres dazu im Kapitel: § 8 PolG NRW -
Generalklausel).
-
Das Minderheitenvotum geht
davon aus, dass die freiheitsentziehende Maßnahme eines
gewaltbereiten Hooligans auf der Grundlage von Art. 5 Abs. 1 buchst.
c) zulässig ist, »wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht,
dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat oder an
der Flucht nach Begehung einer solchen zu hindern«.
Begründung:
»Artikel 5 Abs. 1 buchst. c) kann
nur ausgelegt werden, wenn er i. V. m. Artikel 5 Abs. 3 betrachtet wird,
mit dem er ein Ganzes bildet; Abs. 3 schreibt kategorisch vor, dass
‘jede Person, die nach Absatz 1 Buchst. c) von Festnahme oder
Freiheitsentziehung betroffen ist, [...] unverzüglich einem Richter
[...] vorgeführt werden [muss] und dass sie »Anspruch auf ein Urteil
innerhalb angemessener Frist« hat; er beinhaltet offensichtlich die
Verpflichtung, jede Person, die von Festnahme oder Freiheitsentziehung
betroffen ist, unter allen, durch die Bestimmungen von Absatz 1 Buchst.
c) vorgesehenen Umständen, einem Richter vorzuführen, damit die Frage
der Freiheitsentziehung geprüft oder in der Sache entschieden wird; das
geht klar und selbstverständlich aus dem Wortlaut von Absatz 1 Buchstabe
c und Absatz 3 des Artikels 5 hervor.«
Dem stimmen die Richter des
Minderheitsvotums voll und ganz zu.
Die spätere Rechtsprechung hat den
Zweck der Vorführpflicht (jedoch) unangemessen darauf eingeschränkt,
dass »in der Sache entschieden« werden soll und den möglichen Zweck
»damit die Frage der Freiheitsentziehung zu prüfen« beiseitegelassen.
Wir würden eine Rückkehr zu der in der Rechtssache »Lawless«
praktizierten Auslegung von Art. 5 Abs. 1 Buchst. c i. V. m. Art. 5 Abs.
3 begrüßen, die dem Präventivgedanken als möglicher Rechtfertigung einer
Freiheitsentziehung besser gerecht wird als die gegenwärtige Auslegung.
[Fazit:] Obwohl es sich um
ein Minderheitenvotum handelt, vermag die dort vertretene
Rechtsauffassung eher zu überzeugen, als die Mehrheitsmeinung des EGMR.
Es wirkt tatsächlich befremdend, losgelöst von den echten
Unterlassungsdelikten, die das deutsche Strafrecht kennt, eine
Unterlassungspflicht auch für solche Delikte einzufordern, die durch
Unterlassen (hier verwendet im Sinne des juristischen Sprachgebrauchs)
gar nicht begangen werden können.
[Bedeutung für die Polizei:]
Die Polizei muss solche Maßnahmen in der Regel in Situationen
anordnen und durchsetzen, die sofortiges Einschreiten gebietet. Ob in
der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit den hohen Anforderungen der
Begründungspflicht einer solchen Maßnahme (Gefahrenprognose) entsprochen
werden kann, ist Tatfrage.
Um diese Schwierigkeiten vermeiden
zu können, kann vor Ort einschreitenden Polizeibeamten nur empfohlen
werden, im Rahmen einer Gefährdungsansprache gewaltbereiten Hooligans
auf der Grundlage der polizeilichen Generalklausel unmissverständlich
klarzumachen, was von ihnen erwartet wird. Den Störern sollte mitgeteilt
werden, dass Sie »des Platzes verwiesen werden« (Platzverweis auf der
Grundlage von § 34 PolG NRW), sobald erneut ein Verhalten erkennbar
wird, das als eine Gefahr für die bestehende Rechtsordnung anzusehen
ist. Die Störer sind auch dahingehend zu informieren, dass »zur
Durchsetzung rechtmäßiger Platzverweise Personen erforderlichenfalls
auch in Gewahrsam genommen werden (§ 35 Abs. 1 Nr. 3 PolG NRW).
Dieser Nachweis der Durchsetzung
eines rechtmäßig ergangenen Platzverweises ist offensichtlich viel
einfacher, als der Nachweis eines Präventivgewahrsams.
Weigern sich Hooligans anlässlich
rechtmäßig erlassener Platzverweise den polizeilichen Anordnungen Folge
zu leisten, dann können sie auf der Grundlage von § 35 Abs. 1 Nr. 3 PolG
NRW zur »Durchsetzung eines Platzverweises« in Gewahrsam genommen
werden. Dass eine solche Ingewahrsamnahme in der Regel kurzfristig und
auf das zeitlich Notwendige begrenzt ist, liegt in der Natur einer
solchen polizeilichen Maßnahme.
Unabhängig davon belegt die
aktuelle Rechtssprechung zum polizeilichen Präventivgewahrsam aber auch,
dass kompliziertere Begründungen zum gleichen (rechtmäßigen) Ergebnis
führen.
04.7 OVG
Niedersachsen 2014 zum Präventivgewahrsam
TOP
Gegenstand des Urteils des OVG
Niedersachsen om 24. Februar 2014 · Az. 11 LC 228/12 war ein Fall, der
in diesem Kapitel bereits kurz vorgestellt wurde. Da das Urteil nach dem
Urteil des EGMR aus 2013 erging, wird in diesem Urteil bereits auf die
aktuelle Rechtsprechung des EGMR Bezug genommen. [En15] 15
[Fall:] Anlässlich eines
Bundesligaspiels zwischen Hannover 96 und dem VfL Wolfsburg wurde 2011
in Hannover eine Person in Gewahrsam genommen, die mit anderen Ultrafans
der Heimmannschaft eine Kneipe mit Steinen beworfen hatten, in der sich
die Fans des VfL Wolfsburg aufhielten. Polizeibeamten zerstreuten die
Angreifer und nahmen einige der Ultrafans fest. Ein Ultrafan wurde um
10.30 h von der Polizei ergriffen und bis zum Ende des Bundesligaspiels
(18.00 h) in Polizeigewahrsam genommen. Außerdem wurden die
personenbezogenen Daten dieses Ultrafans von der Polizei in der Datei
»Gewalttäter Sport« gespeichert. Gegen den Mann wurde ein Strafverfahren
eingeleitet, das aber von der StA eingestellt wurde, weil dem Mann keine
konkrete Tatbeteiligung nachgewiesen werden konnte. Als der Ultrafan für
die Kosten seiner Ingewahrsamnahme (25 Euro) herangezogen wurde,
beschritt er den Rechtsweg mit der Begründung, dass keinerlei sachliche
Anhaltspunkte für eine Ingewahrsamnahme vorgelegen hätten. Rechtslage?
[Rn. 49:] »Der Gewahrsam
des Klägers war nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchst. b) EMRK
gerechtfertigt. Nach dieser Vorschrift darf die Freiheit unter anderem
„zur Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung“ entzogen
werden. Nicht ausreichend ist eine Freiheitsentziehung, mit der eine
Person gezwungen werden soll, ihre allgemeine Verpflichtung zur
Befolgung der Gesetze zu erfüllen. Es muss vielmehr gesetzlich zulässig
sein, dem Betroffenen die Freiheit zu entziehen, um ihn dazu zu zwingen,
eine ihm obliegende spezifische und konkrete Verpflichtung zu erfüllen,
der er bis dahin nicht nachgekommen ist (...). Eine solche Verpflichtung
kann darin bestehen, die Begehung einer nach Ort, Zeitpunkt und Opfer
hinreichend konkretisierten Straftat zu unterlassen und stattdessen den
Frieden zu wahren, d.h. die Straftat nicht zu begehen. Hinzukommen muss,
dass der Betroffene vor seiner Ingewahrsamnahme die Gelegenheit der
Pflichterfüllung versäumt hat. Nach der Rechtsprechung des EGMR bedarf
es dazu, um den Einzelnen vor einer willkürlichen Freiheitsentziehung zu
schützen, des Hinweises auf die konkret zu unterlassende Handlung und
der Weigerung des Betroffenen, diese zu unterlassen (...). Die
Freiheitsentziehung darf keinen Strafcharakter haben und muss
verhältnismäßig sein. (...).«
»Die Freiheitsentziehung des
Klägers diente der Erzwingung einer ihm obliegenden spezifischen und
konkreten Verpflichtung. Die Polizei nahm den Kläger am Vorfallstag in
den präventiven Gewahrsam, um ihn daran zu hindern, sich an
gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den rivalisierenden Fans der
Fußballvereine Hannover 96 und VfL Wolfsburg zu beteiligen und dadurch
die Straftatbestände der Körperverletzung nach § 223 StGB und des
Landfriedensbruches nach § 125 StGB zu verwirklichen.«
[Rn. 52:] »Nach der
Rechtsprechung des EGMR (...) ist es zwar erforderlich, dass der
Betroffene im Vorfeld einer Ingewahrsamnahme, die ihre Rechtfertigung in
Art. 5 Abs. 1 Satz 2 buchst. b) EMRK finden soll, einen Warnhinweis
erhält, welche Konsequenzen ein Verstoß gegen seine Verpflichtung, den
Frieden durch die Nichtbegehung einer spezifischen und konkreten
Straftat zu wahren, nach sich ziehen kann. Im Gefahrenabwehrrecht stehen
der Polizei für eine solche Warnung regelmäßig hinreichend geeignete
Maßnahmen zur Verfügung, wie zum Beispiel allgemein bei Störern die
Anordnung eines Platzverweises oder in besonderen Situationen die
Wegweisung aus der Wohnung (bei häuslicher Gewalt), die Untersagung der
Teilnahme bei Versammlungen oder die Durchführung von
Gefährderansprachen, die Verhängung von Meldeauflagen oder die Anordnung
von Aufenthaltsverboten im Zuge von (sportlichen) Großveranstaltungen,
namentlich von Fußballspielen.«
»Eines solchen Warnhinweises
bedarf es ausnahmsweise nicht, wenn der Betroffene eindeutige und aktive
Schritte unternommen hat, die darauf hindeuten, dass er seiner
Verpflichtung, den Frieden durch die Nichtbegehung einer spezifischen
und konkreten Straftat zu wahren, nicht erfüllen wird (EGMR, Urteil vom
7.3.2013 - 15598/08). Ein derartiger Ausnahmefall liegt hier nach den
vorstehenden Ausführungen vor.«
[Rn. 53:] »Die
Ingewahrsamnahme des Klägers wies keinen Strafcharakter auf. Sie diente
allein dazu, den Kläger von der Beteiligung an weiteren Straftaten
abzuhalten. Wie bereits (...) ausgeführt, war die Maßnahme auch
verhältnismäßig.«
[Fazit:] Eine Person kann
von der Polizei in Gewahrsam genommen werden, wenn das unerlässlich ist,
um eine unmittelbar bevorstehende Straftat zu verhüten. Dieser so
genannte Präventiv- oder Unterbindungsgewahrsam kommt jedoch in
Anlehnung an das Urteil des OVG Niedersachsen aus 2014 nur ausnahmsweise
und nur dann in Betracht, wenn von der Maßnahme betroffene Personen
ihrer Verpflichtung, sich friedlich zu verhalten, nicht nachkommen
wollen und der Präventivgewahrsam sozusagen das einzig noch verbleibende
polizeiliche Mittel ist, die unmittelbare Bevorstehung einer Straftat zu
verhindern.
04.8 BVerfG -
Präventivgewahrsam zur Verhütung von Straftaten zulässig
TOP
Mit Beschluss vom 18.04.2016, Az.
2 BvR 1833/12 und 1945/12 hat das BVerfG entschieden, dass von der
Polizei zwei Demonstranten in Gewahrsam genommen werden durften, die auf
frischer Tat beim so genannten Schottern betroffen und zur Verhütung
weiterer Straftaten in Präventivgewahrsam genommen worden waren.
Schottern ist eine Form der Sabotage, die mehrere Straftatbestände
erfüllen kann. Sie besteht darin, dass Schottersteine aus dem Gleisbett
auf die Schienen gelegt werden.
Die Täter waren von der Polizei
ergriffen und einem Richter vorgeführt worden, der bis zum Eintreffen
des Castortransports am Zielort die Ingewahrsamnahme der beiden Personen
nach Polizeirecht anordnete, die ca. 14 Stunden dauerte.
Die Richter in Karlsruhe stellten
nun klar, dass die Ingewahrsamnahme die Aktivisten nicht in ihrem
Grundrecht auf Freiheit der Person, Art. 2 Abs. 2 S. 2 in Verbindung mit
Art. 104 GG verletzt habe. Dies gelte auch für das Recht auf Freiheit
und Sicherheit nach Art. 5 EMRK. Zwar könne eine präventive
Ingewahrsamnahme nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte (EGMR) nur zulässig sein, wenn damit die »Erfüllung
einer gesetzlichen Verpflichtung« beabsichtigt sei und wenn es darum
gehe, eine Straftat zu verhindern, müsse diese bereits hinreichend
bestimmt sein. Außerdem müsse sich der Betroffene als unwillig gezeigt
haben, die Straftat zu unterlassen. Dies sah das BVerfG nach den
fachgerichtlichen Feststellungen als gegeben an.
Die Ingewahrsamnahme habe, so das
BVerfG, nicht etwa der Durchsetzung der allgemeinen Pflicht gedient,
sich an Gesetze zu halten, sondern es sei um die Verpflichtung gegangen,
während der Dauer des Castortransports keine weiteren Straftaten am
Gleisbett zu begehen. Die Aktivisten hätten sich bereits zuvor der
Begehung eines gleichartigen Delikts verdächtig gemacht. Es habe daher,
so die Verfassungsrichter, keiner Prüfung bedurft, ob womöglich ein
milderes Mittel wie ein Platzverweis ausgereicht hätte.
Wörtlich heißt es in dem
Beschluss:
[Rn. 37:] Insbesondere
dienten sie [die beiden Gewahrsamnahmen = AR] nicht der Durchsetzung der
allgemeinen Pflicht, sich an Gesetze zu halten, sondern der spezifischen
und konkreten Verpflichtung, während der Dauer des Castortransports
keine weiteren Straftaten nach § 316b Abs. 1, § 315 Abs. 1, § 25 Abs. 2
StGB zu begehen. Durch die unmittelbar vorangegangenen Aktionen hatten
die Beschwerdeführerin [...] und der Beschwerdeführer [...] auch bereits
eindeutige und aktive Schritte unternommen, die zeigten, dass sie nicht
gewillt waren, dieser Verpflichtung nachzukommen. In dieser Situation
gebot der von Art. 5 EMRK bezweckte Schutz vor willkürlicher
Freiheitsentziehung nicht, die Beschwerdeführer vor der Ingewahrsamnahme
noch einmal ausdrücklich auf die zu erfüllende Verpflichtung hinzuweisen
und die etwaige Nichtbefolgung abzuwarten. [En16] 16
04.9
Kesselgewahrsam
TOP
Beim Kesselgewahrsam handelt es
sich um eine besondere Form polizeilicher, freiheitsentziehender
Maßnahmen. Diese Form des Gewahrsams ist dadurch gekennzeichnet, dass
eine meist größere Anzahl von Personen von starken Polizeikräften
eingeschlossen und daran gehindert wird, einen von der Polizei
bestimmten Ort zu verlassen.
Die in Polizeigewahrsam genommenen
Personen werden von der Polizei sozusagen »eingekesselt«. Im
Zusammenhang mit der Einschließung von Demonstranten ist diese Form des
Gewahrsams in die bundesdeutsche Rechtsgeschichte eingegangen.
Eine Vielzahl gerichtlicher
Entscheidungen belegt, dass diese Form des polizeilichen Präventiv- oder
Unterbindungsgewahrsams oftmals rechtswidrig war, weil er von der
Polizei meist nur im Zusammenhang mit Versammlungen praktiziert wurde.
Die Rechtsprechung erklärte diese Form polizeilichen Einschreitens in
den meisten Fällen deshalb für rechtswidrig, weil dem »Kesselgewahrsam
von Versammlungsteilnehmern« in den zu entscheidenden Fällen entweder:
-
keine Auflösungsverfügung
vorausgegangen war
-
eingekesselten Personen
verwehrt wurde, einen Rechtsbeistand hinzuzuziehen
-
die Benachrichtigung von
Angehörigen erschwert wurde
-
bei einer zu erwartenden
Gewahrsamnahme von vielen Menschen nicht dafür gesorgt wurde, dass
vor Ort Richter zur Verfügung standen, die über die Rechtmäßigkeit
der Freiheitsentziehung hätten entscheiden können
-
die Würde des Menschen dadurch
verletzt wurde, dass Personen ihren, menschlichen Bedürfnissen nicht
nachgehen konnten (Notdurft, Nahrungsaufnahme, sich hinsetzen können
etc.).
1986
Rechtswidriger »Kesselgewahrsam«
in Hamburg. Auf dem Heiligengeistfeld wurden ca. 800
Versammlungsteilnehmer bis zu 13 Stunden lang innerhalb von
Absperrketten von der Polizei rechtswidrig festgehalten. [En17]
17
1992
Anlässlich des G7-Gipfels in
München wurden von bis zu tausend Polizisten etwa 500 friedlich vor dem
Kaffeehaus Dallmayr am Marienhof demonstrierenden G7-Gegner eingekesselt
und über mehrere Stunden dort festgehalten. 480 Personen wurden
festgenommen. Das Landgericht München erklärte die Einkesselung von
Demonstranten während des Weltwirtschaftsgipfels am 6. Juli 1992 für
rechtswidrig.
2000
Anlässlich eines Naziaufmarsches
wurden in Dortmund etwa 2000 Gegendemonstration durch »Polizeikessel und
Masseningewahrsamnahme« daran gehindert, eine genehmigte Demonstration
zu stören. Das OVG NRW erklärte diese Maßnahmen für rechtswidrig.[En18]
18
2005
Rechtswidriges Einschließen von
Versammlungsteilnehmern auf einem Feld anlässlich eines Castortransports
im November 2001 durch starke Polizeikräfte. [En19] 19
Ausnahme von dieser Regel:
2013
Rechtmäßiger Kessel in
Frankfurt. Die Einkesselung ausgeschlossener Versammlungsteilnehmer
durch einen Polizeieinsatz bei einer »Occupy«-Demonstration in Frankfurt
durch starke Polizeikräfte ist nach einem Urteil des Frankfurter
Verwaltungsgerichts rechtmäßig.
[Anlass:]
Anlässlich einer Demonstration der Occupy-Bewegung in Frankfurt wurde
ein Versammlungszug von der Polizei komplett eingekesselt. Zu einer
Auflösung der gesamten Versammlung kam es nicht. Zum Zeitpunkt der
Einkesselung durch starke Polizeikräfte wurde eine abgrenzbare Gruppe
von Teilnehmern, die sich in der sogenannten „Schildkrötenformation“
geordnet hätten, von der Polizei umstellt. Die eingeschlossenen Personen
hatten sich nach allen Seiten hin mit Transparenten begrenzt und Schirme
aufgespannt. Teilweise hatten die Personen ihre Gesichter vermummt oder
mit Kapuzen, Mützen und Sonnenbrille großflächige Teile des Gesichts
bedeckt. Obwohl es nicht regnete, waren die Regenschirme aufgespannt.
Kurz vor der Umschließung dieser als »Block erkennbaren und abgrenzbaren
Personen« zu den anderen Versammlungsteilnehmern wurden im vorderen Teil
dieser Gruppe pyrotechnische Gegenstände abgefeuert und zur Seite
geschleudert. Unabhängig davon führten Personen in diesem »Block«
Schutzschilder mit. Diese Geschlossenheit der Gruppe machte es der
Polizei unmöglich, ohne Eigengefährdung in diesen Block einzudringen, um
aus der Menge heraus begangene Straftaten zu verhindern oder das
Ergreifen der Straftäter zu ermöglichen.
In der Pressemitteilung des VG
Frankfurt zum o.a. Urteil heißt es u.a.:
Zu diesem Zeitpunkt habe das
Verhalten eines Großteils der Demonstrationsteilnehmer die Grenze zur
Unfriedlichkeit bereits überschritten. Der Versammlungsleiter habe dem
wohl nicht entgegen wirken können.
Um die Versammlungsfreiheit der
friedlichen Demonstranten zu gewähren, sei das gewählte Mittel der
Separierung dieses unfriedlichen Blocks durch Einziehen zweier
Polizeiketten vertretbar.
Damit habe die Polizei auch nicht
auf weniger einschneidende Maßnahmen als der des polizeilichen
Ausschlusses nach § 19 Abs.4 Versammlungsgesetz zurückgreifen können,
zumal das unfriedliche Verhalten der Demonstrationsteilnehmer in dem
umkreisten Block angedauert habe. Weder sei die „Schildkrötenformation“
aufgehoben worden noch sei die Vermummung und Schutzbewaffnung abgelegt
worden. Mit mehreren Lautsprecherdurchsagen sei (...) der Ausschluss von
der Versammlung angeordnet worden.
[Hinweis:] Eine Person, die
anlässlich dieser Ereignisse von der Polizei für die Dauer von 9 Stunden
festgehalten wurde, hatte gegen dieses polizeiliche Vorgehen die
Gerichte angerufen und vorgetragen, auf unzulässige Art und Weise in
seinen Freiheitsrechten verletzt worden zu sein.
Diesbezüglich heißt es in der o.g.
Pressemitteilung des AG Frankfurt:
»Da der Antragssteller auch nicht
als quasi Unbeteiligter zu der separierten Gruppe geraten sei, sondern
sich in dem umschlossenen Bereich aufgehalten habe, sei bei einer
vorläufigen Betrachtung davon auszugehen, dass er zumindest zu den
Unterstützern der unfriedlichen Demonstrationsteilnehmer gehört habe. Er
habe auch nicht vorgetragen, dass er sich um ein Verlassen des
umkreisten Blocks bemüht habe und ihm dies durch die Polizei versagt
worden sei.« [En20] 20
Diese Ausführungen zum
»Kesselgewahrsam« machen deutlich, dass solch ein polizeiliches Vorgehen
nur anlässlich außergewöhnlicher Einsatzlagen in Betracht kommen kann.
Anders dürfte hingegen das
»Einschließen von aggressiven Fußballfans« zu bewerten sein, die von der
Polizei z.B. an Bundesligaspieltagen auf dem Weg zu den Fußballstadien
»begleitet« und bei Bedarf auch »eingeschlossen« werden, wenn es zu
Ausschreitungen kommt. Bei diesen Personen handelt es sich aber in der
Regel um homogene Gruppen, die von der Polizei separiert, isoliert und
somit als »Verhaltensstörer« eindeutig identifiziert und eingeschlossen
werden können, um sie im Anschluss daran zur Polizeidienststelle zu
bringen, wenn das erforderlich sein sollte. Im Übrigen können sich
Gruppen von Fußballfans, die gemeinsam zum Stadion ziehen, auch nicht
auf das Versammlungsrecht berufen.
04.10 BVerfG
2016 - Festhalten zur ID-Feststellung bei Tumultdelikten
TOP
Im Juni 2013 wurden in Frankfurt,
anlässlich einer Demonstration, insgesamt 943 Personen von der Polizei
durch einen so genannten Polizeikessel zur Feststellung ihrer
Identitäten eingeschlossen.
Ziel der Polizei war es nicht,
diese Personen in Gewahrsam zu nehmen, oder ihnen die Freiheit in der
Absicht zu entziehen, die Personen zur Erwirkung eines Haftbefehls einem
Richter vorzuführen.
Der Zweck des Festhaltens diente
ausschließlich der Feststellung der Identitäten der von der Polizei
»eingekesselten« Personen.
Über die Zulässigkeit dieser
Maßnahme hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 02.11.2016 -
1 BvR 289/15 wie folgt entschieden:
[Anlass:]
Als eine große Gruppe von Teilnehmern unfriedlich wurde und mit Hilfe
von Seilen und Holzstangen, Schutzschilden, zusammengeknoteten
Transparenten und Regenschirmen sich nach außen hin abschotteten sowie
Pyrotechnik und mit Farbe gefüllte Flaschen und Beutel auf polizeiliche
Einsatzkräfte warfen, wurden diese Teilnehmer von der Versammlung
ausgeschlossenen, bevor sie von der Polizei mehrere Stunden
»eingekesselt« wurden.
Der Beschwerdeführer konnte die
Einkesselung nach 4 Stunden an einer der 15 mit einer Videoüberwachung
versehenen Durchlassstellen nach Feststellung seiner Identität, der
Durchsuchung seiner mitgeführten Sachen sowie einer
erkennungsdienstlicher Behandlung (Videografierung) wieder verlassen.
Seine Beschwerde beim
Bundesverfassungsgericht blieb ohne Erfolg.
Die Verfassungsrichter stellten
fest, dass der Beschwerdeführer nicht in seinen Grundrechten verletzt
worden sei.
Im Beschluss heißt es:
[Rn. 13:] Die Verfassung
gewährleistet lediglich das Recht, sich »friedlich und ohne Waffen zu
versammeln«. Das ist Vorbedingung für die Gewährleistung der
Versammlungsfreiheit als Mittel zur aktiven Teilnahme am politischen
Prozess und für eine freiheitliche Demokratie unverzichtbar (...). Steht
kollektive Unfriedlichkeit nicht zu befürchten, ist also nicht damit zu
rechnen, dass eine Demonstration im Ganzen einen gewalttätigen oder
aufrührerischen Verlauf nimmt oder dass der Veranstalter oder sein
Anhang einen solchen Verlauf anstreben oder zumindest billigen, dann
muss für die friedlichen Teilnehmer der von der Verfassung jedem
Staatsbürger garantierte Schutz der Versammlungsfreiheit auch dann
erhalten bleiben, wenn einzelne andere Demonstranten oder eine
Minderheit Ausschreitungen begehen (...).
[Rn. 14:] Besteht danach
für eine Versammlung trotz Ausschreitungen nur einer Minderheit der
Teilnehmer der Schutz des Art. 8 GG fort, muss sich dies auf die
Anwendung grundrechtsbeschränkender Rechtsnormen auswirken. Dies gilt
insbesondere auch für die Anwendung des § 163b StPO und des § 163c StPO,
wenn es zu Abspaltungen eines Teils der Versammlung vom restlichen
Demonstrationszug kommt, um eine spätere Strafverfolgung zu ermöglichen.
Zwar schließt es die unter Gesetzesvorbehalt stehende
Versammlungsfreiheit nicht aus, gegen Teile der Versammlung repressive
Maßnahmen der Strafverfolgung zu ergreifen. Bei solchen
Grundrechtseingriffen haben die staatlichen Organe aber die
grundrechtsbeschränkenden Normen der StPO im Lichte der grundlegenden
Bedeutung der Versammlungsfreiheit im freiheitlich demokratischen Staat
auszulegen und sich bei ihren Maßnahmen auf das zu beschränken, was zum
Schutz gleichwertiger Rechtsgüter notwendig ist (...).
[Rn. 15:] Konkret bedeutet
dies für § 163b Abs. 1 Satz 1 und 2 StPO, wonach die Beamten des
Polizeidienstes die zur Feststellung der Identität erforderlichen
Maßnahmen treffen dürfen, wenn jemand einer Straftat verdächtig ist, und
der Verdächtige festgehalten werden darf, wenn die Identität sonst nicht
oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten festgestellt werden kann,
dass der Verdacht auf einer hinreichenden objektiven Tatsachengrundlage
beruhen sowie individuell bezogen auf den konkreten
Versammlungsteilnehmer bestehen muss. Nicht genügend für den Verdacht
ist die bloße Teilnahme an einer Versammlung, aus der heraus durch
einzelne andere oder eine Minderheit Gewalttaten begangen werden (...).
Da sich Gewalttätigkeiten bei Großdemonstrationen kaum jemals ganz
ausschließen lassen, träfe andernfalls nahezu jeden
Versammlungsteilnehmer das Risiko, allein wegen des Gebrauchmachens von
der Versammlungsfreiheit - schon während der Versammlung -
Strafverfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu werden (...). Die Notwendigkeit
eines auf den konkreten Versammlungsteilnehmer bezogenen Verdachts
schließt es allerdings nicht aus, auch gegen eine ganze Gruppe von
Versammlungsteilnehmern nach § 163b Abs. 1 Satz 1 und 2 StPO vorzugehen,
wenn sich aus deren Gesamtauftreten ein Verdacht auch gegenüber den
einzelnen Mitgliedern der Gruppe ergibt und das Vorgehen die übrigen
Versammlungsteilnehmer so weit wie möglich ausspart.
[Rn. 19:] Geht die Polizei
gegen eine sich dergestalt mittels dichtgedrängter Staffelung,
Sichtschutz und Vermummung vom übrigen Versammlungsgeschehen abhebende
Gruppe, aus der heraus eine Vielzahl von Straftaten und
Ordnungswidrigkeiten begangen werden, auf Grundlage des § 163b Abs. 1
Satz 1 und 2 StPO vor, da sie einen Anfangsverdacht gegen alle
Mitglieder dieser Gruppe als begründet ansieht und bestätigen die
Fachgerichte dieses Vorgehen, verstößt dies nicht gegen
verfassungsrechtliche Vorgaben. Die zu diesem Teil des Aufzugs
gehörenden Personen zeigen ein planvoll-systematisches Zusammenwirken
mit einer Vielzahl von Gewalttätern und erwecken den Eindruck der
Geschlossenheit, so dass die Einsatzkräfte davon ausgehen durften, dass
Gewalttäter in ihren Entschlüssen und Taten gefordert und bestärkt
würden und nur eine sehr geringe Zahl friedlicher Versammlungsteilnehmer
durch die Einkesselung vom Rest der Versammlung ausgeschlossen und
festgehalten werde. Dies ist verfassungsrechtlich hinnehmbar, wenn die
Polizei - wie vorliegend - ohne Aufschub nach der Kesselbildung in
Verhandlungen mit der Versammlungsleitung eintritt, um eine Fortsetzung
des Aufzugs sowohl für den vom Polizeikessel betroffenen friedlichen
Versammlungsteil als auch für einzelne friedliche Versammlungsteilnehmer
innerhalb der eingeschlossenen Demonstrationsgruppe zu ermöglichen.
[Rn. 21:] Die angegriffenen
Entscheidungen verletzen auch nicht Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung
mit Art. 104 GG, indem sie gemäß § 163c Abs. 1 Satz 2 StPO davon
ausgegangen sind, dass eine unverzügliche Vorführung vor den Richter zum
Zwecke der Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer der
Freiheitsentziehung unterbleiben konnte, da die Herbeiführung der
richterlichen Entscheidung voraussichtlich längere Zeit in Anspruch
nehmen würde, als zur Feststellung der Identität notwendig wäre.
[Rn. 22:] Art. 104 Abs. 2
Satz 2 GG gebietet für jede nicht auf richterlicher Anordnung beruhende
Freiheitsentziehung, die richterliche Entscheidung unverzüglich
nachzuholen, wobei »unverzüglich« dahin auszulegen ist, dass die
richterliche Entscheidung ohne jede Verzögerung, die sich nicht aus
sachlichen Gründen rechtfertigen lässt, nachgeholt werden muss (...).
Die Ausnahme von der Vorführpflicht nach § 163c Abs. 1 Satz 2 StPO für
den Fall, das bis zur Erlangung der richterlichen Entscheidung
voraussichtlich längere Zeit vergeht als bis zur Feststellung der
Identität, ist danach verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
[Rn. 26:] Nach der nicht zu
beanstandenden Rechtsauffassung der Fachgerichte musste ein Verdacht im
Sinne des § 163b Abs. 1 StPO gegen den Beschwerdeführer nicht daran
scheitern, dass dieser tatsächlich keine Straftaten oder
Ordnungswidrigkeiten begangen hat. Ausreichend war insoweit bereits
seine Zugehörigkeit zu einer sich vom übrigen Demonstrationsgeschehen
deutlich abhebenden Gruppe, aus der heraus eine Vielzahl von Straftaten
und Ordnungswidrigkeiten begangen wurden.
[Hinweis:] Die Bedeutung
dieses Beschlusses geht weit über den oben beschriebenen Einzelfall
hinaus.
Auch anlässlich von Ansammlungen,
die nicht unter das Versammlungsgesetz fallen (Rockertreffen,
Problemfans etc.), die aber von Personen genutzt werden, um gemeinsam
Straftaten zu begehen, wird die Polizei auf der Grundlage des oben
mitgeteilten Beschluss nunmehr solche »Personengruppen« zum Zweck der
Feststellung aller Einzelidentitäten »einkesseln« und so lange
festhalten können, bis die Identitäten der »eingekesselten« Personen
festgestellt sind.
Voraussetzung wird sein, dass die
Gruppe so homogen »Straftaten oder ehrebliche Ordnungswidrigkeiten«
begeht, dass von einer Zugehörigkeit aller Personen zur Störergruppe
ausgegangen werden kann.
04.11
Abschiebehaft und Ausreisegewahrsam
TOP
Auf der Grundlage von § 35 PolG
NRW (Gewahrsam) ist es nicht zulässig, Personen in Gewahrsam zu nehmen,
um zu verhüten, dass sie sich der Abschiebung entziehen.
Die Befugnisse, die es der Polizei
zum Zweck der Durchsetzung einer Abschiebung erlauben, Personen die
Freiheit zu entziehen, sind in den nachfolgend benannten Paragrafen
geregelt:
-
§ 62 AufenthG
(Abschiebungshaft)
-
§ 62a AufenthG (Vollzug der
Abschiebungshaft)
-
§ 62b AufenthG
(Ausreisegewahrsam)
Eine freiheitsentziehende Maßnahme
auf der Grundlage der o.g. Befugnisse setzt in jedem Fall eine
richterliche Anordnung voraus. Diesbezüglich ist der Wortlaut der
Eingriffsbefugnisse eindeutig.
Landesrechtliche Vorschriften, auf
deren Grundlage Personen in Polizeigewahrsam genommen werden können,
siehe z. B. § 35 PolG NRW (Gewahrsam) finden keine Anwendung, »wenn die
freiheitsentziehenden Maßnahmen ausschließlich auf die Anordnungen oder
Vollziehung der Abschiebungshaft gerichtet sind.«
Mit anderen Worten:
Ausländerrechtliche Dauerdelikte
werden erst durch Vollziehung der Ausreisepflicht (vollendete Ausreise
aus dem Bundesgebiet) beendet. Das polizeiliche, mithin gesetzliche Ziel
der Gewahrsamnahme kann dadurch nicht erreicht, allenfalls vorbereitet
werden. Die Vorbereitung der Durchsetzung der Ausreisepflicht ist aber
nicht legitimes Ziel der Gewahrsamsvorschrift, sondern durch z.B. § 62
Abs. 5 AufenthG (Abschiebungshaft) abgedeckt. [En21] 21
[OLG Zweibrücken 2001:] Das
OLG Zweibrücken hat mit Urteil vom 14.12.2001 - 1 Ss 227/01 zum
polizeilichen Freiheitsentzug eines zur Ausreise verpflichteten
Ausländers nach Polizeirecht wie folgt Stellung bezogen:
[Anlass:]
Ein Ausländer kam einer rechtskräftigen Ausreiseanordnung der
Ausländerbehörde nicht nach. Daraufhin wandte sich die Ausländerbehörde
mit einem »Ersuchen um vorläufige Festnahme« an die Polizei. Durch die
verschlossene Wohnungstür wurde der Ausreisepflichtige von der Polizei
aufgefordert, freiwillig mitzukommen, da er dem Haftrichter zum Zwecke
der Abschiebung vorzuführen sei. Da der Mann sich weigerte, drangen die
Polizeibeamten gewaltsam in die Wohnung ein. Der Festnahme widersetzte
sich der Ausländer mit Schlägen und Tritten. Der Ausländer wurde
überwältigt und unter Anwendung unmittelbaren Zwangs in das Gewahrsam
der Polizei eingeliefert. Die Polizei rechtfertigte ihr Vorgehen allein
mit dem Vollzugshilfeersuchen der Ausländerbehörde. Eine Durchsuchungs-,
Vorführungs- oder Haftanordnung lag nicht vor.
Im Urteil heißt es:
Die Durchsuchung der Wohnräume und
die Festnahme des Angeklagten hätten deshalb nur auf der Grundlage einer
entsprechenden richterlichen Anordnung erfolgen dürfen, von deren
Vorliegen die Polizeibeamten sich hätten überzeugen müssen.
Und an anderer Stelle heißt es:
Die landesrechtlichen Bestimmungen
finden neben den bundesrechtlichen Vorschriften des Ausländerrechts
[...] keine Anwendung, wenn die freiheitsentziehenden Maßnahmen (...)
ausschließlich auf die Anordnung und Durchführung von Abschiebehaft
gerichtet sind. Insoweit enthält das FEVG [jetzt AufenthG] spezielle
bundesgesetzliche Regelungen (...), neben denen die landesrechtlichen
Bestimmungen zum Polizeigewahrsam nur insoweit anwendbar sind, als die
Ingewahrsamnahme einer Person zur Abwehr spezifischer polizeirechtlicher
Gefahren erforderlich ist. Dies kann [...] beispielsweise zum Schutz
einer Person gegen eine Gefahr für Leib oder Leben, zur Abwehr einer
unmittelbar bevorstehenden Straftat oder zur Verhinderung einer
Ordnungswidrigkeit von erheblicher Gefahr der Fall sein,
Voraussetzungen, unter denen die gegen den Angeklagten ergriffenen
Zwangsmaßnahmen nicht ergangen sind. [En22] 22
[BVerfG 2009:] Auch dem
Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 04.09.2009 - 2 BvR 2520/07
kann entnommen werden, dass Polizeirecht - wenn überhaupt - nur
stundenweise gerechtfertigt werden kann, weil die Dauer des Gewahrsams
nach Polizeirecht, siehe § 38 PolG NRW (Dauer der Freiheitsentziehung)
für die Verhinderung solcher Dauerdelikte nicht gedacht ist.
Im Beschluss heißt es:
[Rn. 27:] Unverzüglich ist
dahin auszulegen, dass die richterliche Entscheidung ohne jede
Verzögerung, die sich nicht aus sachlichen Gründen rechtfertigen lässt,
nachgeholt werden muss (...). Nicht vermeidbar sind zum Beispiel
Verzögerungen, die durch die Länge des Weges, Schwierigkeiten beim
Transport, die notwendige Registrierung und Protokollierung, ein
renitentes Verhalten des Festgenommenen oder vergleichbare Umstände
bedingt sind (...).
[Rn. 29:] Das Amtsgericht
hat angenommen, dass die richterliche Entscheidung unverzüglich
herbeigeführt worden sei. Dabei hat es jedoch lediglich darauf
abgestellt, dass die richterliche Entscheidung spätestens am Tag nach
der Festnahme erfolgt sei. Ob eine nicht sachlich begründete Verzögerung
vorgelegen habe, untersucht es nicht. Dem Begriff „unverzüglich ist
damit ein verfassungsrechtlich unzutreffender Inhalt beigelegt worden. [En23]
23
Mit anderen Worten:
Ein Ausländer, der abgeschoben
werden soll, sollte von der Polizei nur dann festgehalten werden, wenn
ein vollziehbarer Aufenthaltstitel und ein richterlicher Beschluss
vorliegen.
Ausländer, die zur Vorbereitung
solcher Anordnungen von der Polizei nach Polizeirecht in Gewahrsam
genommen werden, um die Fortsetzung eines festgestellten Dauerdelikts«
zu unterbinden, müssen bedenken, dass für solche Fälle eine richterliche
Entscheidung unverzüglich, also innerhalb weniger Stunden einzuholen
ist. Gemeint ist eine Zeitspanne von 2 bis maximal 3 Stunden.
Ein solches stundenweises
Festhalten ist aber spezialgesetzlich geregelt, siehe § 62 Abs. 5
AufenthG (Abschiebungshaft). Nach der hier vertretenen Rechtsauffassung
gehört die Polizei nicht zu den Behörden, die einen Haftantrag zur
Durchsetzung einer Ausreiseanordnung einholen können. Das ist Sache des
Ausländeramtes.
[Hinweis:] In Fällen der
unerlaubten Einreise / des unerlaubten Aufenthalts durch Nichtbesitz des
erforderlichen Aufenthaltstitels nach den einschlägigen Bestimmungen des
AufenthG können diese Dauerdelikte erst durch Vollziehung der
Ausreisepflicht (vollendete Ausreise aus dem Bundesgebiet) beendet
werden.
Das polizeiliche, mithin das
gesetzliche Ziel einer auf Polizeirecht beruhenden Gewahrsamnahme, kann
dadurch nicht erreicht, allenfalls vorbereitet werden. Die Vorbereitung
der Durchsetzung der Ausreisepflicht ist aber nicht legitimes Ziel der
polizeirechtlichen Gewahrsamsvorschrift.
Eine nicht geeignete Maßnahme ist
unverhältnismäßig und verstößt daher gegen Art. 20 Abs. 3 GG, da das
Grundprinzip der Verhältnismäßigkeit staatlicher Maßnahme
Verfassungsrang besitzt und ein Wesensmerkmal der Rechtsstaatlichkeit
darstellt. [En24] 24